Stephen King – „Sie“

Montag, 15. April 2024

(Heyne, 400 S., Jumbo) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Romandebüt „Carrie“ hat es Stephen King innerhalb weniger Jahre mit weiteren, allesamt verfilmten Werken wie „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und vor allem „Es“ zum meistgelesenen Horrorautoren aller Zeiten geschafft. Ein besonderer Coup ist dem „King of Horror“ mit dem 1987 erschienenen und durch Rob Reiner erfolgreich mit James Caan und Kathy Bates in den Hauptrollen verfilmten Bestseller „Misery“ gelungen, der hierzulande als Erstauflage in dem leider nur kurzlebigen Jumbo-Paperback-Format bei Heyne unter dem Titel „Sie“ veröffentlicht worden ist. 
Nachdem der bekannte Romanautor Paul Sheldon bei einem Schneesturm von der Straße abgekommen und einen Hang hinuntergerutscht ist, hätte er mit seinen beiden gebrochenen Beinen gut umkommen können, doch die ehemalige Krankenschwester Annie Wilkes hat es geschafft, den bewusstlosen Mann aus dem Auto zu bergen und ihn in ihr einsam gelegenes Haus nahe der Stadt Sidewinder in Colorado zu bringen, wo sie mit ein paar Hühnern und einem Schwein lebt, das sie nach Paul Sheldons berühmtester Romanfigur Misery genannt hat. Als Paul Sheldon sein Bewusstsein wiedererlangt, sieht er seine völlig zerstörten Beine behelfsmäßig geschient und sich seiner Retterin hilflos ausgeliefert. Dass mit Annie Wilkes etwas nicht stimmt, merkt mit Novril ruhig gestellte Sheldon sofort. Schließlich hat die gute Frau es nicht für nötig gehalten, die Polizei über ihren Fund zu informieren oder den schwerverletzten Mann ins Krankenhaus zu fahren. Aus Dankbarkeit lässt Sheldon seinem selbsternannten „Fan Nr. 1“ seinen neuen Roman „Schnelle Autos“ lesen, doch zeigt sich Annie wenig begeistert von dem ernsthaften Stoff. Als sie bei einem Einkauf eine Taschenbuchausgabe von Sheldons letzten „Misery“-Roman entdeckt, ist sie so entsetzt darüber, dass ihre absolute Lieblingsheldin stirbt, dass sie Sheldon dazu zwingt, sein Manuskript von „Schnelle Autos“ zu verbrennen und einen neuen „Misery“-Roman zu schreiben, in dem Misery Chastain wiederbelebt wird. Doch je mehr Paul gezwungenermaßen in dem Zimmer eingesperrt ist, desto mehr stellt er fest, dass Annie unter ernsthaften psychischen Problemen leidet und sicher nicht vorhat, ihren Lieblingsautor jemals wieder gehen zu lassen… 
„Er wusste, dass er unablässig terrorisiert worden war, aber hatte er gewusst, wieviel von seiner subjektiven Realität, die einst so stark gewesen war, dass er sie als gottgegeben betrachtet hatte, ausgelöscht worden war? Er wusste eines mit ziemlicher Sicherheit – es war wesentlich mehr mit ihm nicht in Ordnung als nur die Lähmung seiner Zunge, ebenso wie mit dem, was er geschrieben hatte, wesentlich mehr nicht in Ordnung war als die fehlende Type oder das Fieber oder Sprünge in der Kontinuität oder selbst der Verlust seines Schneids. Die Wahrheit hinter allem war so einfach in ihrer Grausamkeit, so schrecklich einfach. Er starb Stück für Stück…“ (S. 305) 
Waren viele seiner vorangegangenen Horrorromane von übernatürlichen Fähigkeiten wie Telekinese („Carrie“), übersinnlichen Wahrnehmungen („Shining“), hellseherischen Fähigkeiten („Dead Zone“) oder Pyrokinese („Feuerkind“) geprägt oder behandelten klassische Horrorthemen wie Vampirismus („Brennen muss Salem“), kommt „Sie“ ohne jegliche übernatürliche Komponente aus. 
Kings Roman wirkt wie ein klassisches Bühnenstück, dessen Handlung sich gut und gerne auf ein Zimmer und zwei Personen beschränken könnte. 
Der Horror entsteht durch den Wahnsinn der ehemaligen Krankenschwester Annie Wilkes, die in Rob Reiners Verfilmung durch eine Oscar-prämierte Kathy Bates zum Leben erweckt worden ist. Durch Paul Sheldons absolute Hilfslosigkeit wird ein Szenario heraufbeschworen, in dem Annie Wilkes ihre labile Psyche hemmungslos an ihrem Opfer austoben lässt, wobei die Beziehung zwischen Autor und Leser natürlich auch selbstreferentielle Züge aufweist. 
Stephen King lässt sein Alter Ego auch über die Unterscheidung zwischen ernsthafter und Schundliteratur schwadronieren, wobei der Leser nicht umhinkommt, auch Kings eigene Meinung zu diesem Thema hineinzuinterpretieren. Im Verlauf der Handlung kommt es zu einigen wirklich grausamen Verstümmelungen, aber das Beste hebt sich King für das grandiose Finale auf, das einen so schnell nicht mehr loslässt.


Robert R. McCammon – „Nach dem Ende der Welt“

Samstag, 6. April 2024

(Knaur, 524 S., Tb. / Festa, 450 und 370 S., Tb.) 
Stephen Kings 1978 veröffentlichtes Weltuntergangs-Szenario „The Stand – Das letzte Gefecht“ zählt nicht nur zu den frühesten, bekanntesten, sondern auch umfangreichsten Werken des „King of Horrors“ und erschien zunächst in gekürzter Fassung, ehe 1990 mit der gewachsenen Popularität des Autors eine um 400 Seite längere ungekürzte Fassung veröffentlicht wurde. Robert R. McCammon avancierte in den 1980er Jahren mit Romanen wie „Höllenritt“, „Blutdurstig“ und „Wandernde Seelen“ zu einem ernst zu nehmenden Horror-Autor aus der zweiten Reihe, der 1987 mit „Swan Song“ seine eigene apokalyptische Vision auf den Markt brachte. 
Nachdem Knaur 1988 eine vom „Kollektiv-Druckreif“ übersetzte und gekürzte Version unter dem Titel „Nach dem Ende der Welt“ auf den deutschen Markt gebracht hatte, ließ Festa 2015 eine neu übersetzte und zweibändige, vollständige Neuauflage folgen, die die Schwächen der deutschen Erstveröffentlichung allerdings auch nicht ausmerzen konnte. 
Als sich die USA von einer sowjetischen Atom-U-Boot-Flotte vor ihren Küsten bedroht sieht, lässt sich der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika von seinen militärischen Beratern zu einem atomaren Präventivschlag gegen die UdSSR überreden und sorgt so für die atomare Apokalypse, die mit einem Schlag Milliarden von Menschenleben vernichtet und unzählige weitere mit schweren Verbrennungen und anderen Gebrechen zurücklässt. 
Währenddessen macht sich der Catcher Josh(ua) „Black Frankenstein“ Hutchins nach seinem überraschenden Sieg gegen Johnny Lee Richwine auf dem Weg nach Garden City in Kansas und die neunjährige Sue „Swan“ Wanda flieht mit ihrer Mutter Darleen vor dem gewalttätigen Tommy nach Blakeman im Nordwesten von Kansas, als sich der Himmel über ihnen verdunkelt. Unter den wenigen Überlebenden befindet sich auch die obdachlose, regelmäßig über die baldige Wiederkunft Jesu in seinem Raumschiff predigende Sister Creep, die durch Zufall die Auslöschung Manhattans überlebt hat. Zusammen mit einem Schuhverkäufer namens Artie macht sie sich auf den langen und gefährlichen Weg nach Detroit, um Arties Frau zu finden. Durch Zufall findet sie einen scheinbar magischen Glas-Ring, der ihr einen Rest von Hoffnung beschert. 
Zunächst unbeschadet überleben der 14-jährige Roland Croninger und sein Vater Phil die nukleare Katastrophe in dem von Colonel Macklin geleiteten Earth House, das zwar zum Schutz vor einem Atomkrieg errichtet worden ist, allerdings etliche Baumängel aufweist. Roland ist von dem charismatischen, allerdings auch traumatisierten Kriegshelden fasziniert und schließt sich der „Glorreichen Armee“ des Colonels an, der immer mehr Anhänger um sich zu scharen versteht und einen beispiellosen Raubzug durch die wenigen noch verbliebenen Städte des Landes organisiert. Ihr Ziel ist der Ort Mary’s Rest, wo Sister, Swan und Josh nach ihrer gemeinsamen Reise nach sieben Jahren ein wenig Hoffnung verbreiten können, weil das Mädchen über die beeindruckende Gabe verfügt, selbst dem trostlosesten Boden wieder Leben einzuhauchen. Doch das personifizierte Böse bedroht auch die letzte Bastion der Überlebenden… 
„Sister und Josh unterhielten sich darüber, was für eine Kreatur der Mann mit dem scharlachroten Auge sein könnte. Sie war sich unklar, ob sie an einen gehörnten und gabelschwänzigen Teufel glauben sollte, aber sie kannte das Böse gut genug. Wenn er nach ihnen sieben Jahre gesucht hatte, hieß das, dass er nicht alles wusste. Er war sicher listig, und vielleicht waren seine Eingebungen messerscharf, vielleicht konnte er das Gesicht wechseln, wie er wollte, vielleicht die Menschen mit einer Berührung in Flammen setzen, aber er war dümmlich und machte Fehler. Und vielleicht war seine größte Schwäche die Überzeugung, dass er verdammt viel schlauer sei als ein menschliches Wesen.“ (S. 368) 
37 Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung scheint McCammons „Swan Song“ von erschreckender Aktualität zu sein, denn angesichts des andauernden Angriffskriegs der Russen gegen die Ukraine und den blutigen Auseinandersetzungen in Gaza sowie der drohenden erneuten US-amerikanischen Präsidentschaft von dem Mann mit der komischen Frisur wirkt das Szenario eines atomaren Krieges gar nicht so weit hergeholt. 
McCammon lässt seine Geschichte in einer vom Zeitpunkt des Schreibens nicht allzu entfernten Zukunft spielen und malt das erschreckende Bild internationalen Wettrüstens, dem Ausbreiten von terroristischen Organisationen einerseits und der wachsenden Armut und der Hungernöte auf der ganzen Welt andererseits. Vor diesem Hintergrund formieren sich nach der weitreichenden nuklearen Zerstörung in den USA zwei Lager, die auf einen großen Endkampf zwischen Gut und Böse hinsteuern. Während Colonel Macklin in den sieben Jahren nach der atomaren Zerstörung mit dem jungen Roland Croninger einen effizienten Vollstrecker heranwachsen sieht, der sich als „Ritter des Königs“ sieht und skrupellos seine Ziele verfolgt, um für die Glorreiche Armee mehr Nahrungsmittel, Wasser und vor allem Waffen und Munition zu besorgen, entwickelt sich das Mädchen Swan zu einer Führerin mit lebensspendenden Kräften. 
An Stephen Kings Meisterwerk „The Stand“ reicht „Swan Song“ lang nicht heran. Dafür hat McCammon zu wenig Sorgfalt bei der Zeichnung seiner zahlreichen, oft eindimensional und klischeehaften wirkenden Figuren walten lassen. Auch der Plot ist nicht stringent entwickelt und wirkt stark episodenhaft, so dass kaum eine dramaturgisch gefällige Spannung aufgebaut wird. 
Die übernatürlichen Elemente forcieren zwar den ausgeprägten Dualismus, wären aber nicht nötig gewesen, um die Geschichte überzeugend erzählen zu können. So hat sich McCammon mit „Nach dem Untergang der Welt“ zwar viel vorgenommen und überzeugt auch sprachlich, doch die nicht sehr gelungene Konstruktion des Endkampfs zwischen Gut und Böse bleibt ein Makel, das auch die erweiterte Neuübersetzung nicht in den Griff bekommt.


„Filmjahr 2023/2024 – Lexikon des internationalen Films“

Sonntag, 31. März 2024

(Schüren, 528 S., Pb.) 
Auch nach über 75 Jahren seit seiner Gründung zählt nicht nur der „Filmdienst“ selbst als unerschütterlicher Wegweiser durch die Welt der Kinofilme, Fernsehproduktionen, DVD- und Blu-ray-Veröffentlichungen, Streamingdienste und Serien, sondern auch das zum Glück nach wie vor als Printprodukt verfügbare „Lexikon des internationalen Films“
Mittlerweile hat sich das Angebot von kritischen Filmrezensionen fast ausschließlich auf Online-Medien verlagert, auch der „Filmdienst“ ist nach seiner Einstellung als Print-Magazin seit 2017 nur noch online verfügbar. Mit dem alljährlichen Rückblick auf das vergangene Filmjahr bietet der Filmdienst in Zusammenarbeit mit dem Schüren Verlag aber zum Glück nach wie vor auch in Buchform Orientierung und Gelegenheit zum Schmökern durch die facettenreiche Welt des Films, die nach der Überwindung der Corona-Pandemie nun vor allem unter der Bedrohung der Kriege in der Ukraine und in Gaza, aber auch der Herausforderung durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz steht. 
Das „Lexikon des internationalen Films“ sieht sich deshalb nicht nur als umfassendes Kompendium über das Medium Film an sich, sondern gibt gleich zu Anfang einen Überblick über das (Film-)Jahr 2023 mit monatlichen Schlagzeilen aus dem Weltgeschehen, den wichtigsten Filmen und Wegpunkten wie Filmfestivals und jüngst verstorbenen Filmschaffenden. 
So subjektiv Filmrezensionen auch sind, so geben gerade die von den Kritikerinnen und Kritikern von www.filmdienst.de zusammengestellten „20 besten Filme des Jahres 2023“ im (Heim-)Kino eine sinnvolle Orientierung oder auch einen wichtigen Impuls zum Entdecken. Ausführlich werden hier Filme wie Todd Fields „Tár“, Aki Kaurismäkis „Fallende Blätter“, Justine Triets „Anatomie eines Falls“, Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ oder Christopher Nolans „Oppenheimer“ besprochen. Viele Filme sind den Cineasten entweder schon selbst im Kino begegnet oder spätestens im Umfeld der Berichterstattung über die diesjährige Oscar-Verleihung ins Bewusstsein gerückt, einige andere wie „Music“, „The Quiet Girl“ und „Limbo“ dürften für viele Kinogänger noch zu entdecken sein. Gleiches gilt auch für die anschließend vorgestellten Serien und Mini-Serien. 
Das Kernstück des Lexikons bildet natürlich wie immer die mehr als 260 Seiten umfassenden Kurzkritiken aller im Jahr 2023 erstmals veröffentlichten Filme im Kino, im Fernsehen, bei Streaming-Diensten und auf DVD/Blu-ray in alphabetischer Reihenfolge, doch macht sich das „Filmjahr 2023/2024 – Lexikon des internationalen Films“ auch durch verschiedene Essays zu ausgewählten Themen zu einem treuen Begleiter für Filmbegeisterte. 
Zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten setzen sich verschiedene Autoren beispielsweise mit dem Ende des Autorenstreiks in Hollywood, mit dem bereits seit 1963 ausgestrahlten „Kleinen Fernsehspiel“ des ZDF und der Thematisierung der Atombombe im Film auseinander, portraitiert Filmschaffende wie den finnischen Regisseur Aki Kaurismäki, die isländische Komponistin Hildur Guðnadóttir („Joker“, „Tár“) und Schauspieler Brendan Fraser („Die Mumie“, „The Whale“) und präsentiert Interviews mit internationalen Filmemachern. 
Abgerundet wird das Nachschlagewerk durch Nachrufe, Preisträger nationaler wie internationaler Filmfestivals und einer Auflistung der 50 herausragendsten Blu-ray- und 4K-UHD-Editionen des Jahres. Es gibt also auch jenseits des Kinosaals und des heimischen Fernsehers viel zu lesen und zu entdecken, um die Welt des Films und die Welt, in der wir uns bewegen, besser verstehen zu lernen.

Robert R. McCammon – „Durchgedreht“

Sonntag, 24. März 2024

(Knaur, 544 S., Tb.) 
Robert R. McCammon stand zwar stets im Schatten der großen Horror-Autoren Stephen King, Dean R. Koontz, Peter Straub und Clive Barker, hat in den 1980er Jahren aber eine ganze Reihe lesenswerter Genre-Werke wie „Höllenritt“, „Tauchstation“, „Blutdurstig“, „Wandernde Seelen“ und „Das Haus Usher“ publiziert, die auch hierzulande eine treue Leserschaft fanden. 
Während die deutschen Übersetzungen allesamt bei Knaur erschienen sind, wechselte Campbell in den USA von Avon Books über Henry Holt & Company bis zu Pocket Books, die sich schließlich nicht mit den Ambitionen des Schriftstellers anfreunden konnten, dass dieser auch mal abseits des Horror-Genres seine literarischen Qualitäten ausprobieren wollte. So kam es, dass der 1992 veröffentlichte Roman „Gone South“ für lange Zeit das letzte Werk von McCammon gewesen sein sollte. Dabei demonstrierte der Autor gerade mit seinen „normalen“ Thrillern „Unschuld und Unheil“ und „Durchgedreht“ (der deutschen Ausgabe von „Gone South“) die ganze Palette seines Könnens. 
Wie so viele Vietnam-Veteranen hat der 42-jährige Dan Lambert nicht die besten Erinnerungen an seinen Einsatz in Fernost. Es sind jedoch nicht nur die Flashbacks an unmenschliche Gemetzel und den sinnlosen Tod befreundeter Kameraden, sondern auch die Nachwirkungen des in Vietnam eingesetzten Agent Orange, die Lambert zusetzen, leidet er doch unter Leukämie und einem Gehirntumor. Sein Vietnam-Trauma zerstörte seine Ehe und hat dazu geführt, dass er seinen Sohn Chad seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hat. Dazu ist der Arbeitsmarkt anno 1991 in Shreveport, Louisiana, nicht gerade rosig. Mit den Raten für seinen Pick-up hängt Lambert seit zwei Monaten hinterher, und die Fahrten nach Death Valley, wo er immer wieder vergeblich einen Job als Tagelöhner zu finden versucht, erweisen sich als deprimierende Pflichtaufgabe. 
Während Lamberts bisheriger Bankberater Mr. Jarrett noch Verständnis für seine Situation hatte und die Raten stundete, zitiert ihn Jarretts knochenharter Nachfolger in die First Commercial Bank, um seinen Wagen zu pfänden. Lambert tickt daraufhin aus, und als ihm der skrupellose Emory Blanchard eine Pistole auf ihn richtet, schnappt sich der in die Enge getriebene Handwerker die Waffe des herbeigeeilten Sicherheitsmannes und schießt Blanchard in den Hals. In einer weiteren Kurzschlussreaktion flüchtet Lambert aus der Stadt. Die Bank setzt eine Belohnung von 15.000 Dollar auf Lamberts Ergreifung aus, worauf der schmierige Kautionsagent Smoates den routinierten Kopfgeldjäger Flint Murtaugh auf Lambert ansetzt. 
Dass Smoates darauf besteht, Murtaugh den Elvis-Imitator Cecil „Pelvis“ Eisley einzuarbeiten, bringt Murtaugh schnell zur Weißglut und führt immer wieder dazu, dass das kuriose Duo die sicher geglaubte Beute wieder aus den Augen verliert. Lambert gabelt unterwegs in einer Kneipe die junge Arden Halliday auf, die auf der Suche nach dem „Leuchtenden Mädchen“ ist, einer Heilerin, von der Arden hofft, dass sie Ardens riesiges Feuermal im Gesicht beseitigt. Doch die Odyssee in den Süden wird von weiteren Komplikationen und Leichen begleitet… 
„Selbst wenn er im Schutz der Dunkelheit fuhr, wusste er doch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bevor die Polizei ihn fand. Und seine Zeit lief schnell ab, wie es schien. Sollte er weiterhin versuchen zu fliehen oder einfach aufgeben und selbst die Polizei rufen? Es gab kein Entrinnen vor dem Gefängnis; es gab kein Entkommen vor der Krankheit, die Stück für Stück sein Leben verschlang. Nach Süden abgegangen, nach Süden abgegangen, dachte er. Wohin konnte man fliehen, wenn alle Auswege blockiert waren?“ (S. 280) 
Mit der Bezeichnung „Nach Süden abgegangen“ – und da wären wir auch bei der Erklärung des Romantitels „Gone South“ - beschreibt Dan Lambert die Erkenntnis, die falsche Abzweigung im Leben genommen zu haben, und vor allem die ersten Seiten und die Erinnerungen an die schreckliche Zeit in Vietnam, wo Lambert seinen besten Freund Farrow verloren hat, machen deutlich, welche dramatischen Entbehrungen und Verluste Lambert in seinem Leben hinnehmen musste. 
McCammon gelingt es gerade durch die Flashbacks, Lambert als pflichtbewussten Soldaten zu charakterisieren, der während des Krieges leider feststellen musste, dass er und seine Kameraden in einem sinnlosen Krieg verheizt wurden, und nun aufgrund der dort erlittenen psychischen wie körperlichen Beeinträchtigungen nicht mehr seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Und trotzdem gibt er nie die Hoffnung auf, fährt Tag für Tag ins deprimierende Death Valley, um wieder keinen Job zu bekommen. 
McCammon beschränkt sich aber nicht nur auf die Geschichte eines Mannes auf der Flucht, sondern nimmt sich sehr viel Zeit, um Lamberts Jäger einzuführen, den aus einer Freak-Show stammenden Murtaugh (den haarlosen, aus seinem eigenen Körper ragenden Arm seines Bruders Clint mit dem fast unscheinbaren Mund versucht Flint so gut wie möglich vor den Augen anderer zu verstecken) und den leicht dümmlich wirkenden, korpulenten Elvis-Imitator Pelvis Eisley. Hier kommt McCammons Mitgefühl für die Randschichten der Gesellschaft, die Abgehängten und Verlorenen, zum Ausdruck, allerdings wirkt die Zusammenstellung des Kopfgeldjäger-Gespanns mehr als unglaubwürdig, denn warum Smoates ausgerechnet einen völlig ungeeignet erscheinenden Elvis-Imitator an die Seite eines routinierten, wenn auch ebenfalls skurril wirkenden Jägers stellen sollte, wird nie plausibel erklärt. Dieses Gespann ist es allerdings auch, was der Hetzjagd einige komische Momente beschert – ob man dies in einem Thriller schätzt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Mit der durch ein Feuermal entstellten Arden und dem Motel-Ehepaar finden sich aber noch weitere merkwürdige Figuren in einem Thriller, der gerade zum Finale hin auch einiges an Action bietet. 
„Durchgedreht“ zählt sicher zu den besten Romanen von McCammon und wartet mit einer Handvoll interessanter, sorgfältig gezeichneter Figuren auf, doch leidet die Dramaturgie immer wieder durch Ungereimtheiten im stellenweise sehr konstruiert wirkenden Plot.


J. Paul Henderson – „Daisy“

(Diogenes, 336 S., HC) 
Mit „Der Vater, der vom Himmel fiel“ und „Letzter Bus nach Coffeeville“ hat der britische Schriftsteller J. Paul Henderson bereits zwei eindrucksvolle Belege seiner Fähigkeiten präsentiert, mit viel Wärme und Feingefühl die Lebensgeschichten einfacher, aber doch irgendwie besonderer Menschen zu erzählen, die der Leserschaft bereits nach wenigen Seiten ans Herz wachsen. Mit seinem neuen Roman „Daisy“ ist Henderson ein weiterer äußerst liebenswerter Wurf gelungen. 
Dass Herod S. Pinkey nach dem Kindermörder Herodes benannt worden ist, stellt nur eine von vielen Kuriositäten und Demütigungen dar, die Herod durch seinen Vater im Leben erleiden musste. Dazu zählt auch der Umstand, dass Herod nach seinem Schulabschluss zwar in der Firma seines Vaters arbeiten durfte, aber nie über einfache Tätigkeiten in der Poststelle oder im Facility Management hinaus gefordert wurde. 
Nach dem Tod seines Vaters und dem Selbstmord seiner Mutter ist Herod, der lieber Rod genannt werden will, ein reicher Mann, der völlig überfordert damit gewesen wäre, die Firma seines Vaters weiterzuführen, und stattdessen praktisch umsonst in einer Galerie zu arbeiten anfängt, um neue Freunde zu finden. Rod kommt auf diese Weise auch an ein paar Dates, doch erst als er seinen Freunden Donald und Edmundo den neuen Fernseher vorführen will, verliebt er sich in Daisy, die in der Gerichtsshow „Judge Judy“ ihren Ex-Freund auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt hat. Rod schaut sich am folgenden Tag wiederholt die Aufzeichnung der Sendung an, wobei er sich nicht daran stört, dass diese selbst bereits vor dreizehn Jahren ausgestrahlt worden ist. 
„Der größte Haken dabei war, dass ich nun zwar Daisy kannte, ganz gleich wie virtuell, sie aber noch nicht einmal ahnte, dass es mich überhaupt gab. Ich wiederum wusste nichts von ihren derzeitigen Umständen: wo sie wohnte, ob sie alleinstehend oder verheiratet war, am Leben oder – Gott bewahre – tot. All dass musste ich natürlich erst in Erfahrung bringen, bevor ich in ein Flugzeug stieg und mich in einem Land, in das ich nie wieder einen Fuß zu setzen geschworen hatte, auf die Suche nach ihr machte.“ (S. 159) 
Tatsächlich engagiert Rod eine Detektei, die wiederum in den USA einen Detektiv auf die Suche nach Daisy Lamprich ansetzt. Zusammen mit seinen beiden Freunden unternimmt Rod schließlich eine abenteuerliche Odyssee in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten… 
Obwohl der Ich-Erzähler Herod „Rod“ S. (für Solomon) Pinkey gleich zu Beginn konstatiert, dass er zu der Sorte Mensch zähle, die nicht gern von sich reden, und in eine Daisy Lamprich verliebt sei, erweist sich Herod auf den folgenden 330 Seiten als sehr eloquenter, humorvoller Chronist seines ungewöhnlichen Lebens. 
Bereits in der Beschreibung seines komplizierten Verhältnisses zu seinen Eltern lässt sich erahnen, dass Herods Biografie einige Stolpersteine bereithält, und Henderson beweist großes Geschick darin, seinen Protagonisten als einen sich selbst nicht allzu ernst nehmenden Lebenskünstler zu portraitieren, der trotz leichter Legasthenie und Schwierigkeiten, Freunde und Anerkennung zu finden, seinen Weg macht und bereit ist, auch unorthodoxe Wege zu seinem Glück einzuschlagen. 
Henderson nimmt sich viel Zeit, um nicht nur Herod mit all seinen liebenswert erscheinenden Schrullen zu charakterisieren, sondern auch dessen Beziehungen zu den Menschen, die ihm am nächsten stehen und die ihn schließlich von England aus auf die Odyssee in den USA begleiten. 
Mit „Daisy“ ist Henderson eine sehr kurzweilige Geschichte über das ungewöhnliche Leben eines Mannes mit einigen Handicaps gelungen, wobei diese immer wieder durch kursiv gedruckte Kapitel umrahmt wird, in denen sich Rod mit seinem Verleger Ric darüber unterhält, wie er die Liebesgeschichte rund um die titelgebende Daisy am besten verpackt. Es ist ein Roman voller liebenswürdiger Charaktere und skurriler Abenteuer, ein Roman voller Fantasie und Mut, seine Träume zu verwirklichen, so unmöglich sie auch erscheinen mögen. Das macht einem vor allem die grandiose Pointe vor Augen. 

Scott Alexander Howard – „Das andere Tal“

Mittwoch, 20. März 2024

(Diogenes, 464 S., HC) 
Denkt man an Zeitreisen, kommt einem als Filmliebhaber sofort mehrere Filme in den Sinn, von George Pals „Die Zeitmaschine“ (1960) nach dem Roman von H.G. Wells, Robert Zemeckis‘ „Zurück in die Zukunft“-Trilogie und James Camerons „Terminator“-Filme bis zu Darren Aronofskys „The Fountain“. In der Literatur sind es vor allem Science-Fiction-Autoren wie Robert A. Heinlein („Predestination – Entführung in die Zukunft“), Dan Simmons („Ilium“) und Stephen Baxter („Zeitschiffe“), die sich mit Zeitreisen beschäftigen, aber auch im Bereich der Fantasy und der „normalen“ Belletristik sind thematisch relevante Werke wie Audrey Niffeneggers „Die Frau des Zeitreisenden“ oder Félix J. Palmas „Die Landkarte der Zeit“ zu finden. Nun hat sich der kanadische Philosoph Scott Alexander Howard in seinem Debütroman „Das andere Tal“ auf ebenso philosophische wie einfühlsame Weise mit dem Thema auseinandergesetzt. 
Die schüchterne Odile Ozanne steht kurz vor ihrem sechzehnten Geburtstag und damit auch vor der Entscheidung, welchen Weg sie nach der Schule einschlagen werden. Bevor der Unterricht durch Pichegru endet und die praktische Lehre in der (namenlosen) Stadt beginnt, stellen verschiedene Handwerker und Angestellte in der Schule ihre Tätigkeiten vor, dazu stehen Ausflüge zu Bauernhöfen, zur Sägemühle und an die Grenze an. Die dort stationierten Grenzbeamten achten darauf, dass es zu keinen unerlaubten Grenzübertritten in die jeweils benachbarten Täler kommt – mit den jeweils gleichen Städten, aber zwanzig Jahre in der Vergangenheit bzw. in der Zukunft liegen. Über die Petitionen, wem ein Grenzübertritt gestattet wird – in der Regel nur bei Trauerfällen -, entscheidet das Conseil. 
Odiles Mutter hatte sich einst dort beworben, den strengen Auswahlprozess aber nicht überstanden und fristet nun als gewöhnliche Angestellte dort ihr Dasein. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als ihre Tochter nun dort eine Ausbildung absolviert, um auch ihren eigenen Status in der Gemeinde zu erhöhen. Tatsächlich gelingt es Odile, trotz ihrer nicht überzeugenden Aufsätze, von ihrem Lehrer Pichegru als als eine von zwei Kandidat:innen zum Auswahlverfahren berufen zu werden, bei dem sich die Teenager mit ihnen vorgelegten Modellfällen auseinandersetzen, das Für und Wider der Petitionen der Trauernden abwägen und letztlich eine Entscheidung über Gewährung oder Ablehnung des Gesuchs treffen müssen. Selbst bei einer Zusage ist es den Trauernden nicht gestattet, Kontakt zu den geliebten Personen aufzunehmen, sondern sie dürfen sie nur aus sicherer Entfernung aus beobachten. 
Dass Odile dabei eine Hürde nach der anderen nimmt, ist fraglos auch dem Umstand geschuldet, dass sie kürzlich zwei Besucher aus der Zukunft erkennt und ihr bewusst wird, dass ihr Schulkamerad Edme nicht mehr lange zu leben hat. Odile beginnt, sich mit Edme anzufreunden, doch gelingt es ihr nicht, sein Verschwinden nach einem gemeinsamen Ausflug mit Alain, Justine und Jo zu verhindern. Am Ende muss sie selbst einen Weg finden, um in der Vergangenheit einen Weg zur Beeinflussung der tödlichen Ereignisse zu finden, denn je mehr Zeit Odile mit Edme verbringt, desto mehr entwickelt sie Gefühle für ihn… 
„Wie er so aufs Ufer zurannte, wurde mir etwas bewusst. Auch wenn es nur ein stilles Eingeständnis vor dem Spiegel gewesen war – dadurch, dass ich meine Gefühle in Worte gefasst hatte, hatte ich alles zwischen uns verändert. Von jetzt an würde ich mich immer fragen, ob es mit Edme voranging oder nicht so gut lief, würde messen, wie weit ich noch von einem unklaren, aber dennoch schmerzhaft ersehnten Ziel entfernt war.“ (S. 115) 
Scott Alexander Howard, der sich in Harvard als Postdoktorand mit der Beziehung zwischen Erinnerung, Emotionen und Literatur beschäftigte, ist mit „Das andere Tal“ ein ungewöhnlicher Roman gelungen, der in einer zwar französischsprachigen, aber nicht näher definierten Gegend und Zeit angesiedelt ist. In der Konstellation dreier komplett von der Außenwelt abgeschnittener, identischer Täler und Städte, zwischen denen jeweils zwanzig oder vierzig Jahre liegen, spielt der Autor natürlich überwiegend mit dem Gedanken, welche Auswirkungen ein Eingreifen in vergangene Ereignisse auf die Gegenwart und Zukunft haben könnte, aber es ist auch eine sanft erblühende Liebesgeschichte zwischen zwei Jugendlichen, die keine echte Chance bekommt, sich zu entwickeln, geschweige denn zu vollenden. 
Was Howard dabei besonders gut gelingt, ist die Beschreibung einer fast diktatorisch beherrschten Welt, in der argwöhnisch das Treiben der Mitmenschen beäugt und bei auffälligem Fehlverhalten entsprechende Strafmaßnahmen eingeleitet werden. Wie die Patrouille, zu der schließlich auch Odile eingeteilt wird, auch mit tödlichen Schüssen an der Grenze darauf achtet, dass Trauernde zu keinen unüberlegten Handlungen hingerissen werden, erinnert nicht von ungefähr an die frühere Grenze zwischen der BRD und der DDR, aber inmitten dieser tristen Schilderung des Alltags in einer Art Überwachungsstaat lässt der Autor viel Raum für die komplexen Gefühlswelten seiner Ich-Erzählerin Odile. 
Scott Alexander Howard ist mit „Das andere Tal“ ein kluger, einfühlsamer und philosophischer Roman über vorbestimmtes Schicksal und freien Willen, über Trauer, Liebe, Pflichterfüllung und Tod, über Selbstbestimmung und Gemeinschaftswohl, über Loyalität und Verrat gelungen. Viel Stoff also für einen einzigen Roman, dem es allerdings über den zahlreichen Gedankenspielen nicht immer gelingt, die emotionale Entwicklung seiner Protagonistin nachvollziehbar zu gestalten. 

 

Ray Bradbury – „Die goldenen Äpfel der Sonne“

Freitag, 15. März 2024

(Diogenes, 242 S., Tb.) 
Seit Ray Bradbury (1920-2012) im Jahr 1938 in der Zeitschrift Imagination! seine erste Geschichte veröffentlichte, folgten viele weitere Kurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften, bis 1947 sein erstes Buch erschien. Mit dem Erfolg der sozialkritischen „Mars-Chroniken“ (1950), mit denen Bradbury die Kolonialisierung des Planeten Mars und die Ängste der Amerikaner in den 1950er Jahren thematisierte, wuchs auch das Interesse an seinen Erzählungen. 
Eine der ersten Sammlungen veröffentlichte Doubleday 1953 mit „The Golden Apples of the Sun“, die 22 zwischen 1945 und 1953 entstandene Science-Fiction-Geschichten enthielt, die 1970 erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Geh‘ nicht zu Fuß durch stille Straßen“ erschienen und 1981 von Diogenes unter Verwendung des Originaltitels neu veröffentlicht worden ist. 
Die Geschichte „Der Fußgänger“ ist im Jahr 2053 angesiedelt und spielt in einer Dreimillionenstadt, die nur noch von einem Polizeiauto patrouilliert wird. Der Wagen fährt durch die verlassenen Straßen und gabelt mit Leonard Mead einen einsamen Mann auf, dessen Lieblingsbeschäftigung das Hinauswandern in die Stille ist. Da Mead über keinen Beruf verfügt, auch nicht über eine Frau, die ihm ein Alibi verschaffen könnte, soll er ins Psychiatrische Forschungszentrum für regressive Tendenzen gebracht werden… 
„Die Aprilhexe“ ist ein siebzehnjähriges Mädchen namens Cecy, die einer wundersamen Familie mit Zauberkräften entstammt und die Fähigkeit besitzt, ihren Körper zu verlassen und ihren Geist auf jedes erdenkliche Abenteuer zu entsenden. Sie schlüpft in den Geist von Ann Leary und lässt sie sich in den Jungen Tom verlieben, doch Tom bemerkt die Veränderung, die Ann durchmacht, und verliert das Interesse an ihr, was Cecy verzweifeln lässt. 
„Die Wildnis“ erzählt von den beiden Schwestern Janice und Leonora, die sich im Jahr 2003 darauf vorbereiten, die sechzig Millionen Meilen von Independence, Missouri, zum Mars zurückzulegen. Während Leonora voller Furcht ist, freut sich Janice darauf, endlich ihren Will wiederzusehen. Mit einem Anruf will sie ihren Liebsten über ihren Plan informieren, doch die Verbindung bricht schnell ab… 
In „Die Früchte am Grund der Schale“ versucht William Acton den Mord an Donald Huxley zu vertuschen, indem er systematisch alle Gegenstände und Flächen in Huxleys Haus zu säubern versucht. Währenddessen rekapituliert er, wie es zu diesem Mord gekommen ist… 
In „Die Flugmaschine“ wird im Jahr 400 Kaiser Yuan von einem Diener darüber informiert, dass er über der Chinesischen Mauer einen fliegenden Menschen gesehen habe. Als er den Mann vom Himmel herunterrufen lässt, will ihn der Kaiser vom Henker töten lassen… 
Die beste Geschichte präsentiert uns Bradbury aber mit „Das Nebelhorn“. An einem Novemberabend erzählt McDunn von dem Nebelhorn, das sie am Meeresufer hören, davon, wie seit drei Jahren einmal im Jahr zu ebendieser Zeit ein Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres auftaucht und das Nebelhorn anschreit. 
„Das Nebelhorn blies. Das Ungeheuer antwortete. Ich begriff das alles, ich kannte das alles – die Million Jahre einsamen Wartens, dass jemand wiederkäme, der nie wiederkam. Die Million Jahre der Abgeschiedenheit am Meeresgrund, der Wahnsinn Zeit dort unten, während die Reptilien-Vögel von den Himmeln verschwanden, die Sümpfe auf den Kontinenten austrockneten, die Faultiere und Säbelzahntiger ihre Zeit erlebten und in Teergruben sanken und die Menschen wie weiße Ameisen über die Hügel liefen. Das Nebelhorn blies.“ (S. 17) 
Mit „Das Nebelhorn“, das noch im Erscheinungsjahr 1953 unter dem Titel „Panik in New York“ verfilmt worden ist, hat Ray Bradbury eine seiner poetischsten Geschichten geschrieben und damit auch seiner Faszination für die ausgestorbenen Dinosaurier zum Ausdruck gebracht, die er immer wieder mal in seinen Geschichten thematisierte. 
Neben der berührenden Vorstellung, wie ein Millionen von Jahren altes Meeresungeheuer mit einem Nebelhorn kommuniziert, ist es vor allem die magische, alle Vorstellungskraft befeuernde Sprache, die Bradbury wie kaum ein Zweiter beherrscht. Die übrigen Geschichten kommen allerdings selten an diese Qualität von „Das Nebelhorn“ heran. Oft sind es nur kurze Gedankenspielereien, fantastisch oder märchenhaft anmutende Episoden, die auch mal ohne richtige Pointe beendet werden, als hätte Bradbury am Ende die Lust verloren, die Geschichte weiterzuspinnen.


Stephan Schäfer – „25 letzte Sommer“

Donnerstag, 14. März 2024

(Ullstein, 176 S., HC) 
Work-Life-Balance und Achtsamkeit sind seit Jahren in unserer Gesellschaft in aller Munde, unzählige Ratgeber und Artikel (nicht nur) in Frauen-Zeitschriften und darauf abgestimmte Unternehmenskulturen machen die modernen Arbeitnehmer darauf aufmerksam, dass es um mehr im Leben geht als um Karriere und möglichst viel Geld zu verdienen. Werke wie Khalil Gibrans „Der Prophet“ und Paulo Coelhos „Der Alchimist“ fanden sich auf einmal auch in sonst eher spärlich bestückten heimischen Bücherregalen. 
Mit seinem gerade mal 176 Seiten kurzen Roman „25 letzte Sommer“ legt der 1974 in Witten geborene Stephan Schäfer ein Debüt vor, das sicher gern als deutschsprachiges Pendant zu diesen Klassikern angesehen werden möchte, zumindest aber dessen Quintessenz widerspiegelt. 
Der namenlose Ich-Erzähler entscheidet sich am Samstagmorgen für morgendliches Jogging auf dem Land, wo er sich oft am Wochenende von den Strapazen des Alltags in der Stadt oder auf Reisen zu erholen versucht. So richtig will ihm das nie gelingen. Immer wieder denkt er an Mails, die noch zu schreiben, Rückrufe, die zu erledigen und andere Dinge seiner endlos erscheinenden To-Do-Liste abzuhaken sind. Ihm ist durchaus bewusst, dass er irgendwann im Leben die falsche Abzweigung genommen, den inneren Kompass, seine Freiheit und Fröhlichkeit verloren hat, stattdessen Arbeit, Anerkennung und Geldverdienen zum Mittelpunkt seines Lebens geworden sind. An diesem Morgen folgt er dem Trampelpfad hinunter zum See, wo er Karl kennenlernt, einen weltoffenen, kommunikativen Kartoffelbauer, der ihn erst zum Baden im See animiert, dann zu sich nach Hause auf eine Tasse Kaffee einlädt. 
Und so lernen sich an dem Wochenende zwei ganz unterschiedliche Männer kennen, schütten sich einander das Herz aus, sprechen über ihre Familien, aufgegebene und teilweise wiederentdeckte Hobbys, über einschneidende Erlebnisse, letztlich über den Sinn des Lebens. Als Karl vor Jahren schon mit der Diagnose einer nicht heilbaren Krankheit konfrontiert wurde, entschied er sich, jeden Augenblick seines Lebens zu genießen, keine Kompromisse mehr einzugehen, wieder zu malen und Rituale wie den „faulen Sonntag“ oder das Nachmittagsschläfchen zu begehen. Das bringt auch den sonst so geschäftigen Ich-Erzähler ins Grübeln. 
„Vor mir lagen noch 25 Sommer, wie Karl es am See so bildhaft auf den Punkt gebracht hatte. Irgendwann ist immer jetzt. Es galt, keine Zeit mehr zu verlieren, die vergangenen beiden Tage sollten mir Zuversicht geben. Mut hilft immer, Angst nie. Das hatte Karl mir gezeigt. Warum sollte mir das nicht auch gelingen?“
Stephan Schäfer versucht es seinem Publikum einfach zu machen. Wer es trotz unzähliger Ratgeber noch nicht geschafft haben sollte, mit mehr Achtsamkeit sein Leben zu gestalten, auf sein Herz zu hören, sich um die Dinge zu kümmern, die einem wirklich wichtig sind, der wird vielleicht durch diese sehr einfach gestrickte Geschichte auf den rechten Pfad gelenkt. 
Offenbar gehören nur wenige Dinge wie Mut, Offenheit und Zuversicht dazu, sich auf andere Menschen und Dinge wirklich einzulassen, um sich vom oft erdrückenden Ballast des Alltags lösen zu können und sich auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren. Der Autor rennt mit seiner lebensbejahenden Geschichte bei vielen Lesern und Leserinnen sicher offene Türen ein, allerdings ist die Story auch so überraschungsarm und ohne jede Originalität, dass nur der gutgemeinte Ansatz und die Schlichtheit der Erzählung überzeugt. Doch wirklich berührt hat mich „25 letzte Sommer“ nicht. 

John Grisham – „Die Entführung“

Dienstag, 12. März 2024

(Heyne, 384 S., HC) 
Mit seinem zweiten, 1991 veröffentlichten Roman „Die Firma“ gelang dem früheren Anwalt John Grisham gleich der große Coup. Er verkaufte die Filmrechte für 600.000 Dollar an Paramount, die mit der Verfilmung durch Sydney Pollack mit Tom Cruise in der Hauptrolle des jungen Anwalts Mitch McDeere nicht nur einen Blockbuster ins Kino brachten, sondern auch die Karrieren von Tom Cruise und John Grisham beflügelten. 
Nach über dreißig Jahren legt Grisham nun mit „Die Entführung“ eine vor allem von seinen treuesten Fans lang erwartete Fortsetzung vor – die allerdings über weite Strecken enttäuscht. 
Vor fünfzehn Jahren konnte Mitch McDeere als einer der besten Absolventen der juristischen Fakultät von Harvard unter den besten Job-Angeboten wählen. Entschieden hat er sich für die relativ kleine Kanzlei Bendini, Lambert & Locke in Memphis, die zwar nicht das sagenhafte Gehalt prominenter Großkanzleien zahlten, aber durch ihre familiäre Atmosphäre und großzügige Sozialleistungen auch Mitchs Frau Abby überzeugen konnten. Doch aus dem Traum wurde damals ein lebensbedrohender Alptraum, als Mitch dahinterkam, dass die Kanzlei einer Mafia-Familie in Chicago gehörte, die bereits vom FBI überwacht wurde. Mitch gelang es damals, nicht nur mit heiler Haut aus der Affäre herauszukommen, sondern auch noch zehn Millionen Dollar mitzunehmen, an denen das FBI offenbar kein Interesse hatte. 
Nachdem die McDeeres einige Zeit in Europa, vor allem in Italien, verbracht haben und Eltern von den beiden Zwillingen Carter und Clark geworden sind, hat Mitch Karriere bei Scully & Pershing gemacht, der größten Anwaltskanzlei der Welt mit Hauptsitz in New York und über dreißig Standorten auf allen Kontinenten. Mitch, der mittlerweile Partner bei S & P ist, soll das türkische Bauunternehmen Lannak vertreten, die für den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi eine eine Milliarde Dollar teure Brücke bauen sollten, doch weigert sich Libyen, die ausstehenden vierhundert Millionen Dollar zu zahlen, die nach Beendigung des Projekts noch offen sind. 
Um dieses Geld einzutreiben, reist Mitch mit Giovanna Sandroni nach Libyen. Giovanna ist die ebenfalls als erfolgreiche Anwältin arbeitende Tochter des schwer an Krebs erkrankten Luca Sandroni, der die römische Niederlassung von S & P leitet. Als sie entführt und von Scully & Pershing ein Lösegeld von 100 Millionen Dollar gefordert wird, entwickelt sich ein Wettlauf gegen die Zeit, um Leben und Tod… 
Mitch McDeere ist also – wie von so vielen Fans sehnsüchtig erhofft – zurück. Die dreißig Jahre, die seit seinem rasanten Aufstieg und Fall bei der gut als Mafia-Geldwäscherei getarnten Kanzlei in Memphis, vergangen sind, hat Grisham geschickterweise durch den Kniff halbiert, indem er die Handlung noch zu Lebzeiten des 2011 getöteten libyschen Staatschefs Gaddafi vor dem realen Hintergrund des wahnwitzigen „Great Gaddafi Bridge“-Projekts ansiedelt. Natürlich werden wir erst einmal ausführlich über den weiteren Werdegang der McDeeres informiert, über Abbys Ambitionen als Herausgeberin von Kochbüchern bei einem kleinen Verlag ebenso wie natürlich über die erstaunlich unproblematische Karriere ihres Mannes bei der weltgrößten Kanzlei. 
Doch wirklich nahe kommen wir den McDeeres nicht. Das liegt nicht nur an der skizzenhaften Rekapitulation der Zeit zwischen Bendini, Lambert & Locke und Scully & Pershing, sondern vor allem an Grishams fast schon klinisch nüchternen Schreibstil, der jede emotionale Verbundenheit zu den Figuren unterbindet. 
Dazu liegt Grishams Fokus ganz auf den handlungsgetriebenen Plot gerichtet. Wie Mitch von New York nach Rom und von dort aus nach Istanbul, wieder zurück nach Rom, nach London und New York fliegt, lässt sich logisch kaum begründen und lässt auch die fein austarierten juristischen Manöver vermissen, die gerade die frühen Grisham-Romane zu Eckpfeilern des Justizthriller-Genres werden ließen. 
In „Die Entführung“ wird nur hektisch versucht, die hundert Millionen Dollar Lösegeld aufzutreiben und die Identität der Entführer aufzudecken, packend ist dieser wenig leidenschaftlich ausgefochtene Kampf nicht. Was Grisham zumindest versucht hat, an Spannung aufzubauen, löst der Autor zum Ende hin recht unspektakulär und allzu vorhersehbar auf. Für diesen Plot hätte man die McDeeres nicht wieder aus der Mottenkiste holen müssen – aber dann hätte das Buch ein entscheidendes Verkaufsargument weniger… 

Ray Bradbury – „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“

Mittwoch, 6. März 2024

(Diogenes, 344 S., Tb.) 
Mit seinen verfilmten Werken „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und vor allem „Fahrenheit 451“ machte sich der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) unsterblich und hinterließ seine Spuren in der Kriminalliteratur ebenso wie im Horror-Genre, am eindringlichsten aber sicher im weiten Raum der Phantastik und Science-Fiction. Neben seinen bekannten Romanen erwiesen sich gerade Bradburys Kurzgeschichten als reicher Fundus an originellen Ideen und überbordender Sprachkunst. 1988 erschien mit „The Toynbee Convector“ eine späte Sammlung, die in der deutschen Ausgabe von Diogenes nach der besten Geschichte des Buches betitelt wurde: Vorhang auf für „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“ und 22 weitere Geschichten. 
In der eröffnenden Titelgeschichte der Originalsammlung, „Der Toynbee-Konvektor“ bittet der Reporter Roger Shumway den einzigen Zeitreisenden Craig Bennett Stiles zum exklusiven Interview und erlebt eine erstaunliche Überraschung. 
In der leicht gruseligen Geschichte „Die Falltür“ entdeckt Clara Peck nach zehn Jahren, die sie in dem alten Haus schon lebt, plötzlich eine Falltür, die zu einem unbekannten Dachboden führt – und zu unheimlichen Geräuschen, die sie erst Mäusen, dann Ratten zuordnet, bis sie selbst nachsehen muss, was sie allmählich in den Wahnsinn zu treiben droht. Im „Orientexpress Nord“ wird die alte Miss Minerva Halliday auf der Fahrt von Wien über Paris nach Calais auf einen bleichen Mann aufmerksam, der an einer furchtbaren Krankheit dahinzusiechen scheint. Als gelernte Krankenschwester erkennt sie sofort, an was der gebrechliche Mann leidet – an Menschen. Nach zweihundert Jahren, die er in einem Dorf bei Wien im Schutz von Bücherregalen vor den Atheisten lebte, sei er nun auf dem Weg nach England, wo die Menschen nicht zweifeln, sondern noch glauben, an Mythen und Grablegenden und Erscheinungen aus dem Reich des Unsichtbaren. Die Krankenschwester beschließt, den Mann auf seiner Reise zu begleiten… 
„Eine Nacht im Leben“ begleitet einen Mann auf seiner Reise nach New York, wo er über ein Stück für den Broadway sprechen soll, das nicht schreiben will, eigentlich aber davon träumt, in einer Frühlingsnacht mit einem Mädchen Hand in Hand irgendwohin spazieren zu gehen und in die Sterne zu sehen. 
„Es gibt keine Worte für so eine Nacht. Wir würden uns nicht einmal anschauen. Wir würden in der Ferne die Lichter der Stadt sehen und wissen, dass andere vor uns auf andere Hügel gestiegen sind, und dass es auf der Welt nichts Besseres gibt. Man könnte auch nichts Besseres machen; alle Häuser und Bräuche und Sicherheiten der Welt sind gar nichts gegen eine solche Nacht. Die Städte, die Menschen bei Nacht in den Zimmern der Häuser dieser Städte, die sind das eine; die Hügel und die freie Luft und die Sterne und das Händehalten, das ist das andere.“ (S. 64) 
In der Titelgeschichte der deutschen Ausgabe stehen die Comedy-Stars Stan Laurel und Oliver Hardy nur als Pate für eine außergewöhnliche Geschichte über einen Mann und eine Frau, die sich plötzlich auf einer Cocktail-Party begegnen und sich durch ihre gemeinsame Vorliebe für die beiden Komiker ebenfalls Laurel und Hardy nennen. 
Und so schafft Bradbury mit jeder weiteren Geschichte neue Welten, in der das Phantastische, das Ungeheuerliche, das Unvorstellbare einzieht und die Protagonisten zu kühnen Unterfangen und furchtlosen Träumen animieren. Nicht immer sind die Pointen überzeugend geglückt, und immer mal wieder gefällt sich Bradbury zu sehr in seiner grenzenlos erscheinenden Fabulierkunst, aber oft genug gelingt es ihm, bei seinem Publikum ein Tor in andere Welten zu öffnen, der Fantasie ihren freien Lauf zu lassen.


James Lee Burke – (Aaron Holland Broussard: 2) „Das verlorene Paradies“

Samstag, 2. März 2024

(Heyne, 320 S., Pb.) 
Mit seinen über zwanzig – teilweise auch verfilmten – Romanen um Detective Dave Robicheaux hat sich der 1936 in Houston, Texas, geborene James Lee Burke als vielleicht bedeutendste Stimme im Genre des Südstaaten-Krimis erhoben. Neben den seit 1987 veröffentlichten Romanen um den Vietnam-Veteranen und Alkoholiker sind es vor allem die Geschichten rund um die Holland-Familie, mit denen Burke sein Publikum in den Bann zu ziehen versteht. Nach den epischen Abenteuern, die Hackberry Holland („Zeit der Ernte“, „Regengötter“, „Glut und Asche“) und Billy Bob Holland („Dunkler Strom“, „Feuerregen“, „Die Glut des Zorns“) in den ihnen gewidmeten Buchreihen erlebten, feierte der Wanderarbeiter und Nachwuchsautor Aaron Holland Broussard hierzulande 2018 in „Dunkler Sommer“ seinen Einstand. Nun folgt mit „Das verlorene Paradies“ endlich die erste Fortsetzung.
Aaron Holland Broussard macht sich im Frühjahr 1962 als Trainhopper auf den Weg nach Denver, schlägt sich bis zur Heilsarmee durch und fährt mit dem Greyhound bis runter nach Trinidad, wo er auf der Farm von Jude Lowry und seiner Frau anheuert, um sich zusammen mit anderen Saisonarbeitern um das Vieh und den Ackerbau zu kümmern. Als er zusammen mit seinen beiden Kollegen Spud Caudill und Cotton Williams einen Pritschenwagen voller Tomaten zum Packhaus nach Trinidad fährt, werden die drei Freunde nach einem Restaurantbesuch von vier Männern zusammengeschlagen. Offenbar passte ihnen ein Aufkleber der Landarbeitergewerkschaft auf Mr. Lowrys Wagen nicht. 
Auf diese Weise lernt Broussard nicht nur den Detective Wade Benbow kennen, der es trotz Lungenkrebs nicht schafft, mit dem Rauchen aufzuhören, sondern auch die junge Kunststudentin und Kellnerin Jo Anne McDuffy. Doch die sich anbahnende Romanze wird von dem Umstand getrübt, dass Jo Annes schmieriger Dozent Henri Davos Anspruch auf die junge Frau erhebt und sich in ihrer Nachbarschaft ein paar unberechenbare, vollgedröhnte Junkies in einem Bus herumtreiben. Doch die meisten Probleme bereiten Broussard Rueben Vickers und vor allem sein Sohn Darrel, der die Prügelei in Trinidad angezettelt hatte. 
Derweil entwickelt Benbow ein besonderes Interesse an Broussard und zeigt ihm die Fotos von sechs Frauen und Mädchen, die in den letzten drei Jahren rund um Trinidad brutal ermordet worden sind, darunter die zwölfjährige Enkelin des Detectives. Während sich Broussard mit den teilweise unheimlich wirkenden Ereignissen rund um die Farm, die religiös verwirrten Junkies und die brutalen Vickers herumschlägt, wird er auch von beunruhigenden Träumen heimgesucht, die ihn zu seinem Einsatz in Korea 1953 und dem Verlust seines besten Freundes Saber Bledsoe zurückbringen. Detective Benbow hegt bereits einen Verdacht, wer für die Morde an den Mädchen und Frauen verantwortlich gewesen ist, doch fehlen ihm die Beweise. Als er Broussard ins Vertrauen zieht und mit ihm auf Mörderjagd geht, machen sie mehrere zutiefst verstörende Entdeckungen… 
„Am liebsten wäre ich zu den Sternen hinaufgestiegen und über die Berge davongesegelt. Ich wollte in die Welt meines Vaters entfliehen: ans Ufer des Bayou Teche, in Abende, die nach Magnolien, Jasmin, Trompetenblumen und Orangenblüten riechen. Einfach nur irgendwohin. Alles war besser als das Hier und Jetzt, denn ich hatte das Gefühl, gerade Zeuge der Zerstörung Edens geworden zu sein.“ 
Kaum einer versteht es, die Landschaft und das Lebensgefühl in den Südstaaten so bildhaft darzustellen wie James Lee Burke. Die Bilder und die Gerüche, die seine Sprache hervorrufen, entwickeln beim Lesen eine eigene Zauberkraft, dringen tief in die Vorstellungswelt des Publikums ein. Natürlich ist es einmal mehr unaussprechliche Gewalt, die die Geschichte von „Das verlorene Paradies“ prägt, auch wenn Liebe und Vertrauen möglich scheint. 
Die ungeklärten Morde an den sechs Mädchen und Frauen sind aber nur der Aufhänger für dieses Kriminaldrama, denn ebenso geht es um die Last unauslöschlicher Erinnerungen und schmerzhafter Verluste, um religiösen Wahn und die destruktive Kraft übermäßigen Drogenkonsums. Die psychischen Defekte und die unkontrollierte Gewalt, die hier zum Ausdruck kommt, ist nichts für schwache Nerven, folgt aber einer hypnotisierenden Dramaturgie, der man sich nicht entziehen kann. Allein die übernatürlichen Elemente, die über Traumbilder hinausgehen und die Handlung zum Finale hin ebenso maßgeblich wie unglaubwürdig beeinflussen, sorgen für ein paar Wermutstropfen in diesem leider viel zu kurzen Roman. 

Don Winslow – (Neal Carey: 5) – „Palm Desert“

Dienstag, 27. Februar 2024

(Suhrkamp, 195 S., Tb.) 
Eigentlich fühlte sich Neal Carey nach seinem letzten verpatzten Einsatz von der „Friends of the Family“, für die ihn sein zwergwüchsiger, einarmiger Ziehvater Joe Graham als Privatermittler für äußerst prominente Kunden ausgebildet und durch die er sein Studium finanziert hatte, aus dem Dienst entlassen. So kann er sich voll auf seinen Studienabschluss an der Columbia Universität konzentrieren und sich den Hochzeitsvorbereitungen widmen, die vor allem seine Freundin Karen umtreiben. 
Ihr gemeinsames Sexleben steht nun auch unter dem Vorzeichen von Karens deutlich artikulierten Kinderwunsch. Neal mag sich mit dem Thema noch nicht so recht anfreunden, was offensichtlich der Tatsache geschuldet ist, dass seine Mutter eine Prostituierte gewesen ist und er seinen Vater nie kennengelernt hat. Als Joe Neal darum bittet, den betagten Komiker Nathan „Natty Silver“ Silverstein aus einer Hotelsuite im sechs Stunden entfernten Las Vegas abzuholen und ihn nach Hause nach Palm Springs zu bringen, sagt Neal auch deshalb zu, um so für eine kurze Zeit den Diskussionen mit seiner ralligen Freundin um den Nachwuchs zu entgehen. 
Natürlich entpuppt sich der der Auftrag dann doch – Überraschung, Überraschung! – als sehr kompliziert. Denn schon an der Hotelbar verliert Neal seine Zielperson, als dieser mit Hope White eine alte Freundin wiedertrifft, mit der der alte geile Bock auf sein Zimmer verschwindet. So verpassen Neal und Natty erst den geplanten Flug um vier Uhr, bevor Neal am nächsten Tag frustriert feststellen muss, dass Natty nicht in den Flieger steigen will und sie den Weg nach Palm Springs mit einem Mietwagen zurücklegen müssen. Doch unterwegs werden Neal und Natty von Nattys ehemaligen Nachbarn Heinz und Sami entführt, was Neal vor Augen führt, dass hinter Nattys absichtlich verzögerter Heimkehr mehr stecken muss als angenommen… 
„Zunächst konzentrierte ich mich auf die Fakten. Heinz war unterwegs hierher, und er hatte eine Pistole. Wahrscheinlich glaubte er, wir seien bereits tot, und er würde nur Sami abholen. Also mussten wir uns verstecken, Sami als Köder vorschicken und dann schneller ziehen als Heinz. Oh Gott, hab ich wirklich gerade gesagt ,schneller ziehen‘? Ihn jedenfalls unschädlich machen, bevor er mitbekam, dass wir gar nicht tot waren. Eigentlich ganz einfach, oder? Was konnte da schon schiefgehen?“ (S. 163) 
Nach vielversprechendem Beginn mit den ersten beiden Romanen der Neal-Carey-Reihe, „London Undercover“ und „China Girl“, die Anfang der 1990er Jahre gleichzeitig den Beginn von Don Winslows Schriftsteller-Karriere markierten, ließ die fünf Bände umfassende Reihe nicht nur an Umfang merklich nach, sondern auch in qualitativer Hinsicht. 
Nach den 300 eher wirr überkonstruierten und krampfhaft auf humorvoll getrimmten Seiten von „A Long Walk Up the Water Slide“ bilden die 200 Seiten von „Palm Desert“ den Abschluss der Reihe um den freiberuflichen Privatermittler, der seinen vermeintlich kinderleichten Aufträgen nie gewachsen ist. 
Don Winslow, der sich in der Folgezeit mit harten Thrillern wie „Zeit des Zorns“, „Tage der Toten“ und „Das Kartell“ als einer der besten Genre-Vertreter etablierte, hat für den Abschluss seiner Neal-Carey-Reihe nicht mal eine vernünftige Story parat. Sie wirkt wie ein müder Abklatsch von Martin Brests „Midnight Run“ mit Robert De Niro und Charles Grodin in den Hauptrollen, nur dass „Palm Desert“ eben überhaupt nicht witzig ist. 
Von ein paar netten Jokes abgesehen gibt nämlich der notgeile Altkomiker Natty Silver immer wieder flache Witze zum Besten, bis durch einen eingeschobenen Briefwechsel zwischen einem Anwalt und einer Versicherungsgesellschaft überhaupt herauskommt, warum Heinz und Sami den früheren Varieté-Künstler in ihre Gewalt bringen wollen. Bis dahin ist das Interesse an der ideenlosen Geschichte aber schon verflogen, und am Ende ist man froh, dass die aus der Ich-Perspektive von Karen und Neal erzählte Story nach 200 Seiten endlich vorbei ist.  

Don Winslow – (Neal Carey: 4) „A Long Walk Up The Water Slide“

Sonntag, 25. Februar 2024

(Suhrkamp, 302 S., Tb.) 
Bevor Don Winslow mit harten Drogenmafia-Thrillern wie „Tage der Toten“, „Das Kartell“ und „Savages – Zeit des Zorns“ zu einem der besten Genre-Autoren weltweit avancierte, präsentierte er Anfang der 1990er Jahre seine ersten Fingerübungen mit einer fünfteiligen, humoristisch gefärbten Thriller-Reihe um Neal Carey, einen Studenten an der Columbia, der davon träumt, eines Tages am College Englisch zu unterrichten, und sich ein Zubrot damit verdient, für seinen Ziehvater und Vorgesetzten Joe Graham hin und wieder Aufträge als Privatdetektiv für die „Friends of the Family“ zu übernehmen. Nach „London Undercover“, „China Girl“ und „Way Down on the High Lonely“ veröffentlichte Suhrkamp 2016 den vierten Band unter dem Originaltitel „A Long Walk Up The Water Slide“
Seit Neals letztem Auftrag für die von Ed Levine geführte „Friends of the Family“, bei dem er einen Mann erschoss, hat sich der 28-Jährige in das Schlafzimmer seiner Freundin Karen Hawley zurückgezogen und vergeblich auf die unangenehmen Fragen von FBI, Highway Patrol und der Polizei gewartet. Er arbeitet an seiner Doktorarbeit zum Thema „Tobias Smollett: Literarischer Außenseiter“ und zieht ernsthaft in Erwägung, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, mit dem ihn der zwergwüchsige, einarmige Joe Graham sporadisch konfrontiert. Als Joe diesmal anruft und Neal einen Auftrag anbietet, bei dem er überraschenderweise niemanden suchen muss, sagt er auch wegen der Aussicht auf eine Terrasse mit Whirlpool zu, die sich Neal und Karen mit dem Honorar in ihrem Zuhause in Austin, Nevada, bauen lassen könnten. 
Doch natürlich entpuppt sich die Aufgabe, einer jungen Frau namens Polly Paget vernünftiges Englisch beizubringen, damit sie ihre Anschuldigung, von dem prominenten Fernsehmoderator und Unternehmer Jack Landis vergewaltigt worden zu sein, glaubwürdig vortragen kann, ohne als prollige Schlampe rüberzukommen, denn sowohl ihr Aussehen als auch ihre Sprache vermitteln mehr als überdeutlich diesen Eindruck. Zwar beteuert Graham, dass die Mafia nicht mit im Spiel sei, aber der Auftrag entpuppt sich doch als ziemlich heikel, denn Jack hat als Gründer, Präsident und Hauptanteilseigner von Family Cable Network, wo er mit seiner Frau Candice die beliebte Sendung „Familienzeit mit Jack und Candy“ moderiert, einiges zu verlieren, investiert er doch gerade in ein Ferienparadies, dessen Apartments sich nicht so schnell verkaufen lassen wie gewünscht. 
Bis zu ihrer Aussage soll Neal Polly nicht nur vernünftiges Englisch beibringen, sondern sie auch gut verstecken, denn natürlich setzen Jack Landis und seine Geschäftspartner alles daran, dass seine Sekretärin und Geliebte Polly nie ihre Aussage zu Protokoll geben kann. Dazu wird nicht nur der Privatermittler Walter Withers engagiert, sondern auch ein Auftragskiller. Als sich die Dinge weitaus turbulenter entwickeln als geplant, macht sich vor allem Joe Graham große Vorwürfe. 
„Die ganze Operation Polly Paget war überstürzt und ohne ausreichende Informationsgrundlage durchgeführt worden. Die Friends of the Family hätten den Fall nicht übernehmen dürfen, ohne vorher die gegnerische Seite restlos zu durchleuchten. Und dass Eddie und Kitteredge ein sicheres Versteck verraten hatten, war erst recht nicht nachvollziehbar. Dabei war es nicht mal unser Versteck gewesen, sondern das von Neal. Endlich hatte der Junge ein Zuhause gefunden, und wir lassen zu, dass es ihm um die Ohren fliegt. Wir sind schludrig geworden, dachte Graham. Der Erfolg hat uns glauben lassen, wir seien besser, als wir sind.“ (S. 225) 
Mit dem vierten Band seiner 1991 gestarteten Neal-Carey-Reihe entwickelt Don Winslow die Lebensgeschichte des jungen Doktoranden, der nebenbei als Privatermittler für die Firma arbeitet, in der auch sein Ziehvater tätig ist, konsequent weiterentwickelt. Die Beziehung zu seiner Freundin Karen steht auf einer soliden Basis, das überraschende Auftrags-Angebot kommt wie gerufen, um den Lebensstil des jungen Paars etwas aufzupeppen. Doch die Beziehung zwischen Neal und Karen gerät schnell in den Hintergrund, als die billig aufgemotzte, herrlich prollig daherkommende Polly in ihr Leben tritt und damit einen höchst komplexen Rattenschwanz hinter sich herzieht, der ordentlich Action und ein paar Tote mit sich bringt. 
Das ist temporeich und witzig - vor allem in den knackigen Dialogen – geschrieben, doch schießt Winslow in der zweiten Hälfte des gerade mal 300-seitigen Romans weit übers Ziel hinaus, als die mittlerweile unüberschaubare Schar an Akteuren an schnell wechselnden Schauplätzen die Orientierung zu verlieren drohen und damit den Lesegenuss arg schmälern. Denn für feinsinnige Charakterisierungen bleibt hier kein Raum. Winslow ist hier so auf Action und pointierten Humor getrimmt, dass die Story darunter leidet. Mit einem ähnlichen Konzept ist die „Slow Horses“-Reihe des Briten Nick Herron weit origineller ausgefallen.  

Donal Ryan – „Seltsame Blüten“

Mittwoch, 21. Februar 2024

(Diogenes, 272 S., HC) 
Dafür, dass sich Hartnäckigkeit durchaus auszahlen kann, ist der Ire Donal Ryan ein vorzügliches Beispiel. Von dem Umstand, dass seine ersten Romane 47-mal abgelehnt wurden, ließ er sich nicht beirren. Nachdem Lilliput Press ab 2012 Ryans ersten beiden Werke veröffentlicht hatte, wurde auch der Diogenes Verlag auf das Talent aufmerksam und legt nach „Die Sache mit dem Dezember“, „Die Gesichter der Wahrheit“, „Die Lieben der Melody Shee“ und „Die Stille des Meeres“ nun mit „Seltsame Blüten“ bereits den fünften Roman eines Autors vor, der für seine früheren Werke gleich mehrmals mit dem Irish Book Award ausgezeichnet worden ist. 
Irland im Jahr 1973. Mit ihren jeweils um die 60 Jahren leben Kit und Paddy Gladney gottesfürchtig, einfach, aber zufrieden in einem kleinen Cottage in Knockagowny, County Tipperary. Paddy fährt morgens mit der Post durch den Ort und arbeitet nachmittags als Knecht auf der Jackmans, während Kit sich neben dem eigenen Haushalt um die Buchführung einiger Kaufleute in der Gegend kümmert. 
Dass ihre einzige Tochter Moll als Zwanzigjährige vor fünf Jahren ohne etwas zu sagen eines Morgens den Bus nach Dublin genommen hat, lastet schwer auf der Seele des Ehepaars, zumal ihre eigenen Versuche, ihre Tochter in Dublin ausfindig zu machen, kläglich scheiterten. Doch fünf Jahre später taucht Moll ebenso plötzlich wieder vor ihrer Tür auf. Überglücklich lassen Kit und Paddy die Heimgekehrte erst einmal in Ruhe, bis sie selbst eine Erklärung zu ihrem Verschwinden und ihrer Rückkehr abzugeben bereit ist. 
Doch bevor Moll auch nur ein Wort dazu abgibt, taucht ein Mann in der Gegend auf, der sich nach Moll erkundigt, und wenig später steht auch er vor der Tür der Gladneys. Doch das sind nicht die beunruhigendsten Neuigkeiten, mit denen Kit und Paddy konfrontiert werden… 
„Kit löst die Finger aus der Gebetshaltung, ballt die Hände zu Fäusten, faltet sie erneut und fährt mit dem Takt ihres Rosenkranzes fort, sie versucht, die Gedanken auszublenden, die ihre Gebete überlagern, doch es gelingt ihr nicht. Es ist einer dieser Abende, an denen sich ungebetene Erinnerungen in dein Vordergrund drängen und ihre Gedanken in Beschlag nehmen.“ (S. 241) 
Mit seinem neuen Roman setzt sich Ryan einmal mehr mit dem Leben und den Schicksalen einfacher Menschen im stark katholisch geprägten Irland auseinander und beschreibt in fast schon verschwenderisch ausgereizter Sprachkunst, wie sich die fünfjährige Abstinenz einer geliebten Tochter und ihre unerwartete Rückkehr auf das Leben eines ganzen Dorfes auswirkt. Dabei geht Ryan nicht chronologisch vor. Tatsächlich unternimmt er in der Erzählung mehr als gewagte Sprünge ebenso in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, um die Geheimnisse rund um Molls Verhalten und weit darüber hinaus zu lüften. 
Vor allem der erste Teil ist dem Autor gut gelungen, wenn er die Lebensumstände und die Menschen in Knockagowny beschreibt. Als Moll, inzwischen 25-jährig, plötzlich zu ihren Eltern zurückkehrt, ändert sich natürlich einiges, doch wirken die nun beschriebenen Ereignisse sehr robust zusammengewürfelt. Ein funktionierender Erzählfluss will sich da nicht einstellen. Stattdessen wird man als Leser immer wieder mit neuen, lange zurückliegenden oder weit voraus geeilten Ereignissen konfrontiert, die erst im Laufe der nächsten Kapitel aufgeschlüsselt werden. 
„Seltsame Blüten“ stellt insofern einen programmatischen Titel dar, als Donal Ryan die Dramaturgie seiner Erzählung(en) kräftig durchrüttelt und sein Publikum dazu zwingt, sich immer neu auf die Ereignisse nach zunächst unbestimmt wirkenden Zeitsprüngen einzustellen. Das kann man machen, führt hier aber neben dem abgehackten Erzählfluss vor allem dazu, dass man bei all den verpassten Ereignissen, die im Nachhinein nur skizzenhaft rekapituliert werden, die emotionale Bindung zu den Figuren verliert. So überzeugt Ryans neuer Roman zwar einmal mehr durch seine sprachliche Virtuosität, doch fesselt der Plot längst nicht so wie in seinen vorangegangenen Werken.  

Emanuel Bergmann – „Tahara“

(Diogenes, 288 S., HC) 
In der Filmszene kennt sich der 1972 in Saarbrücken geborene Emanuel Bergmann aus, verbrachte er nach dem Abitur doch einige Jahre in Los Angeles, um Film und Journalismus studieren, um dann für verschiedene Filmstudios, Produktionsfirmen und Medien sowohl in den USA als auch in Deutschland zu arbeiten. Was liegt da näher, als einen Roman in der Filmwelt anzusiedeln?  
Bergmann entführt seine Leserschaft mit seinem neuen Roman „Tahara“ zum Filmfestival nach Cannes, wo das Leben seines Protagonisten kräftig aus den Fugen gerät. 
Der berühmte Filmkritiker Marcel Klein hat seine besten Zeiten hinter sich. Früher hat man ihn sogar mit George Clooney verglichen. Mittlerweile muss er seine Stirnglatze mit einem Strohhut verdecken. Er ist mit der Abzahlung eines Kredits im Rückstand und trifft völlig übermüdet in Cannes ein, von wo er einmal mehr über das Filmfestival berichten soll. 
In die Pressekonferenz mit John Travolta, der seinen neuen Actionfilm vorstellt, geht er völlig unvorbereitet, doch dafür begegnet er der attraktiven französischen Lehrerin Héloïse, die am Lycée Französisch und Deutsch unterrichtet und wie Marcel das Kino liebt. Bei einem Espresso kommen sich die beiden völlig unterschiedlichen Filmliebhaber näher, doch ihre Begegnungen in den folgenden Tagen sind ebenso von Leidenschaft wie Streit, vor allem aber von Geheimnissen geprägt, die erst nach und nach gelüftet werden und ihre stürmische Liaison in etwas verwandeln, was beide ebenso fasziniert wie verängstigt. 
Als Marcel für eine Titelstory den Hollywoodstar Eva Vargas interviewen soll, die in der Steven-Spielberg-Produktion „A Light in the Dark“ die Hauptrolle verkörpert, kommt es zum Eklat, als Marcel der Schauspielerin erst in den Ausschnitt guckt und sie dann auf die Affäre ihres Verlobten anspricht. Da Marcel aus dem Interview nicht viel herausholen kann, findet er eine eigene Lösung für das Problem, das ihm allerdings nach Abgabe seiner Story um die Ohren fliegt… 
„Nun war er aufgeflogen, und so schrecklich das war, es barg auch eine kleine Gnade. Er konnte neu anfangen, reinen Tisch machen. Er hatte in diesen Tagen mit Héloïse etwas gekostet, von dem er vermutete, dass es manch anderen Menschen für immer vorenthalten blieb. Er begehrte sie auf eine Art, die ihn vollkommen verzehrte, und hätte man ihn gefragt, was er brauche, so hätte er geantwortet: nichts außer ihr, weder Schlaf noch Wasser, ich will nur bei ihr sein, in ihr sein, mit ihr sein.“ (S. 200) 
Mit dem Titel „Tahara“ nimmt Emanuel Bergmann („Der Trick“) Bezug auf die jüdische Tradition, die Toten vor der Beerdigung von Kopf bis Fuß sorgfältig zu waschen, damit der Verstorbene ohne Schmutz und Scham, vielleicht auch ohne Sünde vor seinen Schöpfer treten kann. Bergmanns ein wenig autobiografisch eingefärbter Marcel Klein durchläuft in dem Roman eine ähnliche Entwicklung, wird er doch durch die Entlarvung eines jahrelang gepflegten feinen Lügengespinstes dazu gezwungen, kräftig aufzuräumen in seinem Leben. 
Als Katalysator dient ihm dabei die Affäre mit der streng katholisch erzogenen Französin Héloïse, die aus ihrer Ehe mit dem Apotheker Grégoire auszubrechen versucht, sich ihm aber durch ihr Ehegelübde bis zum Tod mit ihm verbunden fühlt. Über die schwierige Liaison zwischen Marcel und Héloïse hinaus bietet „Tahara“ aber auch faszinierende Einblicke hinter die Kulissen eines Medienspektakels wie dem Filmfestival in Cannes, wo wirklich alles nur darauf ausgerichtet ist, dass eine gute Presse zu den Filmen erscheint, um die Leute in die Kinos zu locken. 
Diese Mechanismen entlarvt der Filmbranchen-Insider Bergmann auf unterhaltsame Weise. Die Kombination aus temperamentvoller Liebesgeschichte und einem etwas desillusionierenden Blick in die Film- und Medienwelt wirkt selbst wie der Plot zu einem Hollywood-Film, erinnert stellenweise aber auch an die amourösen Abenteuer aus der Feder von Philippe Djian. Der temporeiche Plot und das interessante Thema machen „Tahara“ zu einem filmreifen Lesevergnügen.