Chase Novak – “Breed”

Freitag, 15. März 2013

(Hoffmann und Campe, 350 S., HC)
Für die Kinderbuchlektorin Leslie Kramer geht ein Wunsch in Erfüllung, als sie nicht mehr nur täglich auf dem Weg zu ihrem Verlag an dem wunderschönen Stadthaus in der altehrwürdigen New Yorker East Sixty-Ninth Street vorbeiläuft und immer mal wieder bewundernd davor stehenbleibt, sondern eines Tages unverhofft von seinem Besitzer eingeladen wird, das Haus von innen zu besichtigen. Fünf Monate später waren Leslie und der wohlhabende Anwalt Alex Twisden verheiratet.
Zu ihrem gemeinsamen Glück fehlt nur noch ein Kind. Doch alle Versuche, die mit Alex‘ Geld zu finanzieren waren, haben noch nichts bewirken können, weder Akupunktur, noch Kräutermedizin oder Hypnose. Doch dann erfahren sie durch ein befreundetes Paar aus der Selbsthilfegruppe, das nach elf Jahren endlich Kinderfreuden entgegensieht, von einem Arzt in Ljubljana, der als Fruchtbarkeitsspezialist eine ungewöhnlich hohe Erfolgsrate aufweisen kann. Es soll ihr letzter Versuch sein, also fliegen Alex und Leslie nach Slowenien, lassen sich jeder von Dr. Kiš eine schmerzhafte Spritze geben und haben wie erhofft Erfolg. Dass mit der Schwangerschaft einige unschöne Begleiterscheinungen auftreten, nimmt das überglückliche Paar zunächst hin, doch die Veränderungen, die mit den jungen Eltern nach der Entbindung der Zwillinge Adam und Alice einhergehen, führen zu katastrophalen Familienverhältnissen. Die Kinder werden nachts zu ihrem eigenen Schutz in den Keller gesperrt, irgendwann gelingt ihnen die Flucht.
„Wie alle jungen Säugetiere sind sie genetisch geprägt, ihren Eltern zu vertrauen und zu glauben, dass die Wesen, die sie auf die Welt gebracht haben, ihre Zuflucht in einer herzlosen Welt darstellen. Das ist in ihrem Gehirn, es ist in ihrem Rückenmark; es ist ihre grundlegende und notwendige Veranlagung zu glauben, dass Mutter und Vater da sind, um sie zu beschützen, und an diesem Instinkt halten sie fest, egal wie zwingend der Beweis fürs Gegenteil auch sein mag. Selbst jetzt, als sie diese Illusion aufgeben und um ihr Leben laufen, überschattet Zweifel jede ihrer Bewegungen, da sie auf eine Realität reagieren, die eigentlich unvorstellbar ist, eine Wahrheit, die sich ständig wie eine Lüge anfühlt, geschaffen von ihren eigenen Schwächen oder von ihrer fiebrigen Phantasie.“ (S. 245) 
Wie schwer es ist, Erwachsenen zu vermitteln, dass den Kindern großes Leid droht, müssen die Zwillinge auf ihrer Flucht vor ihren immer mehr verwahrlosten Eltern am eigenen Leib erfahren.

„Ein jeglicher fürchte seine Mutter und seinen Vater.“ Der amerikanische Schriftsteller Scott Spencer, der „Breed“ erstmals unter seinem Pseudonym Chase Novak veröffentlicht, hat dieses Zitat aus 3. Mose 19,3 nicht nur seinem Roman vorangestellt, sondern es als Ausgangspunkt für seine zutiefst beängstigende Geschichte genommen. Sind es in der Horrorliteratur und Filmgeschichte („The Omen“, „Orphan - Das Waisenkind“) sonst die Kinder gewesen, die das Grauen in den Alltag der Eltern bringen, kehrt Novak das Szenario einfach um und kreiert eine Gruselgeschichte, die einen nicht mehr loslässt. Es ist die Hilflosigkeit junger Menschen gegenüber ihren übermächtigen Schöpfern, die das Geschehen so grausam erscheinen lassen. Dabei lässt der Autor die Eltern nicht mal als klassische Bösewichte erscheinen, sondern als ihrerseits Betrogene, die ihren Kinderwunsch mehr als teuer bezahlen müssen. Man darf sehr gespannt sein, was Novak als nächstes für eine „Gute Nacht“-Geschichte aus seinem Giftschrank zaubert!

Fabio Volo – “Zeit für mich und Zeit für dich”

Dienstag, 12. März 2013

(Diogenes, 261 S., Pb.)
Lorenzo hat es nicht leicht gehabt in seinem Leben. Als Sohn eines stets verschuldeten Barbesitzers ist er in ärmlichen Verhältnissen in einem Dorf bei Mailand aufgewachsen und hat es stets bedauert, keinen wirklichen Kontakt zu seinem jetzt 76-jährigen Vater aufgebaut haben zu können, auch wenn er als junger Mann in der Bar auszuhelfen begann, um die Schuldenlast zu drücken, oder direkt mit Geld aushalf.
Als Lorenzo einen Job bei einem Schuldeneintreiber annahm, war das für den nie gesprächigen Vater der Verrat schlechthin. Erst als der damals 14-jährige Junge den neuen, 30 Jahre alten Nachbarn Roberto kennenlernte, eröffnete sich ihm eine neue Welt aus Musik und Büchern, die sein weiteres Leben prägen sollten.
„Es war Neugier, die mich zum Lesen trieb, nicht Pflichtgefühl. Immer mehr wollte ich wissen, es gab mir das Gefühl zu wachsen. Ich fand Gefallen daran, den Figuren der Bücher zu begegnen, mich mit ihnen auseinanderzusetzen, ja mich mit ihnen zu messen. Ich fühlte mich aufs engste mit ihnen verbunden. Von Menschen zu lesen, die noch schwierigere und schlimmere Dinge durchlebten als ich, machte meine eigenen Sorgen erträglicher, und ich fühlte mich weniger allein, weil ich nicht der Einzige war, der gedemütigt wurde. Es gab noch mehr Menschen wie mich, ich brauchte mich nicht mehr so allein zu fühlen, und vor allem erfuhr ich viel Neues über mich selbst. Die Geschichten waren zwar erfunden, doch die Gefühle waren real, und ganz offensichtlich kannten die Autoren, was sie beschrieben. Plötzlich gab es lauter neue Menschen in meinem Leben, die die Macht hatten, meine Stimmung zu beeinflussen, mir neue Gedanken einzugeben, mir eine neue Art, zu leben und zu empfinden, aufzuzeigen.“ (S. 76f.) 
Mittlerweile hat Lorenzo Karriere als Werbetexter gemacht, seinen Eltern, die endlich die Bar verkauft haben, eine Wohnung gekauft, in der sie unbeschwert ihren Lebensabend verbringen können, aber glücklich ist er nicht. Vor zwei Jahren hat ihn seine große Liebe Federica verlassen. Sicher, es hat danach andere Frauen gegeben, aber nichts ersehnt sich Lorenzo mehr, als Federica zurückzugewinnen. Als er erfährt, dass sie demnächst heiratet, dreht er fast durch. Ein letztes, verzweifeltes Mal versucht er, Federica zurück in seine Arme zu führen …
Das italienische Multitalent Fabio Volo hat bereits mit seinen vorigen Romanen „Noch ein Tag und eine Nacht“ und „Einfach losfahren“ geschickt und verführerisch mit scheinbar leichter Hand von den schillernden, geheimnisvollen Pfaden der Liebe geschrieben, und in diesem Sinne bleibt sich der Autor, Schauspieler, Fernseh- und Radio-Moderator in seinem neu bei Diogenes veröffentlichten Werk treu. Was „Zeit für mich und Zeit für dich“ vor allem ausmacht, ist nicht allein die Reflexion über eine verlorene Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, sondern die parallel dazu entwickelte Geschichte einer schwierigen Beziehung zwischen einem Sohn und seinem immer irgendwie fremd gewesenen Vater. Die nebenbei eingeflochtenen Erkenntnisse und Erlebnisse aus Lorenzos Freundes- und Arbeitswelt komplettieren die Suche eines Mannes nach der Essenz des Lebens und machen den tiefsinnigen wie leichtfüßigen und humorvollen Roman so lesenswert.

Michael Connelly – (Mickey Haller: 4) “Der fünfte Zeuge”

Sonntag, 10. März 2013

(Knaur, 637 S., Tb.)
Nachdem der Ermittler Harry Bosch in “Der Mandant” seinen Halbbruder, den Strafverteidiger Mickey Haller, eingeführt hat, durfte dieser in Connellys letzten Roman „Spur der toten Mädchen“ erstmals an vorderster Front sich eines Falles annehmen. In „Der fünfte Zeuge“ taucht Bosch nur noch als Randnotiz auf. Dafür hat es Haller mit einem extrem kniffligen Fall zu tun …
Als Strafverteidiger hat Mickey Haller gerade ein Werbepakt für die spanischsprachigen Radiosender gekauft und alle Hände voll damit zu tun, gegen Zwangsräumungen vorzugehen und die Rechtmäßigkeit von Zwangsvollstreckungen zu überprüfen, was den ehemaligen Hausbesitzern, die auf einmal ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen können, in den meisten Fällen zumindest etwas Luft verschafft. Doch dann kommt mit Lisa Trammel auf Haller eine Mandantin zu, die nicht nur ihre Ratenzahlungen eingestellt hat, sondern beschuldigt wird, Mitchell Bondurant ermordet zu haben, den Chef der Bank, die der Angeklagten das Haus wegnehmen will. Die Verteidigung baut darauf, dass die gerade mal 1,60 Meter messende Trammel den viel größeren Mann unmöglich mit einem Hammer erschlagen haben kann, außerdem plant Haller einen anderen Verdächtigen vorzuführen, Louis Opparizio, der mit seiner Firma ALOFT im Zuge der Zwangsversteigerungen den Papierkram für Banken wie WestLand National erledigte.
„Ich hatte nur ein Ziel, und die Entscheidung der Geschworenen hing davon ab, ob ich es erreichte. Ich musste den Mann im Zeugenstand zum Äußersten treiben. Er war nur hier, weil er seiner Gier und Eitelkeit aufgesessen war. Er hatte es gegen den Rat seiner Anwälte abgelehnt, sich hinter seinem Aussageverweigerungsrecht zu verstecken, und die Herausforderung angenommen, sich mir vor vollem Haus in einem Kampf Mann gegen Mann zu stellen. Meine Aufgabe war, ihn diese Entscheidung bereuen zu lassen. Meine Aufgabe war, ihn dazu zu bringen, sich vor den Geschworenen auf sein im fünften Zusatzartikel garantiertes Recht zu berufen, die Aussage zu verweigern. Wenn er das tat, kam Lisa Trammel frei.“ (S. 570 f.) 
Doch bis dahin ist es für Haller ein ungemein schwerer Weg, denn die gegen seine Mandantin vorgelegten Beweise scheinen erdrückend zu sein, auch wenn sie von der Staatsanwaltschaft sehr spät dem Gericht vorgelegt worden sind. Daneben bemüht sich Haller, seine Ex-Frau und die gemeinsame Tochter nicht zu vernachlässigen, um sich alle Optionen offen zu halten, seine Familie wieder zusammenzuführen.
Als langjähriger Polizeireporter weiß der amerikanische Bestseller-Autor Michael Connelly, wo er spannende Geschichten findet, und er versteht es hervorragend, sie auch so zu erzählen, dass selbst über 600 Seiten zu einem echten Pageturner werden. Mit „Der fünfte Zeuge“ hat Connelly einen packenden Fall, ein sympathisches Team, eine schwierige Beweislage und eine undurchsichtige Angeklagte. All das verwebt der Autor zu einem rasant geschriebenen Justiz-Thriller mit überraschendem Finale.
Leseprobe Michael Connelly – „Der fünfte Zeuge“

Jeff Lindsay – “Dexter”

Sonntag, 17. Februar 2013

 (Knaur, 493 S., Tb.)
Während in den USA bereits die siebte Staffel der erfolgreichen Krimi-Serie “Dexter” gestartet ist, erscheinen in Deutschland die der Serie zugrundeliegenden Romane von Jeff Lindsay mittlerweile stark verzögert. So mag es die treuen „Dexter“-Zuschauer zunächst etwas verwundern, dass in dem schlicht „Dexter“ betitelten fünften Roman, der in den USA bereits 2010 veröffentlicht worden ist, Blutspuren-Analyst Dexter Morgan jetzt erst die Geburt seiner Tochter Lily Anne feiert, vor allem dürfte er sich darüber wundern, dass Dexters Bruder Brian, der als „Kühllasterkiller“ in Buch/Staffel 1 sein Unwesen trieb, noch immer unter den Lebenden weilt.
Während Dexter durch die Geburt seiner Tochter zunehmend und irritierenderweise menschliche Regungen zu verspüren scheint, schleicht sich Brian in Dexters Familie ein, was dem misstrauischen Dexter überhaupt nicht zusagt. Derweil ermittelt seine Schwester Deborah in einer Fall einer mutmaßlichen Entführung, weshalb sie sich nicht nur mit dem FBI herumschlagen muss, sondern auch auf der Suche nach einem „Goth hoch zwei“, einem Vampir, ist, der ausgerechnet zur Familie von Miamis populären Stadtrat Acosta zählt und bei all seinen bisherigen Verbrechen von seinem Vater freigekauft worden ist – beste Voraussetzungen also für Dexter, sich des jungen Mannes persönlich anzunehmen, um ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Doch als sich seine Schwester nach zunächst vorschriftsmäßiger Polizeiart auf die Suche nach dem vermissten Mädchen macht, stoßen die beiden Morgans auf einen Zirkel, in dem der Genuss von Menschenfleisch ganz oben auf der Lustskala steht. Dass während der Ermittlungen aber immer wieder Dexters Bruder auf der familiären Bildfläche erscheint, irritiert Dexter auf beunruhigende Weise.
„Ich wusste nach wie vor nicht, was er im Sinn hatte, warum er immer wieder bei uns auftauchte. Konnte es sein, dass es ihn wirklich nach einer Art Familienanbindung verlangte? Schwer vorstellbar – andererseits hätte ich das vor Lily Anne von mir auch nicht geglaubt, und doch lag ich hier, schwor allen dunklen Freuden ab und schmiegte mich an den Busen einer echten Familie. Vielleicht sehnte sich Brian nach denselben einfachen menschlichen Banden. Vielleicht wollte auch er sich ändern. Und vielleicht klatschte ich dreimal in die Hände, und die Fee Tinkerbell erwachte wieder zum Leben. Das war in etwa ebenso wahrscheinlich; Brian war sein ganzes Leben auf dem Dunklen Pfad gewandert, er konnte sich nicht ändern, nicht so grundlegend. Er musste andere Gründe dafür haben, sich in mein Leben zu drängen, und früher oder später würden sie offenbar werden.“ (S. 375) 
Doch die Auflösung hebt sich Lindsay natürlich bis zum Schluss auf. Bis dahin darf der Leser auf ebenso amüsante wie spannende Weise verfolgen, wie Dexter mit seinen inneren Dämonen kämpft, um zu dem liebenden Familienvater zu werden, der er de facto ja ist, womit er sich aber mit der leiblichen Tochter Lily Anne erst so richtig auseinanderzusetzen beginnt. Auf gewohnt kurzweilige, extrem unterhaltsame Art gehen bei Lindsays Romanen Dexters außergewöhnliche Zwiesprache mit seinem dunklen Begleiter und die parallel verlaufende Polizeiarbeit Hand in Hand. Der typische Dexter-Humor, Deborahs unflätige Schimpftiraden und eine außergewöhnliche Krimi-Handlung machen auch „Dexter“ zu einem Thriller-Vergnügen der etwas anderen Art.
Leseprobe Jeff Lindsay – “Dexter”

John Niven – “Das Gebot der Rache”

Sonntag, 10. Februar 2013

(Heyne, 304 S., HC)
Donald R. Miller hat es gut getroffen. Als Mann der wohlhabenden Tochter noch wohlhabenderer Eltern fristet der Mittvierziger ein beschauliches Leben in der idyllischen Einöde von Saskatchewan in Kanada, indem er gelegentlich wohlwollende Filmkritiken für das Anzeigenblättchen verfasst, das seine Frau Sammy herausgibt, und auf den gemeinsamen Sohn Walt aufpasst. Doch das Familienglück gerät arg ins Wanken, als eines Tages der Labrador Herby verschwindet und Donald das ausgeweidete Tier unweit der Bushaltestelle im Schnee auffindet.
Sofort werden Donalds Erinnerungen an seine wenig glorreiche Kindheit in Schottland wachgerufen, die die dunklen Vorahnungen größeren Unglücks heraufbeschwören.
„Zum ersten Mal, seit wir hier lebten, wurde unser Glück bedroht. Und das wirklich Beunruhigende daran war, dass ich das dumpfe Gefühl hatte, als hätte ich so etwas … erwartet. Nicht genau das, was geschehen war, aber etwas in der Art. Als hätte ich unterschwellig ständig mit dem Schlimmsten gerechnet, weil ich wusste: Mein Glück war nur erschlichen, und früher oder später musste der Schwindel auffliegen. Du hast das große Los gezogen. Den Sechser im Lotto. Hast du wirklich geglaubt, das würde immer so weitergehen? Dass das Karma so etwas zulassen würde? Aber du glaubst ja nicht an Karma. Greise Nazi-Kriegsverbrecher liegen in Südamerika an ihren Swimming Pools, während anderswo Babys von Lastwagen überrollt werden. Nichts als wirre nächtliche Gedanken, allein der Übermüdung geschuldet. Eine totale Überreaktion auf den Tod eines Haustiers, das von einem Wolf gerissen wurde. Was hast du denn erwartet, als du hier raus in die Wildnis gezogen bist?“ (S. 62) 
Doch die eigenen, nicht wirklich überzeugenden Beschwichtigungen werden bald in ihre Einzelteile zerlegt, als auch Sammy nach einem außerplanmäßigen Meeting nicht nach Hause kommt, und die Polizei mit einem Hubschrauber auf dem verschneiten, zwei Hektar großen Grundstück landet …
Der schottische Autor John Niven hat mit „Kill Your Friends“ eine bissige Satire auf die Musikindustrie abgeliefert, mit „Coma“ einen etwas anderen Golf(-Sport)-Thriller und schließlich mit „Gott bewahre“ eine gar blasphemische Gottesgeschichte. Mit „Das Gebot der Rache“ legt er erstmals einen überraschend konventionellen Thriller vor, der ganz ohne den typischen John-Niven-Humor auskommt, dafür aber knallhart das bislang beschauliche Leben seines Ich-Erzählers zerpflückt. Dabei kommt erst in den sukzessive eingestreuten Rückblenden ans Licht, was zu den grausamen Ereignissen geführt hat, mit denen sich der Protagonist auseinandersetzen muss – einschließlich überraschender Wendungen und einem furiosen Showdown!
Leseprobe John Niven – „Das Gebot der Rache“

Tom Wolfe – „Back To Blood“

Samstag, 9. Februar 2013

(Blessing, 768 S., HC)
Der fünfundzwanzigjährige Cop Nestor Camacho wurde gerade erst zu Miamis Marine Patrol versetzt, da gerät er durch einen kühnen Rettungsversuch in die Schlagzeilen, als er einen kubanischen Flüchtling vom Mast einer Luxusyacht holt. Das von etlichen Schaulustigen und den Medien beobachtete Spektakel wirkt sich allerdings nicht positiv auf Nestors Karriere aus, denn für seine kubanische Familie, Freunde und Mitbürger ist er ein Verräter am eigenen Volk, während ihn die amerikanische Bevölkerung als Helden feiert.
Nestors Freundin, die psychiatrische Krankenschwester Magdalena, flüchtet in die Arme ihres prominenten Chefs, der sich wiederum durch einen pornografiesüchtigen Patienten in die Elite von Miamis Gesellschaft einschleicht. Nachdem bei YouTube auch noch ein Video auftaucht, in dem Nestor mit einem Kollegen auf einen Afroamerikaner losgeht und ihn wüst beleidigt, muss der Cop seine Dienstwaffe und –marke abgeben. Doch in seiner Freizeit geht er dem engagierten Journalisten John Smith zur Hand, der Nestor im Miami Herald als Helden gefeiert hat und den Cop nun zur Aufdeckung eines gigantischen Kunstschwindels benötigt. Ausgerechnet Nestors Ex-Freundin Magdalena entwickelt sich zur wertvollen Augenzeugin, nachdem sie die Gunst von Sergej Koroljow, russischer Oligarch und Förderer der Kunstszene in Miami, erringen konnte. Doch statt den Ausflug in die schillernde Welt des charmanten und attraktiven Mannes von Welt zu genießen, wird Magdalena in Sergejs Umfeld so gedemütigt wie noch nie in ihrem Leben.
„Sergej ist genau jetzt im siebten Himmel … Er ist zufrieden, wenn er den ganzen Abend hier an diesem Tisch sitzen kann … an diesem riesigen Zehnertisch, nur er und seine kleine chocha, vor einem endlosen weißen Ozean mit glitzernden Pailletten. Es ist nicht zu übersehen! Da ist er! Der mächtigste Mann im Saal! … Ihr Elend kann er nicht mal ansatzweise begreifen … Bitte, mein attraktiver Retter, bitte, bring mich weg von hier … errette mich vor den tausend beschämenden, bemitleidenden, ausweichenden Blicken … aber neeeeeiiiiin, er muss aufs Podest, ganz nach oben, muss sich zur Schau stellen … Seht her, der Zar! … aus Hallandale, Florida, Russlands Herzland.:::::: Endlich endlich endlich endlich – und dieses endlich fühlte sich an wie endlich, nach fünf Jahren höllischer Qualen – endlich schlug Sergej vor, zu der großen Party auf Star Island zu fahren. Sein Abgang war wie sein Auftritt … die Schmeicheleien, die Umarmungen, die in Ohr gebrüllten Nettigkeiten, und Sergej mittendrin, über zwei Meter groß, die Brust aufgepumpt, während sie alle sprangen … Und Magdalena? Sie existierte nicht mehr. Sie schauten einfach durch sie durch.“ (S. 618) 
Tom Wolfe, der zusammen mit Zeitgenossen wie Norman Mailer und Truman Capote in den 60er Jahren den New Journalism mitbegründete und erst 1987 mit „Fegefeuer der Eitelkeiten“ sein gefeiertes Romandebüt veröffentlichte, zählt zu den großen Stilisten seiner Zunft und versteht es wie kaum ein Zweiter, gesellschaftliche Milieus treffend zu beobachten und zu charakterisieren. Im Mittelpunkt seines neuen, fast 800 Seiten umfassenden Werks nimmt er sich kulturellen Schmelztiegel Miamis vor, indem nicht nur die Reichen und Schönen zu leben verstehen, sondern auch Kubaner, Haitianer, Afroamerikaner und Latinos ihr Leben verbringen. Geschickt spannt Wolfe den Bogen von einer eigentlich alltäglichen Polizeiaktion über die Medien, die ebenso abhängig von ihrer Kundschaft und den Anzeigenkunden ist wie der Polizeichef von der Gunst des Stadtrats. Es dreht sich eben alles um Geld und Macht. Das wird Nestor, dem einfachen Polizisten mit kubanischem Hintergrund, erst allmählich klar, als er an der Seite des Journalisten John Smith in andere gesellschaftlichen Sphären vordringt und ihre dunklen Machenschaften kennenlernt. Seine Ex-Freundin Magdalena tut dies auf andere, aber ebenso Spuren hinterlassende Weise. Wolfe beschreibt diesen einzigartigen Clash of Cultures mit bissigem Witz, aber ohne eine seiner Charaktere zu verurteilen.  
„Back To Blood“ ist bei aller epischer Länge eine überraschend kurzweilige Gesellschaftssatire, die in ihrem manchmal zu lautmalerischen Stil anstrengt, aber überwiegend nah bei seinen charismatischen Figuren bleibt.
Lesen Sie im Buch: Wolfe, Tom - Back to Blood

John Updike – „Landleben“

Sonntag, 20. Januar 2013

(Rowohl, 414 S., HC)
Im Alter von siebzig Jahren ist Owen Mackenzie noch immer glücklich mit der fünf Jahre jüngeren Julia verheiratet, und das schon seit 25 Jahren. Manchmal wacht er morgens auf und dämmert wieder für ein, zwei Stunden in den Schlaf, um dann von einer seiner Eroberungen zu träumen, die er im Laufe seines Lebens als erfolgreicher Computeringenieur angehäuft hat. Er wuchs in den sechziger und siebziger Jahren in der Kleinstadt Middle Falls, Connecticut, auf, doch geboren wurde er 1933 in Willow, Pennsylvania. Abgesehen von einem Selbstmord ist in den zwölf Jahren der Depression und des Zweiten Weltkriegs nichts weiter von Belang geschehen.
Was Owen von früh an interessierte, war Sex, genauer gesagt: „Kleinstadt-Sex“, wie Updike episodenhaft einige seiner Kapitel betitelt. Als er Alice das erste Mal mit trockenen Lippen küsste und ihre Brillengestelle dabei aneinander klackten, war das noch unspektakulär, doch als er das Schamhaar von Doris Shanahan aus der achten Klasse erblickte, war er glücklich, weil ihm ein besonderes Wissen zuteil geworden war. Owens Lebensaufgabe bestand darin, Computer-Software zu entwickeln und zu überwachen, doch zeitgleich mit seinem Stipendium am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology, bewies er besonderes Geschick im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Mit seinem beruflichen Aufstieg sind stets weitere Erkundungen weiblicher Körper einhergegangen, wovor ihn auch eine Heirat nicht schützen konnte. Zu jeder Frau konnte Owen etwas Besonderes erinnern:
„Die Lektion, die Owen von Vanessa lernte, war überraschend: Maskuline Frauen hatten großartigen Sex zu bieten. Vielleicht war es kein Zufall, dass ausgerechnet die wilde, jungenhafte Doris Shanahan ihm erlaubt hatte, an ihren Beinen hinauf in ihre Shorts zu gucken. Mit ihnen ist Sex sozusagen frontaler, direkter. Sie springen darauf an und gehen auf einen Orgasmus los, so wie ein Falke sich auf eine junge Wachtel stürzt. Obwohl Vanessa selten dabei lächelte (anders als Faye in ihrem Rausch, anders als Alissa mit ihren Grübchen), lachte sie oft, schroff, ihr dunkles, heiseres Lachen. In ihren gewöhnlichen Kleidern aus festen Stoffen, mit breit geschnittenen Schultern, wirkten ihr Arsch und ihre Brust flach, minimal; wenn sie ausgezogen war, zeigte sie Reize genug.“ (S. 309) 
John Updike erzählt mit frivoler Lust aus dem Leben eines echten Schürzenjägers, doch handelt es sich dabei nicht um eine Aneinanderreihung pornographischer Episoden eines sexgeilen Mannes, sondern vielmehr um das Portrait des ländlichen Amerika mit seinen ganz eigenen Moralvorstellungen und den Ritualen, mit denen Männer und Frauen einander umwerben und sich abseits legitimierter Verhältnisse im Geheimen miteinander vergnügen. Updike erweist sich dabei einmal mehr als glänzender Beobachter des amerikanischen Way of Life und natürlich als grandioser Stilist, der mit Worten ebenso betört wie die Frauen die Männer. Nebenbei bekommt der Leser auch eine interessante Lektion über den Beginn der Computer-Ära, doch in erster Linie berauscht der gefeierte Autor sein Publikum mit seiner wohlkomponierten Sprache und seinen vergnüglichen, unsentimentalen Schilderungen amerikanischen Kleinstadtlebens.
Leseprobe John Updike "Landleben"

Ryan David Jahn – „Der Cop“

Sonntag, 6. Januar 2013

(Heyne, 335 S., HC)
„Ian Hunt hat noch eine knappe Stunde bis Schichtende, als seine tote Tochter anruft.“
Mit diesem spektakulären Satz beginnt der packende Thriller des amerikanischen Autors Ryan David Jahn, der bereits mit seinem aufsehenerregenden Debüt "Ein Akt der Gewalt" mit dem renommierten „Debut Dagger Award“ ausgezeichnet wurde. Mit seinem neuen Roman zieht Jahn nicht nur das Tempo an, sondern auch an der Spannungsschraube.
Kurz vor Schichtende erhält der Polizist Ian Hunt in der Leitstelle des Polizeireviers von Bulls Mouth, Texas, einen Notruf von einem Mädchen, das sich als Maggie Hunt vorstellt, die als Siebenjährige vor sieben Jahren spurlos verschwunden ist. Mit ihrer Beerdigung – ohne Leiche - vor zwei Monaten wurde nicht nur ein Teil der grausamen Vergangenheit begraben, sondern auch einen Schlussstrich unter die Beziehung mit Debbie und dem gemeinsamen Sohn Jeffrey gesetzt. Maggie kann ihrem Vater nur noch ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort am Main Street Shopping Center nennen, dann wird sie von ihrem Entführer gepackt und zurück in ihr Gefängnis im Killer des Ehepaars Henry und Beatrice Dean gebracht. Nachdem Beatrice ihr einziges Kind begraben musste, das für einen Moment unbeaufsichtigt in der Badewanne ertrunken war, hat Henry ihr immer wieder neue Ersatzkinder besorgt, bis diese auch gestorben waren. Maggie denkt nur noch an Flucht, doch bevor sie erneut ausreißen kann, wird sie von Henry geschnappt und mit Beatrice ins Auto verfrachtet. Mittlerweile hat die Polizei die Leichen der anderen Kinder auf Henrys Grundstück gefunden. Als die Polizei Henry zu den grausamen Funden befragen will, eröffnet dieser das Feuer. Zwei Cops gehen dabei drauf, Ian wird schwer verletzt. Dennoch bekommt er heraus, wohin Henry mit seiner Maggie fliehen will, und macht sich auf den Weg zu Henrys Bruder Ron nach Kaiser, Kalifornien …
„Ian lenkt den Mustang an den Straßenrand und hält an. Eine einzige Hoffnung bestimmt sein Denken: Vielleicht wird er seiner Tochter gleich einen entscheidenden Schritt näherkommen. Er weiß von den mindestens zwei Mädchenleichen, die im Wald gefunden wurden, und eigentlich sollte er bestürzt sein. Aber er empfindet keine Trauer. Was er empfindet, ist nicht einmal entfernt damit verwandt. Jede der Leichen war mal irgendjemands Tochter, aber eben nicht seine Tochter. Seine Tochter lebt, die anderen sind tot. Seine Tochter lebt, und er wird sie finden, er wird sie nach Hause in Sicherheit bringen, und sollten ihm diese Leichen dabei helfen, hat sich ihr Tod … Er versucht den Gedanken zu verdrängen, dass sich der Tod der Mädchen dann sogar gelohnt haben könnte. Er versucht, ihn zu verdrängen, ihn in die dunkelste Ecke seiner Seele zu sperren, fernab des grellen Lichts seines Bewusstseins, wo seine ganze Hässlichkeit klar zutage tritt – aber er kann nicht anders, tief in seinem Inneren glaubt er, dass es genau so ist: Dann hat sich ihr Tod gelohnt. Er spürt es mit jedem Herzschlag.“ (S. 135) 
Was „Der Cop“ so faszinierend macht, sind nicht allein das imponierende Tempo und ein Setting, das etwas an Cormac McCarthys „No Country For Old Men“ erinnert. Es geht nämlich über die spannende Verfolgungsjagd hinaus, in der ein Cop einfach nur einen Verbrecher quer durch die Staaten zu erwischen versucht. Jahn baut eine unerträgliche Spannung dadurch auf, dass er beide Parteien nicht einfach in Gut und Böse aufteilt, sondern den heiligen Sinn der Familie ins Zentrum seines Romans stellt, wobei jedes Familienoberhaupt bis zum Äußersten zu gehen bereit ist, die längst zerrüttete Familie vor dem Zerbersten zu retten. Selbst der „gute“ Cop greift zu äußerst drastischen Mitteln, um seine geliebte Tochter zu befreien. Jahn greift bei der Beschreibung der blutigen Ereignisse zu ebenso ungeschminkten Worten, die dem Roman aber nur an Ausdruckskraft gewinnen lassen. „Der Cop“ ist schlicht und einfach grandiose Literatur, die einen mit dem ersten Satz packt und bis zum Showdown nicht mehr loslässt.
Leseprobe Ryan David Jahn – “Der Cop”

Robert Ludlum, Eric Van Lustbader – „Der Bourne Befehl“

Dienstag, 1. Januar 2013

(Heyne, 560 S., HC)
Kaum ist mit „Das Bourne Vermächtnis“ der vierte Film aus der Bourne-Reihe in den Kinos gestartet, erblickt ein neuer Roman um den ehemaligen CI-Agenten ohne Gedächtnis das Licht der Welt, der neunte mittlerweile. Allerdings dürfte Bourne-Schöpfer Robert Ludlum kaum noch etwas mit diesem Werk zu tun haben. Seit seinem Tod im Jahre 2001 setzt sein Thriller-Kollege Eric Van Lustbader die Reihe erfolgreich fort und konfrontiert den Leser mit äußerst komplexen Intrigen in der internationalen Geheimdienstwelt.
Diesmal zieht es Jason Bourne auf Drängen seiner Freundin Moira nach Kolumbien, er muss sich aber immer wieder den Attentaten erwehren, die die mächtige internationale Vereinigung Severus Domna in Auftrag geben, da ihr Bourne bei der Erfüllung ihrer Ziele im Weg steht. Währenddessen setzt der US-amerikanische Präsident alles daran, die wirtschaftlich so wichtigen wie seltenen Erden in Indigo Ridge durch die neu gegründete Firma NeoDyme abbauen zu lassen. Um dort die Sicherheit zu gewährleisten, richtet er eine Task Force unter dem Namen Samaritan ein, für die Verteidigungsminister Christopher Hendricks zuständig ist und wofür er das angeschlagene Treadstone-Projekt reaktiviert. Soraya Moore und Peter Marks, die Treadstone leiten, gehen aber zunächst dem Mord an einem ihrer Severus-Domna-Informanten in Paris nach, wo ihr ägyptischer Geheimdienstfreund Amun Chalthoum ebenfalls erschossen wird. Die Spuren führen zu einer Bank, die in enger Verbindung mit Severus Domna steht. In Kolumbien trifft Bourne auf Jalal Essai, der noch eine Rechnung mit Severus Domna und ihrem Chef Benjamin El-Arian offen hat und Bourne für seine Zwecke einspannen will. Als Gegenleistung erhält Bourne von ihm die Information, dass die Domna ausgerechnet Bournes besten Freund Leonid Arkadin auf ihn angesetzt hat.
 „Bourne hatte von Anfang an nicht geglaubt, dass Essai in allem völlig ehrlich war, doch an einem zweifelte er absolut nicht: an Essais Wunsch, Severus Domna zu zerstören. In diesem Punkt zogen sie beide an einem Strang, und sie brauchten einander, um ihr Ziel zu erreichen. Sie mussten einander auch trauen können, doch das war schwer möglich, weil sich ihre Übereinstimmung auf den Kampf gegen die Domna beschränkte. Danach war alles offen.“ (S. 98) 
Bourne reist mit Essai nach Cadíz zu Don Fernando und stößt dort auf eine Waffenlieferung mit Ziel Damaskus, wo sich schließlich die Wege von Bourne und Arkadin kreuzen …
In „Der Bourne Befehl“ trifft der Leser auf einige alte Bekannte wie die Treadstone-Leiter Peter Marks und Soraya Moore, aber auch die russischen Geheimdienstler sind wieder mit von der Partie. Das erleichtert schon mal den Zugang zu den vielseitigen Ereignissen, die sich in Moskau ebenso abspielen wie in Cadíz, Washington, Kolumbien, Paris oder schließlich Damaskus. Zum Glück schaffen es Ludlum und Van Lustbader zum Ende hin, all die losen Enden in einen packenden Showdown münden zu lassen, bei dem Jason-Bourne-Fans voll auf ihre Kosten kommen.
Leseprobe: Robert Ludlum, Eric Van Lustbader – „Der Bourne Befehl“

Carlos Ruiz Zafón – „Der Gefangene des Himmels“

Sonntag, 23. Dezember 2012

(S. Fischer, 403 S., HC)
Beginnend mit dem zum Welt-Bestseller avancierten „Der Schatten des Windes“ hat der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón eine eigene Welt erschaffen, mit der er seine Leser in ein Barcelona entführt, das voller Geheimnisse steckt, die nicht nur im kuriosen Fundus des Friedhofs der vergessenen Bücher schlummern, sondern auch in den historischen Straßen und zwielichtigen Gestalten der außergewöhnlichen Stadt. Mit „Der Gefangene des Himmels“ setzt Zafón seinen erfolgreichen Zyklus um den Buchhändler Daniel Sempere und seine Abenteuer auf gewohnt unterhaltsam-spannende Weise fort.
Das Weihnachtsgeschäft der Buchhandlung Sempere & Söhne läuft 1957 eher schleppend an. Da verkauft Daniel einem eher mürrischen Kunden das teuerste Buch im Laden, eine edle Ausgabe des „Grafen von Monte Christo“. Der geheimnisvolle Mann schreibt eine Widmung ins Buch und beauftragt Daniel, es seinem guten Freund Fermín Romero de Torres zu übergeben. Irritiert von den Worten, die der spendable Kunde hinterlassen hat, verfolgt ihn Daniel bis zu einer billigen Pension, in der sich der Mann unter Fermíns Namen eingetragen hat. Als Daniel seinem alten Freund das Buch übergibt und ihn zur Rede stellt, erfährt er, wie Fermín zu seinem Namen kam, als er 1939 im Gefängnis auf Montjuic erleben musste, wie Hunger, Folter und Korruption hinter den Mauern regierten, wobei dem damaligen Gefängnisdirektor Mauricio Valls eine besondere Bedeutung zukam. Hier kreuzten sich auch die Wege von Fermín und David Martín, Autor von „Das Spiel des Engels“, bis Fermín die spektakuläre Flucht gelang und er im Armenviertel von Barcelona von Armando zu neuem Leben erweckt wurde.
„Seine Tage verstrichen zwischen Schlafen und einer hartnäckigen Müdigkeit. Immer wenn er die Augen schloss und sich der Erschöpfung überließ, reiste er an denselben Ort. In seinem sich Nacht für Nacht wiederholenden Traum erkletterte er die Wände eines unendlichen, mit Leichen angefüllten Grabens. Wenn er oben war und zurückschaute, sah er, dass sich diese Flut geisterhafter Leichen durcheinanderwühlte wie ein Strudel von Aalen. Die Toten schlugen die Augen auf und kletterten hinter ihm die Wände hinauf. Sie folgten ihm durch den Berg und überschwemmten die Straßen Barcelonas, wo sie ihr ehemaliges Zuhause suchten, bei den geliebten Menschen anklopften. Einige machten sich auf die Suche nach ihren Mördern und klapperten rachedurstig die ganze Stadt ab, aber die meisten wollten nur in ihre Wohnung, in ihre Betten zurück, wollten die zurückgelassenen Kinder, Frauen, Geliebten in die Arme nehmen. Es machte ihnen jedoch niemand auf, niemand nahm ihre Hand in die seinen, und niemand wollte ihre Lippen küssen, und der Todkranke erwachte in der Dunkelheit schweißgebadet ob dem ohrenbetäubenden Weinen der Toten in seiner Seele.“ (S. 216)
Doch die Lebensgeschichte von Fermín bildet nur einen Teil von „Der Gefangene des Himmels“. Darüber hinaus gilt es Fermíns Hochzeit mit der schwangeren Bernarda vorzubereiten und Daniels Rivalen Pablo auszuschalten, der seine Ankunft in Barcelona mit einem Brief an Daniels Frau Bea ankündigt und keine Zweifel daran lässt, seine ehemalige Verlobte noch immer zu lieben.
Zafón läuft in seinem neuen Roman zu vertrauter Hochform auf. Von Beginn an packend und rasant erzählt, wird mit „Der Gefangene des Himmels“ ein weiteres Puzzlestück in dem mystisch angehauchten Kosmos eines literarischen Barcelonas enthüllt, dessen Atmosphäre der Autor so meisterhaft zu beschreiben versteht. Virtuos webt der mittlerweile in Los Angeles lebende Autor schaurige Fantastik, labyrinthische Bücherwelten, dramatische Liebesgeschichten, packenden Krimi und das mystische Flair Barcelonas zu einem elegant geschriebenen Meisterwerk, das neugierig macht auf die nächste Episode aus dem Friedhof der vergessenen Bücher …
Leseprobe Carlos Ruiz Zafón – „Der Gefangene des Himmels“

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck 4) „Verachtung“

Samstag, 15. Dezember 2012

(dtv, 542 S., HC)
Nachdem skandinavische Krimi-Autoren wie Henning Mankell und Hakan Nesser jahrelang dafür gesorgt haben, weltweit erfolgreich auf sich aufmerksam zu machen, schien mit der „Millennium“-Trilogie des viel zu früh verstorbenen Stieg Larsson der Höhepunkt der skandinavischen Thriller-Literatur erklommen worden zu sein. Auf der Suche nach ebenbürtigen Autoren ist die Bücherwelt zwar noch nicht wirklich fündig geworden, doch mit dem dänischen Schriftsteller Jussi Adler-Olsen bevölkert seither ein höchst talentierter Mann mit seinen Geschichten um das Sonderdezernat Q die Bestsellerlisten und erfreut sich zunehmender Beliebtheit auch beim deutschen Publikum.
Nach „Erbarmen“, „Schändung“ und „Erlösung“ präsentiert Adler-Olsen mit „Verachtung“ bereits den vierten Roman aus der Reihe um den kauzigen Ermittler Carl Mørck und seinem sehr speziellen Team beim Sonderdezernat Q, das sich im Kopenhagener Polizeipräsidium um alte, nicht abgeschlossene Fälle kümmert. Diesmal landet die Akte von Rita Nielsen auf dem Tisch des Dezernats, die in den Siebzigern und Achtzigern in Kolding einen Escort- und Begleitservice leitete und im November 1987 spurlos verschwand. Als sich Mørck, Assad und Rose an die Ermittlungen machen, stoßen sie zunächst auf weitere vermisste Personen aus dieser Zeit und offensichtliche Verbindungen zwischen ihnen. Da ist auf der einen Seite der rassistische Gynäkologe Curt Wad, der mit seiner Partei „Klare Grenzen“ gerade versucht, ins Parlament zu gelangen, auf der anderen Seite Nete Rosen, die eine schlimme Zeit in einem Frauengefängnis auf Sprogø verbracht hat. Vor allem die Machenschaften der „Klare Grenzen“-Köpfe bereiten den Ermittlern mehr als nur Bauchschmerzen.
„Carl warf Assad einen prüfenden Blick zu. Dieser Fall ging Assad mehr an die Nieren als andere Fälle, Gleiches galt für Rose. Ganz klar, beide waren Menschen mit Narben auf der Seele, aber trotzdem erstaunte es Carl, dass sich Assad dermaßen engagierte, dass ihn die Sache offenbar so erschütterte. ‚Wenn man Frauen auf eine Insel deportieren kann und damit durchkommt‘, fuhr Assad unbeirrt fort, ‚und wenn man massenhaft gesunde Embryos töten und Frauen sterilisieren kann, wenn man das einfach so kann, dann kommt man mit allem durch. Das denke ich, Carl. Und wenn man daraufhin auch noch im Folketing sitzt, wird es richtig kritisch.‘“ 
Das trifft allerdings auch auf die Ermittler zu. Denn je näher Mørck & Co. sich den Machenschaften der rechten Partei nähern, desto heftiger reagieren sie darauf, ihre dunklen Geheimnisse zu bewahren. Dabei schrecken sie vor keinen Mitteln zurück.
Adler-Olsen hat mit „Verachtung“ ein höchst brisantes Thema, das auf einem tatsächlichen Missstand in der dänischen Geschichte beruht, in eine höchst packende Thrillerhandlung gepackt. Daneben bleibt auch immer ein wenig Zeit, in die persönlichen Befindlichkeiten der drei sympathischen, doch ganz unterschiedlichen Protagonisten einzutauchen, doch könnte davon in Zukunft ruhig mehr zu lesen sein. Denn wie sich Mørck seiner angebeteten Mona nähert, ist schon amüsant geschildert, lässt aber viel Raum zur Entwicklung. Und auch Assads mysteriöser Hintergrund wird nur unzureichend erhellt. Doch die rasante und intelligent verquickte Geschichte packt den Leser mit einer Wucht, dass dieses kleine Manko schnell entschuldigt wird. Schließlich bleibt die Hoffnung auf noch viele weitere Bände aus dieser Reihe …
Leseprobe Jussi Adler Olsen - "Verachtung"

Walter Moers – „Der Pinguin“

(Knaus, 104 S., Klappenbroschur)
Ist Walter Moers zum Anfang seiner Karriere vor allem als Comic-Künstler wahrgenommen worden und hat der Welt so herrliche Bände wie „Huhu!“, „Schweinewelt“ oder „Kleines Arschloch“ beschert, so ist er in den letzten Jahren vor allem als großgeistiger Schöpfer so fantasiereicher Romane aus dem zauberhaften Zamonien-Kosmos zu schriftstellerischer Reife gelangt.
Zum Glück hat ihn die Begeisterung für die Comic-Kunst nie ganz verlassen, und so darf sich die Fangemeinde auf die Reihe „Moers Classics“ freuen, in der der Knaus-Verlag einige von Moers‘ Lieblingscomics nicht nur einfach wiederveröffentlicht, sondern auf eine Weise, wie sie dem Autor ursprünglich vorschwebte. Eröffnet wird die Reihe mit dem – und davor wird auf dem Cover bereits ausdrücklich gewarnt – brutalen wie sex- und drogenhaltigen Titel „Der Pinguin“, der 1997 erstmals als „Wenn der Pinguin zweimal klopft…“ das Licht der Welt erblickte, damals allerdings noch in Schwarzweiß.
„Farbe wurde schon beim erstmaligen Erscheinen des Comics diskutiert“, verrät Moers im Klappentext. „Wir entschieden uns damals für Schwarzweiß, weil so viel Blut darin vorkommt – was in Schwarzweiß nicht so brutal wirkt. So vorsichtig waren wir. Heute ist es das, was mich an dem Comic stört: In Farbe wäre er viel drastischer und konsequenter gewesen. Und komischer. Blut ist komisch.“ 
Dafür liefert „Der Pinguin“ den im wahrsten Sinne des Wortes einschlägigen Beweis. Moers erzählt die recht simple Geschichte eines Pärchens, das es sich im heimischen Iglu vor einem Feuerchen im Ehebett gemütlich gemacht hat. Doch bevor das Liebesspiel beginnen kann, betritt ungebeten ein Pinguin das traute Heim und erquickt sich am wärmenden Feuer. Das perplexe Paar beobachtet nun, wie der Pinguin Liedchen trällert, sich einen Joint bastelt und im Drogenrausch schließlich das Feuer auskotzt. Was dann folgt, soll hier nicht weiter beschrieben werden, bietet aber den typisch krassen, ganz und gar politisch inkorrekten Moers-Humor, der über Leichen geht. Und tatsächlich: So wie bei „Der Pinguin“ das Blut spritzt, ist es einfach unbeschreiblich komisch! Für Februar 2013 ist bereits der nächste Band angekündigt: „Jesus total“.
Leseprobe: Walter Moers – “Der Pinguin”

Anja Dollinger, Walter Moers – „Zamonien“

Mittwoch, 5. Dezember 2012

(Knaus, 312 S., HC)
Als Walter Moers Mitte der 80er Jahre mit politisch gar nicht so korrekten Comics wie „Die Klerikalen“, „Schweinewelt“ schließlich mit „Das kleine Arschloch“ auf sich aufmerksam machte, war nicht im entferntesten abzusehen, dass er sich zu einem Meister der Fabulierkunst in der Tradition deutscher Fantastik à la E.T.A. Hoffmann entwickeln würde, der sich quer durch die Jahrhunderte aus dem großen Fundus klassischer Literatur, Märchen, Mythen und esoterischer Traditionen bedient.
Mit seinem ersten Roman „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ fiel 1999 der Startschuss zu einer ganzen Reihe von fantastischen Romanen, die in Zamonien angesiedelt sind, Heimstätte legendärer Dichter, Zauberkünstler und kurioser Fabelwesen. Mittlerweile 2011 ist mit „Das Labyrinth der träumenden Bücher“ der sechste Zamonien-Band erschienen und das Panoptikum geheimnisvoller Orte, labyrinthischer Gänge, skurriler Figuren und mysteriöser Phänomene auf ein Maß angestiegen, dass es durchaus sinnvoll erschien, die fremdartige, doch so faszinierende Welt Zamoniens lexikalisch zu vermessen.
Dieser Herkules-Aufgabe haben sich der Autor, der sich im Zusammenhang mit den Zamonien-Romanen nur als Übersetzer und Illustrator von Zamoniens größten Schriftsteller Hildegunst von Mythenmetz sieht, vor aqllem aber die Kunsthistorikerin Anja Dollinger angenommen, indem sie mit „Zamonien – Entdeckungsreise durch einen phantastischen Kontinent“ ein Nachschlagewerk der besonders schönen Art entworfen haben.
Moers-Fans werden vielleicht enttäuscht sein, dass der Autor nur das Vorwort selbst beigesteuert hat, doch Dollinger hat – erfolgreich - viel Mühe darauf verwendet, den Stil des Zamonien-Schöpfers zu bewahren und durchaus einige Informationen zusammengestellt, die nicht den Romanen zu entnehmen sind. Ausführliche Artikel widmen sich der Megacity Atlantis ebenso wie Blaubär, der Universitätsstadt Buchhaim, den Buchlingen oder den Bücherjägern, als auch dem Schattenkönig, dem Puppetismus und dem großen Helden Rumo von Zamonien.
Wie es die treuen Zamonien-Leser gewohnt sind, ist das Lexikon, das keinen Anspruch auf Vollständigkeit hegt und die Hoffnung auf ergänzende Bände dieser Art macht, wie ein echter Zamonien-Roman gestaltet – mit Illustrationen, wie sie bislang nur auf einer Ausstellung zu Zamonien zu sehen gewesen sind, und schön eingerahmten Zitaten und Übersichten.
Ein ausführliches Register rundet das informative Werk an, das auf angenehme Weise die Wartezeit bis zu „Das Schloss der träumenden Bücher“ verkürzt.
 Leseprobe Walter Moers & Anja Dollinger – “Zamonien”

Richard Laymon - "Das Loch"

Montag, 26. November 2012

(Heyne, 544 S., Pb.)
Rodney war schon zu Schulzeiten ein Außenseiter, über den ständig gespottet wurde. Nun rächt er sich, indem er in das Haus seines Jugendschwarms Pamela einbricht, ihren Mann Jim umbringt und sie selbst entführt. Bei einer Pinkelpause in der Wüste gelingt es ihr, sich ihres Peinigers zu entledigen und von einem geheimnisvollen Fremden in dessen Bus mitgenommen zu werden. Dass er als Gäste nur angezogene Schaufensterpuppen befördert, die auf ihren T-Shirts Slogans tragen, die mit einem 6-Seelen-Kaff namens Pits zu tun haben, verwundert Pamela zunächst, doch vor allem ist sie dankbar, dem sicher geglaubten Tod entkommen zu sein und in dem Diner von Pits leckere Hamburger serviert zu bekommen.
Kaum hat sich Pamela in der kleinen, völlig von der Außenwelt isolierten Gemeinde angefangen wohlzufühlen und in dem Diner zu arbeiten, da stößt sie auf das verstörende Tagebuch eines Jungen und auf merkwürdige Überbleibsel, die offensichtlich frühere Gäste vergessen haben. Nun ängstigt sie der Gedanke, dass hier Menschen zu Burgern verarbeitet werden …
Ich werde den Kühlschrank aufmachen und mir in Ruhe den Inhalt ansehen. Und dort werden Frikadellen, Koteletts und Steaks liegen – ganz normales Essen wie in jedem Restaurant. Es werden keine Menschenköpfe darin sein, die für die Suppe bestimmt sind. Keine Steaks von den Hinterbacken. Keine gebackenen Rippchen von Lkw-Fahrern, keine Burritos mit Leberfleisch oder Dim Sun aus Studenten. Pamela ging zur Dusche und zog sich auf dem Weg die Kleider vom Leib. Zeit, sich frisch zu machen. Und die Uniform anzuziehen, bestehend aus einem weißen Polohemd, auf das links auf der Brust mit rotem Garn Pamela eingestickt war, hellroten Shorts und einer blauen Schürze mit Taschen für Bestellblock und Trinkgeld. Süß wie ein Kätzchen. Dann in den Lagerraum des Cafés zu spazieren und den Kühlschrank aufzumachen. Sich zu beweisen, dass Pits kein Kannibalen-Ort ist.“ (S. 315) 
Währenddessen hat der Student Norman zwei Anhalter mitgenommen, die ihn gehörig auf Trab halten. Während ihrer wilden Fahrt durch die Wüste verliert Norman nicht nur seine Unschuld und kann den zweifelhaften Reizen der nymphomanischen Boots kaum widerstehen, sondern angestiftet vom psychopathischen Duke hinterlässt das Trio auch eine Spur aus Blut. In Pits drehen sie schließlich richtig auf … Richard Laymon gelingt es in seinem 2005 veröffentlichten Werk „Into The Fire“, das jetzt als deutsche Erstausgabe erhältlich ist, ein packendes Road-Movie mit ganz unterschiedlichen Figuren zu inszenieren, die sich zu einem blutigen Showdown in einem abgeschotteten Wüstenkaff zusammenfinden. Bis dahin bietet Laymon in vertraut einfacher, aber pointierter Sprache seinen Lesern die geschätzte Mischung aus Horror, Sex und Humor, dass kaum Zeit zum Luftholen bleibt. Das Finale schießt dabei sicher etwas über das Ziel hinaus, doch letztlich überzeugt „Das Loch“ als sehr kurzweiliger Thriller mit eigenwilligen Figuren, interessantem Setting und spannenden Entwicklungen.
 Leseprobe Richard Laymon – “Das Loch”

Philippe Djian – „Die Rastlosen“

Sonntag, 11. November 2012

(Diogenes, 220 S., HC) 
Seit dem Durchbruch mit seinem dritten Roman „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, der 1986 kongenial mit Béatrice Dalle und Jean-Hugues Anglade verfilmt worden ist, hat sich der französische Schriftsteller Philippe Djian mit Geschichten hervorgetan, in denen meist Männer in den besten Jahren, die irgendwie versuchen, als Schriftsteller durchzukommen, in verzwickte amouröse Abenteuer verstrickt werden. Dieses vertraute Terrain betritt der Leser auch in Djians neuem Werk „Die Rastlosen“.
Als 53-Jähriger hat es Marc längst aufgegeben, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden, und sich damit arrangiert, als Literaturdozent wenigstens bei seinen Studenten einen Sinn für die Kunst des Schreibens zu entwickeln. Dabei fällt es ihm mit zunehmendem Alter immer leichter, vor allem seine junge weibliche Zuhörerschaft zu betören. Um ja keinen Skandal zu riskieren, geht Marc beim Abschleppen der jungen Dinger stets überaus diskret vor. Diese Vorsicht macht sich in dem Moment bezahlt, als er eines Morgens neben der Leiche der 23-jährigen Barbara aufwacht, die er kurzerhand in einer Felsspalte entsorgt. Als er die Mutter des vermisst geltenden Mädchens kennenlernt, entdeckt Marc plötzlich ganz neue Gefühle in sich, nämlich die Leidenschaft für eine ältere, ihm intellektuell ebenbürtige Frau.
„Er konnte sich Myriam ohne weiteres im Badeanzug vorstellen – oder besser noch in Unterwäsche. Sie war knapp über fünfundvierzig. Bestens in Form. Und intellektuell gefestigt. Was gab es da noch zu sagen? Konnte man sich ein perfekteres Geschöpf, eine gefährlichere Begleitung denken? Die Vorstellung, dass man das Interesse einer solchen Person erweckte, war alles andere als unangenehm, ja sie steigerte sogar sein Selbstwertgefühl, fand er – denn so eine Person hatte ihren eigenen Kopf und ihren eigenen Geschmack und einiges an Lebenserfahrung. Plötzlich sprang ihm ins Auge, wie mittelmäßig seine Beziehungen mit den Studentinnen gewesen waren. Die Sexualität hatte die Welten nicht durchlässiger gemacht.“ (S. 56f.)
Doch einer Beziehung mit ihr stehen zwei Tatsachen im Wege: Seine Angebetete ist noch mit einem Soldaten verheiratet, der in Afghanistan verschollen scheint, und Marc lebt mit seiner Schwester Marianne in einem Haus, mit der ihn eine mehr als nur schwesterliche Beziehung verbindet …
Djian hat sich in seiner langjährigen Karriere als Meister von Erzählungen allerlei erotischer Verwirrungen erwiesen, und dieses Talent spielt er in seiner neuen, sehr flüssig geschriebenen Story voll aus. Die Ausgangssituation, dass sich ein Mann in besten Jahren mit weitaus jüngeren Damen herumschlägt, ist zwar allzu vertraut, wird in „Die Rastlosen“ aber auf sehr unterhaltsame Weise variiert. Das Jonglieren mit all den Frauen in Marc Leben sorgt für einige amüsante Reflexionen, und das psychologische Feingefühl, mit dem Djian seinen sympathischen Antihelden beschreibt, sorgt für einen vielschichtigen wie kurzweiligen Lesegenuss.

Jason Starr – „Dumm gelaufen“

Samstag, 3. November 2012

(Diogenes, 288 S., Pb.)
Mickey Prada arbeitet in einem Brooklyner Fischgeschäft, um sich so sein Studium zu finanzieren. Außerdem lebt er mit seinem an Alzheimer erkrankten Vater zusammen, um den er sich kümmern muss. Doch das geordnete Leben des jungen Mannes beginnt aus den Fugen zu geraten, als ein Stammkunde des Ladens, der sich als Angelo Santoro vorstellt und den Mickeys bester Freund Chris gleich als Mafioso identifiziert, Mickey bittet, ein paar Sportwetten für ihn abzuschließen.
Zu Mickeys Pech zählt nicht nur der Umstand, dass Angelo ausnahmslos alle Wetten verliert, sondern dass er partout seine Schulden nicht bezahlen will. Dennoch drängt er Mickey dazu, weitere Wetten für ihn bei Mickeys Buchhalter Artie abzuschließen.
“Während er auf dem Kings Highway nach Hause fuhr, spielte Mickey in Gedanken beide Varianten durch. Wenn er die Wette nicht abgab und die Seahawks verloren, stünde Angelo immer noch mit 1020 Dollar bei Artie in der Kreide. Wenn er die Wette abschloss und die Seahawks gewannen, würde Angelo morgen im Laden auftauchen und annehmen, seine Schulden hätten sich auf zwanzig Piepen reduziert, und Mickey müsste die tausend Dollar Unterschied gegenüber Artie ausgleichen. Mickey wäre so oder so am Arsch, und er entschied, dass er Angelos Wette irgendwie abschließen musste.“ (S. 89) 
Nachdem Mickey seinen Buchmacher immer wieder vertröstet hat, setzt Artie dem Jungen ein Ultimatum. Mickey bleibt nichts anderes übrig, als sein Gespartes anzuzapfen, um wenigstens einen Teil der Schulden zurückzuzahlen, nachdem Angelo schließlich völlig abgetaucht ist. Selbst die Freude über die Bekanntschaft mit der hübschen Rhonda währt nur kurz. Ihr Vater sieht den Umgang mit dem offensichtlichen Tunichtgut nicht gern, und schon bald geht Rhonda ihm aus dem Weg. Als sich für Mickey die Möglichkeit ergibt, bei einem todsicheren Einbruch seine Verluste wieder wettzumachen, hofft er, Rhonda zurückgewinnen zu können, doch natürlich geht auch diese Aktion fürchterlich schief …
Der New Yorker Schriftsteller Jason Starr hat sich zu einem wahren Meister darin entwickelt, sympathische Typen dabei zu beobachten, wie sie ihr eigenes Grab schaufeln oder zumindest von Tragödie zu Tragödie stolpern. Dass er dabei nie die Achtung vor seinen Figuren verliert und ihre Missgeschicke so beschreibt, als könnten sie jedem passieren, macht seine kurzweiligen Geschichten so lesenswert. In diese Tradition reiht sich das bereits 2003 vom Autor verfasste Werk mit dem programmatischen Titel „Dumm gelaufen“ nahtlos ein. Auf charmante Weise beschreibt Starr seinen an sich aufrechten Antihelden, der durch seine Gutmütigkeit unversehens in die Bredouille gerät und aus der Not heraus Dinge tut, die ihn noch tiefer in den Schlamassel reißen. Am Ende wird zwar nicht alles gut, aber zumindest einen Hoffnungsschimmer hält Starr für Mickey und seine Leser bereit.

John Katzenbach – „Der Wolf“

Samstag, 27. Oktober 2012

(Droemer, 510 S., HC)
„Ihr kennt mich nicht, aber ich kenne euch. Es gibt drei von euch. Ich habe beschlossen, euch
Rote Eins
Rote Zwei
Rote Drei
zu nennen. Ich weiß, dass sich jede von euch im Wald verirrt hat. Und genauso wie das kleine Mädchen im Märchen seid ihr auserwählt zu sterben.“
So endet der kurze Brief mit New Yorker Poststempel, den drei Frauen mit auffallend roten Haaren zur gleichen Zeit in ihrem Briefkasten finden. Verfasst hat sie ein mäßig erfolgreicher Thriller-Autor, der sich dem Rotkäppchen-Märchen entsprechend Böser Wolf nennt und hinter seiner unauffälligen bürgerlichen Fassade mit großer Präzision den Mord an der Internistin Dr. Karen Jayson, der College-Studentin Jordan Ellis und der Lehrerin Sarah Locksley plant, die noch immer nicht den Tod ihres Mannes und ihrer Tochter verkraftet hat.
Nach den Briefen folgen Hinweise auf YouTube-Links zu Videos, die die Frauen in alltäglichen Situationen zeigen. Doch die Internet-Links geben den Frauen die Gelegenheit, miteinander in Kontakt zu treten. Obwohl jede von ihnen gerade eine Lebenskrise zu meistern hat, schöpfen sie den Mut, sich nicht ihrem Schicksal zu ergeben und darauf zu warten, bis der Böse Wolf zuschlägt, sondern sie planen, den Spieß umzudrehen und ihren Peiniger aufzuspüren. Derweil ahnt der Böse Wolf nicht, dass ihm noch von ganz unerwarteter Seite eine Bedrohung naht, die es abzuwenden gilt. Doch in dem Wettkampf mit seinen Opfern strahlt er nach wie vor eine unerschütterliche Zuversicht aus:
„Der Böse Wolf war stolz darauf, wie er seine fiktionalen Welten perfekt mit der Realität in Deckung brachte. In beiden Welten war er ein Mörder. Für ihn gab es kaum noch einen Unterschied zwischen den drei Roten und ihrer Verarbeitung zu Romanfiguren. Beide Welten, die Wirklichkeit und die Fiktion, meisterte er souverän. Die Gewissheit, an beiden Schauplätzen so routiniert zu sein, erfüllte ihn mit einer diebischen Freude.“ (S. 404f.) 
In seiner langjährigen erfolgreichen Schriftstellerkarriere hat der amerikanische Autor John Katzenbach („Die Anstalt“, „Der Patient“) regelmäßig authentisch wirkende Psychopathen geschaffen, die mit akribischer Leidenschaft ihre Taten planten und ausführten. An diese Qualität schließt „Der Wolf“ nahtlos an. Was den Thriller dabei so interessant macht, sind die drei Handlungsebenen, auf denen Katzenbach agiert. Natürlich nimmt der Plan des Bösen Wolfs, seine drei Opfer nach minutiöser Berechnung zu töten, zunächst den größten Raum der Geschichte ein, doch das Gleichgewicht verschiebt sich, sobald die drei im Visier ihres Peinigers stehenden Frauen sich zusammenfinden und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Und zuletzt greift auch die ganz und gar biedere Ehefrau des Bösen Wolfs ins Geschehen ein, was dem Roman eine packende Dynamik verleiht. Katzenbach versteht es, seine Figuren psychologisch fundiert zu zeichnen und sie in außergewöhnlichen Situationen aufeinander wirken zu lassen, was „Der Wolf“ zu einem äußerst spannenden, kurzweiligen Lesevergnügen macht.

Stephen King – (Der Dunkle Turm: 8) „Wind“

Freitag, 19. Oktober 2012

(Heyne, 415 S., HC)
Was für Tolkien die Bücher über Mittelerde gewesen sind, ist für Stephen King seine Saga um den Dunklen Turm, die abenteuerliche Reise, die Roland, den Revolvermann, mit seinem Ka-Tet durch Mittwelt erlebt. Eigentlich war das gewaltige Epos, das – neben vielen anderen - von Robert Brownings Gedicht „Herr Roland kam zum finstern Turm“ ebenso inspiriert wurde wie von Tolkiens „Herr der Ringe“-Trilogie und den Western von Sergio Leone, mit dem 2004 erschienenen siebten Band „Der Turm“ abgeschlossen, doch offensichtlich lässt Stephen King sein für ihn „wichtigstes Werk“ nicht los.
„Wind“ führt die Saga um den Dunklen Turm aber nicht weiter, sondern bildet eher eine Episode ab, die zeitlich zwischen dem vierten Band „Glas“ und dem fünften Band „Wolfsmond“ angesiedelt ist. Nach ihrem Abenteuer im Grünen Palast streifen Roland von Gilead, Susannah, Eddie und Jake mit dem Billy-Bumbler Oy auf der Straße des Balkens in Richtung des Landes Donnerschlag und damit weiter in Richtung Dunkler Turm. In dem heruntergekommenen Versammlungshaus von Gook schützt sich die Truppe vor dem herannahenden Stoßwind, und Roland nutzt die Zeit, in der niemand an Schlaf denken kann, zum Erzählen einer Geschichte über den Fellmann, den der junge Roland mit seinem Ka-Gefährten Jamie in Debaria aufspüren soll, eine Bestie, die sich offensichtlich von einem Menschen durch mehrere Metamorphosen in einem riesigen Bär verwandeln kann und ganze Familien abschlachtet. Als sie die Jefferson-Ranch nach einem dieser Gemetzel aufsuchen, bergen sie einen Jungen namens Bill, der sich vor dem Gestaltwandler verstecken und an ihm eine Tätowierung entdecken konnte. Bevor sich Roland und seine Freunde auf die Suche nach der Bestie machen, erzählt er dem Jungen eine Geschichte, die er selbst als Junge von seiner Mutter erzählt bekam, „Der Wind durchs Schlüsselloch“.
„Ich begann langsam und systematisch, denn auch das Geschichtenerzählen fiel mir in jenen Tagen nicht leicht … obwohl es etwas war, was ich im Lauf der Zeit gut lernte. Weil ich musste. Das müssen alle Revolvermänner. Aber sobald ich einmal angefangen hatte, sprach ich zunehmend freier und natürlicher. Weil ich die Stimme meiner Mutter hörte. Sie sprach mit allen Hebungen, Senkungen und Pausen aus meinem Mund. Ich konnte sehen, wie Bill in der Geschichte aufging, und das gefiel mir – es war fast so, als hypnotisierte ich ihn wieder, allerdings auf bessere Weise. Auf ehrlichere Weise. Das Beste daran war jedoch, dass ich wieder die Stimme meiner Mutter hörte. Es war, als würde sie mir, tief aus meinem Inneren kommend, zurückgegeben. Es schmerzte natürlich, aber das tun die besten Dinge meistens, wie ich seither festgestellt habe. Das würde man nicht glauben, aber – wie die Alten zu sagen pflegten – die Welt ist schief und hat irgendwo ein Ende.“ (S. 146) 
Tatsächlich nimmt die von Roland erzählte Geschichte „Der Wind durchs Schlüsselloch“ den Hauptteil des achten „Dunkler Turm“-Romans ein und präsentiert sich als grandios fabuliertes klassisches Märchen eines Jungen, der loszieht, um den Mord an seinen Vater zu rächen und die Blindheit seiner Mutter zu heilen, und dabei zum jungen Mann heranreift und schließlich zu einem Revolvermann wird. Insofern funktioniert „Wind“ auch als eigenständiges Werk, für das man den Hintergrund der damit zusammenhängenden Dark-Fantasy-Saga nicht zwingend kennen muss. Fans der „Dunkler Tum“-Saga dürfen nach dieser wunderschönen Märchengeschichte aber hoffen, dass der Autor immer mal wieder nach Mittwelt zurückkehrt, um weitere so schöne Geschichten zu erzählen.
Leseprobe: Stephen King – “Wind”

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 5) „Am Abend des Mordes“

Dienstag, 16. Oktober 2012

(btb, 474 S., HC)
Nachdem seine Frau Marianne durch ein Aneurysma plötzlich verstorben ist, bekommt Inspektor Barbarotti von seinem Chef Asunander einen sogenannten „Cold Case“ zur alleinigen Bearbeitung. Offensichtlich will der Kommissar einen Monat vor seiner Pensionierung noch ein paar ungelöste Fälle abgearbeitet haben, vielleicht möchte er Barbarotti aber auch nur mit einem hoffnungslosen Fall beschäftigen, bis er wieder richtig bei der Sache sein kann. Vor fünf Jahren verschwand der damals 54-jährige Elektriker Arnold Morinder spurlos. Seine Lebensgefährtin Ellen Bjarnebo wurde deshalb verdächtigt, etwas mit dem Umstand zu tun zu haben, weil sie bereits 1989 den Beinamen „Die Schlächterin von Klein-Burma“ erhalten hatte, nachdem sie gestand, ihren Mann Harry Helgesson mit einem Vorschlaghammer erschlagen, zerstückelt und die Körperteile in Müllsäcken im naheliegenden Wald verstreut zu haben.
Während Barbarotti die alten Vernehmungsprotokolle durcharbeitet und alte Zeugen und mit dem Fall befasste Kriminalbeamte besucht, leitet seine Kollegin Eva Backman die Ermittlungen im Mordfall Raymond Fängström, Mitglied im Stadtrat von Kymlinge für die rechtspopulistischen Schwedendemokraten. Barbarotti nutzt die Reisen zu den Zeugen für einen Besuch seiner Tochter Sara in Stockholm, versucht, bei einem Trauertherapeuten mit dem Verlust seiner geliebten Frau umgehen zu lernen, befindet sich in einem Zwiegespräch mit Gott und hofft auf eine Zeichen, dass es Marianne im Jenseits gut geht.
„Die Trauer öffnete eine Tür zwischen Seele und Körper und wurde rein physisch empfunden. Nach Mariannes Tod hatte er gelernt, dass es so war – so sein konnte. Dass er tatsächlich gelähmt sein konnte, unfähig, aus dieser Position, dieser Gemengelage zu kommen, in der er sich befand. Wie gesagt, wie versteinert. Weil jede Bewegung, jede Handlung und jeder Gedanke völlig sinnlos waren. Unter dem schweren Druck der Trauer lag man platt. Das Atmen fiel ihm schwer, die Brust wurde zusammengepresst, statt sich zu weiten. War es das, was man gemeinhin panische Angst nannte? Er wusste es nicht. Man konnte nur abwarten, dass es aufhörte, zumindest ein klein wenig nachließ; das Einzige, was man eventuell tun konnte, war beten, aber wortlos, weil es keine Worte gab; als ein mehr oder minder heroischer Versuch, die Gedanken zu fokussieren. Auf sie. Auf die Hoffnung, dass sie in irgendeinem Sinne noch lebte. Darauf, dass es überhaupt so etwas wie einen Sinn gab.“ (S. 247) 
Bevor sich Barbarotti auf den Weg nach Lappland macht, um sich mit Ellen Bjarnebo zu treffen, warnt ihn Marianne vor der Gefahr, in die er sich begibt … Nach Van Veeteren hat der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser mit dem halbitalienischen Inspektor Gunnar Barbarotti einen ebenfalls sehr sympathischen Protagonisten kreiert, der in „Am Abend des Mordes“ auch schon seinen fünften Fall bearbeitet. Dabei fügen sich gleich mehrere Fälle zusammen, die zunächst wenig miteinander gemein haben und bei denen sich erst allmählich herauskristallisiert, wie die Dinge wirklich liegen. Im Falle der „Cold Cases“ geschieht dies immer wieder durch Rückblenden, in denen vor allem die Beziehung zwischen der Verdächtigen und ihrem gehandicapten Sohn Billy im Zentrum stehen, aber auch ihr Verhältnis zu den beiden unbeliebten Männern, während Eva Backmans Fall eher im Hintergrund verläuft. Doch „Am Abend des Mordes“ überzeugt nicht nur allein durch Barbarottis Ermittlungsarbeit, die die Schwächen der vorangegangenen Verhöre und Schlussfolgerungen aufdeckt, sondern vor allem auch in der einfühlsamen Beschreibung von Barbarottis Innenleben nach seinem schmerzlichen Verlust. Das verleiht dem durchaus packenden Krimi eine zutiefst menschliche Note, für die Nesser wohlbekannt ist.
Leseprobe Håkan Nesser - "Am Abend des Mordes"

Jack Kerouac – „Unterwegs – On The Road“

Montag, 15. Oktober 2012

(Rowohlt, 575 S., Tb.)
Zusammen mit Allen Ginsberg und William S. Burroughs, seinen Kommilitonen an der Columbia University in New York, zählt der US-amerikanische Schriftsteller Jack Kerouac (1922 – 1969) zu den Wegbereitern der sogenannten Beat Generation, die heute als erste Vertreter der Popliteratur angesehen wird. Seinen Durchbruch und Höhepunkt schaffte Kerouac mit dem 1957 erstmals veröffentlichten, nun zur Verfilmung durch Walter Salles auch in der Urfassung erschienenen Roman „On The Road“.
Der stark autobiografisch geprägte Roman fokussiert sich vor allem auf Kerouacs Bekanntschaft mit Neal Cassady, der auch anderen Beatniks als Inspiration diente. Kerouac hat immer davon geträumt, das Land auf dem Weg nach Westen zu erkunden, konnte sich aber nie dazu aufraffen. Als Cassady aus dem Erziehungsheim in Colorado entlassen worden ist und nach New York kommt, will er von Kerouac das Schreiben lernen. Nicht nur Ginsberg und Cassady liegen schnell auf einer Wellenlänge, auch mit Kerouac redet Cassady ohne Unterlass und zieht ihn mit auf die Straße. Sie haben kaum Geld in den Taschen, finden aber immer irgendjemanden, der ihnen einen Wagen leiht, Geld schickt oder eine Mitfahrgelegenheit anbietet. In wechselnden Konstellationen trampen die Beatniks durch die Vereinigten Staaten von Amerika, springen auf Güterzüge, reisen in Greyhound-Bussen oder fahren in gestohlenen Autos von New York City über Chicago und Denver bis nach New Orleans und schließlich nach Mexiko. Unterwegs machen sie die merkwürdigsten Frauen- und Männerbekanntschaften, heiraten hier und da, praktizieren die freie Liebe und geben sich dem Rausch der Drogen und der Musik hin. Der Bebop hat es ihnen angetan, das Leben auf der Straße und in den Clubs.
„Alles, was ich wollte und was Neal wollte und was alle wollten, war, irgendwie ins Herz der Dinge vorzustoßen, wo wir uns wie im Mutterschoß einkringeln und dem ekstatischen Schlaf hingeben konnten, den Burroughs mit einer schönen großen Spritze M. erlebte und die Werbemanager in New York mit zwölf Scotch & Sodas im Stouffers, bevor sie in den Säuferzug nach Westchester stiegen – nur ohne Kater. Ich hatte damals haufenweise romantische Phantasien und beseufzte mein Ungemach. In Wirklichkeit stirbt man einfach, man stirbt die ganze Zeit, und doch lebt man, man lebt weiter, und das ist keine Augenwischerei.“ (S. 251) 
So wie das wilde Treiben auf den Straßen liest sich auch „On The Road“. Kerouac beschreibt wie im Rausch das Lebensgefühl eines aufgeweckten, lebenshungrigen Vagabunden. „Die Geschichte handelt von dir und mir und der Straße“, hat Kerouac 1951 in einem Brief an seinen Freund Neal Cassady so treffend zusammengefasst, und es passt durchaus ins Bild, dass Kerouac das ganze Ding auf einer fast vierzig Meter langen Rolle Fernschreiberpapier ohne Punkt und Komma runtergeschrieben hat. Es ist nicht nur das Dokument einer Reise, sondern auch einer spirituellen Suche, die durch Arbeiten, Ambitionen und Ablehnung geprägt ist. Und wenn er sich nicht räumlich von der Stelle bewegte, halfen ihm die Drogen, sich an Orte zu begeben, die Burroughs als „dunkle oder Übergangszonen“ bezeichnet hat.
Nach der Zerrüttung seiner Familie, dem Chaos der Kriegsjahre, dem Tod seines Vaters und älteren Bruders war der traditionell erzogene Kerouac auf einmal empfänglich für alles Entwurzelte und Hilflose und glaubte an die Fortbewegung als Mittel zur Selbstveränderung. Dass er sich bei seinen Beobachtungen stets auf die Außenseiter und Zurückgebliebenen konzentrierte, verleiht auch „Unterwegs“ seinen zauberhaften, fast magischen Charme. Weitere tiefgreifende Einsichten vermitteln die verschiedenen Essays zur Entstehung und Wirkung des Romans am Ende des Buches – sie nehmen immerhin über 130 Seiten ein und sorgen für ein besseres Verständnis des temperamentvollen Straßenromans.