Tess Gerritsen - (Rizzoli & Isles: 9) „Grabesstille“

Freitag, 18. April 2014

(Limes, 446 S., HC)
Bei einer Stadtführung durch Bostons Chinatown, in der Billy Foo seinem jungen Publikum schaurig-schöne Gruselgeschichten erzählt, finden die Kinder im Rinnstein eine abgeschlagene Hand. Die Mordkommission unter Leitung von Detective Jane Rizzoli entdeckt in der Nähe nicht nur eine Heckler-&-Koch-Automatikpistole mit Schalldämpfer, sondern auf dem Dach eines Nachbarhauses auch die dazugehörige Leiche einer Frau. Ein am Tatort liegender Autoschlüssel führt zu einem Navigationsgerät, in dem genau zwei Adressen gespeichert sind – die eine führt zu einer Kampfsportschule in Chinatown unter der Führung einer gewissen Iris Fang, die zweite zum pensionierten Polizisten Lou Ingersoll.
Wie die weiteren Ermittlungen ergeben, hat Ingersoll vor fast zwanzig Jahren in einem legendären Amoklauf ermittelt, bei dem der Koch Wu Weimin eines Restaurants mehrere Gäste und dann sich selbst erschoss. Eines der Opfer war der Ehemann von Iris Fang. Der Fall wurde zwar schnell zu den Akten gelegt, doch ungeklärt blieb das Verschwinden von zwei Töchtern der Opfer. Als Jane den Fall mit ihrem Partner Frost und der Unterstützung von Gerichtsmedizinerin Maura Isles wieder aufrollt, tauchen aber neue Spuren am damaligen Tatort auf sowie die Spur zu weiteren verschwundenen Mädchen. Offensichtlich haben sich die Dinge längst nicht so zugtragen, wie der damalige Polizeibericht festgehalten hatte.
„Jane dachte an die Waffe, die in Wu Weimins Hand gefunden worden war, eine Glock mit Gewindelauf. Der Mörder hatte einen Schalldämpfer benutzt, um das Geräusch der ersten acht Schüsse zu unterdrücken. Erst nachdem seine Opfer alle tot waren, schraubte er den Schalldämpfer ab, legte die Waffe in Wu Weimins leblose Hand und feuerte die letzte Kugel ab, um sicherzustellen, dass an der Haut des Toten Schmauchspuren gefunden wurden. Ein perfektes Verbrechen, dachte Jane. Bis auf die Tatsache, dass es eine Zeugin gab.“ (S. 371) 
Ermittlerin Jane Rizzoli und Gerichtsmedizinerin Maura Isles sind ein eingespieltes Team. „Grabesstille“ ist bereits der neunte Fall, an dem die beiden Freundinnen zusammen arbeiten, allerdings kreuzen sich ihre Wege hier selten. Das liegt vor allem daran, dass Maura zu Beginn bei einer Gerichtsverhandlung mit ihrer Aussage dafür sorgt, dass ein Cop, der einen gewalttätigen Gefangenen getötet hatte, ins Gefängnis muss, und deshalb beim Boston PD keine guten Karten mehr hat. Allerdings bringt Maura nach ihrer Durchsicht der Ermittlungsakten zum „Red Phoenix“-Massaker vor zwanzig Jahren Jane und ihre Kollegen dazu, den Tatort noch einmal zu untersuchen. Tess Gerritsen hat in „Grabesstille“ erstmals die Mythen und Märchen aufgegriffen, die ihr einst von ihrer chinesischen Großmutter erzählt wurden. Das bringt auf jeden Fall ein fantastisches Element in die ohnehin spannende Handlung mit ein, in der wieder viele Spuren zu verfolgen sind, aber nur wenige offensichtliche Verdächtige auszumachen sind. Die Ermittlungen laufen so in verschiedene Richtungen, dass nur wenig Raum bleibt, um die privaten Angelegenheiten der Hauptfiguren zu thematisieren. Janes Mann, FBI-Ermittler Gabriel Dean, taucht nur einmal kurz unangemeldet in der Gerichtsmedizin auf, während Maura für ein paar Tage Besuch von Julian „Rat“ Perkins bekommt, einem Teenager, der allzu lange in den Wäldern von Wyoming herumstreifen musste und Maura das Leben gerettet hatte. Abgesehen von diesen kurzen Exkursen in das Privatleben von Rizzoli und Isles bietet „Grabesstille“ gewohnt spannende Krimi-Lektüre, die durch den Einfluss chinesischer Mythen durchaus an Farbigkeit gewinnt. 

Anthony McCarten – „funny girl“

Freitag, 11. April 2014

(Diogenes, 375 S., HC)
Die zwanzigjährige Azime Gevaș lebt bei ihren Eltern im Londoner Stadtteil Green Lanes, die zwar aus dem kurdischen Teil der Türkei stammen, sich aber für echte Briten halten. Statt weiterhin für einen spärlichen Lohn im Möbelladen zu arbeiten, den ihr Vater Aristot unterhält, und sich von einem Heiratsvermittler, den ihre Mutter Sabite engagiert hat, verheiraten zu lassen, träumt Azime von einem selbstbestimmten Leben und einer Karriere als Komikerin. Den Weg dazu ebnet ihr einziger männlicher Freund Deniz, dessen unbekümmerte wie hemmungslose Lebensweise sie bewundert.
Ob sie in ihn verliebt ist, kann sie nicht so recht bestätigen. Aber sie fängt an, ihn zu den Comedy-Kursen zu begleiten, die er besucht, und schließlich wird auch Azime von der Kursleiterin Kirsten ermuntert, ihre Witze auf der Bühne zu präsentieren. Mit ihrer Show begeistert sie zwar auch einen Journalisten vom „Guardian“, doch nach den Selbstmordattentaten in verschiedenen Londoner U-Bahn-Stationen bekommt Azimes auch explizite Morddrohungen zugeschickt. Doch Azime muss nicht nur im Spannungsfeld familiärer Traditionen und Erwartungen einerseits und eigenen Lebensverwirklichungsstrategien ihren Weg finden, sie versucht auch, die Hintergründe des Todes einer ihrer Freundinnen aufzudecken.
Da das Mädchen in einen italienischen Jungen verliebt gewesen ist und vom Balkon der elterlichen Wohnung im achten Stock gestürzt ist, geht Azime davon aus, dass der Vater für die Tat verantwortlich ist. Schließlich schlägt Azimes große Stunde. Bei einer Comedy-Show soll sie vor 15000 Leuten auftreten!
„Schon früher war es eine Qual für sie gewesen, sich Material für ihre Auftritte auszudenken, doch jetzt musste sie sich an den irren Gedanken gewöhnen, dass ihre Witze Tausende zum Lachen bringen sollten. Als sie nicht weiterkam, sagte sie ihrer Mutter, sie gehe spazieren, und setzte sich in ein Café, ein wenig abseits, versuchte erneut zu arbeiten, ließ sich von Leuten, die kamen und gingen, inspirieren. Die bunte Vielfalt ihres Viertels brachte neue Ideen in ihr hervor und weckte Erinnerungen, an Deniz, Banu, Döndü, auch an das tote Mädchen und ihren Vater Omo. Sie musste an etwas denken, was Kirsten ihr beigebracht hatte: ‚Das Publikum, für das du schreibst, besteht nur aus einer einzigen Person, dir selbst. Mach es persönlicher und damit unverwechselbar. Red über Dinge, über die du – und nur du – reden kannst, Sachen, über die sonst keiner etwas weiß, über die keiner außer dir glaubwürdig reden kann.‘“ (S. 331) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten hat bereits mit seinem Bestseller „Englischer Harem“ eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass er ebenso humorvoll wie tiefsinnig den Clash of Cultures mit einer originellen Geschichte thematisieren kann. Mit der ganz konkreten Geschichte einer jungen Muslimin, die mit ihrer Familie in London lebt, macht McCarten auf höchst amüsante Weise deutlich, wie problematisch das Leben zwischen Tradition und Moderne, zwischen Fremdbestimmung und Selbstverwirklichung sein kann. Natürlich spitzt McCarten diesen Spagat zu, indem er seine sympathische wie eigensinnige Protagonistin einen überaus unkonventionellen Berufswunsch nachgehen lässt, aber gerade durch die pointierten Witze, die Azime ihrem Publikum präsentiert, werden die großen Themen, mit denen sich junge Muslime beschäftigen, besonders deutlich herausgearbeitet.
Neben Azimes wirklich komischen Auftritten, die die muslimische Kultur in einem ganz ungewohnten Licht erscheinen lässt, bewahrt sich McCarten aber auch einen nachdenklichen Ton, wenn es vor allem darum geht, wie muslimische Frauen von ihren Männern behandelt werden. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die wundervolle, Mut machende Geschichte einer jungen Frau, die ihre Stellung in ihrer Familie ebenso überdenkt wie ihre ersten romantischen Gefühle und die Gestaltung ihrer Zukunft.
Leseprobe Anthony McCarten - "funny girl"

Fabio Volo – „Lust auf dich“

Dienstag, 8. April 2014

(Diogenes, 301 S., Pb.)
Eigentlich hat Elena alles, was sich eine Frau nur wünschen kann: Nach dem Studium hat sie sich in einer Mailander Firma zur Leiterin der Marketingabteilung hochgearbeitet und mit Paolo einen Mann geheiratet, den sie bis zum Ende ihres Lebens lieben könnte, wie sie glaubte. Doch als sie bei einer Präsentation die Blicke eines attraktiven Mannes auf sich spürt und diesen in London näher kennenlernt, beginnt sie ihre Ehe zu hinterfragen und lernt eine ganz andere Frau in sich kennen.
Je mehr sie sich diesem Fremden hingibt, mit dem sie sich ausschließlich in dessen Wohnung trifft, je mehr sie die Lust und Leidenschaft zu schätzen weiß, die diese Affäre ihr bereitet, desto mehr ist sie sich dem öden Eheleben bewusst, in das sich die einst so intensive Liebe verwandelt hat. Elena hasst die Fahrten zu ihrer Schwiegermutter, die ihren Sohn immer noch so verhätschelt, als sei er ein Kind, und Elena mit mehr oder weniger versteckten Vorwürfen attackiert. Noch mehr aber hasst sie das, was die Ehe aus ihr selbst gemacht hat. Sie stört sich an dem fehlenden Interesse, das ihr Paolo entgegenbringt, der nach der Arbeit nur noch müde aufs Sofa fällt und vor der Glotze abhängt, während er Elenas Wünsche nach Gesprächen nicht ernst nimmt. Gespräche sind nicht unbedingt das, was Elena mit ihrer Affäre verbindet, aber aus dem sinnlichen, zärtlichen, leidenschaftlichen und experimentellen Sex, den sie nun erlebt, erwächst ein ganz neues Selbstvertrauen.
„Ich denke, dass meine Lust bei ihm so intensiv und tief ist, weil mein Körper in seinen Händen zum ersten Mal erhört wird. Er beherrscht das Spiel und weiß, wie er meine Lust immer mehr steigern kann, so dass ich mich so stark fühle wie er. Wenn wir miteinander schlafen, sind wir eins, und ich habe nie das Gefühl, passiv zu sein, auch wenn mir bewusst ist, dass er die treibende Kraft ist. Ich habe gelernt, dass es Teil eines Spiels ist, das auch ich lenke. Meine Unterwerfung ist ein Geschenk, das ich ihm bereite, keine Niederlage. Mit ihm zu schlafen ist eine geheimnisvolle Reise. Er führt mich, er reißt mich mit, geleitet mich an Orte, die ich nicht kenne und nie besucht habe.“ (S. 122) 
Allerdings scheint sich Elenas Ekstase in eine Verliebtheit zu wandeln, die die ungeschriebenen Grenzen ihrer Beziehung überschreitet. Das Objekt ihrer Begierde ist von Elenas Drang, immer mehr Kontrolle über das zu übernehmen, was sie miteinander verbindet, gar nicht begeistert …
Der italienische Schriftsteller, Schauspieler, Fernseh- und Radio-Moderator Fabio Volo, der sowohl in Mailand als auch in Rom, Paris und New York zuhause ist, hat in seinen bisherigen Romanen „Einfach losfahren“, „Noch ein Tag und eine Nacht“ sowie „Zeit für mich und Zeit für dich“ stets die Lebens- und Liebesgeschichten von jungen Männern beschrieben. In „Lust auf dich“ nimmt er erstmals die Perspektive einer Frau ein, die sich nicht nur durch Tagebuchaufzeichnungen vorstellt, sondern auch die darüber hinaus erwähnenswerten Ereignisse und Gedanken aus der Ich-Perspektive schildert. Sukzessive beschreibt Volo die Metamorphose einer Frau, die sich durch eine aufregende Affäre zu spiegeln beginnt, wie sich die Ehe mit Paolo gestaltet und welch neue Seiten die Beziehung zu einem neuen Mann in ihr zum Vorschein bringt.
Der Titel „Lust auf dich“ deutet schon an, dass Volo dabei recht freizügig zu Werke geht, doch lässt er dem Leser durchaus genügend Spielraum, die erotischen Szenen mit eigenen Phantasien aufzufüllen. Letztlich dient der Sex wie so oft nur als Mittel zum Zweck, als Schlüssel zu einer Tür, hinter der Elena ganz neue Seiten ihrer Persönlichkeit zu entdecken beginnt, die in ihrer Ehe nie zum Vorschein gekommen sind. Auf seine typisch leichte, doch packende Art beschreibt Volo die vielschichtigen Konsequenzen, die die Begegnung zweier Menschen nach sich ziehen kann – in positiver wie negativer Hinsicht.
Leseprobe Fabio Volo - "Lust auf dich"

Robert Ludlum, Eric Van Lustbader – “Der Bourne Verrat”

Sonntag, 6. April 2014

(Heyne, 543 S., HC)
Gerade als Jason Bourne im schwedischen Sadelöga von Christien Norén beim Angeln über die Aktivitäten auf den Stand gebracht wird, die seine Pläne mit Don Fernando Herrera betreffen, taucht ein menschlicher Körper aus dem Wasser auf, der sich ähnlich wie Bourne damals an nichts erinnern kann. Wie sich herausstellt, war die Mossad-Agentin Rebekka hinter dem Unbekannten her, der selbst mehrere Agenten-Identitäten in sich zu vereinen scheint.
Währenddessen ist US-Verteidigungsminister Christopher Hendricks einer hochtechnisierten Bedrohung auf der Spur, auf die er das Treadstone-Projekt unter Leitung der beiden Direktoren Peter Marks und Soraya Moore sowie den IT-Experten Dick Richards ansetzt. Richards soll eine fast mythische Figur namens Nicodemo ausfindig machen, der vor zehn Jahren aus dem Nichts aufgetaucht ist und für den multinationalen Konzern Core Energy tätig gewesen ist, das sich zum führenden Unternehmen im boomenden Energiemarkt entwickelte. Norén und Don Fernando vermuten, dass Core Energy kurz vor dem Abschluss eines Deals steht, der dem Unternehmen einen enormen Vorsprung auf dem Markt für neue Energien verschaffen würde. Sie haben bereits mehrere Minen mit seltenen Erden aufgekauft. Während Tom Brick die Gesellschaft in der Öffentlichkeit vertritt, vermutet Don Fernando, dass Brick seine Anweisungen von Nicodemo erhält, der außerhalb des Gesetzes agieren könnte und so zu einer ganz neuen Art von Terroristen zählen würde. Schließlich könnte es sich keine schlagkräftige Armee der Welt leisten, auf Waffen zurückzugreifen, die nicht mit seltenen Erden hergestellt werden. Hier kommen sowohl der Mossad als auch der chinesische Minister Ouyang ins Spiel, die vor dem Abschluss ihres Deals allerdings noch eine Hürde nehmen müssen, nämlich Jason Bourne auszuschalten. An anderer Front sorgt Dick Richards innerhalb der Treadstone-Mauern dafür, seiner Organisation von innen heraus einen schweren Schlag zu versetzen …
„In den Regierungsbehörden konnte man nichts erreichen. Andere ernteten die Lorbeeren für seine Arbeit, die er für ein bescheidenes Gehalt leistete. Der Präsident behandelte ihn wie einen Hund, der gelegentlich gestreichelt, aber ansonsten an der kurzen Leine gehalten wurde. Soraya und zum Teil auch Peter begegneten ihm misstrauisch und herablassend. Ihnen konnte er es nicht einmal verübeln – schließlich war er bei Treadstone, um sie auszuspionieren. Immerhin schienen sie bereit zu sein, seine Arbeit zu würdigen, falls er sich als loyal erwies.“ (S. 389) 
Wer die Agenten-Thriller des 2001 verstorbenen Bestseller-Autors Robert Ludlum kennt, weiß um den turbulenten Start in seinen Romanen ebenso wie um den verschachtelten Aufbau seiner Geschichten. „Der Bourne Verrat“ besticht zwar durch einen furiosen Start, doch braucht der Leser etwas Geduld, um durch die oft nur kurz angerissenen, insgesamt recht komplexen Handlungsstränge durchzusteigen. Ludlum und sein Erbe Van Lustbader machen sich nicht die Mühe, ihre Figuren sorgfältig einzuführen. Oft genug wird der Hintergrund ihrer Tätigkeiten erst im Verlauf der weiteren Handlung erklärt. Wer sich von diesen Defiziten aber nicht abschrecken lässt, bekommt gewohnt solide Agenten-Action geboten, in der die Protagonisten quer über alle Kontinente aktiv sind, um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen.
Leseprobe Robert Ludlum/Eric Van Lustbader - "Der Bourne Verrat"

Tomi Ungerer – „Babylon“

Freitag, 4. April 2014

(Diogenes, 112 S., Klappenbroschur im Großformat)
Seit der 1931 in Straßburg geborene Tomi Ungerer Mitte der 50er Jahre in New York den Grundstein für seine Karriere als international gefeierter wie gefürchteter Zeichner, Maler, Schriftsteller und Werbegrafiker legte, ist ein umfangreiches Werk entstanden, das sich ganz unterschiedlichen Themen widmete. Nach dem durchschlagenden Erfolg seines ersten illustrierten Kinderbuchs „The Mellops go flying“ (1957) spielte der von dem Cartoonisten Saul Steinberg und Zeichner James Thurber inspirierte Ungerer mit einer Vielzahl von zeichnerischen Stilen und schockierte die Kunstszene Mitte der 60er Jahre mit den Cartoonbänden „Geheimes Skizzenbuch“ und „The Party“, in denen er auf drastisch-satirische Weise mit der New Yorker Schickeria abrechnete.
Während der Künstler in seinen einfühlsam erzählten Kinderbüchern immer wieder für die Eigenständigkeit, Neugierde und Selbstverwirklichung von Kindern eintrat, stellte er auf der anderen Seite regelmäßig den Potenzwahn und die Gier in der vermeintlich zivilisierten Erwachsenenwelt zur Schau, wobei er vor allem die Mechanisierung sexueller Wünsche in den Vordergrund stellte.
Auch in „Babylon“, dem erstmals 1979 von Diogenes veröffentlichten Band mit Zeichnungen, die so faszinierend wie schockierend zugleich sind, blickt Ungerer tief in die Abgründe der menschlichen Seele und offenbart mit kundigen Strichen die bis ins hohe Alter ungehemmte Sexlust, die bei Ungerer selbst mit dem Tod kokettiert, das Groteske menschlicher Sehnsüchte nach Macht und Anerkennung und Zurschaustellung bürgerlicher Statussymbole.
„Bilder wie Atommüll, Karikaturen einer Welt, die sich selbst karikiert, Karikaturen im Quadrat, Karikaturen hoch zwei. Hieroglyphen des Schreckens: ›Und sieh! Und sieh! An weißer Wand, da kam's hervor wie Menschenhand; und schrieb, und schrieb an weißer Wand Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.‹ Was der Prophet Daniel dem König von Babylon deutete: dessen Zukunft, deutet Ungerer uns: unsere Zukunft. Sie erscheint auf seinen Blättern ... Den Mut, die folgenden Seiten zu betrachten, musst du, lieber Leser und Kunstfreund, nun aufbringen. Auch du bist ein Zeitgenosse. Ich weiß, es macht keinen Spaß. Möglicherweise wirst du ein Kunstfeind dabei. Werde es. Die Kunst hat heute ohnehin zu viele falsche Freunde. Aber die Zeit, bei der einem der Spaß vergeht, ist keine verlorene Zeit. Man kommt vielleicht in ihr drauf, dass Nachdenken eine Beschäftigung ist, die wir als Zeitgenossen unserer selbst und der anderen Ratten dieses Planeten bitter nötig haben“, schreibt Friedrich Dürrenmatt („Der Richter und sein Henker“) in dem Vorwort zu „Babylon“ und warnt den geneigten Betrachter schon mal vor, was ihn erwartet, nämlich alles andere als leicht verdauliche und erbauliche Kost.  
Ungerer erweist sich in „Babylon“ einmal mehr als ein Meister des Abgründigen, als Künstler, der seine fast schon apokalyptischen Visionen mit pointierten wie fein geschwungenen Linien auf den Punkt bringt.

John Grisham – „Die Erbin“

(Heyne, 702 S., HC)
Der schwer an Lungenkrebs erkrankte Unternehmer Seth Hubbard hat sein Ende sorgfältig vorbereitet. Bevor er sich an einem Freitagnachmittag in einem Baum erhängte, setzte der zurückgezogen lebende Hubbard ein handschriftschriftliches Testament auf, mit dem er sein vorangegangen verfasstes und in der Kanzlei Rush in Tupelo hinterlegtes widerruft und seine schwarze Haushälterin Lettie Lang quasi als Alleinerbin über mutmaßlich mehr als zwanzig Millionen Dollar einsetzt.
Als der Kleinstadtanwalt Jack Brigance am folgenden Montag per Post Hubbards letzten Willen zugestellt bekommt und ihn als Nachlassverwalter einsetzt, ahnt er bereits, dass ihm ein langwieriger Prozess bevorsteht. Denn Hubbards Kinder und Enkel, die Zeit ihres Lebens kaum Kontakt zum Toten gepflegt haben, werden das neue Testament natürlich anfechten. Doch Brigance ist nicht nur damit beschäftigt, sich gegen ein Heer von Anwälten zu behaupten, die sich nicht nur um Hubbards Familienangehörige scharen, sondern auch Lettie Lang ihre Dienste anbieten wollen. Sie alle wollen natürlich ein großes Stück vom Kuchen abhaben.
Doch Jake hat noch an einer anderen Front zu kämpfen. 1985 hat er einen spektakulären Prozess gewonnen, bei dem er den Schwarzen Carl Lee Hailey verteidigte, der die beiden Weißen erschoss, die seine Tochter vergewaltigten und zu töten versuchten, und einen Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit erwirkt. Mitglieder des Ku-Klux-Clans brannten während des Verfahrens das Haus der Familie Brigance nieder, doch nur vier der Täter mussten dafür ins Gefängnis. Ihr Anführer Dennis Yawkey wird nun völlig überraschend auf Bewährung freigelassen und hat mit Brigance noch eine Rechnung zu begleichen. Vor Gericht bringen Jake und sein Kontrahent Wade Lanier, der die Hubbard-Kinder vertritt, ihre Geschütze in Stellung. Während Laniers Trupp von Helfershelfern alles daran setzt zu beweisen, dass der Verstorbene nicht testierfähig gewesen ist, forscht Letties Tochter Portia in der Familiengeschichte.
„Es konnte durchaus sein, dass es Zeitverschwendung war, in der Vergangenheit herumzuwühlen, aber es war eine faszinierende Suche. Lucien war besessen von dem Puzzle. Er war fest davon überzeugt, dass es für das, was Seth Hubbard getan hatte, einen Grund gab. Aber der Grund war weder Sex noch Freundschaft. Portia hatte das Gespräch mit ihrer Mutter gesucht und ihr mit allem Respekt und aller Wertschätzung, die sie aufbringen konnte, die entscheidende Frage gestellt. Nein, hatte Lettie geantwortet. Nie. Es sei nie in Erwägung gezogen worden, jedenfalls nicht ihrerseits. Es sei nie darüber gesprochen worden, es sei nie in Frage gekommen. Nie.“ (S. 396f.) 
Tatsächlich tragen Portias Recherchemühen bald Früchte, was einen weiteren, unerwarteten Familienangehörigen auf den Plan bringt und dem Prozess die entscheidende Wendung verleiht.
Niemand vermag Justiz-Thriller so flott und packend zu schreiben wie John Grisham, der sich in seinen Romanen immer wieder auf die Seite der vermeintlich Schwachen schlägt, die sich mit aufopferungsvoll kämpfenden Anwälten ihr Recht auch gegen mächtige Großkonzerne erkämpfen. Dieser Aspekt spielt in Grishams neuen Roman „Die Erbin“ nur eine untergeordnete Rolle. Zwar geht es auch hier um viel Geld, aber im Vordergrund steht eindeutig die Rassenfrage, wo der Autor nahtlos an „Die Jury“ und den Hailey-Prozess anknüpft, der auch hier immer wieder thematisiert wird. Äußerst lebendig beschreibt Grisham, wie all die Anwälte sich bemühen, ihren Teil vom üppigen Kuchen zu bekommen, wie sie Zeugen ausfindig machen und ihre Strategien ausarbeiten. Daneben bringt Grisham immer neue Nebenschauplätze ins Spiel, von denen einige sich irgendwann im Nichts auflösen, andere wiederum prozessentscheidend werden.
So spannend Grisham diesen spektakulären Fall auch erzählt, sind seine Sympathien schnell offenkundig, was ihn selbst dazu verleitet, vor allem Jake und seine Ambitionen im strahlendsten Licht erscheinen zu lassen. Davon abgesehen bietet „Die Erbin“ einfach schnörkellos packenden Thriller-Stoff, den man nicht eher aus der Hand legt, bis die Geschworenen ihr Urteil gesprochen haben.
Leseprobe John Grisham - "Die Erbin"

Richard Laymon – „Die Klinge“

Sonntag, 30. März 2014

(Heyne, 411 S., Tb.)
Sein Date mit Betty hat sich Albert etwas anders vorgestellt. Nachdem er sie zum Kino eingeladen hatte, war er natürlich davon ausgegangen, dass sie ihm auch anderweitig zur Verfügung stehen würde, doch als es zur Sache geht, verlangt das Mädchen zwanzig Dollar, die Albert nach dem Kino nicht mehr hat. Seinen Frust lässt der junge Mann an einem vorüberlaufenden Hund aus, den er brutal ersticht.
Um die zwanzig Dollar für Betty aufzubringen, bricht er bei den Braxtons ein und vergeht sich an der Frau, wobei einmal mehr sein Messer zum Einsatz kommt. So zieht Albert durch die Staaten, nistet sich in verschiedenen Häusern ein, tötet deren Bewohner und verlustiert sich mit den attraktiveren Frauen.
„Sie humpelte langsam durch den Flur, die Treppe hinab und durch den anderen Flur zur Küche. Albert genoss es, ihr beim Laufen zuzusehen. Er hatte schon viele Frauen von hinten beobachtet. Frauen in Röcken, unter denen man die Beine fast bis zum Schritt sehen konnte; Frauen in Hosen, die wie Röcke aussahen, jedoch zwischen den Schenkeln verbunden waren; Frauen in so weiten Shorts, dass man wahrscheinlich alles sehen konnte, wenn man durch die Hosenbeine blickte; Frauen in winzigen Shorts, die sich eng an die Hinterbacken schmiegten und blasse Halbmonde freiließen; Frauen in weiten Cordhosen oder Jeans; andere in Hosen, die so eng waren, dass sich die Unterwäsche darunter abzeichnete – oder eben nicht, was noch besser war. Immer mit offensichtlicher Nacktheit darunter. Immer der Drang, eine Hand unter den Rock oder in den Bund der Hose zu schieben. Immer der Drang, aber nie die Möglichkeit. Bis jetzt.“ (S. 142f.) 
In Kalifornien kommt es bei einer Halloween-Party zum großen Showdown. Hier versammeln sich vor allem Lehrkräfte, die alle ihre eigenen Probleme haben. Während eine Lehrerin eine Affäre mit einem ihrer Schüler unterhält, will die Aushilfskraft Janet einen guten Eindruck hinterlassen, um eine Festanstellung zu bekommen, andere sind miteinander verbandelt und verkracht, so dass hinter all den Masken und Kostümen auch ein gehöriges Maß an Wut, Enttäuschung, Angst, Hoffnung und Begierde schlummert – ideale Voraussetzungen für Albert, um seinen Blutrausch auszuleben …
Der 1999 in den USA veröffentlichte Horror-Thriller „Die Klinge“ zählt zu den letzten Werken des 2001 an einem Herzinfarkt verstorbenen Schriftstellers Richard Laymon, der mit Romanen wie „Rache“, „Die Insel“ und „Die Jagd“ bemerkenswerte Beiträge zum Horror-Genre geleistet hat. In „Die Klinge“ bleibt er seinem charakteristischen Stil treu und lässt einen psychopathischen Mörder in seiner Wut auf das weibliche Geschlecht wild durch das Land metzeln. Dass dabei natürlich nicht nur viel Blut fließt, sondern auch brutale Sexphantasien beflügelt werden, gehört bei Laymon natürlich dazu. Allerdings bleibt dabei die Qualität der Story auf der Strecke. Im Gegensatz zu früheren Werken, in denen von Beginn an ein starker Spannungsbogen aufgebaut wurde, kommt bei „Die Klinge“ durch die vielen Erzählstränge nicht die übliche Nähe zu den Figuren auf.
So bleibt der Roman ein eher durchschnittlicher Gewaltporno, in dem ein einzelnes frustrierendes Sexerlebnis für die psychopathischen Züge der Hauptfigur herhalten muss und sich die vielen Nebenfiguren eher unscheinbar durch die Nöte und Sehnsüchte des Alltags und Liebeslebens quälen.
Leseprobe Richard Laymon - "Die Klinge"

Robin Sloan – „Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra“

Sonntag, 16. März 2014

(Blessing, 351 S., HC)
Auf der Suche nach einem neuen Job hat der Webdesigner Clay Jannon seine Ansprüche mit der Zeit ziemlich heruntergeschraubt und blättert auf seinem Laptop mittlerweile auch die „Aushilfe gesucht“-Anzeigen durch. Dabei stößt er eines Tages auf die etwas kuriose Annonce der durchgehend geöffneten Buchhandlung Penumbra: „Aushilfe gesucht – Spätschicht – Spezielle Anforderungen – Gute Zusatzleistungen“. Als sich Clay in der Buchhandlung vorstellt, wird von ihm vor allem verlangt, sich auf der Leiter geschickt zwischen den ungewöhnlich hohen Regalen bewegen zu können.
In der Nachtschicht von 22 Uhr bis 6 Uhr morgens kommt sich der junge Mann allerdings eher wie ein Nachtwächter vor als wie ein Verkäufer, denn der Kundenandrang hält sich doch arg in Grenzen. Dabei fällt Clay schnell auf, dass neben den gewöhnlichen Buchhandelskunden ein zweiter Kundenstamm Penumbras Buchhandlung frequentiert, ältere Leute, die Bücher nur ausleihen. Clay hat diesen besonderen Mitgliedern die gewünschten Werke auszuhändigen und muss die Transaktionen genauestens protokollieren, ein Durchblättern oder Lesen der Bücher ist ihm nicht gestattet. Als eines Nachts ein Mann namens Corvina in der Buchhandlung auftaucht, ist Penumbra ganz aus dem Häuschen, schließt kurzerhand den Laden und verschwindet spurlos. Zusammen mit seiner bei Google arbeitenden neuen Freundin Kat, seinem alten Unternehmer-Kumpel Neel und Penumbras Vertrauten einer Geheimgesellschaft namens Der Ungebrochene Buchrücken macht sich Clay an die Lösung eines alten Rätsels, dessen Ursprung in den Anfängen des Buchdrucks liegt.
„Der Ungebrochene Buchrücken. Ungebrochen, das klingt nach einer Gruppe von Attentätern, nicht nach ein paar Buchliebhabern. Was spielt sich in dem Gebäude ab? Gibt es sexuelle Fetische, bei denen Bücher eine Rolle spielen? Bestimmt. Ich versuche mir nicht vorzustellen, wie das vonstattenginge. Müssen die Ungebrochenen einen Mitgliedsbeitrag zahlen? Wahrscheinlich sogar einen hohen. Wahrscheinlich machen sie teure Kreuzfahrten. Ich mache mir Sorgen um Penumbra. Er steckt so tief da drin, dass ihm gar nicht klar ist, wie seltsam das Ganze ist.“ (S. 157) 
Mit seinem Debütroman „Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra“ hat der in San Francisco lebende Autor Robin Sloan Umberto Ecos Setting des mittelalterlichen „Der Name der Rose“ auf witzige Weise in die Neuzeit verlegt und die Geheimnisse, die das Verfassen, Übersetzen, Drucken und Beherbergen von Buchschätzen seit Beginn der Buchdruck-Ära immer mit sich gebracht haben, mit den grenzenlosen Möglichkeiten weltumspannenden Internets verknüpft.
Bei Sloan trifft sich das vertraute Flair alteingesessener Buchhandlungen mit dem modernen Schick eines dynamisch wachsenden Google- Campus, der mittelalterliche Foliant mit der neuesten E-Book-Reader-Generation, der Hüter alten Wissens mit dem international agierenden Hacker. Wie Sloan seine sympathischen Protagonisten dabei durch die Geschichte des Buchdrucks und die Errungenschaften des Internets jagen lässt, ist ebenso humorvoll wie kurzweilig geschrieben, wartet mit schönen Wendungen auf und mündet in einem herrlich turbulenten Finale. Liebhaber bibliophiler Rätsel dürften an diesem Roman ebenso viel Freude haben wie die moderne E-Book-Generation.
Leseprobe Robin Sloan- "Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra"

Irvine Welsh – „Skagboys“

Mittwoch, 5. März 2014

(Heyne, 832 S., HC)
Mit seinem erfolgreich von Danny Boyle verfilmten Romandebüt „Trainspotting“ (1993) wurde der schottische Schriftsteller Irvine Welsh weltberühmt, konnte aber mit seinen nachfolgenden Werken nicht mehr an den rauen wie authentischen Ton seines Erstlings anknüpfen. Zwar versuchte sich der mittlerweile in Chicago lebende Autor 2002 mit „Porno“ an einem Sequel, doch erst mit dem jetzt erschienenen Prequel „Skagboys“ kehrt Welsh zu alten Qualitäten zurück, wenn er in epischer Länge rekapituliert, wie die Junkies aus „Trainspotting“ zu dem wurden, was sie sind.
Die alten Bekannten Mark "Rents" Renton, Simon "Sick Boy" Williamson, David "Scruffy" Murphy, Francis "Franco" Begbie und weitere Figuren aus ihrem Umfeld beschreiben im Wechsel als Ich-Erzähler ihre verzweifelten Versuche, im sozialen Brachland des Thatcher-Regimes Anfang der 80er irgendwie klarzukommen. Die besten Chancen auf einen sozialen Aufstieg hat Mark Renton mit guten Aussichten auf einen erfolgreichen Abschluss an der Universität und einer netten Freundin. Doch als sein behinderter kleiner Bruder Davie stirbt, sind die Träume von einer besseren Zukunft nur noch Schall und Rauch. Ebenso wie seine arbeitslosen Kumpels in Leith hangelt sich Rents von einem Trip zum anderen, bis sie durch den Raub einer Spendenbüchse vor die Wahl gestellt werden, in den Knast zu wandern oder an einer Reha-Maßnahme teilzunehmen. „Eigentlich hätte ich jetzt schon einen Uniabschluss und wäre mit einem wunderschönen Mädchen verlobt! Aye, sicher könnte ich die Sucht weiter als Krankheit ansehen und auf der Grundlage des medizinischen Suchtmodells argumentieren, aber nachdem ich die Entgiftung geschafft hab, bin ich nun offiziell nicht mehr physisch abhängig. Das Problem: Im Moment sehne ich mich stärker denn je danach und auch nach der damit einhergehenden sozialen Komponente – der Deal, das Aufkochen, das Spritzen, das Abhängen mit den anderen abgefuckten Gestalten … nachts wie ein untoter Vampir durch die Gegend latschen, hin zu den schmuddligen Wohnungen in den schäbigsten Teilen der Stadt, um dort mit den anderen durchgeknallten Losern, die ihr Leben genauso wenig in den Griff bekommen wie ich, ohne Ende Dünnschiss zu labern“, schreibt Rents in sein Reha-Journal. „Ich weiß, dass das Zeug mein Leben zerstört, aber ich brauche es. Ich bin nicht bereit, aufzuhören.“ (S. 703f.) Irvine Welsh ist ein Meister darin, in der Sprache seiner Skagboys die sozialen Abgründe aufzuzeigen, die der Thatcherismus in den 80ern heraufbeschworen hat, und zeichnet authentisch das Lebensgefühl einer Generation nach, die nie in den Genuss kommen sollten, dass die Versprechen von Arbeit und Wohlstand eingelöst wurden. Dabei nimmt Welsh absolut kein Blatt vor den Mund und entfesselt in unverblümtem Slang kuriose Aktionen wie das Wettkacken am Montag, sexuelle Phantasien und Seitensprünge sowie den Wunsch, all das Elend zu vergessen, das in den Sozialbaugegenden in Edinburgh herrscht. Diese Schilderungen sind manchmal etwas lang geraten, aber voll drastischer Humoreinlagen und tiefer Einsichten in die sozialen Befindlichkeiten der britischen Thatcher-Ära. Lesen Sie im Buch: Welsh, Irvine - Skagboys

Simon Beckett – „Der Hof“

Sonntag, 9. Februar 2014

(Wunderlich, 460 S., HC)
Mit seinen David-Hunter-Romanen „Chemie des Todes“, „Kalte Asche“, „Leichenblässe“ und „Verwesung“ hat der englische Autor Simon Beckett weltweit eine enorme Fangemeinde gewinnen können. Doch bevor die Leser ein neues Abenteuer von dem forensischen Pathologen mit romantischen Neigungen präsentiert bekommen, überrascht Beckett mit einem packenden Psychothriller der etwas anderen Art.
Ein Mann auf der Flucht. Als dem Audi das Benzin auszugehen droht, lenkt er den Wagen in einen Feldweg, entfernt die britischen Nummernschilder und wirft sein Handy ins Feld. Er fährt per Anhalter weiter, es wird französisch gesprochen. Nach einem kleinen Imbiss in der nächsten Kleinstadt wandert der Mann weiter und landet auf einem abgelegenen Hof, wo er um Wasser bittet. Als er im Wald in eine Tierfalle tritt, wird er zurück zum Hof gebracht, der von dem herrischen Arnaud und seiner Tochter Mathilde bewirtschaftet wird. Der Mann namens Sean wird gesundgepflegt, dann bekommt er das Angebot, auf dem Hof auszuhelfen, bis er den Drang verspürt weiterzuziehen. Sean nimmt den Job, Ausbesserungsarbeiten an einem Gebäude zu übernehmen an, weil er sich hier sicher vor der Polizei wähnt. Doch die Art, wie Arnaud, Mathilde und ihre kokette Tochter Gretchen miteinander umgehen, wie die Stadtbewohner auf Arnaud reagieren, macht Sean neugierig. Je länger er auf dem Hof bleibt, desto unheimlicher erscheinen ihm die Geschichten, die ihm zugetragen werden. Und was hat es mit dem Vater von Mathildes Sohn auf sich, der zuletzt in Lyon gesehen worden ist und seitdem als vermisst gilt?
„… ich bin inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass dieser Hof unliebsame Ereignisse einfach absorbiert und sich darüber schließt wie das Wasser um die Steine, die ich in den See werfe. Ein paar Wellen breiten sich kreisförmig aus, danach ist alles wieder ruhig.“ (S. 223) 
Von Beginn an versteht es Simon Beckett, mit seinem neuen Roman einen unheimlichen Sog der Spannung zu erzeugen. Was sich zunächst auf Seans Geschichte bezieht, die nach und nach in einzelnen Kapiteln aufgerollt wird, die die vorangegangenen Geschehnisse in London rekapitulieren, weitet sich schließlich auf das Geschehen auf dem Hof im ländlichen Frankreich aus. Geschickt spielt Beckett hier mit dem geheimnisvollen Figurenensemble, dessen Beziehungsgeflecht nie ganz zu durchschauen ist. Interessant ist dabei vor allem die erotische Spannung herausgearbeitet, die sich zwischen Sean und der aufdringlichen Gretchen einerseits und Sean und der zurückhaltenden, ganz um das Wohl der Familie besorgten Mathilde entwickelt. Die psychologische Feinsinnigkeit, mit der Beckett hier unterwegs ist, reicht allein schon aus, „Der Hof“ zu einer äußerst spannenden Lektüre zu machen, aber die zu lösenden Rätsel und das Auffinden verschwundener Personen sorgen darüber hinaus für den Thriller-Nervenkitzel, für den der Bestseller-Autor berühmt ist.
Mit sprachlicher Virtuosität und einer komplexen Anordnung psychologischer Profile ist mit „Der Hof“ ein Pageturner entstanden, der lange nachwirkt.
Leseprobe Simon Beckett - "Der Hof"

David Baldacci – (John Puller: 1) „Zero Day“

Sonntag, 26. Januar 2014

(Heyne, 607 S., HC)
In dem kleinen Städtchen Drake in West Virginia wird Oberst Matthew Reynolds ermordet aufgefunden. Da er beim Militärischen Geheimdienst DIA für die tägliche Berichterstattung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse an den Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs verantwortlich war, wird der 35-jährige John Puller auf den Fall angesetzt. Der hochdekorierte Kriegs-Veteran und Spezialermittler der Militärstrafverfolgungsbehörde CID bekommt allerdings nur die örtlichen Polizeibehörden zur Unterstützung, um nicht die Aufmerksamkeit von FBI und den Medien zu erregen.
Nach seiner Ankunft in Drake lernt Puller nicht nur die tüchtige Polizeibeamtin Sam Cole kennen, die ihm bei den Ermittlungen tatsächlich eine große Hilfe ist, sondern auch die wenigen mächtigen Leute in Drake, die ihren Reichtum dem Kohletagebau verdanken. Nach weiteren Morden in der Stadt und Attentaten auf die beiden Ermittler steht weit mehr auf dem Spiel, als nur einen Mord an einem Armeeangehörigen aufzuklären. Wie Puller durch seinen Bruder, den wegen Hochverrats inhaftierten Atomwissenschaftler Robert, erfährt, werden die bei den Ermittlungen aufgetauchten Elemente Goldfolie und Wolframkarbid beim Bau von Nuklearsprengstoffen verwendet. In diesem Zusammenhang bekommt der abgelegene Regierungsbau mit riesiger Betonkuppel eine ganz neue Bedeutung für den Fall. Als Pullers Vorgesetzter berichtet, dass in drei Tagen mit einem terroristischen Anschlag zu rechnen ist, läuft Puller und Cole die Zeit davon.
„Falls er sterben musste, wollte er als letztes Bild seiner selbst das Bild eines Mannes in Uniform vor sich sehen, der für etwas kämpfte, für das es sich zu kämpfen lohnte. Im Irak und in Afghanistan war die Motivation naheliegend gewesen. Man kämpfte, um sein Leben zu schützen. An zweiter Stelle zählte die Zugehörigkeit zur Armee der Vereinigten Staaten im Allgemeinen und zu den Rangern im Besonderen. Drittens spielte die Verpflichtung gegenüber dem Heimatland eine Rolle. Ein Zivilist hätte diese Reihenfolge möglicherweise als verdreht erachtet, doch Puller wusste es besser. Seine Prioritäten entsprachen vollkommen dem Denken der Mehrheit aller Uniformträger, die regelmäßig die Kastanien aus dem Feuer holen mussten.“ (S. 535f.) 
Der amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci hat zwar auch romantische Stoffe wie „Das Geschenk“ und „Das Versprechen“ verfasst, aber berühmt ist er durch seine Thriller geworden, unter denen der von Clint Eastwood verfilmte Roman „Absolute Power“ und die Reihen um den ehemaligen Secret-Service-Agenten Sean King und seine Partnerin Michelle Maxwell sowie den exklusiven Camel Club zu den bekanntesten zählen.
Mit „Zero Day“ startet nun eine weitere, diesmal im Heyne Verlag veröffentlichte Serie um den CID-Ermittler John Puller. Schnörkellos geschrieben, nimmt sich Baldacci nicht allzu viel Zeit für die Charakterisierung seiner Figuren, sondern enthüllt nur Fragmente von Pullers militärischer Vergangenheit, die ganz im Schatten seines übermächtigen Vaters steht, und seiner Beziehung zum inhaftierten Bruder, der glücklicherweise eine bedeutende Rolle bei der Aufklärung dieses ersten Falls spielen darf. Diese knappen Einblicke in die Vergangenheit des CID-Spezialermittlers lassen natürlich Freiräume für die kommenden Romane, aber im Vordergrund steht ohnehin der Fall, der alles zu bieten hat, was sich Thriller-Freunde wünschen – eine abgelegene Stadt mit einer eingeschworenen Gemeinschaft, einen undurchsichtigen Mordfall ohne ersichtliches Motiv, Indizien und Beweise, die mehrere Deutungsmöglichkeiten offenlassen, und ein wendungsreicher Showdown, der neugierig macht auf die weiteren Fälle von John Puller.
 Leseprobe David Baldacci - "Zero Day"

Joe Hill – „Christmasland“

Sonntag, 5. Januar 2014

(Heyne, 800 S., HC.)
Mit seinen ersten beiden Romanen „Blind“ und „Teufelszeug“ hat sich Joe Hill schon früh aus dem mächtigen Schatten seines Vaters Stephen King lösen und als äußerst origineller Horror-Autor etablieren können. Mit seinem neuen Werk „Christmasland“ liefert er nun sein Magnus Opus ab, eine 800-seitige Saga, in der sich gleich mehrere Themen aus dem Universum seines Vaters wiederfinden.
In den 90er Jahren hat Charles Talent Manx III Dutzende in seinem alten Rolls-Royce von Kindern entführt, um sie an einen Ort zu bringen, wo das ganze Jahr über Weihnachten herrscht. Zusammen mit seinem ebenfalls psychisch derangierten Handlanger Bing Partridge, der mit Gasmaske maskiert und aromatisierten Betäubungsgas bewaffnet die ausgesuchten Opfer ins sogenannte Christmasland brachte, ließ Manx über die Jahre in verschiedenen Bundesstaaten unter jeweils mysteriösen Umständen Kinder und ihre Mütter verschwinden, bis er eines Tages gefasst, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt wurde, wo er allerdings 2001 ins Koma fiel.
Im Dezember 2008 kam Manx in der Dauerpflegestation im Hochsicherheitsspital des FCI Englewood allerdings unerwartet wieder zu sich, um seine Jagd nach vermeintlich unglücklichen Kindern und ihren unwürdigen Müttern fortzusetzen. Allerdings findet er in Victoria McQueen eine versierte Gegenspielerin. In ihrer Kindheit verfügte sie über die beachtliche Gabe, verlorene Dinge wiederzufinden, indem sie sich auf ihr Raleigh-Tuff-Burner-Fahrrad schwang, hinter dem Haus den Hügel hinunterratterte und über die Shorter Way Bridge auf unerklärliche Weise genau dort landete, wo das verschollene Ding zu finden war. Sie war das einzige Mädchen, das den Fängen des Weihnachtsmörders entkommen konnte, allerdings bezahlte sie dieses traumatische Erlebnis mit Wahnvorstellungen, die sie in die Nervenklinik brachten, nachdem sie ihr Haus abgebrannt hatte. Doch 2011 bekommt Vic unerwarteten Besuch von Maggie Leigh, einer stotternden Bibliothekarin, die das Mädchen damals mit seiner besonderen Gabe vertraut gemacht hatte. Als Maggie verkündet, dass die Leiche von Manx verschwunden ist, will Vic nicht wahrhaben, dass die Jagd von Neuem beginnt.
„Vics Wut drohte überzukochen, und sie wollte Maggie damit verbrennen. Nicht nur versperrte Maggie ihr den Weg zu ihrer Haustür und brachte mit ihrem irren Gerede Vics Wahrnehmung der Realität und ihre hart erkämpfte Zurechnungsfähigkeit ins Wanken. Nein, sie gönnte ihr auch nicht die Erleichterung angesichts von Manx‘ Tod. Charlie Manx, der Gott weiß wie viele Kinder entführt hatte, der Vic selbst gekidnappt, gequält und beinahe getötet hatte – Charlie Manx lag unter der Erde. Vic war ihm endlich entkommen. Aber die verdammte Margaret Leigh wollte ihn wieder zurückholen, ihn ausgraben, damit Vic sich weiter vor ihm fürchten musste.“ (S. 334) 
Als sich Vic endlich der Wahrheit stellt, lässt sie sich nicht mehr von ihrem Vorhaben abbringen, Manx endgültig zur Strecke zu bringen. Mit der Entführung ihres Sohnes in sein Christmasland hat er den Bogen nämlich deutlich überspannt…
„NOS4A2“ hat Joe Hill seinen dritten in Deutschland veröffentlichten Roman zunächst etwas kryptisch anmutend betitelt, aber die Bedeutung des Rolls-Royce-Nummernschilds als „Nosferatu“ beschreibt treffend, worum es in „Christmasland“ geht, denn offensichtlich zieht sich Charlie Manx sein Lebenselixier aus den Kindern, die er in sein unheimliches Christmasland bringt.
Was den epischen Roman dabei auszeichnet, ist nicht allein die moderne Variation des ewig faszinierenden Vampir-Themas, sondern der Kampf des Guten gegen das Böse. Hier tauchen Motive aus Stephen Kings „Christine“ ebenso auf wie aus seinen Romanen „Es“, „Shining“ oder „Das letzte Gefecht“, aber auch Ray Bradbury lässt mit „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ grüßen. Dabei lebt die Geschichte von ihren faszinierenden Hauptfiguren, den bösartigen Häschern Charlie Manx und Bing Partridge auf der einen Seite und Vic „das Gör“ McQueen mit ihrer Familie auf der anderen. Über eine Zeitspanne von über 25 Jahren mit verschiedenen – nicht immer einfach nachzuvollziehenden - Rückblenden, Zeitsprüngen und Ortwechseln hinweg folgen Manx und Vic ihren Lebenswegen, um dann aufeinanderzutreffen, sich aus den Augen zu verlieren, bis sich für einen alles entscheidenden Kampf erneut ihre Wege kreuzen.
Diese wendungsreiche, spannende Geschichte entbehrt nicht einiger recht skurriler Einfälle, dokumentiert aber eindrucksvoll, dass Hill schon jetzt zu den einfallsreichsten modernen Horror-Autoren gezählt werden muss, der hoffentlich ebenso produktiv wird wie sein alter Herr.
Leseprobe Joe Hill – “Christmasland”

Dennis Lehane – „In der Nacht“

Dienstag, 24. Dezember 2013

(Diogenes, 592 S., HC.)
Mit Romanen von Dennis Lehane verhält es sich ähnlich wie mit denen von Thomas Harris (“Roter Drache”, “Das Schweigen der Lämmer”). Wenn der Leser nach meist nur wenigen Seiten bereits voll in die Geschichte eingetaucht ist, schreit alles nach Verfilmung. Dennis Lehane hat mit „Mystic River“, „Gone Baby Gone“ und „Shutter Island“ bereits drei Vorlagen zu erfolgreichen, von renommierten Filmemachern wie Clint Eastwood, Martin Scorsese und Ben Affleck inszenierten Thriller-Dramen geliefert, nun folgt mit „In der Nacht“ bereits die nächste, wiederum von Affleck umgesetzt.
„In der Nacht“ stellt zwar keine direkte Fortsetzung von Lehanes letztem Werk „Im Aufruhr jener Tage“ dar, verfolgt aber das Schicksal der Coughlin-Familie in eine andere Richtung. Wir befinden uns im Jahr 1926, Coughlin-Patriarch Thomas dient als stellvertretender Polizeichef in Boston und lässt sich wie viele andere Cops auch ordentlich schmieren, um in den Zeiten der Prohibition immer mal wieder wegzuschauen. Sein ältester Sohn Danny, der im Zentrum von „Im Aufruhr jener Tage“ stand und nach dem Quittieren des Polizeidienst Karriere in Hollywood als Stuntman und schließlich Drehbuchautor machte, taucht nur kurz als Nebenfigur auf, der Fokus liegt in Lehanes neuem Roman auf dem jüngsten Coughlin-Sprössling Joe, der als blutjunger Kleinganove nicht nur den Mumm hat, einen Laden von Gangsterboss Albert White auszurauben, sondern sich auch noch in dessen Geliebte Emma Gould verguckt. Doch der Plan, gemeinsam mit der erbeuteten Kohle irgendwo anders ein neues Leben anzufangen, schlägt furchtbar fehl. Emma verrät ihren neuen Liebhaber in der Hoffnung, dass ihm nichts geschieht, muss aber selbst mit dem Leben büßen, während Joe in Charleston eine Haftstrafe absitzen muss. Dort zieht er alle notwendigen Strippen, um nach seiner Entlassung voll in den Rumhandel einzusteigen. Mit seinem alten Kumpel Dion zieht es Joe nach Ybor, wo er mit Esteban ins Geschäft kommt und selbst schnell zum Gangsterboss aufsteigt. Obwohl er mit der kubanischen Idealistin Graciela eine Familie gründet, denkt Joe nicht daran, seine kriminelle Karriere aufzugeben.
„Genau deshalb waren sie Gesetzlose. Um Dinge zu erleben, die den Versicherungsvertretern, den Lastwagenfahrern und Anwälten und Kassierern und Schreinern und Immobilienmaklern dieser Welt nie vergönnt sein würden. Drahtseilakte ohne Netz und doppelten Boden. Genau in diesem Moment erinnerte sich Joe daran, was ihm damals als Dreizehnjährigem durch den Kopf geschossen war, als sie den Zeitungskiosk in der Bowdoin Street ausgeraubt hatten: Wahrscheinlich werden wir jung sterben.“ (S. 316) 
Mit dieser Erkenntnis wird Joe Coughlin gleich zu Beginn von Lehanes Roman konfrontiert, als er mit einzementierten Füßen auf einem Schlepper im Golf von Mexico seinem Ende entgegensieht. Indem ihm bewusst wird, dass er diese missliche Lage seiner Liebe zu Emma Gould, der Geliebten von Gangsterboss Albert White, zu verdanken hat, lässt er sein turbulentes Leben Revue passieren. Lehane erweist sich dabei als versierter Kenner der Kulturgeschichte, entwirft ein atmosphärisch stimmiges Portrait der Prohibitionszeit und lässt auch relevante Themen wie Rassismus und Korruption auf lebendige Weise in die Geschichte einfließen, in der alle beteiligten Gangster nach immer größeren Gebieten und Gewinnen streben, so dass blutige Auseinandersetzungen zwischen den Italienern, Spaniern und Kubanern nicht zu vermeiden sind.
„In der Nacht“ besticht aber nicht nur durch die hohe Erzählkunst seines Autors, sondern vor allem durch die faszinierende Hauptfigur, die von starken Leidenschaften getrieben wird. Zusammen mit den facettenreichen Figuren und der dramatischen Handlung ist so eine kurzweilige Gangsterballade entstanden, die wie gemacht für die Kinoleinwand scheint.
Leseprobe Dennis Lehane - "In der Nacht"

Stephen King – „Doctor Sleep“

Mittwoch, 11. Dezember 2013

(Heyne, 704 S., HC.)
“Shining” ist nicht nur eines der ältesten (1977 erstmals von Doubleday veröffentlicht) Werke des Horror-Schriftstellers Stephen King, sondern wurde auch 1980 kongenial von Stanley Kubrick mit Jack Nicholson in der Hauptrolle verfilmt. Nach über 35 Jahren legt King mit „Doctor Sleep“ nun eine packende Fortsetzung vor, in der das Schicksal von Daniel Torrance im Mittelpunkt des Geschehens steht.
Er muss ein noch stärker mit dem „Shining“ gesegneten Mädchen vor einer besonderen Art von Vampiren retten. Nachdem das Overlook-Hotel wegen eines defekten Heizkessels – so das Fazit des Brandinspektors von Jicarilla County - bis auf die Grundmauern abgebrannt war und unter anderem der für den Winter eingestellte Hausmeister John Torrance dabei ums Leben kam, lebten seine Frau Wendy und ihr gemeinsamer Sohn Daniel von der Abfindung, die ihnen die Besitzerfirma des Hotels zahlten, im mittleren Süden und dann im sonnigen Tampa.
Mittlerweile ist Dan erwachsen und wie sein Vater dem Alkohol verfallen. Er reist durch die Staaten und nimmt Gelegenheitsjobs als Hausmeister und Krankenpfleger an, bis er in Frazier landet und die Bekanntschaft mit Billy Freeman macht, der ihm einen Job in der Freizeitanlage Teenytown vermittelt. Deren Boss erkennt sofort, dass Dan ein Alkoholiker ist und legt ihm ein strenges Programm auf. Doch kaum hat sich Dan eingelebt, erhält er Botschaften von einem Mädchen namens Abra, das schon als Baby starke „Shining“-Kräfte zum Ausdruck gebracht hat. Während die beiden miteinander kommunizieren, kommen sie einer Vampir-ähnlichen Sekte auf die Spur, die sich der Wahre Knoten nennt und seit Jahrhunderten unauffällig in Wohnmobilen durch die Lande zieht und sich von dem sogenannten Steam ernährt, dem letzten Odem von Menschen, die das „Shining“ besitzen. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn der Wahre Knoten hat längst die Spur von Abra aufgenommen …
„Rose wollte das Mädchen nicht nur, weil es – mithilfe des richtigen Drogencocktails und kraftvoller übersinnlicher Beruhigungsmaßnahmen – einen fast endlosen Vorrat an Steam liefern konnte. Die Sache hatte einen persönlicheren Aspekt. So jemand umwandeln? Zum Teil des Wahren Knotens machen? Niemals. Die Kleine hatte Rose the Hat aus ihrem Kopf gescheucht wie eine lästige Sektenanhängerin, die von Tür zu Tür ging, um Broschüren über das Ende der Welt zu verteilen. So war Rose noch von niemand rausgeschmissen worden. Egal wie kraftvoll die Kleine war, man musste ihr eine Lektion erteilen. Und dafür bin ich genau die Richtige.“ (S. 294f.) 
Ebenso wie sich viele Leser gefragt haben, was mit dem kleinen Danny passiert ist, nachdem er mit seiner Mutter Wendy und dem Koch Dick Hallorann in den nächstgelegenen Ort Sidewinder geflüchtet ist, ließ auch den Autor die Frage nie los. 35 Jahre nach "Shining" legt Stephen King mit „Doctor Sleep“ eine Fortsetzung vor, die wie in Kings epochalen Meisterwerken „The Stand - Das letzte Gefecht“ und „Der dunkle Turm“ nicht weniger als den Kampf des Guten gegen das Böse in epischen Dimensionen thematisiert.
Die 700 Seiten werden dabei vor allem von der innigen – durch das „Shining“ geprägte - Beziehung zwischen der jungen Abra und dem Alkoholiker Danny geprägt, von Danny schwerem Weg, die Alkoholsucht zu besiegen und ein neues Leben zu beginnen, von seiner Fähigkeit, als „Doctor Sleep“ im Pflegeheim die Sterbenden zur letzten Ruhe zu begleiten, aber auch von Abras Unsicherheit im Umgang mit ihren außergewöhnlichen mentalen Kräften und natürlich der Konfrontation zwischen dem Wahren Knoten und Abra mit ihren Freunden und Angehörigen.
Der Roman überzeugt dabei durch seine sorgfältig gezeichneten Figuren und den dramaturgisch geschickt inszenierten Spannungsaufbau, der sich in einem furiosen Finale entlädt.
Leseprobe: Stephen King – “Doctor Sleep”

Ian McEwan – „Honig“

Sonntag, 17. November 2013

(Diogenes, 463 S., HC.)
Eigentlich wollte die hübsche wie kluge Bischofstochter Serena Frome bei ihrer Vorliebe für das Lesen von Romanen ein gemächliches Englischstudium an irgendeiner Provinzuniversität absolvieren, doch ihr ausgeprägtes Talent für die Mathematik ließ sie nach Cambridge aufs Newnham College gehen, wo sie nur noch ein kleines Licht auf diesem Gebiet war. Während ihrer wenig aufregenden Studienzeit, in der sie immerhin ihre Unschuld verlor und eine Reihe von Liebhabern hatte, las sie weiterhin Bücher und begann für die Wochenzeitschrift „?Quis?“, die ihre Freundin Rona Kemp ins Leben rief, regelmäßige Kolumnen zu schreiben, zunächst Zusammenfassungen der von ihr verschlungenen Romane mit selbstparodierenden Urteilen, dann – als sie mit einem russischen Schriftsteller liiert war – zunehmend ernsthafte antikommunistische Artikel.
Mit Tony Canning tritt schließlich 1972 der Geschichtstutor ihres aktuellen Freundes Jeremy auf den Plan und rekrutiert Serena für den MI5, wo sie allerdings langweiligen Dienst als Büroangestellte der untersten Dienststufe leistet. Doch dann initiiert der MI5 analog zur CIA, die jahrelang kulturelle Projekte in Europa förderte, das Unternehmen „Honig“. Unter dem Tarnnamen und über den Umweg verschiedener vom britischen Geheimdienst finanzierten Stiftungen sollen junge Schriftsteller und Journalisten gefördert werden, die sich öffentlich für die freie Welt engagieren. Serena bekommt den Auftrag, für dieses Projekt Thomas Haley zu begutachten und schließlich zu rekrutieren.
„Ich hatte seinen Hunger nach Anerkennung freigelegt, nach Lob, nach allem, was ich ihm geben konnte. Daran lag ihm wohl am meisten. Seine Erzählungen waren vermutlich, abgesehen vom routinemäßigen Dank und Schulterklopfen irgendeines Redakteurs, sang- und klanglos untergegangen. Wahrscheinlich hatte keiner, zumindest kein Fremder, ihm jemals gesagt, wie phantastisch seine Prosa war. Jetzt hörte er es und erkannte, dass er das schon immer vermutet hatte. Ich hatte ihm eine umwerfende Nachricht überbracht. Wie konnte er wissen, dass er etwas taugte, wenn niemand es ihm bestätigte? Und jetzt wusste er es, es stimmte tatsächlich, und er war dankbar.“ (S. 207) 
Der Coup gelingt, doch indem sie eine leidenschaftliche Affäre mit dem vielversprechenden Autor beginnt, setzt sie einiges aufs Spiel …
Ian McEwan („Abbitte“) hat die interessante Zeit des Kalten Krieges, in der sowohl der demokratische Westen als auch der kommunistische Osten nichts unversucht ließen, die Überlegenheit ihrer Ideologien zu propagieren, als Szenario für eine außergewöhnliche Love- und Agentenstory gewählt und dabei weniger das Spionieren an sich als vielmehr die emotionalen Verquickungen ins Zentrum seines Romans „Honig“ gestellt. Fachkundig bekommt der Leser zwar einen wunderbar unterhaltsam geschilderten Einblick in die politischen Machenschaften und undurchsichtigen Geheimdienst-Praktiken der damaligen Zeit, aber dem britischen Meistererzähler geht es wie immer vor allem darum, wie sich seine Protagonisten in ihrem jeweiligen Umfeld bewegen und was sie zu ihrem Tun antreibt. Mit Serena Frome beschreibt er eine durchweg sympathische Heldin mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die sie durchaus gewinnbringend einzusetzen versteht.
Was „Honig“ dabei auszeichnet, ist nicht nur die sprachliche Geschliffenheit, mit der McEwan minutiös Geschehen und Befindlichkeiten beschreibt, sondern die elegante Verquickung von Realität und Fiktion, wie sie vor allem in den Zusammenfassungen von Haleys Erzählungen und Serenas Interpretationen und Übertragungen auf den Autor zum Ausdruck kommen. Aber auch die fein gesponnene Symbiose aus Spionage-Roman und Liebes-Drama, der immer wieder durchblitzende feine Humor und die überraschenden Wendungen machen „Honig“ zu einem kurzweiligen, tiefsinnigen und amüsanten Lesegenuss.
Leseprobe Ian McEwan - "Honig"

Philippe Djian – „Wie die wilden Tiere“

Samstag, 2. November 2013

(Diogenes, 227 S., HC)
Als der bildende Künstler Marc in einer Metro ein völlig betrunkenes und vollgekotztes Mädchen aufliest und mit nach Hause in seine am Strand liegende Villa nimmt, füllt er damit nicht nur den geräumigen Wohnsitz, sondern auch die Leere, die dort nach dem Aufsehen erregenden Selbstmord seines achtzehnjährigen Sohnes Alexandre und der Trennung von seiner Frau Elisabeth entstanden ist.
Marc versteht selbst nicht, warum er die junge Frau unter seine Fittiche genommen hat, zumal sie am nächsten Tag schon wieder verschwunden ist und sein Haus völlig verwüstet zurückgelassen hat, aber er ahnt wohl, dass ihr gutes Aussehen sicherlich eine Rolle spielte. Kaum taucht Gloria wieder auf, zieht sie bei Marc ein. Er erfährt, dass sie die Alexandres Freundin gewesen ist, und bekommt durch ihre Erzählungen endlich einen Einblick in das Leben seines Sohnes, um den er sich zu wenig gekümmert hat. Marcs beste Freunde Michel und Anne warnen ihn allerdings vor dem Mädchen, von der niemand etwas weiß. Michel ist nicht nur Marcs Agent, mit seiner Frau Anne unterhielt Marc eine leidenschaftliche Affäre, bevor sie mit Michel zusammengekommen ist. Nun sehnt sie sich nach dem großartigen Sex mit Marc zurück, während sich Michel mit Erektionsstörungen herumplagt. Marc fällt es sichtlich schwer, ein besonnenes Verhältnis zu ihnen zu bewahren.
„Ich beobachtete sie einen Moment von draußen, Anne, wie sie Kartons mit dem Cutter aufschnitt, und ihn, wie er sich den Inhalt besah, und beide zusammen, wie sie beeindruckt den Kopf schüttelten, bevor sie sich dem nächsten Foto zuwandten. Michel kauerte auf dem Boden, und Anne ließ eine Hand auf seiner Schulter ruhen. Wenn ich an den Weg zurückdachte, den wir gemeinsam gegangen waren, eine dreißig Jahre lange Reise, erfüllte mich diese Hand mit Zuneigung für die zwei – ich erinnerte mich vor allem daran, wie sie mir geholfen hatten, alle möglichen Schicksalsschläge zu überwinden, wie wir uns stets gegenseitig zur Seite gestanden waren und was für ein phantastisches Bollwerk wir damit um uns aufgebaut hatten. Danach überkam mich ein anderes Gefühl, nämlich, dass diese Dreiecksbeziehung uns erdrückte, lähmte, blind machte – Julia hatte sich trotz ständiger Vorsichtsmaßnahmen immer ausgeschlossen und gekränkt gefühlt -, dass dieses Trio gar nicht so gut funktionierte, wenn man bedachte, wie extrem kräftezehrend unser Verhältnis letztlich war.“ (S. 144) 
Michel und Anne bedrängen Marc zunehmend, Gloria nicht zu nah an sich heranzulassen. Während Michel schon Ermittlungen über sie anstellen will, kann Anne die Vorstellung nicht ertragen, dass Marc mit der jungen Frau vielleicht sogar das Bett teilt. Als Gloria erneut spurlos verschwindet, verdächtigt Marc sogar seinen besten Freund, etwas damit zu tun zu haben …
Seit dem Durchbruch mit seinem dritten Roman „37,2° am Morgen“ (1985) haben es dem französischen Autor Philippe Djian vor allem die Lebenskünstler angetan, die unter Drogen- und Alkoholeinfluss ihre Schreibblockaden, emotionalen Irrungen und Wirrungen und vorwiegend sexuellen Leidenschaften in den Griff zu bekommen versuchen. Daran hat sich auch ein Vierteljahrhundert später nicht viel verändert. Wie in vielen seiner Werke funktioniert auch in Djians „Wie die wilden Tiere“ der Ich-Erzähler Marc nur in der Ausübung seiner Kunst, scheitert aber kläglich auf sozialem Terrain. In dieser Hinsicht bietet „Wie die wilden Tiere“ wenig Neues. Das Setting ist ganz vertraut, die Geschichte geht schon mal merkwürdige, nicht immer nachvollziehbare Wege, der Ton ist von Djian-typischer Deutlichkeit, der Stil unverblümt und rasant. Große psychologische Einsichten in die einzelnen Figuren darf man auf den gut 220 Seiten ebenso wenig erwarten wie überraschende Wendungen und Erkenntnisse. Das ist trotz des hohen Tempos nicht wirklich berauschend, aber ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet auch dieses kleine Buch allemal. Leseprobe Philippe Djian - "Wie die wilden Tiere"

Neil Gaiman – „Das Graveyard Buch“

Samstag, 26. Oktober 2013

(Arena, 309 S., HC)
Seit Neil Gaiman Ende der 80er Jahre in Zusammenarbeit mit seinem Freund Dave McKean und Werken wie „Violent Cases“, „Black Orchid“, „Signal To Noise“ und vor allem der wegweisenden „The Sandman“-Reihe zu einem der wichtigsten Comic-Autoren der Gegenwart geworden ist, hat sich der vielseitige Autor ähnlich wie sein Kollege Clive Barker („Hellraiser“) die verschiedensten künstlerischen Disziplinen angeeignet. Zwar ist er noch nicht als Maler oder Regisseur in Erscheinung getreten, aber auf literarischem Gebiet hat er bereits einige Gattungen erfolgreich erobert.
In den vergangenen Jahren sind es immer weniger Comics, sondern Fantasy-Romane („Anansi Boys“, „American Gods“), Film-Drehbücher („Sternwanderer“, „Beowolf“) und Kinder- und Jugendbücher („Coraline“, „Der lächelnde Odd und die Reise nach Asgard“) gewesen, mit denen Gaiman sein Publikum faszinierte. In die letztgenannte Kategorie fällt auch „Das Graveyard Buch“, das zwar in der deutschen Ausgabe leider ohne die Zeichnungen von Dave McKean, dafür aber – als limitierte Ausgabe - in einer schmucken Blechschatulle präsentiert wird.
Ein Killer sticht in der Nacht eine ganze Familie nieder. Nur der gerade mal 18 Monate alte Sohn kann dem Mörder entwischen und findet auf dem nahegelegenen Friedhof einen ungewöhnlichen Unterschlupf: Als die seit Jahrhunderten tote Mrs. Owens auf dem Weg zu einer Ansammlung halb zerfallener Grabsteine den Jungen erblickt, nehmen sie und ihr Mann das Kleinkind bei sich auf und verpassen ihm den Namen Nobody „Bod“ Owens. Nachdem sich die Gemeinde der toten Seelen, die den Friedhof bevölkert, sich darauf verständigt hat, das lebende Menschenkind bei sich aufzunehmen, erklärt sich Silas zu seinem Vormund. Als Wanderer zwischen den Welten der Toten und der Lebenden ist es ihm als Einziger erlaubt, den Friedhof zu verlassen. Nobody lässt sich von den Toten alles Wissenswerte beibringen, bis es auch ihm gelingt, sich im rechten unbeobachteten Moment unsichtbar zu machen. Im Alter von fünf Jahren lernt er die gleichaltrige Scarlett kennen, die ihm eine treue Freundin wird, und Nobody erlebt so einige Abenteuer, wenn er eine normale Menschenschule besucht oder in die Welt der Ghoule eintritt.
„Bod fiel in die Dunkelheit wie ein Klumpen Stein. Er war viel zu verblüfft, um sich zu fürchten, und fragte sich nur, wie tief das Loch unter diesem Grab wohl war, als zwei starke Arme ihn unter den Achseln packten und ihn durch die Dunkelheit schwangen. Bos wusste seit Jahren nicht mehr, was völlige Dunkelheit war. Auf dem Friedhof konnte er sehen wie die Toten, für ihn war kein Grab und keine Gruft wirklich schwarz. Nun lernte er völlige Dunkelheit kennen und obendrein spürte er durch Nacht und Wind geworfen wurde. Ein angsteinflößendes, aber auch wahnsinnig aufregendes Erlebnis.“ (S. 76f.) 
Das größte Abenteuer steht Bod allerdings bevor, als er erfährt, dass der Mörder, der damals seine Familie abgeschlachtet hat, noch immer auf der Suche nach dem Jungen ist, um sein Werk zu vollenden …
Bei der schaurigen Eröffnungssequenz, in der Nobodys Familie hingerichtet wird, mag man schwer glauben, dass das der Beginn eines Kinder- und Jugendbuches sein soll, doch von Neil Gaiman ist man unorthodoxe Erzählstrukturen und ungewöhnliche Geschichten gewohnt. Schnell wird dann auch die besondere Fähigkeit des Autors sichtbar, außergewöhnliche Figuren in noch außergewöhnlicheren Situationen zu zeichnen und sie eine Entwicklung durchmachen zu lassen, die der ganz gewöhnlicher Menschen nicht unähnlich ist. Obwohl sich Nobody im Reich der Toten bewegt, zieht es ihn seiner Natur nach immer wieder zu den Menschen, muss sich aber mit den Ängsten auseinandersetzen, die der menschlichen Natur innewohnen, der Angst vor dem Tod ebenso wie die Sorge, geliebte Menschen zu verlieren. Letztlich geht es für Nobody darum, den Schritt ins wirkliche Leben zu wagen. Wie Gaiman diese Entwicklung beschreibt, ist einfach nur zauberhaft, voller atmosphärischer Geheimnisse, dunkler Bedrohungen und magischer Momente.

Steve Mosby – „Kind des Bösen“

Sonntag, 13. Oktober 2013

(Knaur, 431 S., Tb.)
Ausgerechnet an seinem freien Vormittag, als er mit seiner Frau Rachel einen Termin bei ihrer Hebamme wahrnehmen wollte, bekommt Detective Andrew Hicks von seiner Partnerin Laura Fellowes zu einem Tatort gerufen wird. Scheinbar ohne Grund wurde der 32-jährigen Vicky Gibson vor ihrer Wohnung, die sie mit ihrer Mutter bewohnt hat, der Kopf zu Brei geschlagen. Wenig später wird ein Obdachloser aufgefunden, der auf ähnliche Weise ermordet worden ist, doch Hicks und seiner Truppe gelingt es einfach nicht, einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen herzustellen. Schließlich werden im abgelegenen Garth-Komplex gleich drei weitere ähnlich zugerichtete Leichen lokalisiert.
Einem Bekennerbrief zufolge spielt der Täter mit der Macht des Zufalls. Die Opfer an sich bedeuten ihm nichts. Es zählt allein ausgetüftelter Code, nach dem die grausamen Taten verübt werden. Während der Ermittlungen hat Hicks aber nicht nur einen Serienkiller zu fassen, der ohne erkennbares Schema äußerst brutal zu Werke geht, sondern muss auch mit einem Kommissar aus einem Nachbarbezirk zusammenarbeiten, bei dem Hicks ein merkwürdiges Gefühl hat. Dazu wird er immer wieder von Erinnerungen an seine Kindheit heimgesucht und besucht mit seiner hochschwangeren Frau eine Paartherapie. Die Probleme werden nicht einfacher, als weitere Morde verübt werden, unter anderem an einem Mann, den Hicks von einem früheren Fall her kennt, der ihm noch immer nachhängt. Ein Hoffnungsschimmer tut sich auf, als die Ermittler auf ein Internet-Forum stoßen, auf dem Videos mit vertrautem Modus Operandi zu sehen sind.
„Was hatte jemanden dazu gebracht, so etwas zu tun? Wenn man den Briefen Glauben schenkte, gab es einen Grund – ein Muster, das es zu suchen galt -, die Wirklichkeit war aber eine andere. Also mussten die Briefe eine Lüge sein. Schon allein die Szene hinter mir im Wald war nicht das Produkt rationalen Denkens. Das dahinten war nicht das Werk eines gesunden Menschen: nacheinander seine Opfer in eine übelriechende Grube zu zerren, um ihren langsamen, qualvollen Tod zu filmen. So handelt keine Person, die einen Code erstellt und der Morde nichts bedeuteten. Nein, das war das Werk eines Mannes, der das Leiden genießt und Kraft daraus gewinnt. Keinesfalls jemand, dem der Tod gleichgültig war. Es war jemand, der sich daran ergötzte. Und das passte nicht zusammen.“ (S. 325) 
Der britische Thriller-Autor Steve Mosby hat seit seinem Hardcover-Erfolg mit „Der 50/50-Killer“ auch in Deutschland schnell eine Fangemeinde erschließen können. Seither sind mit „Spur ins Dunkel“, „Tote Stimmen“ und „Schwarze Blumen“ Romane erschienen, die nicht immer die Erwartungen erfüllt haben, die das gefeierte Debüt geweckt hat.
Auch „Kind des Bösen“ beginnt etwas schwerfällig, indem Mosby etliche Episoden einführt, deren Zusammenhang sich erst nach und nach erschließt. Dazu fällt es schwer, Inspektor Hicks, der die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt, wirklich Sympathien entgegenzubringen, zumal auch die Ehekrise nur aus seiner Sicht dargestellt wird und kaum eine Weiterentwicklung erfährt. Wenn die Story aber an Fahrt aufnimmt, erweist sich Mosby durchaus als Meister der Dramaturgie und atmosphärischer Erzählweise. Am Ende werden all die losen Fäden, die im Laufe des Romans gesponnen wurden, zwar schlüssig zusammengeführt, doch wirklich überzeugend kommt der Plot nicht immer rüber, zumal die Motivation des Täters eher unbefriedigend erläutert wird. So besticht „Kind des Bösen“ vor allem durch die extrem brutal ausgeführten Mordtaten, weniger durch psychologisch nachvollziehbare Figurenzeichnung.
Leseprobe Steve Mosby – “Kind des Bösen”

Gaetano Cappelli – „Ferne Verwandte“

Sonntag, 6. Oktober 2013

(C. Bertelsmann, 511 S., HC)
Seit seine Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren und auch Großvater Carlo das Zeitliche gesegnet hatte, wächst Carlino di Lontrone unter dem strengen Regiment von Großmutter Nonnilde auf, die nicht nur über eine gut dreißigköpfige Familie herrscht, sondern auch den Olivenöl produzierenden Familienbetrieb Premiata F.lli Di Lontrone Olii Superfini in einem süditalienischen Dorf führt. Als Vollwaise kommt dem kleinen Carlino die Zuwendung aller Frauen im Dorfe zugute, der Nonnen ebenso wie all der Tanten und Cousinen. Vor allem die üppig ausgestattete, 17-jährige Cousine Tea hat es dem Jungen angetan, an deren Brüste er sich eines Nachts verstohlen schmiegt.
Früh reift in ihm die Erkenntnis, dass er die Frauen liebt, und so genießt er die Sechziger in vollen Zügen. Obwohl er eine Lehre als Landvermesser beginnt und sich als versierter Organist erweist, träumt Carlino von einer Schriftsteller-Karriere im verheißungsvollen Amerika, wo schon sein Vater sein Glück versuchen wollte. Vor allem erweist sich Carlino als geschickter Frauenbeglücker, der von einer seiner Liebsten zur nächsten pendelt. Da kommt ihm der Trip nach Christiana, ins Hippie-Viertel von Kopenhagen gerade Recht, wo Carlino und seine Freunde mit ihren fünfzig Kilo Himalaja-Kraut wie die Könige behandelt werden. Doch letztlich treibt es den jungen Mann wieder nach Hause.
„Die hier konnte nicht mein Leben sein. Ich brauchte Gewissheiten, feste Bezugspunkte, und in den letzten Monaten hatte ich jeden Sinn für die Realität verloren. Außerdem war mir doch tatsächlich die allgemeine Promiskuität auf die Nerven gegangen – seit wann hatte ich nicht mehr allein in einem Zimmer geschlafen? Und um ganz ehrlich zu sein: Das Haus am Fluss war ja im Sommer ganz schön, aber im Winter beispielsweise, wie wusch man sich da, wo es doch nicht einmal eine Dusche gab? Ganz zu schweigen von dem verdreckten Lokus, der schlimmer war als die Aborte in den Zügen. Jetzt erschien mir sogar die Aussicht, mit der Großmutter zu arbeiten, in rosigem Licht. Und Incoronata wieder in die Arme zu schließen, konnte ich kaum erwarten: Nach all den Frauen, die ich gehabt hatte, war dies das eindeutigste Zeichen dafür, dass ich sie wirklich liebte.“ (S. 297) 
Schließlich scheint Carlìs Traum von einer Karriere in Amerika in Erfüllung zu gehen. Von seinem Vetter Charles eingeladen, wird Carlino in der Firma seines Onkels Richard angestellt. Ohne wirklich arbeiten zu müssen, aber stets unter der Kontrolle seines Onkels, kann sich Carlino endlich alles leisten, was er sich je gewünscht hat und auch Dinge, von deren Existenz er bislang nichts wusste. Aber in einer Hinsicht ist er sich treu geblieben – der Liebe zu den Frauen. Doch diese Eigenschaft lässt den jungen Mann tief fallen …
Der italienische Schriftsteller Gaetano Cappelli hat mit „Ferne Verwandte“ einen herrlich sinnlichen Roman über das Leben und die Träume eines ganz gewöhnlichen Jungen aus der süditalienischen Provinz verfasst, der aus jeder Zeile die unbändige Lebenslust spüren lässt, die ein verträumter und verliebter junger Mann in sich tragen kann. Die amourösen Abenteuer werden dabei ebenso humorvoll wie unverblümt beschrieben, all den Erfolgen stehen aber auch immer wieder Rückschläge und Verzweiflung gegenüber, wenn die begehrten Frauen mit anderen Männern liiert sind. Doch über den gefälligen Liebesreigen hinaus schildert das Epos auch das Leben auf dem italienischen Lande an sich und präsentiert ein stimmiges Gesellschaftsportrait der 60er Jahre bis zur kapitalistischen Aufbruchsstimmung in den 80ern, spirituelle Sinnsuchen eingeschlossen.

Ray Bradbury – „Löwenzahnwein“

Sonntag, 29. September 2013

(Diogenes, 280 S., Tb.)
Mit einem Fingerschnippen an einem Junimorgen begrüßt der zwölfjährige Douglas Spaulding in Green Town, Illinois, den Sommer 1928. Es ist ein Sommer, in dem Doug wie jedes Jahr mit seinem Statistiken erstellenden Bruder Tom und seinem Großvater säckeweise Löwenzahn pflückt, um ihn zu Wein zu verarbeiten, in Ketchupflaschen abgefüllt und feinsäuberlich nummeriert. Es ist ein Sommer, der nach neuen Tennisschuhen schreit und in dem Leo Auffmann eine Glück-Maschine baut, die ihre Anwender mit unerfüllbaren Träumen konfrontiert und weinend zurücklässt. Es ist aber vor allem auch ein Sommer, der Doug mit seiner eigenen Sterblichkeit vertraut macht.
Der alten Mrs. Bentley nehmen die Mädchen Jane und Alice nicht ab, dass auch sie mal jung und hübsch gewesen ist. Die Jungs unternehmen mit dem alten Colonel Freeman eine Reise in die Vergangenheit, wenn er lebendig von den Schlachten des letzten Jahrhunderts erzählt. Es ist es das Ende der Straßenbahn, die von Bussen abgelöst wird, es ist das Lebensende von einigen Mädchen, die von dem „Einsamen“ in der alten Schlucht ermordet werden. Und der junge Billy Forester sitzt Nachmittag für Nachmittag mit der alten Miss Helen Loomis zusammen, um sich von ihren Erzählungen an die entferntesten Orte entführen zu lassen. All diese Episoden spielen sich in einem wahrhaft denkwürdigen Sommer ab, den der kleine Douglas auf ungewohnt bewusste Weise erlebt.
„Oh, dieser Luxus, in der Farnnacht zu liegen, in der Grasnacht und der Nacht der murmelnden, schlummrigen Stimmen, die das Dunkel zusammenwoben. Die Großen hatten vergessen, dass er da war, so reglos, so still lag Douglas da und hörte von den Plänen, die sie für seine und für ihre eigene Zukunft schmiedeten. Und die Stimmen sangen, trieben dahin, in monderhellten Wolken aus Zigarettenrauch, währen die Motten wie verspätete, wieder lebendig gewordene Apfelblüten die fernen Straßenlaternen antippten, und die Stimmen trieben voran, voran in die kommenden Jahre …“ (S. 40) 
Ray Bradbury erweist sich in dem Roman „Löwenzahnwein“, der schon in Teilen zwischen 1946 und 1957 in verschiedenen Publikationen erschienen ist, einmal mehr als betörender Zauberer, der aus Worten zeitlose Märchen zu formen versteht. Im Grunde genommen ist „Löwenzahnwein“ die Geschichte eines Zwölfjährigen, der durch verschiedene Erlebnisse mit dem Tod konfrontiert wird und dadurch sein eigenes Leben bewusster zu leben versucht. Die Reise zu dieser Erkenntnis schildert Bradbury mit episodenhaften Geschichten, die jede für sich einen eigenartigen Zauber versprühen, wie es nur Bradbury vermag, und so entführt er den Leser in seine eigene Kindheit, weckt Erinnerungen und entzündet bestenfalls einen Lebensfunken, der unter der Last des Alltags manchmal zu ersticken droht.