Joe R. Lansdale – „Die Kälte im Juli“

Freitag, 20. März 2015

(Heyne, 254 S., Tb.)
In einer texanischen Kleinstadt schrecken in einer Sommernacht des Jahres 1989 Ann Dane und ihr Ehemann Richard aus dem Schlaf hoch und hören, wie das Schloss der Glastür zum Wohnzimmer aufgebrochen wird. Instinktiv schnappt sich Richard den kurzläufigen 38er und ein paar Patronen aus dem Wandschrank und schleicht sich ins Wohnzimmer, wo er einen Einbrecher erwischt. Als Richard im Schein der auf ihn gerichteten Taschenlampe des Eindringlings sieht, dass dieser eine Waffe zieht und auf ihn schießt, feuert Richard zurück und tötet den Mann.
Für Lieutenant Price ist es ein klarer Fall von Notwehr, der nicht mal vor Gericht verhandelt werden wird. Schließlich handelt es sich bei dem getöteten Mann um den Kleinkriminellen Freddy Russel, dessen Vater auch gerade erst aus dem Knast entlassen worden ist. Obwohl Price dem von Gewissensbissen geplagten Familienvater davon abrät, zur Beerdigung von Freddy Russel zu gehen, sucht er das Grab seines Opfers auf und macht die Bekanntschaft von Russel Senior. Der macht ganz unverhohlen Andeutungen, dass der Mord an seinem Sohn nicht ungesühnt bleiben wird. Tatsächlich terrorisiert Russel die Danes und dringt sogar nachts unbemerkt in das Kinderzimmer des vierjährigen Jordan ein. Als er dabei jedoch seine Brieftasche verliert, entdeckt Richard ein Foto von Freddy und stellt fest, dass dieser dem Toten gar nicht ähnlich sieht.
Um herauszufinden, wen Richard da erschossen hat und warum die Cops ihn angelogen haben, machen sich Dane und Russel auf die Suche und nehmen dazu die Hilfe von Russels altem Kumpel Jim Bob in Anspruch, der sie als Detektiv auf eine Spur führt, die Tod und Verderben bringt…
„Mein Magen fühlte sich leer an. Vielleicht war, wie bei Russel, ein Loch in mir, aus dem meine Seele rann.
Aber ich wußte, daß jeder Versuch sinnlos sein würde, mir auszureden, was ich vorhatte. Das Ehrgefühl, das ich in mir trug, war übermächtig. Es hatte nichts mit gesundem Menschenverstand zu tun. Es rührte von etwas, das ich meinen Dad einmal hatte sagen hören, einem der wenigen seiner Sätze, an die ich mich wirklich erinnere. Er sagte: Du tust, was richtig ist, weil es richtig ist, und du brauchst keinen anderen Grund dafür.
Ein Mann muß tun, was ein Mann tun muß.“ (S. 223) 
Wer sich darüber wundern sollte, dass in „Die Kälte im Juli“ noch in alter Rechtschreibweise präsentiert wird, muss wissen, dass der Roman bereits 1997 im Rowohlt Verlag unter dem Titel „Kalt brennt die Sonne über Texas“ erschienen ist und Heyne bei der Neuauflage zum DVD-Start von „Cold In July“ offensichtlich einfach die Typografie der Erstübersetzung übernommen hat.
Über diese leichte Irritation lässt sich allerdings leicht hinwegsehen, weil Lansdale einfach ein großartiger Autor ist, dessen Werke der Heyne Verlag gerade in seiner famosen Hardcore-Reihe (ebenso wie Richard Laymon, Jack Ketchum, John Niven, James Lee Burke, Jim Thompson und Ryan David Jahn) wiederzuentdecken beginnt und dem deutschen Publikum endlich zugänglich macht. Nachdem Lansdale „Die Kälte im Juli“ mit einem Paukenschlag eröffnet, entwickelt der Thriller einen magischen Sog, in den nicht nur der rechtschaffene Rahmenbauer Richard Dane hineingezogen wird, sondern auch der Leser. Dabei fasziniert das Werk vor allem durch die interessante Konfiguration der drei so unterschiedlichen Männerfiguren.
Stehen sich der anfangs so bieder wirkende Richard Dane und der grimmige Ben Russel, der den Mord an seinem Sohn gesühnt sehen will, zunächst wie Feuer und Wasser gegenüber, machen sie bald gemeinsame Sache, um herauszufinden, warum die Cops ein so übles Spiel mit ihnen veranstaltet haben. Und Sonny-Boy Jim Bob bringt nicht nur seine detektivische Spürnase ins Rennen, sondern sorgt mit lockeren Sprüchen auch für hohen Unterhaltungswert in einem Roman, der wie „Cold In July“-Regisseur Jim Mickle im Nachwort treffend bemerkt, eine „fulminante Mischung aus Noir, Western, Samuraigeschichte, Moralparabel und Horrorroman“ darstellt.
Wie schon in „Dunkle Gewässer“ brilliert Lansdale nicht nur mit einer starken Figurenzeichnung, sondern auch mit einer stimmigen Atmosphäre, die die moralischen Fragen ebenso deutlich vor Augen führt wie den Geruch von Blei und Blut.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Die Kälte im Juli"

Jeffery Deaver – „Blinder Feind“

Sonntag, 8. März 2015

(Blanvalet, 383 S., Tb.)
An einem kühlen Sonntagabend im September ist das Leben der attraktiven Bürovorsteherin Gabriela McKenzie völlig aus den Fugen geraten. Ihr Chef Charles Prescott ist nicht nur spurlos verschwunden, sondern hat auch alle Geschäftskonten geplündert. Nun erhoffen sich nicht nur die beiden NYPD-Detectives Brad Kepler und Naresh Surani von Gabriela Hinweise auf den Verbleib ihres ehemaligen Chefs und seine unlauteren Geschäfte. Vor allem der Mann namens Joseph bereitet ihr Magenschmerzen. Er hat nicht nur ihre Tochter Sarah entführt und verlangt ein Lösegeld von 400.000 Dollar, sondern auch ein Dokument, das als „Oktoberliste“ kursiert und die meist ausländischen Namen von Prescotts über dreißig eher privaten Geschäftspartnern enthält.
Zum Glück lernt Gabriela in einer Bar den attraktiven Geschäftsmann Daniel Reardon kennen, der bereits Erfahrungen mit Verhandlungen von Kidnappern gesammelt hat, die im Ausland Geschäftsleute in ihre Gewalt gebracht haben. Doch auf der Suche nach der ominösen Liste droht den beiden die Zeit davonzulaufen. Und Joseph scheint ein echter Soziopath zu sein, der keinen Aufschub duldet …
„In Gedanken ging Joseph noch einmal das komplette Projekt durch, das er an diesem Wochenende inszenierte. Viele Bestandteile, viele Herausforderungen, viele Risiken. Aber, überlegte er in seiner nachdenklichen Stimmung, Menschen waren auf der Welt, um tätig zu sein. Es spielte keine Rolle, wie schwierig die Aufgabe war, wie schmutzig man sich die Hände dabei machte – in jeder Bedeutung des Ausdrucks. Es spielte keine Rolle, ob man Dichter war oder Zimmermann, Wissenschaftler oder was auch immer. Gott hat uns geschaffen, damit wir unsere Ärsche bewegen, in die Welt hinausgehen und etwas mit unserer Zeit anfangen. Und Joseph war nie glücklicher als dann, wenn er arbeitete. Selbst wenn der Job ein Mord war, wie er ihn in wenigen Minuten begehen würde.“ (S. 91) 
Jeffery Deaver hat nicht ohne Grund Søren Kierkegaards Ausspruch „Das Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, doch es muss vorwärts gelebt werden“ vorangestellt, denn interessanterweise erzählt er seinen neuen Thriller auch rückwärts.
Er beginnt am Sonntagabend in einer Wohnung in Manhattan, wo Gabriela mit einem von Daniels Helfern darauf wartet, dass sich Daniel mit einem weiteren Kollegen mit Joseph trifft, um Sarah gegen die Oktoberliste einzutauschen. Doch statt Daniel taucht Joseph plötzlich in der Wohnung auf. Was bei konventionellen Thrillern als Einleitung fungieren würde, stellt in Deavers neuen Roman das Finale dar. Was folgt, dürfte zumindest Filmfans vertraut sein, wenn sie Werke wie Stanley Kubricks „Die Rechnung ging nicht auf“, Robert Zemeckis' „Zurück in die Zukunft“ oder Christopher Nolans „Memento“ zu schätzen gewusst haben.
Stück für Stück beschreibt der amerikanische Bestseller-Autor in ungewöhnlich kurzen Kapiteln, was kurz zuvor passiert ist, bis am Freitagmorgen die absolut verblüffende Ausgangssituation enthüllt wird. Deaver erweist sich einmal mehr als Meister des psychologischen Thrillers, der nicht nur interessante Figuren und Plots zu entwickeln versteht, sondern auch geschickt mit den Erwartungen seiner Leserschaft spielt.
„Blinder Feind“ ist dabei so perfide und spannend konstruiert, dass das Finale, das letztlich die Einleitung darstellt, die ganze Geschichte in ein neues Licht rückt.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Blinder Feind"

Jim Thompson – „Die Verdammten“

Samstag, 7. März 2015

(Heyne, 302 S., Tb.)
Nach dem Tod seines Vaters war es Tom Lord nicht mehr möglich, sein Jura-Studium fortzusetzen. Um die Schulden zu bezahlen, die sich durch die Pflege und Behandlung seines Vaters angehäuft haben, ist Tom gezwungen gewesen, einen Job in seiner Heimatstadt anzunehmen. Als ihm der Sheriff der texanischen Kleinstadt Big Sands einen Job als Deputy Sheriff anbot, griff er ohne zu zögern zu. Seine Mutter hinterließ ihm zwar ein üppiges Stück Land, bevor sie ihrer Familie für immer den Rücken kehrte, doch als einen Vertrag mit Aaron McBride, einem Bohrmeister bei der Highlands Oil & Gas Company abschloss, ist nach dem ersten Scheck über 20.000 Dollar kein Geld mehr geflossen.
Mittlerweile ist Lord überhaupt nicht mehr gut auf McBride zu sprechen, nachdem er erfolglos versucht hat, das an ihm begangene Unrecht wieder gutzumachen. Er nutzt den unrechtmäßigen Waffenbesitz des Bohrmeisters als Vorwand, um ihn auf offener Straße halb tot zu prügeln. Bei dem Besuch eines Bohrturms geraten die beiden Männer erneut aneinander. Bei dem Gerangel löst sich ein Schuss aus McBrides Waffe, die den Ölinspekteur auf der Stelle tötet. Damit bringt Lord nicht nur die drei Zeugen - seine Lebensgefährtin, die heiratswillige Prostituierte Joyce, und die beiden Ölbohrer Norton und Red – in eine schwierige Lage, auch die unlauteren Hintermänner von Highlands Oil sind von diesem Vorfall wenig angetan und wollen Lord dafür ebenso zur Rechenschaft ziehen wie McBrides Witwe Donna.
In einer abgeschiedenen Hütte harrt der Gesuchte der Dinge, die auf ihn zukommen.
„Tom Lord hatte die Hütte vor Jahren entdeckt, damals, als er gerade zum Mann wurde. Nach und nach hatte er sie zu einem komfortablen Zufluchtsort ausgebaut. Er brauchte so einen Ort, hatte ihn immer gebraucht. Er brauchte diese Abgeschiedenheit, die seine Einsamkeit transzendierte, ihn aus den Tiefen emporhob und sanft am anderen Ufer absetzte.“ (S. 168) 
Diese wenigen Worte beschreiben recht treffend, worum es unter anderem in „Die Verdammten“ geht, einer Auftragsarbeit, die der damals 53-jährige Thompson 1960 kurz nach seinem ersten Schlaganfall begonnen hatte und nach Vertragsabschluss ganz nach seinem Ermessen neu modellierte. Vordergründig scheint es um Mord und dessen Vergeltung zu gehen, aber wer mit Thompsons Biografie etwas vertraut ist, wird in Tom Lord das Alter Ego des Autors wiedererkennen, dessen Vater selbst ein Ölmillionär gewesen war und 1921 bankrott ging.
Mit diesem Schicksal muss sich auch Tom Lord herumschlagen, der als eigentlich guter Mann charakterisiert wird, aus dem aber jeden Augenblick der Teufel herausspringen kann. Das bekommen auch die Frauen an seiner Seite zu spüren, zunächst Joyce, die er – so sehr sie sich das auch wünscht – niemals zur Frau nehmen wird, später auch die junge Witwe des getöteten Bohrmeisters. Weder zu ihnen noch zu seinen Kollegen baut Tom Lord enge Beziehungen auf, und so wird die einsame Hütte zum Symbol seiner selbst. Thompson gelingt es, die staubige Einöde und das recht triste, unsichere Leben um die Bohrtürme herum in Texas so stilsicher zu beschreiben, dass man den Staub zu schmecken und die Klapperschlangen rasseln zu hören scheint.
In dieser unwirtlichen Gegend bleibt den Einwohnern scheinbar nichts anderes übrig, als Tag für Tag ums Überleben zu kämpfen. Und doch schafft es Thompson zum turbulenten Finale hin auch einen Hoffnungsschimmer zu entfachen.
Lesenswert ist auch das ausführliche Nachwort von Tobias Gohlis, der die Umstände aufzeigt, unter denen „Die Verdammten“ entstanden ist, und wie es in der Werkbiografie des Autors einzuordnen ist.
Leseprobe Jim Thompson - "Die Verdammten"

Ray Bradbury – „Friedhof für Verrückte“

(Diogenes, 455 S., Tb.)
In der Halloween-Nacht des Jahres 1954 erhält ein junger Drehbuchautor die schriftliche Einladung, sich um Mitternacht in der rückwärtigen Mauer am Green Glades Park einzufinden, wo eine große Offenbarung auf ihn warten würde, eine einmalige Gelegenheit für einen Bestseller-Roman oder ein entsprechendes Drehbuch. Obwohl sich der junge Schreiber eher als Angsthase sieht, kann er der Verlockung nicht widerstehen und begibt sich zum genannten Ort, um dort eine Gestalt von der Leiter fallen zu sehen, den der Autor als James Charles Arbuthnot identifiziert, den vor zwanzig Jahren bei einem Autounfall umgekommenen ehemaligen Studiochef von Maximus Films.
Wenig später ist die mutmaßliche Leiche verschwunden. Doch mit diesem unheimlichen Vorfall nimmt die Halloween-Geschichte erst so richtig Fahrt auf. Mit seinem Freund Roy Holdstrom, der ein wahres Special-Effects-Genie ist, soll er für den derzeitigen Studioboss Manny Leiber ein furchterregendes Monster schaffen, dessen Vorbild sie in einem Restaurant begegnen. Tatsächlich gelingt es Roy, eine schreckliche Kreatur zu modellieren, doch der Studiochef ist überhaupt nicht begeistert und lässt erst das Monster zerstören, dann baumelt auch Roys Leiche von einem Galgen in dem Studio.
Zusammen mit dem Privatdetektiv Crumley versucht der Ich-Erzähler den unheimlichen Ereignissen auf den Grund zu gehen …
„Ich starrte den langen Tunnel hinunter, erstaunt darüber, wie weit wir gerannt waren, von einem Land zum anderen, von einem Geheimnis zum anderen, durch zwanzig Jahre hindurch, von Halloween zu Halloween. Der Tunnel senkte sich durch Lagerhallen voll aufgestapelter Filmbüchsen hinab zu den Lagerhallen voller Reliquien der Namenlosen. Hätte ich diesen Weg zurücklegen können, wenn Crumley und Henry mir nicht geholfen hätten, die Schreckgespenster niederzuknüppeln, während mein Atem gegen die Wände stieß?“ (S. 327) 
Vierzig Jahre nach seinen legendären „Mars-Chroniken“ veröffentlichte der 2012 verstorbene amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury 1990 mit seinem Spätwerk „Friedhof für Verrückte“ eine Hommage an Filmemacher, die nachweislich großen Einfluss auf sein eigenes Werk ausübten: Rouben Mamoulian („Dr. Jeckyll & Mr. Hyde“, 1931, „Im Zeichen des Zorro“, 1940 – und Namensgeber meines Bücher-Blogs …), George Cukor („Das Haus der Lady Alquist“, 1944), John Huston („Die Spur des Falken“, 1941, „Moby Dick“, 1956), Fritz Lang („Dr. Mabuse, der Spieler“, 1922, „Metropolis“, 1927) und natürlich Ray Harryhausen („Herr der drei Welten“, 1960, „Sindbads siebente Reise“, 1958).
So wirkt der namenlose Ich-Erzähler wie Bradburys Alter ego. Mit ehrfurchtsvollem Staunen bewegt sich der junge Drehbuchautor durch die Kulissen des Maximus Filmstudios und die Geschöpfe, die sein Freund Roy zu erschaffen versteht. Der Plot, durch den der junge Mann gleichermaßen treibt und getrieben wird, beginnt wie ein liebevoller wie desillusionierender Blick hinter die Kulissen des Filmgeschäfts in den 50er Jahren, um dann rasant die Genres Geistergeschichte, Detektivstory und philosophisches Traktat zu durchschreiten, in dem die Grenzen zwischen Schein und Sein, Fiktion und reellen Ereignissen, Wahrheit und Täuschung ebenso verschwimmen wie zwischen dem Filmgelände und dem benachbarten Friedhof.
So faszinierend dieses Geflecht auch scheint, hat sich der Altmeister des Fantastischen doch etwas an dem verwirrenden Genre-Mix verhoben. Wie sein ganz spezieller, sehr reifer und bildhafter Schreibstil wirken Bradburys Figuren in „Friedhof für Verrückte“ eher wie schlecht skizzierte Schauspieler, die durch ein unausgereiftes Drehbuch und planlos von einer Wendung zur nächsten stolpern. Erfreuen darf sich der Bradbury-Fan allerdings nach wie vor an der unnachahmlich kreierten Atmosphäre, die das Studiogelände bildlich vor den Augen des Lesers erscheinen lässt. Aber die poetische Wucht und die psychologisch fein gezeichneten Figuren seiner Frühwerke hat „Friedhof für Verrückte“ leider nicht mehr in dem Maße zu bieten, wie wir es von dem großartigen Schriftsteller gewohnt sind.

Peter Abrahams – „Kopflos“

Sonntag, 1. März 2015

(Knaur, 413 S., Tb.)
Jeden Donnerstag flüchtet die Kunstexpertin Francie in die auf einer Insel gelegene Hütte ihrer Freundin Brenda, um dort für ein paar Stunden ihre geheime Affäre mit dem Radio-Moderator Ned Demarco zu genießen. Doch es dauert nicht lange, da bekommt ihr zur Zeit arbeitsloser Mann Roger Wind von den amourösen Abenteuer seiner Frau und plant den perfekten Mord. Mit einem nachgewiesenen IQ von 181 überlegt sich der Wissenschaftler das passende Szenario, um ja nicht mit dem ersehnten Tod seiner Frau in Verbindung gebracht zu werden, und nimmt Kontakt zu dem Mörder Whitey Truax auf, der gerade auf Bewährung im Resozialisierungswohnheim in New Hampshire lebt und gern Rogers Jobangebot annimmt, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt ein Gemälde aus der Inselhütte zu holen.
Doch der ausgeklügelte Plan geht schrecklich schief, und während Francie die Affäre mit Ned zu beenden versucht, nachdem dessen Frau Annie ihre geschätzte Tennis-Doppelpartnerin geworden ist, hat Roger alle Hände voll zu tun, Schadenbegrenzung zu betreiben und Beweise aus dem Weg zu räumen.
„Wie kompliziert konnte es sein, den Radioburschen ebenfalls Whitey vorzuwerfen? Vermutlich schwierig, gestand er sich ein, als ihm nicht augenblicklich eine Lösung einfiel, aber er war dazu geschaffen, Probleme zu lösen. Das war sein Metier. Die Herausforderung war einfach ein wenig größer, das war alles. Er würde zu seinem Recht kommen. Auf der anderen Seite der Tür erreichte Francie lautstark und vulgär den Höhepunkt. Komm nur, du Nutte. Roger stellte sich vor, wie sie im Beerdigungsinstitut im offenen Sarg lag, ihr Gesicht ausdruckslos.“ (S. 191) 
Der amerikanische Schriftsteller Peter Abrahams wurde für seine mittlerweile achtzehn Krimis bereits mehrfach für den begehrten Edgar Award nominiert, was an sich schon eine Anerkennung seiner Qualitäten bedeutet. Auch in seinem 1998 veröffentlichten Thriller „A Perfect Crime“, der jetzt unter dem Titel „Kopflos“ bei Knaur erschienen ist, kreiert Abrahams ein interessantes Szenario, das nicht nur durch die vertrackten Beziehungen der beiden Ehepaare und des von Roger ins Spiel gebrachten Ex-Häftlings geprägt wird, sondern auch von den psychischen Befindlichkeiten in diesem Intrigen-Puzzle, bei dem bald kein Teil mehr zum anderen passen will.
Doch je mehr Roger die Übersicht über sein vermeintlich perfektes Verbrechen zu verlieren droht, umso mehr verliert Abrahams auch die stringente Linie seines Spannungsaufbaus und springt wie seine durch die Vorgänge irritierten Protagonisten etwas kopflos durch die Handlung, wodurch die obligatorischen Wendungen an Wirkung einbüßen.
Nichtsdestotrotz bietet „Kopflos“ anregende Krimiunterhaltung mit psychologisch gut gezeichneten Figuren in einem zum Ende hin nicht ganz so überzeugenden Plot.
Leseprobe Peter Abrahams - "Kopflos"

Dan Brown – (Robert Langdon: 3) „Das verlorene Symbol“

Donnerstag, 26. Februar 2015

(Lübbe, 765 S., HC)
Robert Langdon, Harvard-Professor und prominenter Symbologe, wird von seinem väterlichen Mentor Peter Solomon gebeten, sich umgehend mit ihm im Capitol Building in Washington zu treffen, wo er kurzfristig einen Vortrag über die freimaurerische Geschichte der Stadt halten soll. Doch als er die Rotunde des Kapitols betritt, entdeckt er mit Schrecken die abgetrennte Hand seines Förderers, die tätowierten Zeigefinger und Daumen zur Decke ausgestreckt. Langdon erkennt sofort, dass es sich bei der tätowierten Hand um eine Mysterienhand handelt, die der Meister einem Suchenden als Einladung entgegenstreckt, sich einer Elite anzuschließen, die das geheime Wissen sämtlicher Zeitalter hütet, wie die Legenden meinen.
Langdon muss erfahren, dass nicht Solomon ihn nach Washington bringen ließ, sondern ein Verrückter, der erwartet, dass Langdon ihm ein mystisches Portal öffnet, das eine Welt uralter Geheimnisse und verborgenen Wissens enthüllen würde. Um sein Ziel zu erreichen, hat Mal’akh, wie sich der Adept selbst nennt, nicht nur Peter Solomon in seiner Gewalt, sondern auch dessen Schwester Katherine, die als Noetik-Wissenschaftlerin in dem von ihrem Bruder im Smithsonian Institut eingerichteten Labor kurz davor steht, den wissenschaftlichen Kenntnisstand in bisher unerforschte Gefilde auszuweiten.
Überrascht ist Langdon von der Tatsache, dass auch die CIA ein großes Interesse daran zu haben scheint, was es mit den Alten Mysterien auf sich hat, die der Grund für die unerfreulichen Ereignisse sind, denen Langdon und die Solomons ausgesetzt sind.
„Mal’akh hatte Dinge erfahren, von denen er nichts geahnt hatte, darunter von Katherines Labor und ihren atemberaubenden und zugleich schockierenden Entdeckungen. Die Wissenschaft wird immer mächtiger, hatte Mal’akh erkannt, doch ich werde nicht zulassen, dass sie den Unwürdigen den Weg erhellt. Katherines Arbeit beantwortete alte philosophische Fragen mit moderner Naturwissenschaft. Erhört jemand unsere Gebete? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Haben Menschen Seelen? Es war unglaublich, aber Katherine hatte alle diese Fragen tatsächlich beantwortet – und noch andere mehr. Naturwissenschaftlich. Abschließend. Die Methoden, die sie benutzte, waren unwiderlegbar. Mit den Ergebnissen ihrer Experimente würde sie selbst die größten Skeptiker überzeugen. Wurden diese Informationen veröffentlicht, musste das Bewusstsein der Menschen sich grundlegend verändern.“ (S. 321) 
Um sowohl die Forderungen des Entführers der Solomons zu erfüllen als auch deren Leben zu retten, begibt sich Langdon mit Inoue Sato, der Direktorin des CIA-Office of Security, und Reverend Galloway auf eine Schnitzeljagd durch Washington, die Symbole einer durch die Freimaurer gehüteten Pyramide zu entschlüsseln.
Dan Brown hat mit „Illuminati“ (2003) und „Sakrileg“ (2004) nicht nur zwei internationale und mit Tom Hanks erfolgreich verfilmte Bestseller geschrieben, sondern auch das Interesse der Leserschaft an den dunklen Machenschaften der katholischen Kirche, an der scheinbar unüberwindbaren Kluft zwischen Religion und Wissenschaft, an den Mythen um den Orden der Templer und den Heiligen Gral geweckt.
Das Konzept, kulturgeschichtliche Fakten, die Faszination für geheimnisvolle Rituale und das verborgene Wissen der Alten Mysterien mit einer Thriller-Handlung zu verknüpfen, verfolgt Brown auch im dritten Roman um Robert Langdon. Der Plot unterscheidet sich dabei kaum von seinen Vorgängern, nur dass diesmal nicht der Vatikan („Illuminati“) oder der Heilige Gral („Sakrileg“) im Mittelpunkt des Geschehens stehen, sondern die Freimaurer.
Was „Das verlorene Symbol“ dabei so lesenswert macht, sind nicht allein die Ideen, die den Freimaurern zugrunde liegen, sondern einmal mehr die Verbindung zwischen Wissenschaft und Glaube. Die Botschaft, die der Roman vermittelt, könnte als Leuchtfeuer in einer Zeit dienen, die nach wie vor von religiösem Fanatismus und Intoleranz geprägt ist. Allerdings kolportiert Brown das Wesen der Freimaurer recht unreflektiert und weist ihnen, wie es die USA-Gründungsväter Benjamin Franklin und George Washington sicher geplant haben, die Rolle der Wahrheitshüter zu. Das wirkt dann doch oft arg vereinfacht, entspricht aber wiederum den eindimensional gestrickten Figuren, deren Dialoge sich so hölzern lesen wie Wikipedia-Einträge.
Davon abgesehen bietet „Das verlorene Symbol“ aber kurzweilige Thriller-Unterhaltung mit komprimierten Einblicke in die Geschichte der Freimaurer.
Leseprobe Dan Brown - "Das verlorene Symbol"

Clive Barker – „Mister B. Gone“/“Fahr zur Hölle, Mister B.“

Sonntag, 22. Februar 2015

(HarperCollins, 254 S., HC/Festa, 254 S., Tb.)
Mit seiner umfangreichen Anthologie von bis heute immer wieder verfilmten Kurzgeschichten, die ab 1984 in insgesamt sechs „Büchern der Blutes“ erschienen sind, hat sich der aus Liverpool stammende Künstler Clive Barker im Nu einen Namen im Horror-Genre gemacht, wurde von Stephen King als die „Zukunft des Horrors“ gepriesen und schuf mit der Verfilmung seiner eigenen Novelle „The Hellbound Heart“ unter dem Titel „Hellraiser“ einen der wichtigsten Horrorfilme des 20. Jahrhunderts. Seither hat Barker vor allem dunkle Fantasy und Kinderbücher veröffentlicht und sich als Maler etabliert. Hierzulande hat das Interesse an Barker allerdings stark nachgelassen.
So erscheint das 2007 von HarperCollins als edles Hardcover veröffentlichte Werk „Mister B. Gone“ erst sieben Jahre später als lieblos aufgemachtes Taschenbuch bei Festa.
Im Vergleich zur epischen „Abarat“-Reihe, deren vierter Band für den Sommer dieses Jahres angekündigt ist, kehrt Barker mit „Fahr zur Hölle, Mister B.“ wieder zu seinen Horror-Wurzeln zurück. Auf 250 kurzweiligen Seiten versucht der Dämon Jakabok Botch, den Leser seiner Lebensgeschichte zum Verbrennen des Buches zu animieren, das er in den Händen hält, aber natürlich will der Leser wissen, wie der Dämon überhaupt in dieses Werk gelangt ist.
Die Geschichte beginnt damit, dass Jakabok Botch mit seinem verhassten Vater Pappy G. in einem Abfallhaufen auf ein saftiges Steak und Bier stoßen, doch handelt es sich dabei um einen Köder, der die beiden Dämonen in ein Netz geraten lässt, das sie durch die neun Kreise der Hölle an die Oberwelt zieht. Allerdings kappt Jakabok unterwegs das Netz seines Vaters und trennt sich so für immer von ihm. In der Oberwelt sorgt der Dämon mit seinem verbrannten und entstellten Äußeren für Angst und Schrecken. Als er allerdings wieder in Gefangenschaft zu kommen droht, eilt ihm mit Quitoon ein Dämon zur Seite, der Jakabok stark beeindruckt.
„Quitoon kannte die Welt gut. Und er kannte nicht nur die Menschheit und deren Werke, sondern auch alles Mögliche, das ohne eindeutige Beziehung zwischen beiden existierte. Er wusste etwas über Gewürze, Parlamente, Salamander, Schlummerlieder, Flüche, Formen von Debatten und Krankheiten; über Rätsel, Ketten und Geisteszustände; über die Herstellung von Süßigkeiten, über Liebe und Witwen; über Geschichte für Kinder, über Geschichten für Erwachsene und Geschichten, die man sich an Tagen, wenn nichts eine Bedeutung zu haben scheint, selbst erzählen kann. Mir schien, als gäbe es kein einziges Thema, über das er nicht wenigstens ein bisschen Bescheid wusste. Und falls er über etwas Bestimmtes doch einmal nichts wusste, dann log er so unverfroren, dass ich jedes seiner Worte wie ein Evangelium akzeptierte.“ (S. 125) 
Gemeinsam ziehen sie im 14. Jahrhundert eine blutige Spur aus Feuer und Tod durch die Dörfer, die sie durchqueren. Nachdem sie unterwegs getrennt wurden, begegnen sie sich in Mainz wieder, wo die Schlacht zwischen Dämonen und Engeln entschieden zu werden scheint …
Der mittlerweile in Los Angeles lebende Clive Barker erweist sich in „Mister B. Gone“ einmal mehr als einfallsreicher Erzähler einer Geschichte, wie sie nur Barker zu kreieren versteht. Wenn er von Dämonen schreibt, betritt auch der Leser ganz neue Welten.
„Mister B. Gone“ zählt zwar nicht zu den besten Werken des Autors, aber ein kurzweiliges und dämonisches Lesevergnügen bietet es allemal.
Leseprobe Clive Barker - "Fahr zur Hölle, Mister B."

Reif Larsen – „Die Karte meiner Träume“

Samstag, 21. Februar 2015

(S. Fischer, 447 S., HC)
Der zwölfjährige Tecumseh Sparrow Spivet lebt auf der Coppertop Ranch nahe der winzig kleinen, von den Pioneer Mountains umgebenden Stadt Divide, Montana, als er einen Anruf erhält, der sein noch so junges Leben für immer verändern sollte. Am anderen Ende der Leitung meldet sich ein gewisser G. H. Jibson, Kustos für Illustration und Design am berühmten Smithsonian, und teilt T. S. mit, dass er den Baird-Preis für herausragende Leistungen in der populären Vermittlung wissenschaftlicher Sachverhalte gewonnen hat.
Spivets Mentor Dr. Yorn hat dem Institut ein Portfolio des leidenschaftlichen Kartographen vorgelegt, der die Tradition des Namens Tecumseh in der Spivet-Familie ebenso in Karten und Diagrammen festhält wie den Whiskykonsum seines Vaters, die Entstehung von Wurmlöchern in Iowa, das Vergehen der Zeit oder wie erwachsene Männer tanzen.
Der junge Spivet nimmt die Einladung nach Washington an, verrät dem Kustos allerdings nicht, dass er noch ein Kind ist, noch unterrichtet er seine etwas aus der Art geschlagene Familie von seinen Reiseplänen. Der Junge bringt einen Güterzug zum Stehen, indem er eine Signallampe rot anmalt, und macht sich auf eine abenteuerliche Reise, während der er das Tagebuch seiner Mutter liest. Während der Reise lernt der Leser nicht nur die Familiengeschichte der Spivets kennen - den schweigsamen, an Ritualen hängenden Vater, der die Ranch betreibt, die Mutter, die als Wissenschaftlerin einem nicht existierenden Käfer nachjagt, und die beiden Geschwister Gracie und Layton, der bei einem tragischen Unfall verstorben ist -, sondern auch warum und was T. S. Spivet alles in Diagrammen festhält.
„… seit der Steinzeit stellten die Menschen nun schon Dinge in Bildern dar, auf Höhlenwänden, im Staub, auf Pergament, auf Bäumen, Esstellern, Servietten, ja sogar auf der eigenen Haut, und einzig und allein zu dem Zweck, dass wir uns erinnern konnten, wo wir gewesen waren, wohin wir wollten und wohin wir gehen sollten. Tief in uns steckt der Wunsch nach solchen Wegweisern, nach Koordinaten, nach Absichtserklärungen, die uns aus dem Wust unseres Hirns herausführten, die sichtbar wurden in der wirklichen Welt. Seit meinen ersten Diagrammen davon, wie man Gott die Hand schüttelt, hatte ich gelernt, dass eine Darstellung nicht das Dargestellte selbst ist, doch konnte man sagen, genau dieser Zwiespalt war ja das Gute daran: der Unterschied zwischen einer Karte und dem Land selbst gab uns den Abstand, um unseren Platz in der Welt zu bestimmen.“ (S. 67) 
Gleich mit seinem Debütroman „Die Karte meiner Träume“ ist dem damals 28-jährigen New Yorker Reif Larsen 2009 ein ganz großer Wurf gelungen, der zeitgleich in 30 Ländern veröffentlicht und 2014 kongenial von Jean-Pierre Jeunet („Die fabelhafte Welt der Amelie“) verfilmt worden ist.
Schon optisch hebt sich das Werk von anderen Romanen ab, ist es doch liebevoll mit Randnotizen, Karten, Diagrammen und Anekdoten verziert, die das Lesen selbst zu einem Abenteuer machen und den Blick immer wieder von der eigentlichen Romanhandlung abschweifen lassen. „Die Karte meiner Träume“ ist ein Coming-of-Age-Roman der etwas anderen Art.
Er erzählt die Geschichte eines Jungen, der wie ein Fremdkörper in seiner eigenen Familie wirkt und der auf seiner Güterzugreise nach Washington auch zu sich selbst findet. Die Geschichte hat durchaus ihre Längen, aber durch den Charme, den der wissbegierige Ich-Erzähler ausströmt, bleibt der Leser gern am Ball, denn so liebevoll ist eine Geschichte über junge Persönlichkeitsentwicklung, Freundschaft, wissenschaftliche Neugierde, Schuld und Familie selten erzählt worden.
Leseprobe Reif Larsen - "Die Karte meiner Träume"

Ray Bradbury – „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“

Samstag, 14. Februar 2015

(Diogenes, 272 S., Tb.)
Kurz vor ihrem jeweils 14. Geburtstag fällt den beiden benachbarten Freunden James Nightshade und William Halloway ein Handzettel in die Hände, der für den morgigen 24. Oktober den Zirkus von Cooger & Dark ankündigt, einen bunten Rummelplatz und vielen Attraktionen wie der schönsten Frau der Welt, Mademoiselle Tarot, dem schwebenden Menschen, der Dämonen-Guillotine, Mr. Elektriko und dem illustrierten Mann. In der Nacht trifft der Zirkus mit dem Zug ein, wie Jim und Will mit freudiger Erregung beobachten, doch sie merken schnell, dass ungewöhnliche Dinge in der Stadt vorgehen: Der Friseur hat sein Geschäft wegen Krankheit geschlossen, auf dem Weg zum Zirkus entdecken sie die herrenlose Tasche des Blitzableiterverkäufers, der Jim zuvor noch einen Blitzableiter geschenkt hatte.
Besonders fasziniert sind sie von einem Karussell, das je nachdem in welche Richtung es sich dreht, die darauf fahrenden Menschen jünger oder älter macht. Allerdings werden Jim und Will bei ihrer Entdeckung selbst bemerkt und müssen nun um ihr Wohl fürchten. Wills Vater Charles entdeckt in der Bibliothek im Zeitungsarchiv Berichte über den Zirkus, wie er nachweisbar ab 1848 alle dreißig, vierzig Jahre im Oktober in die Stadt gekommen ist.
Schon hat Mr. Dark, der illustrierte Mann, die Spur der neugierigen Jungen aufgenommen und bietet ihnen Freikarten an. Zusammen mit Wills Vater versuchen die beiden Jungen, das Böse, das mit dem Zirkus in die Stadt gekommen ist, zu besiegen.
„Der Tod existiert nicht. Es hat ihn nie gegeben, es wird ihn nie geben. Aber wir haben von ihm so viele Bilder gemalt, all die Jahre hindurch, haben versucht, ihn festzuhalten, zu verstehen, dass wir ihn als Wesenheit ansehen, seltsam lebendig und gierig. Aber er ist nichts weiter als eine stehengebliebene Uhr, ein Verlust, ein Ende, Dunkelheit. Nichts. Und der Zirkus ist klug genug zu wissen, dass wir uns vor dem Nichts mehr fürchten als vor dem Etwas. Gegen ein Etwas kann man kämpfen. Aber … das Nichts?“ (S. 194). 
Kaum einer hat es je so eindringlich, einfühlsam und fantasiereich das Staunen von Kindern und Jugendlichen über die Wunder der Welt und des Lebens in Worte und Geschichten zu verpacken wie der amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury („Die Mars-Chroniken“, „Fahrenheit 451“) in der Blütezeit seiner auch produktivsten Schaffensperiode zwischen den 50er und 60er Jahren.
In seinem auch von Disney verfilmten Roman „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ (1962) erzählt er eine wunderbare Halloween-Geschichte von zwei abenteuerlustigen Jungen, die unverhofft mit dem Bösen konfrontiert werden, das sich zunächst nur in Andeutungen und unheilvollen Hinweisen manifestiert, dann aber zunehmend bedrohlichere Formen annimmt. Hier verbindet Bradbury geschickt den Reifungsprozess heranwachsender Jungen mit der fantastischen Geschichte eines unheimlichen Zirkus, wobei Wills Vater die Jungen immer wieder mit faszinierenden Monologen über die großen Themen verzaubert und sie so zur Schwelle zum Erwachsenensein befördert.
Der 2012 verstorbene Schriftsteller verblüfft dabei mit einer wunderbar poetischen Sprache, bildgewaltigen Beschreibungen und wundersamen Assoziationen, die zum Träumen und Fantasieren einladen und Erinnerungen an jene goldenen Tage weckt, als man selbst noch unbeschwert und neugierig durch die Sommer und Herbste tanzte.

Steve Tesich – „Ein letzter Sommer“

Mittwoch, 11. Februar 2015

(Kein und Aber, 492 S., HC)
Auf die drei Freunde Daniel Price, Larry Misiora und Billy Freund – der immer nur Freud genannt wird - wartet 1960 in dem Industriestädtchen East-Chicago ein Sommer der Entscheidungen. Nach ihrem High-School-Abschluss wissen sie noch nicht, wohin es sie ziehen wird und welche Jobs sie annehmen sollen. Daniels Aufmerksamkeit ist erst einmal Rachel gewidmet, die gerade in die Nachbarschaft gezogen ist und in die sich Daniel sofort verliebt. Doch nach einem ersten vielversprechenden Kuss gestaltet sich die Beziehung zwischen ihnen schwierig. Rachel wechselt ihre Launen und Themen so schnell, dass sich Daniel nicht sicher sein kann, ob Rachel ihn auch tatsächlich so liebt wie er sie.
Und während Daniel ganz mit sich und seinen Gefühlen, seiner Verliebtheit, seinen Hoffnungen und Zweifeln beschäftigt ist, erkrankt sein Vater an Rückenmarkkrebs und erfordert die ganze Aufmerksamkeit seiner Mutter, die in Chicago als Putzkraft arbeitet und anschließend ihren Mann im Krankenhaus besucht. Währenddessen verlässt Larry die Stadt, ohne sich verabschiedet zu haben, und Billy nimmt sich die nicht so schlanke Patty als Freundin und richtet sich seine eigene Garage ein. Während Daniels Freunde den Weg in ihre Zukunft eingeschlagen haben, weiß Daniel immer noch nicht, woran er bei Rachel ist und wohin ihn sein Leben treibt.
„Ich vermisse mein früheres Leben. Ich vermisse, dass Freud sich auf mich lehnte und dass Misioras fiese blaue Augen auf Mrs. Deweys Veranda ihre Fiesheit verloren. Unser gemeinsamer Schulweg, unser Ringkampftraining, das vorletzte Schuljahr mit dem Gefühl, dass das nächste Jahr mein Jahr sein würde, all das vermisste ich. Ich wusste, wie es war, mit einem Mädchen zu schlafen, aber ich vermisste das Wunderbare daran und das luftige Gefühl offener Fenster in meinem Kopf, in dem sich inzwischen eine Dunkelkammer befand, in der jetzt Bilder und Szenen entwickelt wurden, wie ich sie mir in meinem früheren Leben nie hätte vorstellen können.“ (S. 314) 
Der 1942 in Serbien geborene, im Alter von vierzehn Jahren nach East Chicago, Indiana, übergesiedelte Steve Tesich hat etliche Drehbücher und Theaterstücke geschrieben (u.a. das mit einem Oscar ausgezeichnete Drehbuch zu „Vier irre Typen – Wir schaffen alle, uns schafft keiner“ und zur John-Irving-Adaption „Garp und wie er die Welt sah“), aber nur zwei Romane, ehe er 1996 an einem Herzschlag verstarb.
Sein Erstlingswerk „Ein letzter Sommer“ präsentiert sich als einfühlsamer Entwicklungsroman über einen 17-Jährigen, den eine Hassliebe mit seinem Vater verbindet und der auf schmerzliche Weise erfahren muss, dass die erste Liebe ebenso glücklich wie traurig und verzweifelt machen kann. Tesich versteht es dabei hervorragend, die emotionalen Wechselbäder seines jugendlichen Helden so poetisch und lebensnah zu schildern, als erlebe man selbst noch einmal jene Liebe, die den Maßstab bildet selbst für die reiferen Lieben, die noch folgen werden.
Tesich bleibt in seinem knapp 500-seitigen Roman aber nicht bei Daniel und Rachel, sondern beschreibt auch die schwierige Beziehung Daniels zu seinem Vater, die ihren schmerzhaften Höhepunkt erreicht, als sein Dad zum Sterben wieder nach Hause kommt. Am Ende findet Daniel aber doch seinen Weg, mit all diesen Schicksalsschlägen umzugehen. Bei aller Tragik und Verzweiflung webt Tesich immer wieder humorvolle Einfälle in die Geschichte seines Ich-Erzählers, den er mit viel Wärme, Sensibilität und Verständnis portraitiert.
Leseprobe Steve Tesich - "Ein letzter Sommer"

James Carlos Blake – „Das Böse im Blut“

Dienstag, 10. Februar 2015

(Heyne, 448 S., Tb.)
Die beiden Brüder Edward und John Little sind mit einem cholerischen Vater gestraft. Als Daddyjack bei einem Scheunenfest im Hochland von Georgia einen Mann tötet, der seiner Frau zu schöne Augen gemacht hat, muss die Familie im Herbst 1842 in die Sümpfe Floridas fliehen, wo sich drei Jahre später das nächste Unglück ereignet: Maggie, Edwards und Johns kleine Schwester, ist dermaßen angewidert von ihrem Vater, der immer wieder seine Frau verprügelt und schändet, dass sie Reißaus nimmt. Als die Brüder von ihrer Suche nach dem Mädchen zurückkehren, scheint ihr Vater sich einmal mehr an ihrer Mutter vergangen zu haben. Offensichtlich hat er auch Maggie getötet. Edward erschießt seinen Vater, die Mutter lässt ihre Jungen zurück, die sich wiederum nach Texas aufmachen.
In New Orleans trennen sich schließlich ihre Wege in einem Saloon, als Edward am Pokertisch ordentlich Gewinn macht und sich John mit einem Mädchen vergnügen will. Sowohl John als auch Edward geraten daraufhin mit Männern und dem Gesetz in Konflikt und stehen schließlich zu Beginn des Krieges zwischen den Yankees und den Mexikanern auf verschiedenen Seiten der Grenze. Ihr Leben ist weiterhin von gnadenloser Gewalt geprägt, die sie selbst mit nicht wenig Genuss ausüben, um ihren Traum von eigenem Land zu verwirklichen.
„Was er sich wünschte, war unaussprechlich. Wie sollte man denn etwas erklären, das man nicht einmal sich selbst gegenüber in Worte zu fassen vermochte, das man nur im Pochen seines Blutes spürte? Wie konnte er ihnen denn erzählen, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, als dass ihm endlich Daddyjack und Maggie nicht mehr im Traum erschienen? Dass es ein Ende hätte mit dem nächtlichen Aufschrecken, wenn ihm das Herz wild in der Kehle schlug, wenn er an seiner eigenen Angst erstickte, sich gejagt fühlte von irgendeiner furchtbaren Nemesis, die mit jedem blutigen Sonnenuntergang näher rückte?“ (S. 245) 
Der 1947 in Mexiko geborene und in Texas aufgewachsene James Carlos Blake ist hierzulande noch ein unbeschriebenes Blatt. Das mag vor allem daran liegen, dass er in seinen Romanen eine extrem gewalttätige Geschichtsschreibung präsentiert, in der mordlüsterne und sexhungrige Kriminelle die Saat dessen verkörpern, wie die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Form angenommen haben. Was ihn wiederum für das Programm von Heyne Hardcore prädestiniert, das in den vergangenen Jahren Autoren wie Richard Laymon, John Niven, Jack Ketchum und James Lee Burke endlich ein Podium geboten hat, ihre rohe Prosa einer nervenstarken Leserschaft zu präsentieren.
„Das Böse im Blut“ ist Blakes dritter Roman und erzählt auf drastische Weise vom Schicksal zweier Brüder, die in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts von einem trunksüchtigen und gewalttätigen Vater und einer Hure aufgezogen worden sind. Wie sie nach einem familiären Blutbad ihrer eigenen Wege gehen, liest sich wie die nahtlose Aneinanderreihung von Prügeleien, Messerstechereien, Schießereien, Folter und Bordellbesuchen. Dabei macht Blake deutlich, dass seine Figuren allesamt Getriebene sind, ohne echte Träume und Hoffnungen, wie sie für das Western-Genre typisch sind. Ein wenig eigenes Land sollte es sein und eine Frau, aber wie man zu diesem Ziel gelangt, ist vom Zufall und vor allem Gewalt geprägt. Diese pessimistische Weltsicht begleitet den Leser durch den ganzen epischen Roman und lässt ihn ebenso staunen wie gefesselt weiterlesen. Denn Blake schreibt so packend, dass man das Blut, die Lust, den Schweiß und den Staub zu riechen und zu schmecken scheint.
Leseprobe James Carlos Blake - "Das Böse im Blut"

Joe Hill – „Blind“

Sonntag, 8. Februar 2015

(Heyne, 432 S., HC)
Als Sammler von okkulten Kuriositäten ist der 54-jährige Rockstar Jude Coyne Feuer und Flamme, als er von seinem Assistenten Danny erfährt, dass eine Frau den Geist ihres kürzlich verstorbenen Stiefvaters verkauft. Tatsächlich erhält Jude bei der Auktion den Zuschlag und hält wenige Tage später eine herzförmige Schachtel in den Händen, die den Sonntagsanzug des Verstorbenen enthält. Als sich Judes Freundin Marybeth, die er nur Georgia nennt, den Finger an einer Stecknadel im Anzug verletzt, beginnt sich dieser schmerzhaft zu entzünden, dann ertönen aus dem Radio beängstigende Sprüche. Offensichtlich ist der Geist des Toten auf Rache aus.
Jude nimmt Kontakt mit der Verkäuferin auf und erfährt, dass Jessica Price die Schwester von Anna May McDermott ist. Jude war mit ihr vor Georgia zusammen und hat sie irgendwann genervt von ihrer Art rausgeschmissen. Wie Jessica ihm erzählt, hat sich Anna zuhause irgendwann in die Badewanne gelegt und sich die Pulsadern aufgeschnitten, nachdem er nicht auf ihre Briefe reagiert hatte. Und nun scheint Craddock McDermott sowohl seine Wut über Judes nachlässige Art als auch seine Profession als Hypnotiseur in die Waagschale zu werfen, um Jude das Leben zur Hölle zu machen. Jude und Georgio sehen nur einen Ausweg: Sie machen sich auf den Weg zu McDermotts verwitweter Stieftochter und wollen dem Spuk ein Ende bereiten …
„Craddock hatte den Großteil der Woche darauf verwendet, Jude dazu zu bringen, sich selbst umzubringen. Jude war so davon in Anspruch genommen gewesen, sich zu wehren, dass er sich nicht gefragt hatte, ob der Preis des Überlebens nicht vielleicht höher war, als wenn er dem toten Mann gab, was er wollte. Er würde sicher den Kürzeren ziehen, hatte er gedacht, und je länger er sich gegen Craddock wehrte, desto wahrscheinlicher war es, dass er Marybeth mit sich reißen würde. Denn die Toten ziehen die Lebenden nach unten.“ (S. 297). 
Hinter dem Namen Joe Hill verbirgt sich niemand Geringeres als Stephen Kings ältester Sohn. Allerdings wurde sein Debütroman „Blind“ im Jahre 2007 nicht mit der prominenten Beziehung beworben, was auch gar nicht nötig gewesen ist. Joe Hill erweist sich nämlich als durchaus eigenständige Stimme in der Horror-Literatur. Sein Debüt fasziniert mit einem originellen Plot und interessant gezeichneten Figuren. Judas Coyne ist nicht zwingend ein Protagonist, den man von Beginn an ins Herz schließt. Tatsächlich erscheint er dem Leser zunächst als narzisstisches Arschloch. Doch wie er schließlich alle Hebel in Bewegung setzt, um seine Freundin Georgia nicht auch zu Craddocks Opfer werden zu lassen, ringt einem schließlich doch Respekt ab. Tatsächlich zählt die Wandlung, die Jude Coyne während der abenteuerlichen Fahrt nach Jacksontown durchmacht, zu den großen Stärken eines Romans, der einem wirklich Gänsehaut verursacht.
Leseprobe Joe Hill - "Blind"

David Baldacci – (John Puller: 2) „Am Limit“

Freitag, 30. Januar 2015

(Heyne, 558 S., HC)
Nachdem er bei seinem letzten Einsatz in einer kleinen Bergbaustadt in West Virginia fast ums Leben gekommen wäre, hat sich John Puller, Spezialagent der Criminal Investigation Division (CID), wo Verbrechen innerhalb der Army bearbeitet, etwas Urlaub gegönnt, doch die Pause währt nicht allzu lange. Durch seinen Bruder Robert, der für den Rest seines Lebens in den United States Disciplinary Barracks in Fort Leavenworth, dem Gefängnis für die gefährlichsten Kriminellen des Militärs, untergebracht ist, erfährt er, dass ihr Vater, der an Demenz erkrankte John Puller senior, in der Veteranenklinik einen besorgniserregenden Brief von dessen Schwester Betsy erhalten hat. Demzufolge gehen in Paradise, Florida, merkwürdige Dinge vor. Puller begreift, dass seine Tante mit diesem Brief um seine Hilfe bittet. Doch als Puller seine Tante in Paradise aufsuchen will, entdeckt er an ihrem Haus Hinweise auf ein Verbrechen. Wie er von der örtlichen Polizei erfährt, ist aber nicht nur seine Tante gestorben, sondern auch ein Ehepaar am Strand, das mit Pullers Tante bekannt gewesen ist.
Puller will nicht glauben, dass ein Unfall die Todesursache bei seiner Tante gewesen ist, und macht sich mit Hilfe der attraktiven Polizistin Landry und dem Ein-Stern-General Julie Carson auf die Suche nach Ursachen für die ungewöhnlichen Todesfälle in Paradise. Schließlich kommt Puller einem Ring von Menschenhändlern auf die Spur, die vor nichts zurückschrecken, um ihr profitables Geschäft zu schützen.
„Illegale Einwanderer erwarteten, frei zu sein und wenigstens einen geringen Lohn ausbezahlt zu bekommen. Sklaven erwarteten gar nichts. Sie hofften nur, nicht sterben zu müssen. Alles, was darüber hinausging, war ein Bonus für sie – nicht, dass es etwas gegeben hätte, das man als Bonus für diese Menschen hätte betrachten können.“ (S. 372) 
Mit „Zero Day“, dem ersten Band der neuen Serie um den CID-Ermittler John Puller, weckte Bestseller-Autor David Baldacci („Absolute Power“) die Hoffnung, seine Riege an interessanten Figuren und Geschichten auf lesenswerte Weise erweitert zu haben. Immerhin etablierte er mit dem taffen John Puller einen tatkräftigen Ermittler, der den Dingen auf den Grund zu gehen versteht. Vielversprechend schien auch das familiäre Umfeld, Pullers mit allen Ehren ausgezeichneter Armeeveteran auf der einen Seite, sein Bruder Bobby, der im Militärgefängnis versauern muss, auf der anderen.
Wer nun gehofft hat, im Folgeband „Am Limit“ etwas mehr über die Familienverhältnisse der Pullers zu erfahren, wird nahezu auf ganzer Linie enttäuscht. Einzig Pullers verstorbene Tante bringt eine zusätzliche persönliche Note in die Geschichte, ansonsten fokussiert Baldacci seine Erzählung ganz auf den Thriller-Plot. In dieser Hinsicht dominiert die Action: Nahkämpfe, Schusswechsel, kriegsähnliche Auseinandersetzungen am Strand und abscheuliche Verbrechen in Serie, denen Puller mit seinem kleinen, aber feinen Team zu Leibe rückt.
Von der Komplexität der „Jason Bourne“-Reihe beispielsweise sind die Puller-Romane – so viel lässt sich nach zwei Titeln schon feststellen – weit entfernt. Baldaccis Stil und Inszenierung sind ebenso schnörkellos wie überraschungsarm, und bei über 550 Seiten schleichen sich auch schon mal einige Längen in die schlicht gestrickte Handlung ein. Nach dem vielversprechenden Auftakt mit „Zero Day“ wirkt „Am Limit“ wie ein liebloser Schnellschuss, dem es an Originalität und persönlichen Zügen fehlt.
Es bleibt zu hoffen, dass Baldacci in den nächsten Werken an diesen Punkten nachbessert.
Leseprobe David Baldacci - "Am Limit"

John Niven – „Kill Your Friends“

Sonntag, 18. Januar 2015

(Heyne, 380 S., Tb.)
Steven Stelfox steht als A&R-Manager einer großen Plattenfirma stark unter Druck. Im England der ausgehenden 90er Jahre ist es noch immer leicht, bei geringen CD-Produktionskosten eine Menge Geld selbst mit völlig untalentierten Acts zu verdienen. Allerdings hat sich Stelfox im Laufe der Jahre so alle Laster der Welt zugelegt und dabei weit mehr Geld ausgegeben, als selbst sein fürstliches Gehalt abdecken könnte. Zynisch macht er sich über seine Kollegen, seine Angestellten und vor allem über die Musiker lustig, während er sich Unmengen an Koks reinzieht, Massen an Alkohol vernichtet und jede Frau besteigt, die es darauf ankommen lässt. Doch als der „Head of A&R“-Posten frei wird und sein verhasster Kollege Waters die Stelle bekommt, dreht Stelfox durch und erschlägt seinen Kontrahenten in dessen Wohnung.
Auch der ehrgeizige Parker-Hall, der bei der EMI den angesagten Newcomer Ellie Crush unter Vertrag genommen hat, ist Stelfox ein Dorn im Auge. Stelfax muss nicht nur den Detective und Freizeit-Musiker Woodham bei Laune halten, der Stelfox immer wieder zu den Umständen von Waters‘ Ableben befragt und hofft, mit seiner Musik mal einen Verlagsdeal zu bekommen, sondern auch seinen eigenen Act Songbirds zum Laufen bringen.
„Der Dex & Del Mar-Remix liegt uns inzwischen vor und es wird Zeit, ihn ‚an die Clubs rauszugeben‘. Aber taugt er überhaupt was? Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Ich sollte es wohl wissen, nehme ich an. Man bezahlt mich immerhin dafür, diese Dinge zu wissen. Aber ich bin müde. Es ist dermaßen ermüdend, immerzu alles wissen zu müssen. Ständig wird von einem erwartet, dass man auf sein ‚Bauchgefühl‘ hört. ‚Hör einfach auf dein ‚Bauchgefühl‘‘, sagen sie zu dir. Aber ich weiß es nicht. Alles, was ich von meinem Bauch höre, ist ein unbestimmtes Rumpeln, das mir sagt, ich sollte mehr Geld verdienen, mehr und hübschere Tussen vögeln, in besseren Restaurants essen und mehr Respekt von Dumpfbacken wie Dunn entgegengebracht bekommen.“ (S. 304f.) 
Bevor sich die Musikindustrie mit den Herausforderungen durch das Internet konfrontiert sah, schien sie eine Lizenz zum Gelddrucken zu besitzen. A&Rs feierten sich auf Musikmessen in der ganzen Welt, konsumierten Drogen und Frauen bis zum Exzess und katapultierten billig produzierte Acts in die Charts, um richtig abzusahnen. Dass die Musikszene so getickt hat, wie sie John Niven in seinem zweiten Roman so zynisch beschreibt, mag sicherlich zu dramaturgischen Zwecken etwas übertrieben sein, doch ebenso darf der Leser davon ausgehen, dass mehr als ein Körnchen Wahrheit in dem steckt, was Niven hier vorlegt.
Schließlich hat er selbst in den 1980er Jahren Gitarre bei der Indieband The Wishing Stones gespielt und war in den 90ern als A&R-Manager bei einer Plattenfirma tätig, bevor er sich 2002 dem Schreiben zuwandte.
„Kill Your Friends“ räumt gründlich mit den Annahmen von Talent, harter Arbeit und verdientem Erfolg ab. In der Musikindustrie geht es wie in der Lotterie zu, teilt uns Insider John Niven unverblümt mit. Mit welchen Regeln diese Lotterie allerdings gespielt wird, führt uns der schottische Autor ebenso plastisch wie desillusionierend vor Augen. Der aggressiv zynische Ton, mit dem Nivens Protagonist seinen Alltag beschreibt, ist zwar nichts für zarte Gemüter, aber wie sich dieser Antiheld durchs Leben vögelt, rauscht und schlägt, ist schon eine Wucht und wirkt wie ein Faustschlag ins Gesicht all derer, die noch daran glauben, dass Talent der Schlüssel zum Erfolg im Musikbusiness ist.
Leseprobe John Niven - "Kill Your Friends"

David Guterson – „Schnee, der auf Zedern fällt“

Samstag, 10. Januar 2015

(Hoffmann und Campe, 512 S., HC)
Im Dezember 1954 wird dem Lachsfischer Kabuo Miyamoto im County-Gericht auf der kleinen Insel San Piedro der Prozess gemacht. Der Amerikaner japanischer Herkunft ist angeklagt, Carl Heine, seinen Kollegen und früheren Freund aus Kindertagen, bei dichtem Nebel in den pazifischen Gewässern im US-amerikanischen Nordosten kaltblütig ermordet zu haben. Staatsanwalt Alvin Hooks ist mit dem Motiv schnell zur Hand: Bevor die Japaner Pearl Harbor bombardierten, hatten die Väter von Kabuo und Carl einen Vertrag geschlossen, der den Miyamotos ermöglichte, sieben Morgen Land für die Erdbeerzucht zu erwerben. Doch bevor die letzten beiden Raten gezahlt werden konnten, wurden alle Japaner 1942 aus San Piedro deportiert.
In der Zwischenzeit ist Carl Heine Senior verstorben, seine Frau Etta konnte das Land nicht mehr bewirtschaften und verkaufte es an Ole Jurgensen. Als Kabuo Miyamoto aus dem Krieg zurückkehrte, in dem er für die Amerikaner gegen die Deutschen kämpfte, hat er zunächst vergeblich versucht, das Land seiner Familie zurückzubekommen, und schließlich mit seinem alten Freund Carl neu verhandelt. Über den Prozess im vom unerbittlichen Schneesturm umklammerten Gerichtssaal berichtet auch Ishmael Chambers, der mit Kabuos Frau Hatsue einst seine erste Liebe erfahren durfte, deren tragisches Ende er noch immer nicht verwunden hat. Nach den Zeugenaussagen wird es immer wahrscheinlicher, dass die Geschworenen den stolzen wie unergründlichen Miyamoto für schuldig befinden. Da gelangt Ishmael an eine Information, die dem Prozess die entscheidende Wende bringen könnte.
„Er stand da und betrachtete die Zerstörung im Hafen und wusste, dass er etwas Unverletzliches in sich trug, von dem andere Männer nichts ahnten, und zugleich hatte er nichts. Zwölf Jahre lang hatte er gewartet, das wusste er. Er hatte gewartet, ohne es zu merken, und das Warten hatte sich in etwas Tieferes verwandelt. Er hatte zwölf lange Jahre gewartet. Die Wahrheit lag nun in Ishmaels Tasche, und er wusste nicht, was er mit ihr anfangen sollte, und die Leichtfertigkeit, mit der er auf alles reagierte, war ihm so fremd wie die Schaumkronen der Brecher, die über die verschneiten Boote und die Anlegedalben am überschwemmten Hafen von Amity Harbour hinwegrollten. Nirgendwo war eine Antwort zu finden, weder in den auf der Seite liegenden Booten, noch in der vom Schnee niedergeworfenen Weißtanne, noch in den abgebrochenen Ästen der Zedern. Er empfand nichts als die kühle Leichtfertigkeit, die ihn überfallen hatte.“ (S. 471f.) 
Gleich mit seinem 1994 veröffentlichten Romandebüt „Schnee, der auf Zedern fällt“ ist dem amerikanischen Schriftsteller David Guterson („Der Andere“, „Ed King“) der internationale Durchbruch gelungen. Meisterhaft verbindet der Autor in diesem epischen Werk die unglückliche Jugendliebe zwischen Hatsue und Ishmael, einen außergewöhnlichen Gerichtsprozess, in dem vor allem der verborgene Rassismus zwischen Amerikanern und Japanern zum Tragen kommt, und eine Milieustudie über das Leben von Lachsfischern auf einer kleinen Insel.
Indem Guterson seine Geschichte aus verschiedenen Perspektiven und Zeitebenen erzählt, wird vor allem die unglücklich verlaufene Liebesgeschichte zwischen Hatsue und Ishmael mit all ihren zugrundeliegenden kulturellen Differenzen schön ausgearbeitet, aber auch die wechselhafte Entwicklung der Beziehung zwischen den Heines und Miyamotos sowie Ishmaels Schwierigkeiten, sich aus dem übermächtigen Schatten seines geschätzten Vaters zu lösen, bilden Schwerpunkte in der dramaturgisch geschickt erzählten und wunderbar atmosphärisch dichten Geschichte, die 1999 von Scott Hicks („Shine – Der Weg ans Licht“, „Hearts In Atlantis“) kongenial mit Ethan Hawke, Sam Shepard und Max von Sydow kongenial verfilmt worden ist.
Leseprobe: David Guterson – „Schnee, der auf Zedern fällt“

Philippe Djian – „Ich arbeitete für einen Mörder“

Samstag, 3. Januar 2015

(Diogenes, 247 S., HC)
Nach einem Unfall in der Chemiefabrik in der französischen Kleinstadt Hénochville sind Geschäftsführer Marc und sein langjähriger Freund Patrick um Schadensbegrenzung bemüht. Während Marc den Inspektor, der den Vorfall untersucht, mit einer Tasche voller Geld und dem Freudenmädchen Laurence besticht, klappert Patrick die Bauernhöfe, die ihn oft genug bereits mit einem Korb mit toten Fischen empfangen, entlang des Flusses ab und versucht ihre Gemüter mit Steakplatten und anderen Lebensmittelzuwendungen zu beruhigen.
„Ich arbeitete für einen Mörder“, denkt sich Patrick, doch versteht er es nicht, einen Ausweg aus seinem ganz persönlichen Dilemma zu finden. Während er sich von Marc für alles einspannen lässt, was der Firma und Marc selbst die Rettung bescheren könnte, liegt auch Patricks eigenes Leben in Trümmern. Seit seine Frau ihn verlassen hat, unterhält er mit seiner Nachbarin Jackie eine sporadische sexuelle Beziehung, von der ihr Mann Thomas natürlich nichts ahnt.
Als versehentlich die Wohnung inseriert wird, die nach dem Tod seiner Mieterin frei geworden ist, bringt die aus Irland stammende Eileen weitere Verwirrung in Patricks Leben. Zunächst kommunizieren die beiden nur über kleine Briefchen. Schließlich lädt er die junge Frau zu einem Picknick ein, zu dem sich Thomas und Jackie mit Marc und Patrick verabredet haben. Allerdings verläuft das Treffen anders als erwartet: Marc bringt zu dem Picknick nämlich noch einen Überraschungsgast mit: im Kofferraum seines Wagens liegt der mit Schlafmitteln betäubte Inspektor, nachdem ihn Laurence aus Notwehr niedergeschlagen hatte.
Als schließlich sintflutartiger Regen die Hütte wegzuschwemmen droht, liegen die Nerven bei einigen Kurzurlaubern ziemlich blank …
„Der Fluss hatte eine hypnotisch beruhigende Wirkung. Es war nicht nötig, große Pläne zu machen und auf totale Befreiung zu hoffen. Man musste jedesmal all seine Kräfte zusammennehmen, um einen Schritt voranzukommen. Da war kein Opfer, das nicht zu erbringen war. Man gab nie alles, was man hatte. Wenn ein Problem bewältigt war, tauchte ein neues auf.“ (S. 230) 
Philippe Djian hat bereits in seinen früheren Werken (u.a. in „Blau wie die Hölle“, „Rückgrat“ und „Verraten und verkauft“) eine Meisterschaft darin entwickelt, die persönlichen Nöte seiner Protagonisten auf ebenso psychologisierende wie humorvolle Weise in Geschichten zu gießen, die letztlich kaum dazu angedacht waren, die Probleme zielorientiert zu lösen.
In „Ich arbeitete für einen Mörder“ reicht eine fast kammerspielartige Bühne, denn bis auf wenige Ausnahmen spielt sich die Geschichte nur in Patricks Haus und um die Hütte herum ab, in der die Freunde ein Wochenende verbringen. Hier spitzt sich nicht nur die Beziehung zwischen Patrick und Marc zu, der mit dem gekidnappten Inspektor seinem kriminellen Spektrum eine weitere brisante Komponente hinzufügt, sondern auch zwischen Patrick und Jackie, die eifersüchtig beobachten muss, wie Patrick und Eileen einander näherkommen. Das Unwetter mag stellvertretend für die Turbulenzen stehen, die Patrick mit seinen Problemen verursacht, die er aber auch nicht in den Griff bekommt.
Djian erweist sich einmal mehr als Autor, der seinen Figuren ein interessantes Leben einzuhauchen versteht, der mit scharfzüngigen Dialogen und geschliffener Sprache einen faszinierenden Sog erzeugt, der den Leser bis zur letzten Seite fesselt.

Jim Thompson – „Blind vor Wut“

Mittwoch, 31. Dezember 2014

(Heyne, 369 S., Tb.)
Nach seinem Verweis von der Militärschule ist der achtzehnjährige Allen Smith mit seiner Mutter gerade in eine schicke Wohngegend am East River gezogen. Wenn er mit ihr zu Fuß zur Schule am Fluss entlanggeht, kann er hinter Hell Gate die Skyline Manhattans sehen. Doch statt sich der Annehmlichkeiten seines Lebens zu erfreuen, macht ihm der Umstand, dass er der Mischlingssohn eines schwarzen Vaters und einer weißen Mutter ist, rasend vor Wut.
Mit ihrer koketten Art wickelt seine als Edelprostituierte arbeitende Mutter zunächst den Direktor von Allens Schule um den Finger, doch auch von ihrem Sohn holt sie sich immer wieder die Art von Zuneigung, die sie braucht, während sie Allen diese Lust versagt. Allen reagiert seinen Frust an seinen Mitmenschen ab, an den einfältigen Geschwistern Steve und Liz Hadley ebenso wie an Schuldirektor Velie und dem schwarzen Mitschüler Doozy, der eine Art Black-Power-Club gründen will. Einzig die Polizistentochter Josie Blair, die im Vorzimmer des Schuldirektors aushilft, scheint es gut mit Allen zu meinen. Doch das hält den Jungen nicht davon ab, alle um sich herum in den Abgrund zu schicken, in dem er sich seiner eigenen Meinung nach schon längst befindet …
„Ich hatte mir endlose Entschuldigungen für Mutter zurechtgelegt, hatte ihr zigtausend Mal verziehen; hatte mir die Schuld gegeben, mir selbst nie verziehen. Und gleichzeitig hatte ich sie gehasst, ihr nichts verziehen und mir dagegen alles. Ich hatte versucht, wann und wo auch immer alles recht zu machen. Doch in meinem Verstand sind Recht und Unrecht so miteinander verwoben, dass man sie nicht auseinanderhalten kann, also hatte ich mir meine eigenen Vorstellungen davon zurechtlegen müssen.“ (S. 265) 
Bevor der 1906 geborene Jim Thompson von der Schriftstellerei leben konnte, hat er sich mehr schlecht als recht als Glücksspieler, Alkoholschmuggler, Ölarbeiter und Sprengstoffexperte durchgeschlagen, war selbst dem Alkohol sehr zugetan und immer wieder von Depressionen geplagt. Später verfasste er Drehbücher für Regisseure wie Stanley Kubrick („Wege zum Ruhm“, „Die Rechnung ging nicht auf“) und lieferte die Romanvorlagen für die Filme „Getaway“ (1972 und 1994), „Der Mörder in mir“ (1976 und 2009), „After Dark, My Sweet“ (1990) und „Grifters“ (1990). Doch berühmt wurde er vor allem durch seine Noir-Romane, mit denen Thompson die dunkle Seite des amerikanischen Lebens beschrieb.
In dieser Hinsicht bildet sein 1972 veröffentlichtes Spätwerk „Blind vor Wut“ zwar keine Ausnahme, bemerkenswert ist allerdings die Hinterhältigkeit, mit der sein Protagonist Allen Smith agiert und seine Mitmenschen böswillig genau dorthin manövriert, wo er sie hinhaben will. Dabei berührt Thompson jedes Tabu, das ihm in den Sinn kam. Inzest, Rassismus, Schwulenfeindlichkeit und sexuelle Perversionen vermischt Thompson zu einem politisch ebenso fragwürdigen wie diskussionswürdigen Psycho-Thriller, der die Ausnahmestellung des Autors eindrucksvoll unterstreicht, aber sicherlich nicht jedermanns Sache ist.
Als Bonus ist dem Roman noch die gut 90-seitige Novelle „Ein Pferd in der Badewanne“ beigefügt, die sich wie eine Fingerübung zu „Blind vor Wut“ liest.
Leseprobe Jim Thompson - "Blind vor Wut"

Peter Straub – „Schattenland“

Sonntag, 28. Dezember 2014

(Heyne, 559 S., Tb.)
Zu der Zeit, als John Kennedy noch Senator von Massachusetts war, schmale Krawatten erstmals in Mode kamen und McDonalds erst zwei Millionen Frikadellen verkauft hatte, besuchten Tom Flanagan und Del Nightingale die Carson-Schule, eine eher zweitklassige Höhere Schule für Jungen. Nach dem Tod seiner Eltern lebte Del bei seinen Taufpaten und wünschte sich nichts mehr, als dass Tom Flanagan sein Freund werden möge.
Er lädt Tom ein, mit ihm zusammen die Weihnachtsferien bei seinem Onkel zu verbringen, und da Tom gerade den Tod seines eigenen Vaters zu verarbeiten hat und zudem das dringliche Gefühl hatte, seinen Freund beschützen zu müssen, nimmt er die Einladung an. Wie sich bald herausstellt, befinden sich die beiden Jungs tatsächlich bald in höchster Gefahr, denn Coleman Collins – so der selbsterwählte Name des ehemaligen Arztes Nightingale – nutzt seine magischen Fähigkeiten dazu, die beiden Jungs in die Geheimnisse des märchenhaften Reiches namens Schattenland einzuweihen.
Del, der bereits ein geübter Kartentrickzauberer ist, ist sich sicher, dass Collins ihn zu seinem Nachfolger ausbilden wird, doch tatsächlich sieht Collins in dem Flanagan-Jungen sein wahres Erbe. Geschickt spielt er nicht nur die beiden Jungen gegeneinander aus, sondern schickt mit Rose auch noch ein geheimnisvolles Mädchen ins Spiel, um dessen Gunst sich die Jungen streiten. Am Ende wissen die Jungen nicht mehr, wem sie überhaupt noch trauen können …
„ … er dachte, dass Schattenland, ein hässlicher Name für ein Haus, heimlichtuerisch und böse sei, und dass es Schatten verdiene, weil die Leute hier das Licht hassten. Schattenland implizierte die Enteignung. Und Coleman Collins schien ein Mann, der sich in seinen eigenen Kräften verirrt hatte, ein Schatten in einer Schattenwelt, substanzlos. Ein alter König, der wusste, was er unter den Händen seines Nachfolgers würde erleiden müssen.“ (S. 382) 
Ein Jahr nach seiner überragenden Gothic Novel „Geisterstunde“ (1979) und vier Jahre vor seinem internationalen Durchbruch mit dem epischen Fantasy-Horror-Werk „Der Talisman“ (1984), das er mit Stephen King geschrieben hat, bewies der amerikanische Autor Peter Straub mit „Schattenland“, dass er zu den versiertesten Vertretern seiner Zunft zählt.
„Schattenland“ erzählt nicht nur von der außergewöhnlichen Freundschaft der beiden Jungen Flanagan und Nightingale, der ersten Liebe und den mannigfaltigen Verführungen durch die Magie, sondern rekapituliert auch die Geschichte eines Magiers, der seine Fähigkeiten während seiner ärztlichen Tätigkeiten im Ersten Weltkrieg entdeckte und als Fahnenflüchtiger im Verborgenen weiterentwickelte, der die Bekanntschaft mit Aleister Crowley machte und sich mit den magischen Werken der Renaissance ebenso auskannte wie mit Gurdjieff und Ouspensky. 
Straub lässt in seine komplexe Geschichte, die immer wieder zwischen den Zeiten und verschiedenen Orten wechselt, märchenhafte Schilderungen einfließen und sogar die Gebrüder Grimm zu Wort kommen.
Am Ende schlägt Straub vielleicht den einen oder anderen Haken zu viel und driftet auch sprachlich in komplexe Formulierungen ab, aber Straub versteht es geschickt, den Leser in seine magischen Welten zu entführen und die Faszination für Schattenland und das Schicksal der jugendlichen Protagonisten stets aufrechtzuerhalten.

Peter Straub – „Geisterstunde“

Sonntag, 14. Dezember 2014

(Goldmann, 599 S., Tb.)
Die aus den stattlichen Herren Sears James, Frederick Hawthorne, Lewis Benedikt und John Jaffrey bestehende sogenannte Altherrengesellschaft der Kleinstadt Milburn, New York, trifft sich schon seit Jahren meist in der behaglichen Bibliothek von Sears James, doch nachdem ihr Freund Edward Wanderley unter mysteriösen Umständen gestorben ist, stockte bei dem ersten Zusammentreffen danach die Unterhaltung, und als Ricky Hawthorne sich unvermittelt an den Doktor Jaffrey wandte und ihn fragte, was das Schrecklichste gewesen sei, das er je getan hatte, antwortete dieser: „Das werde ich dir nicht sagen, aber ich werde dir vom Schrecklichsten erzählen, das mir je widerfahren ist, … vom Allerschrecklichsten …“
Seither erzählen sich die alten Freunde bei ihren Zusammenkünften Geistergeschichten, doch als sich der Todestag ihres Freundes Wanderley das erste Mal jährt, haben sie alle das Gefühl, dass etwas Unheimliches in Gange ist. Sie beschließen, Edwards Neffen Don zu sich einzuladen, dem man nachsagt, durch seinen übernatürlichen Roman einige Erfahrungen auf dem Gebiet des Okkulten gesammelt zu haben. Durch seinen Besuch erhoffen die unter Alpträumen leidenden Männer Aufklärung und bestenfalls sogar Linderung ihrer Ängste. Wie berechtigt die Sorgen der Altherrengesellschaft sind, zeigt sich noch an Wanderleys Todestag, als zunächst vier Schafe mit aufgeschlitzten Kehlen, aber ohne Blutlachen am Tatort aufgefunden werden und Dr. Jaffrey tot aus dem Fluss gefischt wird.
Den verängstigten Männern ist wohl bewusst, dass die tragischen Ereignisse bereits vor fünfzig Jahren ihren Lauf nahmen, als eine Frau namens Eva Galli in ihrer aller Leben trat. An Edward Wanderleys Todestag trifft mit Anna Mostyn die Nichte von Eva Galli in der Stadt ein und sorgt für weitere Unruhe. Aber auch Donald Wanderleys Vergangenheit ist untrennbar mit der der Altherrengesellschaft verbunden:
„Wo bin ich da hineingeraten? In eine Geistergeschichte? Oder in Schlimmeres, das mehr ist als eine Geschichte? Die drei alten Herren haben nur eine vage Kenntnis von den Ereignissen vor zwei Jahren, und sie können unmöglich ahnen, dass sie mich darum baten, den seltsamsten Abschnitt meines Lebens nochmals aufzurollen, die schrecklichsten und destruktivsten Tage meiner Existenz noch einmal zu durchleben – oder die Seiten eines Buches wieder aufzuschlagen, das als Versuch geschrieben wurde, mit diesen Tage ins Reine zu kommen.“ (S. 231) 
Peter Straubs 1979 erstmals veröffentlichte „Geisterstunde“ ist wohl DAS Werk, das den Meister des atmosphärischen Horrors auch in Deutschland bekannt machte, bevor er 1984 durch das gemeinsam mit Stephen King verfasste Meisterwerk „Der Talisman“ zu einem der bekanntesten Genre-Autoren avancierte.
In „Geisterstunde“ nimmt sich Peter Straub die Zeit, zunächst die Befindlichkeiten der einzelnen Mitglieder der Altherrengesellschaft von Milburn zu beschreiben, indem er ihnen einzelne Kapitel widmet. In diesen episodenhaften Skizzen lässt er immer wieder die Ereignisse aus der Vergangenheit durchschimmern, die zu den unheimlichen Vorfällen beigetragen haben, die die Herren gerade so verängstigen, aber erst nach und nach enthüllt Straub geschickt die Puzzleteile, die allmählich zu dem großen Ganzen zusammengeführt werden. Das ist einfach großartig und packend geschrieben, wobei die Figuren vielschichtig gezeichnet und die verwirrenden Emotionen detailreich und atmosphärisch dicht beschrieben werden. „Die Geisterstunde“ ist einfach eine Gothic Novel par excellence!

Stewart O‘Nan – „Emily, allein“

Dienstag, 2. Dezember 2014

(Rowohlt, 380 S., HC)
Seit ihr Mann vor sieben Jahren verstorben ist, lebt die alternde Witwe Emily Maxwell allein in ihrem Haus in Pittsburgh, meist nur in Gesellschaft ihres altersschwachen Hundes Rufus und gelegentlich ihrer Schwägerin Arlene, mit der sie jeden Dienstag nach Edgewood fuhr, um dort im Eat ’n Park zum halben Preis am Frühstücksbuffet teilzunehmen.
Auch sonst verläuft ihr unspektakuläres Leben in geregelten, vorhersehbaren Bahnen, mit den Hunde-Spaziergängen und saisonalen Gartenarbeiten und den Vorbereitungen auf die wenigen Familienzusammenkünften zu den Festtagen. Doch als Arlene eines Dienstagmorgens am Büffettisch des Eat ‘n Park zusammenbricht und für einige Tage ins Krankenhaus muss, lernt Emily gezwungenermaßen, ihrem Leben eine neue Richtung zu verleihen. Um sich nicht länger in die zittrigen Hände ihrer Schwägerin begeben zu müssen, wenn sie längere Strecken zurücklegen möchte, schafft sie sich ein neues Auto an und versucht, ihren Kindern und Enkeln wieder etwas näher zu kommen.
„Vielleicht war es Nostalgie oder auch nur die Widerspenstigkeit der Erinnerung, doch sie konnte die erwachsene Variante der Kinder nicht von den Kindern trennen, die sie einmal gewesen waren. Margaret verdrehte schon seit fast vierzig Jahren den Männern die Köpfe – manchmal mit furchtbarem Ergebnis -, und doch würde sie immer die pummelige, mürrische Drittklässlerin bleiben, die in ihrem Zimmer Süßigkeiten versteckte. Justin, der angehende Astrophysiker, würde für immer der überempfindliche Junge sein, der in Tränen ausbrach, weil er das falsche Spülmittel in die Geschirrspülmaschine gefüllt hatte. Da Emily auf ihr eigenes früheres Ich nicht besonders stolz war, begriff sie, dass es ungerecht war, ihnen diese alten Rollen überzustülpen, und bemühte sich, über ihre neuen Aktivitäten auf dem Laufenden zu bleiben und ihre jüngsten Triumphe zu feiern.“ (S. 266)
Es verwundert nicht, dass Stewart O’Nan sein feinfühliges, ganz und gar unsentimentales Witwenportrait seiner Mutter widmet, denn selten dürfte man das Leben einer allein lebenden alten Frau kaum sensibler, detaillierter, unaufgeregter und doch so humorvoll und melancholisch beschrieben gesehen haben. Obwohl O’Nan, selbst in Pittsburgh groß geworden und wieder dort lebend, die Geschichte nicht als Ich-Erzählung angelegt hat, ist der Leser immer ganz dicht an Emily dran, teilt ihre Gedanken und Gefühle ebenso wie ihre episodenhaft geschilderten Erlebnisse, die schwierigen Familienfeste, der Verkauf des Nachbarhauses, die Beerdigungen alter Freundinnen, der Kratzer an ihrem neuen Wagen, das mysteriöse Zahlen-Graffiti auf ihrem Grundstück, das Kämpfen mit der Grippe und der Vergesslichkeit.
Auch wenn man selbst keine alte Frau ist, die die besten Jahre hinter sich hat und sich bemüht, den Rest des Lebens möglichst sinn- und würdevoll zu verbringen, fällt es dem Leser bei O’Nans einfühlsamen Schreibstil leicht, Emilys Empfindungen zu folgen, mit ihr mitzufühlen, ihre Sorgen und Ängste zu teilen. Wie der preisgekrönte Autor es versteht, Empathie für seine ganz und gar gewöhnliche Protagonistin zu wecken, ist schon große Kunst und absolut lesenswert.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Emily, allein"