Karin Slaughter – (Georgia: 1) „Tote Augen“

Freitag, 1. Mai 2015

(Blanvalet, 574 S., Tb.)
Die Ärztin Dr. Sara Linton versorgt im Grady Hospital gerade die schwangere Polizistin Faith Mitchell, die von ihrem Partner Will Trent nach einem Ohnmachtsanfall eingeliefert worden ist, als die Opfer eines Verkehrsunfalls ihre Aufmerksamkeit erfordern. Während ihr Kollege Krakauer sich um Fahrer und Beifahrer kümmert, hat es Sara mit einer Frau zu tun, die bevor sie angefahren worden ist, offensichtlich gefoltert und sexuell misshandelt wurde. Als sich Special Agent Will Trent vom Georgia Bureau of Investigation in dem Wald nahe des Unfalls auf die Suche nach der Höhle macht, in der die Frau gefoltert und ausgehungert wurde, stößt er auf ein weiteres weibliches Opfer, das sich nach der Flucht aus der Folterhöhle offensichtlich in einem Baum selbst das Leben nahm, um seinem Leiden ein Ende zu bereiten.
Während Sara auf der einen Seite versucht, als Ärztin mehr zur Aufklärung der Fälle beizutragen, als es ihre Pflicht wäre, versucht sie die merkwürdige Beziehung zu verstehen, die sie mit Will verbindet. Sara ist vor zwei Jahren aus dem Grant County, wo sie Coroner und Kinderärztin gewesen ist, nach Atlanta gezogen, nachdem ihr Mann, Polizeichef Jeffrey Tolliver, bei einem Bombenanschlag getötet worden war. Seither hat sie keine nennenswerten Freunde gefunden. Auf der anderen Seite lebt Will in einer merkwürdigen Ehe mit der Polizistin Angie, die immer mal wieder für Monate völlig aus Wills Leben verschwindet und dann ebenso unverhofft wieder auftaucht.
Ganz andere Probleme beschäftigen Faith Mitchell, die nicht nur mit ihrer aktuellen Schwangerschaft zu kämpfen hat, sondern der auch noch Diabetes diagnostiziert wird, was sie selbst daran zweifeln lässt, ob sie Will noch eine verlässlichere Partnerin sein kann.
„Faith schloss die Augen und stellte sich die Autopsiefotos von Jacquelyn Zabel vor, die Höhle, in der Jacquelyn und Anna Lindsey festgehalten worden waren. Sie rief sich die Abscheulichkeiten ins Bewusstsein, die diesen Frauen passiert waren – die Folterungen, der Schmerz. Wieder legte sie die Hand auf den Bauch. War das Kind, das in ihr wuchs, ein Mädchen? In was für eine Welt brachte Faith sie; eine Welt, on der junge Mädchen von ihren Vätern belästigt wurden, in der Magazine einem sagten, dass man nie perfekt genug sein könne, in der Sadisten einen von einem Augenblick auf den anderen aus der eigenen Welt heraus und weg vom eigenen Kind reißen und für den Rest des Lebens in eine Hölle auf Erden stoßen konnten?“ (S. 407) 
Derweil nimmt der Fall der beiden gefolterten Frauen größere Dimensionen an, als eine weitere Frau verschwindet. Abgesehen von ihrem ähnlichen Aussehen scheint die einzige Verbindung zwischen den Frauen ein Chatroom zu sein, zu dem die Ermittler keinen Zugang finden. Der einzige Mensch, der alle drei Frauen kennt, ist der Entführer …
Nach sechs Bänden der "Grant-County"-Reihe, in der die amerikanische „Thriller-Queen“ Karin Slaughter (BILD am Sonntag) den Fällen von Sara Linton und Jeffrey Tolliver nachging, hat sie mit „Verstummt“ und „Entsetzen“ zunächst zwei Bände um den Special Agent Will Trent herum konstruiert, ehe sie mit „Tote Augen“ nun erstmals Sara Linton und Will Trent in der „Georgia“-Reihe aufeinandertreffen lässt.
Auf knapp 600 Seiten nimmt die komplexe Ermittlung in den Fällen der entführten und gefolterten Frauen natürlich einen breiten Raum ein, und Karin Slaughter zeigt sich überhaupt nicht zimperlich, wenn es um die brutalen Details geht, die das Leiden und die Wunden der Opfer beschreiben. Zum Glück widmet die Autorin aber auch den persönlichen Entwicklungen ihrer Figuren viel Zeit. Wie Sara nach wie vor den Tod ihres Mannes vor drei Jahren zu verarbeiten und darüber hinaus zu definieren versucht, wie ihre Gefühle für Will Trent gestaltet sind, ist ebenso psychologisch nachvollziehbar dargelegt wie die Sorgen, die Faith Mitchell umtreiben, die bereits im Alter von 14 Jahren ihr erstes Kind geboren hat und nun nicht nur eine weitere Schwangerschaft zu verdauen hat, sondern auch die Diabetes-Diagnose, die sie ebenso sehr privat wie beruflich beschäftigt.
Und auch Will ist noch von seiner Vergangenheit gezeichnet, vom frühen Tod seiner Mutter, der Inhaftierung seines Vaters und den Aufenthalten in staatlichen Kinderheimen ebenso wie von der schwierigen Beziehung zu seiner Frau, die die meiste Zeit nicht da ist. Slaughter gelingt es geschickt, die Ermittlungen und die persönlichen Belange von Sara, Will und Faith nahtlos miteinander zu verweben, ohne die Spannung zu vernachlässigen. Selbst mit der Auflösung lässt sich Slaughter viel Zeit.
„Tote Augen“ stellt einen vielversprechenden Auftakt zu einer neuen Reihe da, in der kürzlich mit „Bittere Wunden“ bereits der vierte Teil erschienen ist.
Leseprobe Karin Slaughter - "Tote Augen"

Irvine Welsh – „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“

Dienstag, 21. April 2015

(Heyne, 447 S., HC)
Die taffe Fitnesstrainerin Lucy Brennan macht sich mit ihrem 1998er Cadillac DeVille gerade auf den Weg nach South Beach, als ihr zwei Männer mit wedelnden Armen auf dem fast verlassenen Causeway entgegenlaufen. Während der eine Typ über ihre Motorhaube abrollt, wird sein Begleiter von einem anderen Fahrzeug voll erwischt. Schließlich taucht ein dritter Mann mit einer Pistole aus dem Dunkeln, den Lucy beherzt entwaffnet.
Von einer Zeugin wird der Vorfall mit einem Handy gefilmt, Lucy avanciert in Blitzeseile zu einer Heldin, der von VH1 sogar eine eigene Fernsehshow in Aussicht gestellt wird. Allerdings wendet sich das Blatt, als herauskommt, dass der Mann, den Lena entwaffnete, Opfer eines Pädophilenrings gewesen ist, der zwei der Triebtäter verfolgt hat.
Statt einer eigenen Fernsehshow bekommt Lucy nun die Zeugin Lena Sorensen als Klientin, die bei einer Körpergröße von 1,60m ordentliche 100 Kilogramm auf die Waage bringt. Dabei ist Lucy gar nicht so eine Loserin, wie sie auf den ersten Blick erscheint, sondern eine populäre Künstlerin, die mit ihren Skulpturen aus Tierknochen bereits auf einige erfolgreiche Ausstellungen und Verkäufe zurückblicken kann. Da sie allerdings nicht die Vorgaben ihrer Trainerin erfüllt, greift Lucy zu drastischeren Mitteln und sperrt Lena in dem verlassenen Apartment ihrer Mutter ein, das sie erst wieder verlassen darf, wenn sie wieder ihr Normalgewicht erreicht hat.
„Bis du endlich erwachsen geworden bist und ich dich ernst nehmen kann, werde ich alle Entscheidungen für dich treffen, in deinem Interesse. Denn deine schlechten Entscheidungen wirken sich negativ auf mein Leben aus! Dieses Video von mir dem Fernsehen zu geben: schlechte Entscheidung! Dir den Mund mit Scheiße vollzustopfen, obwohl ich alles unternehme, damit du abnimmst: verdammt schlechte Entscheidung!“ (S. 210f.) 
Der im schottischen Leigth nahe bei Edinburgh geborene und mittlerweile in Chicago lebende Irvine Welsh ist durch die kongeniale Verfilmung seines Debüt-Romans „Trainspotting“ durch Danny Boyle weltberühmt geworden. Nachdem er 2012 mit dem epischen „Skagboys“ die Vorgeschichte zu diesem Bestseller erzählte, folgt nun mit „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ quasi das amerikanische Pendant dazu.
Hinter dem etwas kurios anmutenden Titel verbirgt sich ein beißender Kommentar auf den hedonistischen Körperkult und Schönheitswahn, wie er im Miami wohl am eindrucksvollsten zur Schau gestellt wird. Mit der körperbewussten Lucy und der zurückhaltenden Lena lässt Welsh zwei Frauentypen aufeinanderprallen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch hängen sie wie die titelgebenden siamesischen Zwillinge zusammen, die immer mal wieder wie ein McGuffin in bester Hitchcock-Tradition auftauchen. Die Geschichte der sechzehnjährigen siamesischen Zwillinge Amy und Annabel aus Arkansas taucht immer wieder in den Medien auf, weil sich das eine Mädchen von dem anderen trennen möchte, um mit seinem Freund ungestört zusammen sein zu können.
Wie Lucy und Lena miteinander umgehen, ist schon grenzwertig und wird von Welsh auch in expliziter Sprache wiedergegeben. Vor allem bei den Sexszenen nimmt der Bestseller-Autor kein Blatt vor den Mund und lässt der Fantasie nicht viel Raum. Der Roman weist gerade in der Mitte auch einige Längen auf, wenn sich die Story nicht wirklich weiterentwickelt. Dafür präsentiert Welsh immer wieder interessante Intermezzi wie die tagebuchähnlichen „Morgenseiten“, die Rezeption von Lenas Kunst in der Fachpresse und verschiedene email-Kommunikationen.
Zum Schluss hin nimmt „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ aber wieder mächtig an Fahrt auf und präsentiert einige interessante Wendungen und Hintergründe zum Verhalten der Protagonistinnen. Lucy und Lena präsentieren hier zwei Vorzeigefiguren des „American Way of Life“, den Fitnesswahn und Körperkult ebenso wie die Abhängigkeit von Fast Food auf der einen Seite, die Medienhysterie auf der anderen Seite.
Leseprobe Irvine Welsh - "Das Sexleben siamesischer Zwillinge"

Donald Ray Pollock – „Knockemstiff“

Samstag, 18. April 2015

(Heyne, 256 S., Tb.)
In Knockemstiff, Ohio, liegt der Hund begraben. Es ist ein so ödes Kaff, dass sich die Menschen an Erinnerungen und Träume klammern oder der wenig erquicklichen Realität zu entfliehen versuchen. Bobby erinnert sich beispielsweise an eine Augustnacht, als er sieben Jahre alt war und mit seinem Vater ins Torch-Drive-in fuhr, um „Godzilla“ zu gucken. Erst geriet sein aus dem Autoaschenbecher Whiskey trinkende Vater in eine Schlägerei mit einem Schrank von einem Mann, dann legte sich auch Bobby mit einem größeren Jungen an, was seinem Vater erstmals ein Lob abrang.
Ein 19-jähriger Junge versteckte sich drei Jahre lang mit einem Taschenmesser und einem Bindfadenball auf den Mitchell Flats in einem alten Schulbus vor dem Militärdienst und entledigte sich auch der beiden Soldaten, die nach ihm suchten.
Um seinen Vater zu beeindrucken, der immer wieder von seinem Sohn gefordert hat, sich endlich ein Mädchen zu nehmen, inszeniert dieser geschickt eine Entjungferung auf dem Rücksitz seines Autos, so dass der Alte endlich Ruhe gibt und er in der Achtung seiner Clique steigt.
Der 28-jährige Hank jobbt noch immer in Maude Speakmans Laden und trauert seinem ersten Schwarm Tina Elliot nach, die mit ihrem Freund Boo zu einem Ölfeld nach Texas ziehen will.
„Ich schätze, ich habe Tina Elliot immer geliebt, vom ersten Augenblick, als ich sie sah, obwohl sie bis ins Mark verdorben ist. Kurz nachdem ich im Laden angefangen hatte, war sie mit ihrer Mutter reingekommen, da war sie noch ein kleines, unscheinbares Ding und sagte, sie würde mir für einen Reese Peanut Butter Cup einen Kuss geben. Das war, bevor sie alt genug für andere Dinge war, und seit sie anfing, mit Jungs rumzumachen, hat sie einen gesucht, der sie von hier wegbringt. Ich wünschte, ich wäre derjenige, wirklich, aber ich glaube nicht, dass ich jemals die Senke hier verlasse, nicht mal für Tina. Ich bin schon mein ganzes Leben lang hier, wie ein Giftpilz an einem verrotteten Baumstumpf, nicht mal in die Stadt gehe ich, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.“ (S. 41 f.) 
So wie Hank geht es irgendwie allen Protagonisten, die meistens als Ich-Erzähler in 18 Kapiteln Episoden aus ihrem an sich ereignislosen Leben zum Besten geben. Der einzige Zusammenhang zwischen den Kapiteln bildet der fatalistisch-deprimierte Grundton, mit dem die Figuren sich in ihr perspektivloses Schicksal ergeben.
Mit seinem 2008 veröffentlichten Debüt als Schriftsteller hat der in Ohio aufgewachsene Donald Ray Pollock einen Erzählband kreiert, dem keine wirkliche Story zugrunde liegt. Stattdessen setzt sich „Knockemstiff“ aus Fragmenten zusammen, die in schnörkelloser Sprache die stille Verzweiflung einfängt, die ganz verschiedenen Kleinstadtmenschen anhaftet, wenn sie ihre Träume, wenn sie denn welche gehegt haben, nicht verwirklichen können und sich nur noch vom Alltag treiben und zermürben lassen, die sich mit Alkoholexzessen, Raufereien und auch mal Sex mit der eigenen Schwester vergnügen.
Dabei braucht es keine drastischen Darstellungen von Sex und Gewalt. Pollock, der selbst in Knockemstiff aufgewachsen ist, es aber immerhin bis in die Nachbarstadt geschafft hat, genügt ein kurzer Blick auf die rohen Umstände und gelegentlichen emotionalen Ausschläge in Knockemstiff, um eine ebenso triste wie wuchtige Gesellschaftsstudie zu kreieren.
Leseprobe Donald Ray Pollock - "Knockemstiff"

Ryan David Jahn – „Der letzte Morgen“

Sonntag, 12. April 2015

(Heyne, 528 S., Pb.)
In einer kühlen Aprilnacht des Jahres 1952 in Los Angeles erschießt der dreizehnjährige Sandy seinen verhassten Stiefvater Neil und lässt es so aussehen, als sei dieser vor dem Haus von einem Auftragskiller erledigt worden. Etwa zur selben Zeit ersticht Teddy Stuart, Buchhalter des Unterweltbosses James „The Man“ Manning, einen Kartengeber, den er für einen Falschspieler hält. Als Detective Carl Bachman den ersten Tatort aufsucht, braucht er keinen großartigen detektivischen Spürsinn, um den Jungen als Täter auszumachen, doch als Bezirksstaatsanwalt Seymour Markley davon hört, dass Sandy seinem Opfer einen fünfzackigen Stern auf die Stirn geritzt hat, wozu ihn ein Comic inspiriert hat, glaubt der Staatsdiener, Manning endlich hinter Gitter bringen zu können. Er will einen Deal mit dem Buchhalter des Gangsters aushandeln, damit dieser gegen seinen Boss aussagt und Manning als Eigentümer des Verlags, der den Comic „Down City“ herausgebracht hat, des Mordes aus krimineller Fahrlässigkeit angeklagt werden kann.
Doch Manning weiß sich gegen das drohende Unheil zu wappnen. Er setzt seine skrupellose Tochter Evelyn auf den Milchmann Eugene Dahl an, der den Comic gezeichnet hat, und lässt sie belastende Beweise in Dahls Zimmer platzieren. Doch entgegen von Mannings Plan entwickeln Evelyn und Eugene Gefühle füreinander. Dem Ziel des ausgeklügelten Komplotts gelingt es zwar, sich der drohenden Festnahme zunächst zu entziehen, aber er benötigt unbedingt die Hilfe von Menschen, die ihn zuvor verraten haben, um nicht ein Leben lang auf der Flucht sein zu müssen. Zusammen mit Evelyn schmiedet er einen waghalsigen Plan.
„Nervosität und Furcht drohen ihn zu übermannen. Für Situationen dieser Art war er nicht geschaffen. Es gibt geborene Soldaten, und sie fühlen sich auf dem Schlachtfeld heimisch. Es gibt geborene Spione, und die sind in Moskau zu Hause. Er ist ein geborener Träumer und nirgends auf der Welt zu Hause. Er weiß nicht, wie er mit dieser Art Stress fertig werden soll, und obgleich er sich angestrengt bemüht, nach außen hin gelassen zu erscheinen, spürt er einen kleinen Gesichtsmuskel zucken. Außerdem vibriert sein gesamter Körper. Er stellt sich vor, dass er wie ein Mann aussieht, der auf dem elektrischen Stuhl stirbt, aber gleichzeitig davonzugehen versucht.“ (S. 239) 
Seit der amerikanische Drehbuchautor und Schriftsteller Ryan David Jahn für seinen bei Heyne Hardcore erschienenen Debütroman „Ein Akt der Gewalt“ mit dem Debut Dagger Award ausgezeichnet wurde, hat er mit „Der Cop“ und „Die zweite Haut“ weitere erstklassige Thriller präsentiert, die ihn zu einem neuen Stern am Thriller-Himmel avancieren ließen.
Nun legt er mit „Der letzte Morgen“ sein bislang epischstes und komplexestes Werk vor, das sich seit der ersten Seite vor allem um den Verlust von Unschuld dreht. Im Mittelpunkt der vielschichtigen Geschichte stehen weniger die großen Kontrahenten – Bezirksstaatsanwalt Markley auf der einen und Gangsterboss Manning auf der anderen Seite -, sondern deren Schachfiguren, die um ihre eigene Haut zu retten, auf einmal nicht mehr davor zurückschrecken, das Leben anderer Menschen auszulöschen. Das trifft sowohl auf den dreizehnjährigen Sandy zu, als auch auf Eugene Dahl, der es nicht geschafft hat, sich als Comic-Autor durchzusetzen und seinen Lebensunterhalt als Milchmann verdienen muss.
Doch auch die Nebenfiguren sind Jahn großartig gelungen. Hier sticht vor allem der Heroin-süchtige Cop Carl Bachman heraus, der seit dem Tod seiner Frau Naomi aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist und in einem Pensionszimmer lebt. Als er mit Sandys Mutter Candice eine Affäre beginnt, steht nicht nur seinem Liebesglück, sondern auch seiner Ermittlungsarbeit seine Drogensucht im Weg. Doch auch Evelyn und Eugene ist das Glück einer auf Vertrauen basierenden Beziehung nicht vergönnt. Wie Jahn mit all diesen Figuren und ihren Schicksalen jongliert, stellt sich als großartige Kunst dar.
„Ich wollte ein großes Buch schreiben, das etwas über Kindheit und Gerechtigkeit erzählt und über die Desillusionierung des Erwachsenwerdens – also darüber, was aus unseren Kindheitsträumen wird, wenn wir älter werden. Es sollte um Liebe und Hass gehen und um die Grauzone dazwischen, in der sich diese beiden Gefühle oft vermischen. Außerdem sollte sich das Buch episch anfühlen, obwohl es in nur einer Stadt und über einen relativ kurzen Zeitraum im Jahr 1952 spielt. Ich hoffe, das ist gelungen“, verrät der Autor im Interview auf randomhouse.de.
Leseprobe Ryan David Jahn - "Der letzte Morgen"

Joe R. Lansdale – „Akt der Liebe“

Samstag, 11. April 2015

(Heyne, 287 S., Tb.)
An einem Montag kurz nach Mitternacht findet der schwarze Säufer Smokey in einer Gasse des Houstoner Ghettos Pearl Harbor die schrecklich zerstückelte Leiche von Bella Louise, die ihm vor einer Stunde noch für fünf Dollar Erleichterung verschafft hat. Wenig später trifft auch Philip Barlowe am Tatort ein. Der Reporter unterhält im Houston Bugle mit „Houston: Crime Scene“ eine eigene erfolgreiche Kolumne und verweist in seiner Aufsehen erregenden Berichterstattung auf Insiderinformationen aus Polizeikreisen. Barlowe nennt den Killer Houston Hacker und sieht diesen in der Nachfolge Jack the Rippers. Der Hacker wendet sich mit Briefen sowohl an Barlowe als auch an die Cops und kündigt weitere Gräueltaten an.
Dem ermittelnden Detective Marvin „Gorilla“ Hanson kommt diese sensationslüsterne Zeitungsmache überhaupt nicht entgegen. Zusammen mit seinem Partner Joe Clark macht er sich auf die Jagd nach dem Hacker, der eine seltsame Erregung verspürt, wenn er sich an öffentlichen Orten an Frauen vergeht. Fast scheint es, als wolle er geschnappt werden. Hanson nimmt der Fall immer stärker mit. Er entfremdet sich von seiner Frau und Tochter, schläft kaum noch, treibt sich nachts auf den Straßen herum. Schließlich deutet alles darauf hin, dass der Killer es auch auf Hansons Familie abgesehen hat …
„Und langsam näherte sich sein Element, die Nacht, sie kroch heran, schwarzer Samt voller Geräusche der Stadt und ihrer Gerüche … und wie einzelne Diamanten, die auf der samtenen Dunkelheit lagen, waren da die Frauen. Huren, jede Einzelne von ihnen. Und wenn er könnte, wenn er genug Zeit hätte in einer Nacht, würde er sie alle vom Samt klauben und den Stoff ohne das Glitzern zurücklassen, voller Dunkelheit … und rotem, rotem Blut.“ (S. 103) 
Als Joe R. Lansdale 1981 „Akt der Liebe“ erstmals veröffentlicht sah, hat er die seiner Meinung nach eher mittelmäßigen Detektiv-, Western- und Science-fiction-Abenteuer hinter sich gelassen, an denen er sich zuvor versucht hatte, und eine Tür aufgestoßen, die den Weg beispielsweise zu Thomas Harris‘ „Hannibal“-Reihe und dem Slasher-Genre ebnen sollte. „Akt der Liebe“ präsentiert sich dabei als echter Rohdiamant. Mit ungeschliffener Sprache begleitet Lansdale in seinem stakkatoartigen Plot nicht nur einen soziopathischen Killer mit nekromantischen Neigungen bei seinem Blutrausch-Treiben, sondern beobachtet auch, wie diese abscheuliche Mordserie einen Cop an den Rand der Verzweiflung treibt. Und schließlich bekommt auch die Sensationsgier der Medien ihr Fett weg, die sich damit rechtfertigen, nur die Nachfrage ihres Publikums zu befriedigen.
Die Vernetzung von Verbrechen und ihrer Aufklärung, der Zersetzung von moralischen und familiären Werten sowie die Rolle der Medien bei diesem Zusammenspiel würden durchaus einen weitaus umfangreicheren, psychologisch fundierteren und atmosphärisch dichteren Roman nahelegen.
So wirkt „Akt der Liebe“ wie die erste Fingerübung eines Autors, der mittlerweile zu den ganz Großen seines Genres zählt, aber eine, die in ihrer Radikalität und Schärfe dem Leser den Geruch von Blut direkt in die Nase treibt. Ein Vorwort von Andrew Vachss und ein Nachwort von Lansdale selbst beschreiben den Stellenwert von „Akt der Liebe“ für das Horror-Genre und für die Entwicklung des Autors, der durch Heyne Hardcore endlich einer breiteren Leserschaft bekannt gemacht wird.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Akt der Liebe"

Håkan Nesser – „Die Lebenden und Toten von Winsford“

Mittwoch, 8. April 2015

(btb, 462 S., HC)
Im November mietet eine 55-jährige Schwedin unter dem Namen Maria Anderson mit ihrem Hund Castor für sechs Monate ein Haus in dem britischen Heidestädtchen Winsford. Als sie dort angekommen ist, blickt sie auf ihr bisheriges Leben als Frau des Schriftstellers Martin Holinek zurück, der sich im Oktober noch mit seinem Verleger Eugen Bergman getroffen hat, mit dem er ein vielsprechendes Projekt diskutierte. Darin spielen die Sommer Ende der 1970er, die Martin in Griechenland innerhalb einer Schriftsteller-Kommune um das promintente Autorenpaar Tom Herold und Bessie Hyatt verbracht hat, eine zentrale Rolle.
In der Abgeschiedenheit der englischen Heide, in der sich Maria bald mit dem einheimischen Mark Britton anfreundet, geht Maria Anderson die handschriftlichen Aufzeichnungen ihres Mannes zu den offensichtlich so interessanten Jahren durch, aber davon abgesehen geht es der Schriftsteller-Gattin vor allem darum, mit ihrer Vergangenheit abzuschließen, die einige tragische Höhepunkte zu verzeichnen hat.
Was an ihr aber vor allem nagt, ist die auch in den Medien diskutierte Vergewaltigung, derer ihr Mann angeklagt wurde.
„Ich hatte auf diesem polnischen Strand mein altes Leben abgestreift; so beiläufig, wie man den Knochen eines Hähnchens bricht, hatte ich einen Schlussstrich darunter gezogen. Hatte jede Lebensbedingung bis in ihre kleinsten Bestandteile hinein verändert. Oder etwa nicht? Wenn man so wollte, konnte man natürlich genauso behaupten, dass es Martin war, der diesen Schlussstrich herbeiführte, als er in einem Hotel in Göteborg diese Kellnerin vergewaltigte – oder zumindest sein Sperma auf ihrem Bauch hinterließ.“ (S. 180f.) 
Anderson verfolgt einen teuflischen Plan. Sie beantwortet über Martins Mail-Account seine Mails und lässt seine Kontakte glauben, dass er mit seiner Frau in Marokko an seinem neuen Werk arbeite. Doch dann wird Maria Anderson mit Vorkommnissen konfrontiert, die sie an ihrem Vorhaben zweifeln lassen: erst findet sie im Abstand von wenigen Tagen zwei tote Fasane vor ihrer Tür vor, dann verschwindet ihr Hund spurlos. Und irgendwie fühlt sich die Schwedin von einem Unbekannten verfolgt …
Dass der schwedische Erfolgsautor Håkan Nesser mit „Die Lebenden und Toten von Winsford“ keinen konventionellen Krimi abliefert, wird schon nach wenigen Seiten deutlich, als sich die Ich-Erzählerin, die sich unter falschem Namen in der südenglischen Moor- und Heidelandschaft von Exmoor niederlässt, vorstellt und sukzessive die Vergangenheit in ihren Erinnerungen heraufbeschwört. In dieser Hinsicht braut sich einiges zusammen, denn wie sich herausstellt, musste die 55-Jährige in ihrem Leben einige bittere Pillen schlucken. Und wie sich das Puzzle allmählich zusammenfügt, wird auch verständlich, warum es die Schwedin in die Einöde des entfernten England gezogen hat, und er erklärt ihre Handlungsweise.
Nesser erweist sich dabei als sorgsamer Erzähler, der sich viel Zeit nimmt, seine Ich-Erzählerin einzuführen, zwischen Gegenwart und verschiedenen wegweisenden Episoden aus der Vergangenheit zu wechseln, um allmählich Licht in das nebelverhangene Dunkel zu bringen.
Klassische Krimi-Fans mögen von dem unkonventionellen Plot vielleicht gelangweilt werden, aber Liebhaber skandinavischer Spannungsliteratur dürften die stimmungsvoll erzählte Geschichte, bei der die psychischen Befindlichkeiten der Erzählerin wunderbar mit der unheimlichen Landschaft korrelieren, mehr als zu schätzen wissen.
Leseprobe Håkan Nesser - "Die Lebenden und Toten von Winsford"

Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 10) „Todeszimmer“

Sonntag, 5. April 2015

(Blanvalet, 608 S., HC)
Kaum hat Lincoln Rhyme eines Morgens Besuch von Bill Myers, Captain der jüngst eingerichteten Special Services Division des NYPD, und der stellvertretenden Bezirksstaatsanwältin Nance Laurel erhalten, stecken er, Amelia Sachs und Lincolns ehemaliger Partner Lon Sellitto schon wieder in einem äußerst heiklen Fall: Der in Venezuela aufgewachsene US-Bürger Roberto Moreno, der sich als lautstarker Gegner der imperialen US-Wirtschaftspolitik viele Feinde in der USA gemacht hat, wurde während eines Interviews in einem Hotel auf den Bahamas erschossen, der Journalist und Morenos Leibwächter kamen bei dem Attentat ebenfalls um.
Zwar wird der Anschlag offiziell den südamerikanischen Drogenkartellen zugeschrieben, doch Laurel vermutet, dass Morenos Ermordung auf Anweisung des National Intelligence and Operation Service (NIOS) erfolgt ist, einer neuen geheimdienstähnlichen Institution, die bei der Liquidierung von Amerika-Gegnern offensichtlich auch Kollateralschäden in Kauf nimmt. Laurel hat dabei nicht nur NIOS-Chef Shreve Metzger, sondern durchaus aus höhere Regierungsvertreter im Visier.
Doch die Ermittlungen erweisen sich als schwierig, denn offensichtlich handelte der Auftragskiller nicht allein. Als Ermittlungs-Spezialist Lincoln Rhyme unter schwierigsten Bedingungen endlich den Tatort auf den Bahamas in Augenschein nehmen will, sind die wichtigsten Beweise in dem sogenannten „Todeszimmer“ längst entsorgt worden.
Erst bei der genauen Analyse der Obduktionsberichte kommt Lincoln dem eigentlichen Motiv auf die Spur. Allerdings scheinen die Täter den Ermittlern immer eine Spur voraus zu sein und das ohnehin gefährliche Leben von Lincoln und Amelia auf eine harte Probe zu stellen.
„Sachs und Rhyme lebten beide riskant – sie wegen des gefährlichen Jobs und ihrer Leidenschaft für Geschwindigkeit, er wegen seiner körperlichen Verfassung. Vielleicht, nein vermutlich wurde ihr Zusammenleben dadurch intensiver, ihre Verbindung enger. Und meistens akzeptierte sie diesen Umstand. Doch nun, da Rhyme weg war und sie einen besonders schwierigen Schauplatz untersuchte, bei dem der Täter genau über sie Bescheid wusste, konnte sie nicht anders, als sich vor Augen zu führen, dass sie immer nur einen Pistolenschuss oder einen Herzschlag davon entfernt waren, auf ewig allein zu sein.“ (S. 278f.)
Im zehnten Band der prominenten Lincoln-Rhyme/Amelia-Sachs-Reihe, deren erster Band „Der Knochenjäger“ ebenso erfolgreich 1999 von Phillip Noyce mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen verfilmt worden ist, haben es der querschnittsgelähmte Lincoln Rhyme und seine Ermittlungs- wie Lebenspartnerin Amelia Sachs wieder mit einem äußerst schwierigen Fall zu tun, bei dem die Beweislage alles andere als vielversprechend aussieht und die Ermittlungen durch eine überaus ehrgeizige Staatsanwältin und einen raffinierten Killer nicht gerade gefördert werden.
Wie Jeffery Deaver den komplexen Plot aufbaut, ist ebenso beachtenswert wie sein Talent, die Spannung auf immerhin 600 Seiten gekonnt sukzessive aufzubauen und die Spurensuche und deren Analyse immer wieder in eine neue Richtung zu lenken. Nebenbei kommt auch das Privatleben von Rhyme und Sachs etwas zur Sprache. Hier hätte Deaver allerdings etwas mehr preisgeben können als Rhymes bevorstehende Operation und die zunehmenden Probleme, die Sachs‘ Arthrose bei der Ausübung ihres Dienstes bereitet.
Davon abgesehen bietet „Todeszimmer“ aber einen gewohnt grandios inszenierten, packend geschriebenen Kriminalfall, der das gesamte Potenzial des genialen Ermittler-Duos beansprucht.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Todeszimmer"

John Katzenbach – „Der Psychiater“

Freitag, 3. April 2015

(Droemer, 573 S., HC)
Nach 99 trockenen Tagen befürchtet der Historiker Timothy Warner, wieder rückfällig zu werden, weshalb er sich mit seinem Onkel zum Treffen der Anonymen Alkoholiker in der First Redemption Church verabredet. Als dieser aber nicht in der Redeemer One, wie sie die Kirche scherzhaft nennen, auftaucht, macht sich Moth, wie Timothy seit der Highschool genannt wird, auf dem Weg zur Praxis seines Onkels und trifft ihn erschossen in seinem eigenen Blut liegend vor. Auch wenn die Polizei unter Leitung der Staatsanwältin Susan Terry, die wegen ihres Kokain-Problems ebenfalls zu den AA-Treffen in der Redeemer One geht, von einem Selbstmord ausgeht, ist sich Moth ebenso sicher, dass sein Onkel ermordet wurde.
Weil er nicht weiß, wie er seinen Plan, den Mörder zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, umsetzen soll, wendet sich Moth an seine Ex-Freundin Andrea, die nach dem Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft selbst nicht ganz bei sich ist. Bei ihren Recherchen stoßen sie bald auf weitere Fälle, in denen Studienkollegen von Timothys Onkel unter ähnlich mysteriösen Umständen zu Tode gekommen sind.
Von Jeremy Hogan, dem damaligen Dozenten der vier betroffenen Psychiater, erhoffen sich Moth und Andy endlich die Hinweise, die sie zum bislang so cleveren Killer führt.
„Moth wusste nicht weiter. Fieberhaft überlegte er, wie er das Gespräch fortsetzen sollte. Die Fragen, die er an Professor Hogan hatte, kamen alle auf einmal und steckten ihm im Halse fest. Er suchte nach Antworten und brachte kein Wort heraus. So sicher er war, sich auf der richtigen Spur zu befinden, hatten ihm alle befragten Personen bisher nicht die ersehnten Fakten oder Zeugen liefern können. Doch die Stimme in der Leitung war anders. Sie hatte Gewicht.“ (S. 240) 
Schließlich können Moth und Andy auch Susan Terry dazu bewegen, den Fall noch einmal zu untersuchen und sie bei der Suche zu unterstützen. Es hat den Anschein, als jagten sie ein Phantom. Doch das hat schon längst die Fährte seiner Verfolger aufgenommen …
Der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach hat sich mit Bestsellern wie „Der Patient“ und „Die Anstalt“ in die erste Liga amerikanischer Spannungsautoren geschrieben. Wie in seinen vorangegangenen Werken entwickelt Katzenbach auch in seinem neuen Psychothriller „Der Psychiater“ vom ersten Satz an einen Sog, dem man sich nicht mehr entziehen kann. Im Gegensatz zu spektakulären Wendungen, die seine Kollegen zum Finale hin oftmals konstruieren, um die Spannungsschraube noch mal anzuziehen, darf sich Katzenbach ganz auf sein Geschick verlassen, die ausgefeilte Psychologie seiner Figuren in der Arena auf sich wirken zu lassen.
Vor allem im zweiten Teil, der treffenderweise mit „Wer ist die Katze und wer die Maus“ untertitelt ist, ist es spannend zu verfolgen, wie die mit ihren eigenen Problemen kämpfenden Moth und Andy gemeinsam zu einem effizienten Team werden, mit dem der Killer zu rechnen hat.
Auch wenn die Umstände ihrer Ermittlungen manchmal etwas unglaubwürdig wirken, ist das Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden Jung-Akademikern und dem ominösen „Student Nr. 5“ fesselnd geschrieben, wobei Katzenbach vor allem die psychologischen Motivationen gut herausgearbeitet hat und seinen Leser so einen packenden Pageturner präsentiert.
Leseprobe John Katzenbach - "Der Psychiater"

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck 6) „Verheißung“

Donnerstag, 2. April 2015

(dtv, 596 S., HC)
Der Anruf eines Kollegen von der Insel Bornholm hält Carl Mørck davon ab, sein geplantes Nickerchen zu halten. Doch bevor Christian Habersaat sein Anliegen überhaupt vorbringen kann, wimmelt ihn der Leiter des Sonderdezernats Q im Polizeipräsidium von Kopenhagen schon ab. Einen Tag später erschießt sich Habersaat bei seiner Verabschiedung im Bürgerhaus von Listed und ruft nun doch Mørck und seine beiden Assistenten Rose und Assad auf den Plan. Als sie vor Ort Habersaats Wohnung untersuchen, stoßen sie auf einen Fall, der den Verstorbenen offensichtlich siebzehn Jahre lang beschäftigt hat.
Im November 1997 ist nämlich die hübsche wie junge Alberte Goldschmid kopfüber in einem Baum hängend tot aufgefunden wurden. Der Fahrer, der offensichtlich Unfallflucht begangen hatte, ist nie ausfindig gemacht worden. Bei ihren Nachforschungen stoßen Mørck und sein Team auf Geschichten, in denen auf der einen Seite die verstorbene Alberte allerhand Männern den Kopf verdreht hat, auf der anderen Seite scheint es einen spirituellen Anführer gegeben zu haben, der mit seinem Charisma und seinem blendenden Aussehen ebenfalls allerlei Frauenherzen eroberte. Allerdings bekommen Mørck & Co. nicht mehr als den Namen Frank in Verbindung mit dem Guru heraus, aber offensichtlich erscheint, dass die Begegnung von Alberte und Frank tödliche Konsequenzen nach sich trug …
„,In mir macht sich immer mehr das Gefühl breit, dass wir auf der richtigen Spur sind. Habersaat hatte recht. Ich kann mir vorstellen, dass Frank größenwahnsinnig wurde. Empfand sich vielleicht als eine Art Messias. Und es lief ja alles wie gewünscht – bis diese Alberte dazwischenkam.‘
‚Wie meinst du das?‘
,Dass sie für ihn aus irgendeinem Grund zum Klotz am Bein wurde. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit, allerdings eine ziemlich schreckliche: Vielleicht sollte Alberte geopfert werden? Ein Mord, von dem Frank und seine Kommunarden nicht wollten, dass man ihn mit dem Sonnenkult in Verbindung bringt. Ein Sonnenopfer, das bezeichnenderweise genau in dem Moment dargebracht wurde, als die Sonne aufging.‘“ (S. 434) 
Bereits zum sechsten Mal ermitteln Carl Mørck und seine Mannschaft vom Sonderdezernat Q in einem alten Fall. Der wird aber erst durch den Selbstmord eines entfernten Kollegen wieder untersucht, und Mørcks Truppe hat einiges zu tun, die Umstände eines vermeintlichen Unfalls zu rekonstruieren, in den offensichtlich eine Truppe von Hippies und spirituellen Heilsuchenden verwickelt gewesen sind, deren Anführer sich einen merkwürdigen Namen zugelegt hat.
Daneben hat Mørck auch noch mit dem Tod seines Cousins Ronny zu tun und am Rande auch mit dem Fall, der Carl und seinen alten Kollegen Hardy für immer verändert hat.
Wie gewohnt bezieht ein Krimi aus der Mørck-Reihe seinen Unterhaltungswert nicht allein aus den besonderen Umständen, einen uralten Fall wieder aufzurollen, was die Spuren- und Zeugensuche zu einer echten Herausforderung machen, sondern auch aus den besonderen Bedingungen, unter denen Mørck, Assad und Rose miteinander umgehen und die regelmäßig für den knackigen Wortwitz sorgen, der die „Sonderdezernat Q“-Reihe so einzigartig macht.
Davon abgesehen gewährt „Verheißung“ interessante Einblicke in die schwedische Hippieszene und die Mechanismen, mit denen charismatische Männer zu spirituellen Führern werden.
Dass die Schnitzeljagd nach Beweisen und Zeugen so einige irrige Annahmen hervorbringt und zu einem überraschenden Finale führt, macht den sechsten Fall für das Sonderdezernat Q zu einer spannenden Lektüre, bei der sich psychologische Elemente, trockener Humor und eine souveräne Erzählweise wunderbar verdichten.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Verheißung"

John Williams – „Butcher’s Crossing“

Mittwoch, 1. April 2015

(dtv, 365 S., HC)
Nach drei Jahren auf dem College in Harvard zieht es den jungen Will Andrews um 1870 von Ellsworth in die Kleinstadt Butcher’s Crossing, Kansas, wo er mit dem Fellhändler J.D. McDonald einen flüchtigen Bekannten seines Vaters aufsucht und dann mit dem Jäger Miller einen Mann anheuert, der einen Trupp zum Büffeljagen zusammenstellt. Auf diese Weise hofft der junge Mann, das Land kennenzulernen und wie Ralph W. Emerson eine „ursprüngliche Beziehung zur Natur“ aufzubauen.
Während Miller einen Wagen, Ochsen und Vorräte besorgt, freundet sich Andrews mit der Hure Francine an, die dem jungen Mann voraussagt, dass er nicht mehr so jung zurückkommen würde wie er jetzt sei, sondern von den gesammelten Erfahrungen älter und vor allem rauer. Ende August brechen Miller, Andrews, der gottesfürchtige Kutscher Charley Hoge und der deutschstämmige Häuter Schneider in die Colorado Rockies auf, wo Miller vor einigen Jahren riesige Büffelherden gesehen hat.
Besonders für den unerfahrenen Andrews erweist sich die Reise als strapaziös.
Dennoch genießt Andrews den Trip, das Antreiben der Ochsen, das Aufschlagen der Lager, die Gespräche mit den Männern, die schon so viel gesehen und erlebt oder im Falle von Hoge sogar eine Hand verloren haben. Zwischenzeitlich verliert Miller die Orientierung, das Wasser wird knapp, doch schließlich entdecken sie eine mehrere Tausend Büffel umfassende Herde, die Miller nach präzisem Plan in den kommenden Wochen drastisch reduziert. Andrews ist so fasziniert von dem Abenteuer, dass er seine frühere Welt völlig vergisst.
„ … er konnte sich weder an die Berge erinnern, die sie sich heraufgequält hatten, noch an die ausgedehnten Ebenen, über die sie sich durstig und verschwitzt geschleppt hatten, auch nicht an Butcher’s Crossing, das er erst vor wenigen Wochen kennengelernt und gleich wieder verlassen hatte. Jene Welt tauchte nur in unregelmäßigen, undeutlichen Bildern vor ihm auf, verbogen wie in einem Traum. Den Teil seines Lebens nämlich, auf den es ankam, hatte er zur Gänze hier in diesem hohen Tal verbracht, und wenn er darüber hinblickte – die gelbgrüne Weite, die hohen Berghänge mit dem tiefen Grün der Kiefern, durchzogen vom flammend hellen Rotgold herbstlicher Erlen, die aufragenden Felsen und Bergkuppen, allesamt überdacht vom intensiven Blau des dünnluftigen Himmels -, dann war ihm, als würden die Konturen der Gegend vor seinen Augen verschwimmen, als formte sein Blick, was er sah, und verhülfe seinerseits der eigenen Existenz erst zu Form und Ort.“ (S. 214) 
Doch dem Staunen über die Schönheit der Natur, die ihn völlig gefangen nimmt, folgt bald das Entsetzen, als das Wetter einen dicken Strich durch die ursprünglichen Reisepläne macht und die Männer um ihr Leben fürchten müssen …
Gerade mal vier Romane hat der in Englische Literatur promovierte amerikanische Schriftsteller John Edward Williams (1922 – 1994) geschrieben, ein fünfter blieb unvollendet. Das ist umso tragischer, als dass uns Williams großartige Literatur hinterlassen hat.
Nachdem der Deutsche Taschenbuch Verlag 2013 „Stoner“ als deutsche Erstveröffentlichung präsentierte, folgt nun mit „Butcher’s Crossing“ ein weiterer Meilenstein der Literaturgeschichte, ein Western, wie ihn sonst nur Cormac McCarthy („All die schönen Pferde“) schreiben könnte, einen Abgesang auf eine Zeit, die nie wiederkommt und deren Helden sich noch nicht verabschieden wollen.
Dass „Butcher’s Crossing“ dabei so eine archaische Wucht entfaltet, liegt an den großen Themen, die seine Figuren bewegen, hier der Jüngling, der eine akademische Karriere aufgibt, um das wahre Leben und die Natur kennenzulernen, dort der einfache Fellhändler, der darauf hofft, dass das Schienennetz der Eisenbahn nach Butcher’s Crossing führt und sein bislang wertloses Land zu einer guten Kapitalanlage werden lässt; das Mädchen, das der großen Stadt entflohen ist und sich auf ein ruhigeres Leben und sanftere Männer in der Einöde eingerichtet hat; der Jäger, der von Blut- und Geldgier angetrieben keine Grenzen kennt.
Williams verwendet viel Raum und Zeit dafür, die Welt zu beschreiben, in der Miller, Andrews & Co die letzten Büffel dieser Welt jagen, und das Buch wirkt wie das Testament einer verlorenen Zeit, als Menschen noch wochenlang durch die Prärie reiten konnten, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dass sich die Jäger am Ende ihrer eigenen Lebensgrundlage berauben, gehört zu den bitteren Erkenntnissen von Männern, die sich mit dem Anbruch einer neuen Zeit und den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus auseinandersetzen müssen. Das beschreibt Williams in einer so bildhaften Sprache, dass sich „Butcher’s Crossing“ wie ein Film vor den Augen des Lesers entfaltet.
Leseprobe John Williams - "Butcher's Crossing"

Richard Laymon – „Der Killer“

Montag, 30. März 2015

(Heyne, 288 S., Tb.)
Seit dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren führt Elsie Hoffman den kleinen Supermarkt in Oasis allein. Als sie in der Bar Golden Oasis die Journalistin Lacey Allen von der Oasis Tribune trifft und sie danach fragt, ob sie an Geister glaubt, wird sie von einem Kunden angesprochen, dass er merkwürdige Geräusche aus ihrem geschlossenen Laden vernommen habe. Wie sich herausstellt, hat sich jemand an der Fleischtheke gütlich getan. Wenig später wird die Ladenbesitzerin von Lacey bestialisch ermordet in ihrem Geschäft aufgefunden, sie selbst von einem unsichtbar erscheinenden Mann vergewaltigt.
Völlig verstört flüchtet Lacey nach Tucson, wo sie im Desert Wind Hotel auf den charismatischen Schriftsteller Scott Bradley trifft, dem sie die unglaubliche Geschichte erzählt, dass sie sich von einem Unsichtbaren verfolgt glaubt. Gemeinsam bringen sie den unsichtbaren Mann in ihre Gewalt und erfahren von ihm, dass er Elsies Sohn Sammy ist, der durch den Kontakt zu einer obskuren Gesellschaft für spirituelle Erleuchtung unsichtbar gemacht und zu einem Killer abgerichtet worden ist. Nun setzt die GSE unter der charismatischen Führung von Laveda alles daran, ihren abtrünnigen Killer wieder in ihre Gewalt zu bringen. Für Lacey bedeutet das, sich von ihrem alten Leben zu verabschieden.
„Die Stelle bei der Tribune war bequem und sicher, doch sie verspürte oft eine innere Unruhe und hatte schon darüber nachgedacht, in L.A. oder San Francisco eine größere Herausforderung anzunehmen. Nur die Trägheit hielt sie zurück. Warum sollte sie das sichere, gewohnte Leben in Oasis verlassen und sich ins Ungewisse stürzen? Irgendwann vielleicht. Irgendwann würde sie sich einfach auf und davon machen. Allein, wenn es sein musste. Aber sie hatte sich immer vorgestellt, eines Tages würde ein Mann kommen, ihre Hand nehmen und sie in ein neues Leben führen. Dieser Mann war anscheinend Sammy Hoffman. Aber er führte sie nicht in ein neues Leben, er schleifte sie schreiend hinter sich her.“ (S. 169f.) 
Mit „Der Killer“ veröffentlicht Heyne Hardcore ein Frühwerk des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon als deutsche Erstveröffentlichung. Lassen sich die gut dreißig Romane des „Stephen King ohne Gewissen“ zur Hälfte in die Kategorie „übernatürlicher Horror“ einordnen, gehört das ursprünglich 1985 unter dem Titel „Beware“ veröffentlichte Buch „Der Killer“ eindeutig dazu.
Dabei beziehen Laymons Werke gerade ihren Reiz aus der Konstellation, dass in zunächst idyllisch erscheinende amerikanische Kleinstädte das Böse in Form realer Menschen hereinbricht, die ohne Rücksicht auf Verluste töten und vergewaltigen, dass sich niemand mehr in Sicherheit wiegen kann.
Diese archaische Wucht geht „Der Killer“ zwar dadurch verloren, dass er eine obskure Sekte ins Spiel bringt, die ihre Anhänger auf rituelle Weise gefügig macht und durch ein besonders abstoßendes Ritual Menschen sogar unsichtbar machen kann, dass Auftragsmorde leichter auszuführen sind, aber Laymon hat es schon immer verstanden, seine Leser durch eine unnachahmliche Mischung aus brutaler Gewalt und hemmungslosem Sex zu fesseln. Dabei helfen ihm sein dialoglastiger Plot, ein handlungsorientierter Spannungsaufbau und eine schlichte, aber visuell anregende Sprache, so dass die absurde Ausgangssituation bald in den Hintergrund rückt und der Leser im Hier und Jetzt mit den Figuren um ihr Leben bangt. Dieses Erfolgskonzept funktioniert auch bei „Der Killer“ vom Anfang bis zum blutfülligen Finale.
Leseprobe Richard Laymon - "Der Killer"

Ryan Bartelmay – „Voran, voran, immer weiter voran“

(Blessing, 431 S., HC)
Als Chic Waldbeeser im September 1950 in Middleville, Illinois, seine Highschool-Liebe Diane von Schmidt zur Frau nimmt, bietet ihm seine indische Schwägerin Lijy noch auf der Feier eine Rückenmassage an. Eigentlich will Lijy ihrem betrunkenen Mann Buddy nur eins auswischen, doch Chic ist von der exotischen Frau so angetan, dass er ihr immer wieder auflaurt und es zu einer schweren Krise zwischen Chic und seinem Bruder kommt.
Damit setzt sich eine tragische Familiengeschichte fort, die damit anfing, dass ihre Mutter mit einem gewissen Tom McNeeley durchgebrannt war und sich ihr Vater hinter die Scheune setzte, um dort zu erfrieren. Statt sich um seinen kleinen Bruder zu kümmern, ging Buddy seiner eigenen Wege. Darunter leidet auch Lijy, die oft nicht weiß, wann Buddy von seinen undurchsichtigen Geschäften mit seinen Goldmünzen zurückkehrt, und sich einsam fühlt. Chic hofft, Lijys Einsamkeit für sich ausnutzen und sie verführen zu können, stattdessen lässt sich seine Schwägerin auf eine Affäre mit einem anderen Mann ein, wird schwanger und bittet Chic, seinem Bruder zu erzählen, dass er der Vater sei. Als sich sowohl sein Bruder als auch seine Frau zunehmend von ihm entfremden, beginnt Chic – von einer 18-jährigen Bibliothekarin ermutigt -, kurze Gedichte zu verfassen, die Haikus ähneln und seinem desillusionierten Leben entspringen.
„Wenn Sie Glück haben, wird jemand Sie lieben. Diesen Menschen werden Sie enttäuschen. Der Mensch, der Sie liebt, wird Sie eines Tages vielleicht hassen, und Sie können nichts dagegen machen. Auch wenn Sie es versuchen. Und Sie werden es versuchen. Wahrscheinlich wissen Sie das alles schon. Und darum geht es in diesen Gedichten. Das Schlimmste ist, dass Sie es nicht aufhalten können. Nichts davon. Das Leben hat seine eigene Dynamik. Voran, voran, immer weiter voran.“ (S. 296f.) 
Doch die Dynamik des Lebens beschert Chic doch noch eine zweite Chance. Mit der ehemaligen Profi-Pool-Billard-Spielerin Mary Geneseo, die mit ihren Männern Lyle und Green auch nicht glücklich werden konnte, will Chic nach Florida …
„Jeder Idiot kann eine Krise meistern; es ist der Alltag, der uns zermürbt.“ Mit diesem Zitat von Anton Tschechow leitet der in Chicago lebende und arbeitende Ryan Bartelmay seinen Debütroman „Voran, voran, immer weiter voran“ programmatisch ein und folgt den Lebenswegen, Erinnerungen, Krisen und Katastrophen der beiden ungleichen Brüder Buddy und Chic Waldbeeser über einen Zeitraum von fünfzig Jahren.
Episodenhaft springt der Autor zwischen den Jahren hin- und her und beschreibt den alltäglichen Kampf seiner ganz normalen Figuren gegen die Widrigkeiten des Lebens, die sich mal in unerwiderten und unausgesprochenen Gefühlen, mal aber auch in der Verarbeitung dunkler Geheimnisse und falschen Entscheidungen ausdrücken. Sowohl die Männer als auch die Frauen in Bartelmays eindrucksvoll und feinfühlig geschriebenen Werk hadern zwar mit ihren Gefühlen und Entscheidungen, scheinen aber selten über ihren Schatten springen zu können, um die Dinge zu ihren Gunsten zu verändern. Es ist tatsächlich der Alltag, der die Waldbeesers und Geneseos dieser Welt zermürbt, aber wenn sich die Menschen darauf besinnen, was ihnen wirklich wichtig ist, was sie von Herzen wollen, findet sich ein Weg.
Mit dieser hoffnungsvollen Botschaft entlässt Bartelmay seine Leser am Ende seines epischen Familienromans, der ebenso zum Nachdenken wie zum Schmunzeln anregt.
Leseprobe Ryan Bartelmay - "Voran, voran, immer weiter voran"

John Grisham – „Anklage“

Sonntag, 29. März 2015

(Heyne, 511 S., HC)
Nicht mal zwei Wochen nach dem Kollaps von Lehman Brothers bekommt auch die ambitionierte Anwältin Samantha Kofer die Nachwehen der Immobilienkrise zu spüren. Drei Jahre nachdem sie bei Scully & Pershing, der größten Anwaltskanzlei der Welt angefangen hatte, wird sie von ihrem Chef Andy Grubman mit sofortiger Wirkung freigestellt. Sie nimmt allerdings das Angebot an, ein Jahr ohne Gehalt, aber mit Krankenversicherung bei S&P unter Vertrag zu bleiben, wenn sie in dieser Zeit für eine ausgewählte gemeinnützige Organisation tätig wird.
Samantha verschlägt es schließlich zur Mountain Law Clinic in Brady, wo sich Mattie Wyatt und ihre Leute um Menschen kümmern, die sich keinen Anwalt leisten können. Die Kleinstadt lebt vor allem vom Kohleabbau, leidet unter hoher Arbeitslosigkeit und noch höherem Meth-Missbrauch.
Zunächst fühlt sich Samantha noch etwas unsicher in einem juristischen Bereich, der ihr im Vergleich zu den drögen Immobiliengeschäften in New York dann immer mehr zusagt. Schließlich hilft sie hier Menschen mit echten Problemen, Bergarbeitern, die sich buchstäblich zu Tode schuften, wenn sie sich erst eine unheilbare Staublunge einfangen und dann von den Kohleunternehmen vor die Tür gesetzt werden, wenn sie ihre Arbeit nicht mehr erledigen können.
Sie übernimmt den Fall des schwer erkrankten Buddy Ryzer, der bereits seit 1997 an einer Staublunge leidet und entsprechende Entschädigungsleistungen bei Lonerock Coal beantragt, doch ließen die Anwälte von Casper Slate eigene Gutachter den Gesundheitszustand von Ryzer überprüfen und den entscheidenden Beweis verschwinden. Wie rigide diese Anwälte arbeiten, muss Samantha bald am eigenen Leib erfahren, denn Matties Neffe Donovan Gray hat seinerseits Beweise entwendet, die das kriminelle Verhalten der Kohleindustrie dokumentieren. Diese hetzen nicht nur das FBI auf die Kanzlei von Donovan und die Mountain Law Clinic, sondern schrecken auch vor der Inszenierung tödlicher Unfälle nicht zurück …
Zusammen mit ihrem Vater, der sich nach dem Verlust seiner Anwaltslizenz und dem Absitzen einer Haftstrafe auf Prozessfinanzierung spezialisiert hat, und ihrer Mutter, die als leitende Juristin im Washingtoner Justizministerium ein paar Hebel in Gang setzt, kämpft Samantha für das Recht ihrer hilfsbedürftigen Mandanten. Es gibt so viel zu tun, dass Donovan ihr sogar einen Job in seiner Kanzlei anbietet, was sie aber wiederholt ablehnt.
„Sie erinnerte ihn daran, dass (a) sie sich immer noch nicht für Schadenersatzklagen erwärmen konnte und nicht nach einem Job suchte, (b) sie nur auf der Durchreise und sozusagen eine Leihgabe war, bis sich der Staub in New York wieder gelegt hatte und sie wusste, wie die nächste Phase ihres Lebens aussah, die aber ganz sicher nichts mit Brady, Virginia, zu tun haben würde, und (c) sie eine Verpflichtung gegenüber der Law Clinic eingegangen war und richtige Mandanten hatte, die sie brauchten.“ (S. 290) 
John Grisham hat in den meisten seiner anfangs auch oft verfilmten Bestseller („Die Firma“, „Die Jury“) immer wieder den Kampf des kleinen Mannes gegen übermächtig erscheinende Konzerne thematisiert. In seinem neuen Roman „Anklage“ ist es die Kohleindustrie, die sich mit unlauteren Mitteln gegen jede Art von Entschädigungszahlungen gegenüber Bergarbeitern zu drücken versucht, die nachweislich an Staublunge erkrankt sind und einen langsamen, qualvollen Tod zu erwarten haben.
Grisham bleibt sich auch seiner Gewohnheit treu, diesen aussichtslos erscheinenden Kampf von Anwälten ausfechten zu lassen, die kaum die nötige Erfahrung besitzen, um die juristischen Spitzfindigkeiten anwenden zu können, die bei so langwierigen Prozessen eine nicht unerhebliche Rolle spielen, aber auch in „Anklage“ bringt der amerikanische Bestseller-Autor eine junge Anwältin ins Spiel, die ihre mangelnde Erfahrung durch ihr empathisches Wesen, durch Kampfgeist und Leidenschaft wettmacht.
Grisham konstruiert „Anklage“ dabei weniger als konventionellen Thriller, bei dem sich die Spannung sukzessive aufbaut, sondern fast schon als eindringliche Milieustudie einer kleinen Bergarbeiterstadt, wobei die Beschreibung des Arbeitsalltags in einer Non-Profit-Kanzlei viel Raum einnimmt. Er beschränkt sich dabei auf wenige Fälle und Figuren, schafft es aber so, den Leser stärker an das Schicksal der armen Leute zu binden, denen auf unrechtmäßige Weise der Schadenersatz versagt wird.
„Anklage“ erweist sich nicht unbedingt als Pageturner, ist aber wie immer gut geschrieben und macht einmal mehr eindringlich auf Missstände im amerikanischen Justiz- und Wirtschaftssystem aufmerksam.
Leseprobe John Grisham - "Anklage"

Stephen King – „Revival“

Freitag, 27. März 2015

(Heyne, 511 S., HC)
An einem Samstag im Oktober 1962 bereitet der sechsjährige Jamie Morton im Vorgarten eine große Schlacht mit seinen Spielzeugsoldaten vor, die er von seiner Schwester Claire zum Geburtstag bekommen hat, macht er die Bekanntschaft mit dem neuen Pfarrer der neuenglischen Gemeinde in Harlow, Charles Jacobs. Der Methodistenprediger gewinnt nicht nur sofort Jamies Herz, sondern auch der Kirchgänger. Vor allem die Jugendlichen sind begeistert, wenn Jacobs in seinen Bibelstunden die vorgetragenen Geschichten mit elektrischen Spielereien eindrucksvoll veranschaulicht. Dass hinter diesen Aufsehen erregenden Vorführungen mehr steckt, erfahren die Mortons, als Jamies Bruder Conrad seine Stimme verliert und Dr. Renault mit seinem Arztlatein am Ende ist. Dem experimentierfreudigen Prediger gelingt es nämlich, Conrad mit seiner Versuchsanleitung wieder die Stimme zurückzugeben.
Doch bevor Jacobs in der Gemeinde weitere Wunder wirken kann, werden seine Frau und sein Sohn bei einem Autounfall getötet. Jacobs hält eine letzte flammende wie gotteslästernde Predigt und verlässt die Stadt für immer. Doch die Wege von Jamie und Jacobs sollen sich über die Jahrzehnte immer wieder kreuzen. Jamie legt eine Karriere als drogenabhängiger Musiker hin und trifft Jacobs auf einem Jahrmarkt, wo er das Publikum mit seinen Portraits in Blitzen fasziniert.
Durch eine Freundin erfährt Jamie, dass Jacobs immer wieder mal Wunderheilungen durchgeführt hat, dass dabei aber auch unerwartete Nebenwirkungen mit manchmal tödlichem Ausgang aufgetreten sind. Zwar wird auch Jamie von seiner Abhängigkeit geheilt, doch selbst nach fast fünfzig Jahren beschleicht ihn noch immer ein schauriges Gefühl, wenn er sich in der Nähe des Mannes befindet, der hinter der geheimen Elektrizität offenbar ein größeres Geheimnis zu entdecken hofft …
„Ich war ihm dankbar, doch da ich mich an die Schrecken der Heroinabhängigkeit nicht mehr richtig erinnern konnte (wahrscheinlich so ähnlich, wie eine Frau sich nach der Niederkunft nicht mehr an die Schmerzen bei der Geburt erinnern konnte), war ich nicht so dankbar, wie man meinen konnte. Außerdem machte er mir Angst. Das galt auch für seine geheime Elektrizität. Die bedachte er immer mit extravaganten Begriffen – so sprach er vom Geheimnis des Universums und vom Pfad zum höchsten Wissen -, aber eine Vorstellung davon, worum es sich dabei wirklich handelte, hatte er offenkundig genauso wenig, wie ein Kleinkind, das im Kleiderschrank seines Daddys einen Revolver fand, wirklich wusste, was es da in den Händen hielt.“ (S. 219) 
Dass der „King of Horror“ seinen neuen Roman den Großen seiner Zunft gewidmet hat – von „Frankenstein“-Schöpferin Mary Shelley, „Dracula“-Autor Bram Stoker über H.P. Lovecraft, Arthur Machen, Fritz Leiber und Robert Bloch bis zu seinem Freund Peter Straub, mit dem er u.a. „Der Talisman“ zusammen geschrieben hat – verwundert nicht, denn der Geist, den die Wegbereiter der Horror-Literatur geschaffen haben, strömt mit unheimlich fluoreszierender Wucht durch die Seiten, die die Jahrzehnte eines außergewöhnlichen Männerlebens beschreiben, das von unheilbaren Krankheiten und Tod, von Drogenmissbrauch und religiösem Eifer, wissenschaftlicher Neugierde bis zur Grenze des Wahnsinns und vermeintlichen Wunderheilungen geprägt ist.
Vor allem zum eindrucksvollen Finale hin nimmt „Revival“ zunehmend Frankensteinsche Züge an, die sich mit Lovecrafts kosmischen Schrecken unheilvoll verbinden. Zwar weist der Roman wie gewöhnlich bei King auch mal Längen auf, aber der Bestseller-Autor bleibt einfach ein glänzender Erzähler, der sich auf die gut nachvollziehbare Zeichnung seiner Figuren versteht, die wie auch diesmal schicksalhaft miteinander verknüpft sind.
Und mehr noch als die angerissenen Themen des religiösen Fanatismus und wahnhaftem wissenschaftlichen Treiben ist es die unnachahmliche Art, wie King seine so unterschiedlichen Protagonisten miteinander agieren lässt, die „Revival“ zu einem spannenden Lesevergnügen macht.
Leseprobe Stephen King - "Revival"

James Patterson – „Lügennetz“

Sonntag, 22. März 2015

(Goldmann, 348 S., Tb.)
Im März 1992 verbrachte Jeanine die letzten Frühjahrsferien ihrer Collegezeit im sonnigen Key West. Nach dem Motto „Feiern bis zum Umfallen“ gönnte sich die 21-Jährige mit ihrem Freund Alex und ihrer Clique in einer Bar zum Abschluss noch ein paar Wodka-Wackelpudding-Cocktails, ehe es ins Hotel zurückging.
Als Jeanine um 2:23 Uhr in der Nacht aufwachte, entdeckte sie, dass Alex mit ihrer besten Freundin Maureen herummachte. Sie schnappte sich die Schlüssel von Alex‘ Z28 Chevy Camaro und raste die Straße am Strand entlang, bis sie einem Hund ausweichen wollte und dabei einen Mann anfuhr. Bevor das betrunkene Mädchen ihre Optionen abwägen konnte, tauchte auch schon ein Polizeiwagen auf.
Der attraktive Cop namens Peter Fournier kümmerte sich um die Leiche und nahm die zehn Jahre jüngere Jeanine zur Frau. Doch dann beschlich Jeanine zunehmend das Gefühl, dass Peter ihr etwas vormacht. Bei einer Schießerei wurde Peters Kollegin und Jeanines Chefin Elena getötet, Jeanine durch einen FBI-Agenten auf zwei Artikel im Boston Globe aufmerksam gemacht. Offensichtlich tötete Fournier 1988 seine frühere Frau ebenfalls bei einem vermeintlichen Raubüberfall.
Um nicht das gleiche Schicksal zu erleiden, ließ Jeanine ihren Mann glauben, Opfer des Fallschirmseil-Killers geworden zu sein, der derzeit in Key West sein Unwesen trieb, und fing in New York mit ihrer Tochter Emma ein neues Leben als Anwältin Nina Bloom an, nachdem sie tatsächlich dem berüchtigten Killer knapp entkommen war.
Zwanzig Jahre später wird Nina von ihrem Chef für Mission rettet Leben abgestellt, eine Initiative von mehreren Kanzleien, um kostenlos Fälle zu übernehmen, bei denen die zuständigen Anwälte nicht unbedingt das Beste für ihre Mandanten getan hatten. Von einer Kollegin übernimmt sie den Fall von Justin Harris, den DNS-Spuren als Fallschirmseil-Killer entlarvten, und nun auf die Vollstreckung des Todesurteils wartet.
Nina weiß natürlich, dass Harris nicht der gesuchte Killer ist, und versucht mit dessen Anwalt Charles Baylor, die Vollstreckung noch zu verhindern. Allerdings weiß sie nicht, wie sie ihre eigene Verwicklung in den Fall offenbaren soll, der im März 1992 seinen verhängnisvollen Anfang nahm …
„Was würde Emma von mir denken, wenn alles herauskäme? Wenn sie herausfände, dass ich sie seit sie laufen konnte, nur angelogen hatte? Dass ich eine Betrügerin und jemand durch meine Schuld gestorben war? Was bildete ich mir eigentlich ein? Dass ich innerhalb einer Woche einen Freispruch für Harris erwirken könnte, ohne dass mein Kartenhaus, in dem ich mein Leben eingerichtet hatte, in sich zusammenbrechen würde? Das war selbst für jemanden wie mich mit durchaus kreativen Fähigkeiten ein hoher Anspruch.“ (S. 207) 
Seit die ersten beiden Romane in der populären Alex-Cross-Reihe – „Morgen Kinder wird’s was geben“ (1993) und „… denn zum Küssen sind sie da“ (1995) – mit Morgan Freeman in der Hauptrolle verfilmt worden sind, hat sich der US-amerikanische Schriftsteller James Patterson zu einem der erfolgreichsten Thriller-Autoren der Welt entwickelt, der 2010 mehr Bücher als Dan Brown, Stephen King und John Grisham verkauft hat, wie „Der Spiegel“ feststellte.
Mittlerweile hat der ungemein produktive Patterson (mittlerweile auch mit Hilfe einiger Co-Autoren) etliche weitere Reihen ins Leben gerufen, worunter Lindsay Boxer und ihr Club der Ermittlerinnen sowie Michael Bennett zu den bekanntesten zählen.
Dass die Dauerplatzierungen in den Bestseller-Listen und die ungeheure Produktivität aber nicht zwingend auch mit bestechender Qualität zusammenhängen, zeigt sich in seinem neuen Thriller „Lügennetz“, der zwar für sich allein steht, aber ansonsten die typischen Merkmale eines Patterson-Thrillers aufweist, allen voran die Einteilung in extrem kurze, oft nur anderthalbseitige Kapitel und einen temporeichen Plot, der die logischen Mängel fast zu kaschieren versteht.
Dabei fängt „Lügennetz“ durchaus vielversprechend an. Mit der Ich-Erzählerin Jeanine führt er eine sympathische College-Absolventin ein, die angesichts einer beschämenden Entdeckung im betrunkenen Zustand einen Menschen anfährt, doch schon die Begegnung mit dem attraktiven Cop Peter Fournier bekommt Patterson nicht glaubwürdig hin. Dafür nehmen sich Patterson und sein Co-Autor Michael Ledwidge einfach zu wenig Zeit und Raum, um die Figuren und ihre Beweggründe nachvollziehbar darzustellen. Was folgt, ist eine überkonstruiert wirkende Aneinanderreihung von Zufällen, die darin gipfelt, dass Jeanine als Pro-bono-Anwältin innerhalb von nicht mal hundert Seiten einen Mann vor der Hinrichtung bewahren will, wofür John Grisham sinnigerweise einen kompletten Roman benötigt.
Sieht man von diesen dramaturgischen und erzählerischen Schwächen allerdings ab, präsentiert sich „Lügennetz“ mit seinen 117 (!) Kapiteln aber als rasant und einfach zu lesender Thriller, der seine taffe Protagonistin eine wahre Tour de Force durchmachen lässt.
Leseprobe James Patterson - "Lügennetz"

Joe R. Lansdale – „Die Kälte im Juli“

Freitag, 20. März 2015

(Heyne, 254 S., Tb.)
In einer texanischen Kleinstadt schrecken in einer Sommernacht des Jahres 1989 Ann Dane und ihr Ehemann Richard aus dem Schlaf hoch und hören, wie das Schloss der Glastür zum Wohnzimmer aufgebrochen wird. Instinktiv schnappt sich Richard den kurzläufigen 38er und ein paar Patronen aus dem Wandschrank und schleicht sich ins Wohnzimmer, wo er einen Einbrecher erwischt. Als Richard im Schein der auf ihn gerichteten Taschenlampe des Eindringlings sieht, dass dieser eine Waffe zieht und auf ihn schießt, feuert Richard zurück und tötet den Mann.
Für Lieutenant Price ist es ein klarer Fall von Notwehr, der nicht mal vor Gericht verhandelt werden wird. Schließlich handelt es sich bei dem getöteten Mann um den Kleinkriminellen Freddy Russel, dessen Vater auch gerade erst aus dem Knast entlassen worden ist. Obwohl Price dem von Gewissensbissen geplagten Familienvater davon abrät, zur Beerdigung von Freddy Russel zu gehen, sucht er das Grab seines Opfers auf und macht die Bekanntschaft von Russel Senior. Der macht ganz unverhohlen Andeutungen, dass der Mord an seinem Sohn nicht ungesühnt bleiben wird. Tatsächlich terrorisiert Russel die Danes und dringt sogar nachts unbemerkt in das Kinderzimmer des vierjährigen Jordan ein. Als er dabei jedoch seine Brieftasche verliert, entdeckt Richard ein Foto von Freddy und stellt fest, dass dieser dem Toten gar nicht ähnlich sieht.
Um herauszufinden, wen Richard da erschossen hat und warum die Cops ihn angelogen haben, machen sich Dane und Russel auf die Suche und nehmen dazu die Hilfe von Russels altem Kumpel Jim Bob in Anspruch, der sie als Detektiv auf eine Spur führt, die Tod und Verderben bringt…
„Mein Magen fühlte sich leer an. Vielleicht war, wie bei Russel, ein Loch in mir, aus dem meine Seele rann.
Aber ich wußte, daß jeder Versuch sinnlos sein würde, mir auszureden, was ich vorhatte. Das Ehrgefühl, das ich in mir trug, war übermächtig. Es hatte nichts mit gesundem Menschenverstand zu tun. Es rührte von etwas, das ich meinen Dad einmal hatte sagen hören, einem der wenigen seiner Sätze, an die ich mich wirklich erinnere. Er sagte: Du tust, was richtig ist, weil es richtig ist, und du brauchst keinen anderen Grund dafür.
Ein Mann muß tun, was ein Mann tun muß.“ (S. 223) 
Wer sich darüber wundern sollte, dass in „Die Kälte im Juli“ noch in alter Rechtschreibweise präsentiert wird, muss wissen, dass der Roman bereits 1997 im Rowohlt Verlag unter dem Titel „Kalt brennt die Sonne über Texas“ erschienen ist und Heyne bei der Neuauflage zum DVD-Start von „Cold In July“ offensichtlich einfach die Typografie der Erstübersetzung übernommen hat.
Über diese leichte Irritation lässt sich allerdings leicht hinwegsehen, weil Lansdale einfach ein großartiger Autor ist, dessen Werke der Heyne Verlag gerade in seiner famosen Hardcore-Reihe (ebenso wie Richard Laymon, Jack Ketchum, John Niven, James Lee Burke, Jim Thompson und Ryan David Jahn) wiederzuentdecken beginnt und dem deutschen Publikum endlich zugänglich macht. Nachdem Lansdale „Die Kälte im Juli“ mit einem Paukenschlag eröffnet, entwickelt der Thriller einen magischen Sog, in den nicht nur der rechtschaffene Rahmenbauer Richard Dane hineingezogen wird, sondern auch der Leser. Dabei fasziniert das Werk vor allem durch die interessante Konfiguration der drei so unterschiedlichen Männerfiguren.
Stehen sich der anfangs so bieder wirkende Richard Dane und der grimmige Ben Russel, der den Mord an seinem Sohn gesühnt sehen will, zunächst wie Feuer und Wasser gegenüber, machen sie bald gemeinsame Sache, um herauszufinden, warum die Cops ein so übles Spiel mit ihnen veranstaltet haben. Und Sonny-Boy Jim Bob bringt nicht nur seine detektivische Spürnase ins Rennen, sondern sorgt mit lockeren Sprüchen auch für hohen Unterhaltungswert in einem Roman, der wie „Cold In July“-Regisseur Jim Mickle im Nachwort treffend bemerkt, eine „fulminante Mischung aus Noir, Western, Samuraigeschichte, Moralparabel und Horrorroman“ darstellt.
Wie schon in „Dunkle Gewässer“ brilliert Lansdale nicht nur mit einer starken Figurenzeichnung, sondern auch mit einer stimmigen Atmosphäre, die die moralischen Fragen ebenso deutlich vor Augen führt wie den Geruch von Blei und Blut.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Die Kälte im Juli"

Jeffery Deaver – „Blinder Feind“

Sonntag, 8. März 2015

(Blanvalet, 383 S., Tb.)
An einem kühlen Sonntagabend im September ist das Leben der attraktiven Bürovorsteherin Gabriela McKenzie völlig aus den Fugen geraten. Ihr Chef Charles Prescott ist nicht nur spurlos verschwunden, sondern hat auch alle Geschäftskonten geplündert. Nun erhoffen sich nicht nur die beiden NYPD-Detectives Brad Kepler und Naresh Surani von Gabriela Hinweise auf den Verbleib ihres ehemaligen Chefs und seine unlauteren Geschäfte. Vor allem der Mann namens Joseph bereitet ihr Magenschmerzen. Er hat nicht nur ihre Tochter Sarah entführt und verlangt ein Lösegeld von 400.000 Dollar, sondern auch ein Dokument, das als „Oktoberliste“ kursiert und die meist ausländischen Namen von Prescotts über dreißig eher privaten Geschäftspartnern enthält.
Zum Glück lernt Gabriela in einer Bar den attraktiven Geschäftsmann Daniel Reardon kennen, der bereits Erfahrungen mit Verhandlungen von Kidnappern gesammelt hat, die im Ausland Geschäftsleute in ihre Gewalt gebracht haben. Doch auf der Suche nach der ominösen Liste droht den beiden die Zeit davonzulaufen. Und Joseph scheint ein echter Soziopath zu sein, der keinen Aufschub duldet …
„In Gedanken ging Joseph noch einmal das komplette Projekt durch, das er an diesem Wochenende inszenierte. Viele Bestandteile, viele Herausforderungen, viele Risiken. Aber, überlegte er in seiner nachdenklichen Stimmung, Menschen waren auf der Welt, um tätig zu sein. Es spielte keine Rolle, wie schwierig die Aufgabe war, wie schmutzig man sich die Hände dabei machte – in jeder Bedeutung des Ausdrucks. Es spielte keine Rolle, ob man Dichter war oder Zimmermann, Wissenschaftler oder was auch immer. Gott hat uns geschaffen, damit wir unsere Ärsche bewegen, in die Welt hinausgehen und etwas mit unserer Zeit anfangen. Und Joseph war nie glücklicher als dann, wenn er arbeitete. Selbst wenn der Job ein Mord war, wie er ihn in wenigen Minuten begehen würde.“ (S. 91) 
Jeffery Deaver hat nicht ohne Grund Søren Kierkegaards Ausspruch „Das Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, doch es muss vorwärts gelebt werden“ vorangestellt, denn interessanterweise erzählt er seinen neuen Thriller auch rückwärts.
Er beginnt am Sonntagabend in einer Wohnung in Manhattan, wo Gabriela mit einem von Daniels Helfern darauf wartet, dass sich Daniel mit einem weiteren Kollegen mit Joseph trifft, um Sarah gegen die Oktoberliste einzutauschen. Doch statt Daniel taucht Joseph plötzlich in der Wohnung auf. Was bei konventionellen Thrillern als Einleitung fungieren würde, stellt in Deavers neuen Roman das Finale dar. Was folgt, dürfte zumindest Filmfans vertraut sein, wenn sie Werke wie Stanley Kubricks „Die Rechnung ging nicht auf“, Robert Zemeckis' „Zurück in die Zukunft“ oder Christopher Nolans „Memento“ zu schätzen gewusst haben.
Stück für Stück beschreibt der amerikanische Bestseller-Autor in ungewöhnlich kurzen Kapiteln, was kurz zuvor passiert ist, bis am Freitagmorgen die absolut verblüffende Ausgangssituation enthüllt wird. Deaver erweist sich einmal mehr als Meister des psychologischen Thrillers, der nicht nur interessante Figuren und Plots zu entwickeln versteht, sondern auch geschickt mit den Erwartungen seiner Leserschaft spielt.
„Blinder Feind“ ist dabei so perfide und spannend konstruiert, dass das Finale, das letztlich die Einleitung darstellt, die ganze Geschichte in ein neues Licht rückt.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Blinder Feind"

Jim Thompson – „Die Verdammten“

Samstag, 7. März 2015

(Heyne, 302 S., Tb.)
Nach dem Tod seines Vaters war es Tom Lord nicht mehr möglich, sein Jura-Studium fortzusetzen. Um die Schulden zu bezahlen, die sich durch die Pflege und Behandlung seines Vaters angehäuft haben, ist Tom gezwungen gewesen, einen Job in seiner Heimatstadt anzunehmen. Als ihm der Sheriff der texanischen Kleinstadt Big Sands einen Job als Deputy Sheriff anbot, griff er ohne zu zögern zu. Seine Mutter hinterließ ihm zwar ein üppiges Stück Land, bevor sie ihrer Familie für immer den Rücken kehrte, doch als einen Vertrag mit Aaron McBride, einem Bohrmeister bei der Highlands Oil & Gas Company abschloss, ist nach dem ersten Scheck über 20.000 Dollar kein Geld mehr geflossen.
Mittlerweile ist Lord überhaupt nicht mehr gut auf McBride zu sprechen, nachdem er erfolglos versucht hat, das an ihm begangene Unrecht wieder gutzumachen. Er nutzt den unrechtmäßigen Waffenbesitz des Bohrmeisters als Vorwand, um ihn auf offener Straße halb tot zu prügeln. Bei dem Besuch eines Bohrturms geraten die beiden Männer erneut aneinander. Bei dem Gerangel löst sich ein Schuss aus McBrides Waffe, die den Ölinspekteur auf der Stelle tötet. Damit bringt Lord nicht nur die drei Zeugen - seine Lebensgefährtin, die heiratswillige Prostituierte Joyce, und die beiden Ölbohrer Norton und Red – in eine schwierige Lage, auch die unlauteren Hintermänner von Highlands Oil sind von diesem Vorfall wenig angetan und wollen Lord dafür ebenso zur Rechenschaft ziehen wie McBrides Witwe Donna.
In einer abgeschiedenen Hütte harrt der Gesuchte der Dinge, die auf ihn zukommen.
„Tom Lord hatte die Hütte vor Jahren entdeckt, damals, als er gerade zum Mann wurde. Nach und nach hatte er sie zu einem komfortablen Zufluchtsort ausgebaut. Er brauchte so einen Ort, hatte ihn immer gebraucht. Er brauchte diese Abgeschiedenheit, die seine Einsamkeit transzendierte, ihn aus den Tiefen emporhob und sanft am anderen Ufer absetzte.“ (S. 168) 
Diese wenigen Worte beschreiben recht treffend, worum es unter anderem in „Die Verdammten“ geht, einer Auftragsarbeit, die der damals 53-jährige Thompson 1960 kurz nach seinem ersten Schlaganfall begonnen hatte und nach Vertragsabschluss ganz nach seinem Ermessen neu modellierte. Vordergründig scheint es um Mord und dessen Vergeltung zu gehen, aber wer mit Thompsons Biografie etwas vertraut ist, wird in Tom Lord das Alter Ego des Autors wiedererkennen, dessen Vater selbst ein Ölmillionär gewesen war und 1921 bankrott ging.
Mit diesem Schicksal muss sich auch Tom Lord herumschlagen, der als eigentlich guter Mann charakterisiert wird, aus dem aber jeden Augenblick der Teufel herausspringen kann. Das bekommen auch die Frauen an seiner Seite zu spüren, zunächst Joyce, die er – so sehr sie sich das auch wünscht – niemals zur Frau nehmen wird, später auch die junge Witwe des getöteten Bohrmeisters. Weder zu ihnen noch zu seinen Kollegen baut Tom Lord enge Beziehungen auf, und so wird die einsame Hütte zum Symbol seiner selbst. Thompson gelingt es, die staubige Einöde und das recht triste, unsichere Leben um die Bohrtürme herum in Texas so stilsicher zu beschreiben, dass man den Staub zu schmecken und die Klapperschlangen rasseln zu hören scheint.
In dieser unwirtlichen Gegend bleibt den Einwohnern scheinbar nichts anderes übrig, als Tag für Tag ums Überleben zu kämpfen. Und doch schafft es Thompson zum turbulenten Finale hin auch einen Hoffnungsschimmer zu entfachen.
Lesenswert ist auch das ausführliche Nachwort von Tobias Gohlis, der die Umstände aufzeigt, unter denen „Die Verdammten“ entstanden ist, und wie es in der Werkbiografie des Autors einzuordnen ist.
Leseprobe Jim Thompson - "Die Verdammten"

Ray Bradbury – „Friedhof für Verrückte“

(Diogenes, 455 S., Tb.)
In der Halloween-Nacht des Jahres 1954 erhält ein junger Drehbuchautor die schriftliche Einladung, sich um Mitternacht in der rückwärtigen Mauer am Green Glades Park einzufinden, wo eine große Offenbarung auf ihn warten würde, eine einmalige Gelegenheit für einen Bestseller-Roman oder ein entsprechendes Drehbuch. Obwohl sich der junge Schreiber eher als Angsthase sieht, kann er der Verlockung nicht widerstehen und begibt sich zum genannten Ort, um dort eine Gestalt von der Leiter fallen zu sehen, den der Autor als James Charles Arbuthnot identifiziert, den vor zwanzig Jahren bei einem Autounfall umgekommenen ehemaligen Studiochef von Maximus Films.
Wenig später ist die mutmaßliche Leiche verschwunden. Doch mit diesem unheimlichen Vorfall nimmt die Halloween-Geschichte erst so richtig Fahrt auf. Mit seinem Freund Roy Holdstrom, der ein wahres Special-Effects-Genie ist, soll er für den derzeitigen Studioboss Manny Leiber ein furchterregendes Monster schaffen, dessen Vorbild sie in einem Restaurant begegnen. Tatsächlich gelingt es Roy, eine schreckliche Kreatur zu modellieren, doch der Studiochef ist überhaupt nicht begeistert und lässt erst das Monster zerstören, dann baumelt auch Roys Leiche von einem Galgen in dem Studio.
Zusammen mit dem Privatdetektiv Crumley versucht der Ich-Erzähler den unheimlichen Ereignissen auf den Grund zu gehen …
„Ich starrte den langen Tunnel hinunter, erstaunt darüber, wie weit wir gerannt waren, von einem Land zum anderen, von einem Geheimnis zum anderen, durch zwanzig Jahre hindurch, von Halloween zu Halloween. Der Tunnel senkte sich durch Lagerhallen voll aufgestapelter Filmbüchsen hinab zu den Lagerhallen voller Reliquien der Namenlosen. Hätte ich diesen Weg zurücklegen können, wenn Crumley und Henry mir nicht geholfen hätten, die Schreckgespenster niederzuknüppeln, während mein Atem gegen die Wände stieß?“ (S. 327) 
Vierzig Jahre nach seinen legendären „Mars-Chroniken“ veröffentlichte der 2012 verstorbene amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury 1990 mit seinem Spätwerk „Friedhof für Verrückte“ eine Hommage an Filmemacher, die nachweislich großen Einfluss auf sein eigenes Werk ausübten: Rouben Mamoulian („Dr. Jeckyll & Mr. Hyde“, 1931, „Im Zeichen des Zorro“, 1940 – und Namensgeber meines Bücher-Blogs …), George Cukor („Das Haus der Lady Alquist“, 1944), John Huston („Die Spur des Falken“, 1941, „Moby Dick“, 1956), Fritz Lang („Dr. Mabuse, der Spieler“, 1922, „Metropolis“, 1927) und natürlich Ray Harryhausen („Herr der drei Welten“, 1960, „Sindbads siebente Reise“, 1958).
So wirkt der namenlose Ich-Erzähler wie Bradburys Alter ego. Mit ehrfurchtsvollem Staunen bewegt sich der junge Drehbuchautor durch die Kulissen des Maximus Filmstudios und die Geschöpfe, die sein Freund Roy zu erschaffen versteht. Der Plot, durch den der junge Mann gleichermaßen treibt und getrieben wird, beginnt wie ein liebevoller wie desillusionierender Blick hinter die Kulissen des Filmgeschäfts in den 50er Jahren, um dann rasant die Genres Geistergeschichte, Detektivstory und philosophisches Traktat zu durchschreiten, in dem die Grenzen zwischen Schein und Sein, Fiktion und reellen Ereignissen, Wahrheit und Täuschung ebenso verschwimmen wie zwischen dem Filmgelände und dem benachbarten Friedhof.
So faszinierend dieses Geflecht auch scheint, hat sich der Altmeister des Fantastischen doch etwas an dem verwirrenden Genre-Mix verhoben. Wie sein ganz spezieller, sehr reifer und bildhafter Schreibstil wirken Bradburys Figuren in „Friedhof für Verrückte“ eher wie schlecht skizzierte Schauspieler, die durch ein unausgereiftes Drehbuch und planlos von einer Wendung zur nächsten stolpern. Erfreuen darf sich der Bradbury-Fan allerdings nach wie vor an der unnachahmlich kreierten Atmosphäre, die das Studiogelände bildlich vor den Augen des Lesers erscheinen lässt. Aber die poetische Wucht und die psychologisch fein gezeichneten Figuren seiner Frühwerke hat „Friedhof für Verrückte“ leider nicht mehr in dem Maße zu bieten, wie wir es von dem großartigen Schriftsteller gewohnt sind.

Peter Abrahams – „Kopflos“

Sonntag, 1. März 2015

(Knaur, 413 S., Tb.)
Jeden Donnerstag flüchtet die Kunstexpertin Francie in die auf einer Insel gelegene Hütte ihrer Freundin Brenda, um dort für ein paar Stunden ihre geheime Affäre mit dem Radio-Moderator Ned Demarco zu genießen. Doch es dauert nicht lange, da bekommt ihr zur Zeit arbeitsloser Mann Roger Wind von den amourösen Abenteuer seiner Frau und plant den perfekten Mord. Mit einem nachgewiesenen IQ von 181 überlegt sich der Wissenschaftler das passende Szenario, um ja nicht mit dem ersehnten Tod seiner Frau in Verbindung gebracht zu werden, und nimmt Kontakt zu dem Mörder Whitey Truax auf, der gerade auf Bewährung im Resozialisierungswohnheim in New Hampshire lebt und gern Rogers Jobangebot annimmt, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt ein Gemälde aus der Inselhütte zu holen.
Doch der ausgeklügelte Plan geht schrecklich schief, und während Francie die Affäre mit Ned zu beenden versucht, nachdem dessen Frau Annie ihre geschätzte Tennis-Doppelpartnerin geworden ist, hat Roger alle Hände voll zu tun, Schadenbegrenzung zu betreiben und Beweise aus dem Weg zu räumen.
„Wie kompliziert konnte es sein, den Radioburschen ebenfalls Whitey vorzuwerfen? Vermutlich schwierig, gestand er sich ein, als ihm nicht augenblicklich eine Lösung einfiel, aber er war dazu geschaffen, Probleme zu lösen. Das war sein Metier. Die Herausforderung war einfach ein wenig größer, das war alles. Er würde zu seinem Recht kommen. Auf der anderen Seite der Tür erreichte Francie lautstark und vulgär den Höhepunkt. Komm nur, du Nutte. Roger stellte sich vor, wie sie im Beerdigungsinstitut im offenen Sarg lag, ihr Gesicht ausdruckslos.“ (S. 191) 
Der amerikanische Schriftsteller Peter Abrahams wurde für seine mittlerweile achtzehn Krimis bereits mehrfach für den begehrten Edgar Award nominiert, was an sich schon eine Anerkennung seiner Qualitäten bedeutet. Auch in seinem 1998 veröffentlichten Thriller „A Perfect Crime“, der jetzt unter dem Titel „Kopflos“ bei Knaur erschienen ist, kreiert Abrahams ein interessantes Szenario, das nicht nur durch die vertrackten Beziehungen der beiden Ehepaare und des von Roger ins Spiel gebrachten Ex-Häftlings geprägt wird, sondern auch von den psychischen Befindlichkeiten in diesem Intrigen-Puzzle, bei dem bald kein Teil mehr zum anderen passen will.
Doch je mehr Roger die Übersicht über sein vermeintlich perfektes Verbrechen zu verlieren droht, umso mehr verliert Abrahams auch die stringente Linie seines Spannungsaufbaus und springt wie seine durch die Vorgänge irritierten Protagonisten etwas kopflos durch die Handlung, wodurch die obligatorischen Wendungen an Wirkung einbüßen.
Nichtsdestotrotz bietet „Kopflos“ anregende Krimiunterhaltung mit psychologisch gut gezeichneten Figuren in einem zum Ende hin nicht ganz so überzeugenden Plot.
Leseprobe Peter Abrahams - "Kopflos"