Richard Laymon – „In den finsteren Wäldern“

Sonntag, 26. Juli 2015

(Festa, 256 S., Tb.)
Neala O’Hare ist gerade mit ihrer Freundin Sherri in ihrem MG zu einem Wanderurlaub in die Wälder von Kalifornien unterwegs, als ein beinloses Wesen mit kraftvollen und stark behaarten Armen ihren Weg kreuzt. Um diesen Schrecken zu verdauen, kehren sie abends in einen Imbiss ein, der sich als entsetzliche Falle entpuppt. Die beiden jungen Frauen werden von vier Männern verschleppt, die ihre Habseligkeiten einsammeln und ihre Opfer in den Wald verschleppen, wo sie an Bäume gefesselt und ihrem Schicksal überlassen werden. Zur gleichen Zeit ist der Highschool-Lehrer Lander Dills mit seiner Frau Ruth, der volljährigen Tochter Cordelia und ihrem Freund Ben ebenfalls in den Urlaub unterwegs. Da sie es nicht wie geplant bis zum Mule Ear Lake schaffen, wollen sie in Barlow übernachten, doch das angesteuerte Motel erweist sich ebenfalls als eine Falle.
Als sich Ben und Cordie abseits der Motelanlage miteinander vergnügen, werden sie ebenfalls verschleppt, dann gerät auch seine Frau in die Fänge von unheimlichen Kreaturen. Wie die beiden Mädchen bald herausfinden, haben die Einwohner von Barlow vor Generationen einen Handel mit den sogenannten Krulls in den Wäldern geschlossen, die sich durch jahrzehntelange Unzucht vermehrt haben. Junge Frauen sollen dafür sorgen, dass ihr Genpool mit frischem Blut versorgt wird. Als Lander sich aufmacht, seine Familie zu retten, wird er von einem ebenso starken Rachedurst wie von der erotisch geprägten Faszination für die im Wald lebenden Kreaturen getrieben.
„Er sollte von diesem Dorf voller Wahnsinniger verschwinden, so weit ihn die Füße trugen. Und versuchen, Cordelia zu finden.
Und Ruth?
O Gott, was war mit Ruth?
Vielleicht befand sie sich in diesem Augenblick irgendwo in diesem Dorf. Noch am Leben. Darauf wartend, bis sie damit an der Reihe wäre, Futter für diese Dämonen zu werden.
Die Chancen dafür, dass sie noch lebte, standen tatsächlich nicht schlecht. Wenn diese Monster auch nur einen Hauch Vernunft besaßen, würden sie Ruth noch eine Weile am Leben lassen. Und zuerst die Leichen verzehren, bevor sie ihre lebenden Gefangenen schlachteten.“ (S. 96) 
Es ist vor allem dem Heyne-Verlag zu verdanken, den Großteil des hierzulande unbekannten Werkes des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon posthum veröffentlicht zu haben, doch auch der Festa-Verlag bringt immer wieder mal den einen oder anderen Band aus Laymons umfangreichen Schaffen heraus.
„In den finsteren Wäldern“ zählt sicher nicht zu den besten Arbeiten von Laymon, aber sicher zu seinen kompromisslosesten. Interessant ist vor allem die Entstehungsgeschichte von Laymons erst zweiten Roman nach „Haus des Schreckens“ (1980), den der Heyne-Verlag 2008 zusammen mit den Folgebänden „Das Horrorhaus“ und „Mitternachtstour“ in „Der Keller“ publizierte.
Wie Laymons Tochter Kelly im Vorwort rekapituliert, hat Warner Books nicht nur die Umschlagillustration versaut, sondern auch rigide Änderungen am Manuskript vorgenommen, so dass Laymon später meinte, „The Woods Are Dark“ (1981) sei das Buch gewesen, das seine Karriere ruinierte. Kelly ist es irgendwann gelungen, die überall verstreuten Seiten des Originalmanuskripts zu finden, so dass es 2008 endlich in der ursprünglich angedachten Fassung erscheinen konnte. Laymon hält sich dabei nicht mit auch nur irgendwie gearteten Einleitung auf, sondern konfrontiert den Leser ebenso wie seine beiden hübschen Protagonistinnen Neala und Sherri mit einem furchterregenden Wesen, das stellvertretend für die später so degeneriert dargestellten Krulls eingeführt wird. Der Autor hält sich auch nicht mit den persönlichen Hintergründen seiner Figuren auf. Außer den vagen Ferienzielen und den Namen erfährt der Leser eigentlich nichts über sie. Dass Lander Dills immer wieder literarische Zitate von sich gibt, wird mit seiner Highschool-Lehrtätigkeit erklärt.
Was Laymon an Figurenzeichnung und psychologischer Tiefe hier vermissen lässt, macht er aber durch Tempo, Spannung und blutigen Horror wieder locker wett. Dabei dürfen erotische Eskapaden und Wunschträume natürlich ebenso wenig fehlen wie sein ausgesprochen bizarrer Humor, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Allerdings ist der Leser auch aufgefordert, den holprigen Plot mit seiner Fantasie zu füllen. Selten bekommt man das Gefühl, dass hier tatsächlich das vollständige Manuskript vorliegt und Laymon eine zusammenhängende Geschichte erzählt.
Aber wie Schriftsteller-Kollege Brett McBean im Nachwort richtig bemerkt, kommt auch in „In den finsteren Wäldern“ der filmnahe Schreibstil des Autors voll zur Geltung.
„Es ist der beste Low-Budget-Exploitation-Horrorstreifen, der nie gedreht wurde“, schreibt er und kommt zu dem Schluss: „Das Buch gleicht einer raschen, vor Blut strotzenden Geisterbahnfahrt. Es ist wie Menschenfleisch, das von jeglichem Fett befreit in einer wahnsinnigen literarischen Orgie verschlungen wird.“ (S. 255f.)
Leseprobe Richard Laymon - "In den finsteren Wäldern"

Jilliane Hoffman – „Samariter“

Samstag, 25. Juli 2015

(Wunderlich, 479 S., HC)
Die Überraschungsparty, die Nick „Big Mitts“ Lavecki für seine Frau Charity zu ihrem dreißigsten Geburtstag veranstaltet hat, wird Charitys Schwester Faith Saunders lange in Erinnerung bleiben. Obwohl Nick sie erst am Sonntagmorgen eingeladen hatte, hat sich Faith mit ihrer vierjährigen Tochter Maggie von Parkland aus die 250 Kilometer auf den Weg nach Sebring gemacht, wo sie am Abend wieder einmal feststellen durfte, dass Nick ein ausgemachtes Arschloch ist, der sich vor aller Augen an andere Frauen heranmacht. Allerdings hält Charity nach wie vor zu ihrem Mann, so dass es nicht nur zu einem Streit zwischen den Schwestern kam, sondern Faith mit Maggie trotz der Orkanwarnung überstürzt aufgebrochen ist.
Faith spielt das Drama auf dem Rückweg noch einmal in ihrem Kopf ab, als sie merkt, dass sie etwas angefahren hat, doch als sie aussteigt, kann sie nichts entdecken. Offensichtlich hat sie sich aber verfahren. Als Faith bei starkem Regen in der Ferne eine Leuchtreklame und damit ein Zeichen von Zivilisation entdeckt, fällt ihr zunächst ein Stein vom Herzen, doch dann klopft plötzlich eine Frau um Hilfe bittend an ihr Fenster. Statt diesem Hilferuf nachzukommen, verschließt Faith die Türen und beobachtet nur noch, wie zwei Männer die junge Frau wegführen. Erst als Maggie den Vorfall ihrem Vater Jarrod schildert, meldet sich Faith bei der Polizei, die endlich einen Hinweis auf den Serienmörder bekommen, den die Polizei als Derrick Poole identifiziert. Doch als die 17-jährige Noelle Langtry verschwindet, kann Poole, der von der Detective Bryan Nill unter Beobachtung steht, nichts mit ihrer Entführung zu tun haben. Faith ist von den Vorgängen so traumatisiert, dass sie sich niemandem anzuvertrauen vermag, weder ihrem Mann Jarrod, dem sie seine Affäre mit einer jungen Anwaltsgehilfin noch nicht verziehen hat, noch ihrer Geschäftspartnerin und Freundin Vivian oder Detective Nill.
„Es war Zeit, reinen Tisch zu machen und das schreckliche Chaos aufzuräumen, das sie zu ersticken drohte, das jeden Aspekt ihres Lebens vergiftete und mit all den Lügen jeden ihrer Gedanken verschlang. Sie musste das Richtige tun, egal mit welchen Konsequenzen sie zu rechnen hatte. Sie musste tun, was sie konnte, um Poole und seinen Partner/Freund von der Straße zu bekommen, nicht nur, damit sie nachts wieder schlafen konnte, sondern auch wegen der anderen Frauen, denen die beiden in Zukunft weh tun würden.“ (S. 241) 
Doch die Möglichkeit, der Polizei alles zu erzählen, was sie gesehen hat, lässt Faith verstreichen. Stattdessen flüchtet sie sich immer mehr in den Alkohol und muss dabei zusehen, wie Jarrod sich immer weiter von ihr entfernt und ausgerechnet Poole tiefer in ihr eigenes Leben eindringt …
Die amerikanische Schriftstellerin Jilliane Hoffman weiß, wovon sie schreibt. Immerhin war sie Staatsanwältin Florida und unterrichtete die verschiedensten Spezialeinheiten der Polizei in allen juristischen Belangen. Gleich mit ihrem Romandebüt „Cupido“ eroberte Hoffman weltweit die Bestsellerlisten und ließ mit „Morpheus“, „Vater unser“, „Mädchenfänger“ und „Argus“ weitere Bestseller folgen. Dazu wird sich fraglos auch „Samariter“ gesellen.
Der Plot wirkt nicht immer unbedingt glaubwürdig, aber einer alkoholkranken Protagonistin, die weder mit ansehen kann, wie sich ihre geliebte Schwester an der Seite ihres widerwärtigen Ehemanns zugrunde richtet, noch die Affäre ihres Mannes zu verzeihen vermag, nimmt man einige merkwürdige Entscheidungen und Gedanken schon mal ab.
„Samariter“ – so der wenig schlüssige deutsche Titel der amerikanischen Originalausgabe von „All the little pieces“ – überzeugt ohnehin weniger auf der psychologischen Seite, sondern in dem rasant entwickelten Plot, der sich dank einer einfachen Sprache flüssig lesen lässt. Gerade die persönlichen Hintergründe der beiden Täter bleiben leider im Dunkeln, und Hoffman konzentriert sich so sehr auf ihre verkorkste Anti-Heldin, dass wenig Raum für die Nebenschauplätze und –figuren bleibt. Was an psychologischer Tiefe und Logik fehlt, macht die Autorin allerdings durch den temporeichen, durchweg spannenden Plot wieder wett. Das ist nicht die hohe Thriller-Kunst eines Don Winslow, Lee Child, Jeffery Deaver oder einer Patricia Cornwell und Kathy Reichs, aber durchaus kurzweilige Krimi-Unterhaltung.
Leseprobe Jilliane Hoffman - "Samariter"

Lee Child - (Jack Reacher: 15) "Wespennest"

Sonntag, 19. Juli 2015

(Blanvalet, 446 S., HC)
Auf seinem Weg nach Virginia wird der ehemalige Militärpolizist Jack Reacher von einem Anhalter vor einem einsam gelegenen, aber futuristisch aussehenden Motel in Nebraska abgesetzt. An der Bar des Apollo Inn bekommt er mit, wie der Barkeeper von einer Mrs. Duncan angerufen wird, die über Nasenbluten klagt, das nicht aufhören will. Doch der Arzt, der neben Reacher an der Theke sitzt und dem der Anruf gilt, ist zu betrunken, um seinen Pflichten nachzukommen. Als Reacher den Arzt zum Haus der Duncans fährt, bemerkt er, dass die Frau offensichtlich nicht zum ersten Mal von ihrem Mann Seth verprügelt worden ist.
Reacher schnappt sich den Subaru des Doktors und stattet Seth einen Besuch im einzigen Steakhaus der Stadt einen Besuch ab, der mit der gebrochenen Nase des Ehemanns endet. Doch Seth, sein Vater Jacob und dessen Brüder Jonas und Jasper lassen es nicht dabei bewenden. Schließlich haben sie mit ihrem Transportunternehmen nicht nur das ganze County in ihrer Hand, sondern warten auf eine dringende Lieferung, die wiederum an ihren Geschäftspartner Mr. Rossi in Las Vegas weitervermittelt werden muss.
Aber Mr. Rossi ist nicht das Ende der Nahrungskette, und so geraten die Duncans enorm unter Druck, Reacher auszuschalten und die delikate Lieferung zu sichern. Reacher muss feststellen, dass er nicht länger in der Gegend erwünscht ist, dass jeder hier vor den Duncans Angst hat. Als er zu recherchieren beginnt, woher diese Angst rührt, stößt er auf den Fall eines vor 25 Jahren verschwundenen Mädchens, den weder die State Police noch das FBI lösen konnte. Während Reacher herauszufinden versucht, woran die Ermittlungen gescheitert sind, machen die Duncans sowohl mit den Italienern als auch den Iranern zunächst gemeinsame Sache, um den riesigen Fremden auszuschalten, der ihre Geschäfte sabotiert. Aber eigentlich nutzt jede Partei die Möglichkeit, die gegenwärtigen Geschäftspartner auszuschalten, um noch mehr vom Kuchen einzubehalten.
„Es gab keinen riesigen Fremden, der hier Amok lief. Keiner hatte ihn gesehen, und niemand konnte ihn beschreiben, weil er nicht existierte. Er war erfunden. Er war imaginär. Er war ein Köder. Er war eine List. Die ganze angebliche Verzögerung war Bockmist. Sie war von A bis Z erfunden. Sie hatte nur dazu gedient, um alle nach Nebraska zu locken, damit sie ausgeschaltet, liquidiert, umgelegt werden konnten. Die Duncans beseitigten ein Kettenglied nach dem anderen und wollten die ganze Kette eliminieren, um direkt mit den Saudis ganz oben verhandeln und den eigenen Gewinn vervielfachen zu können.“ (S. 330) 
Allerdings müssen sowohl die Duncans als auch die Italiener und Iraner sukzessive feststellen, dass Reacher durchaus eine reale Bedrohung darstellt, der seine ganze Cleverness und Erfahrung seiner Militärzeit in die Waagschale wirft, um die verängstigten Bewohner des Countys wieder ihr eigenes Leben führen zu lassen und einen kalten Fall zu lösen.
Nach „61 Stunden“ ist „Wespennest“ nicht nur der 15. Roman in Lee Childs gefeierter Jack-Reacher-Reihe, sondern gleichzeitig der zweite Band der sogenannten Susan-Turner-Tetralogie. Susan Turner ist das Ziel in Virginia, zu dem sich Reacher als Anhalter auf den Weg macht, und unterwegs hat er vertrackte Abenteuer zu bestehen, in die nur Typen wie Reacher gelangen und einigermaßen heil wieder rauskommen können.
Wie gewohnt erfährt der Leser nicht viel über Reachers Privatleben oder Gefühle. Reacher macht sich ohne Gepäck einfach auf den Weg und packt die Probleme, die sich ihm in den Weg stellen, mit gnadenloser Effizienz an. Wie er die brenzligsten Situationen nüchtern analysiert und seine Vorgehensweise darauf abstimmt, beschreibt der in England geborene Lee Child entsprechend schnörkellos, in kurzen, prägnanten Sätzen, nur die harten Fakten betrachtend, aus denen sich Reachers Handlungsspielraum wie von selbst definiert. Geschickt enthüllt Child im Laufe der Geschichte immer weitere Teile des ominösen Unternehmens, das die Duncans da betreiben und in dem auch die Lösung für den Fall des verschwundenen Mädchens liegt.
Meisterhaft verbindet der Autor dabei filmreife Action mit geschickter Ermittlungsarbeit, so dass der Leser es gar nicht abwarten kann, den nächsten Jack-Reacher-Roman in den Händen zu halten.
Leseprobe Lee Child - "Wespennest"

Clive Barker – „Das scharlachrote Evangelium“

Sonntag, 12. Juli 2015

(Festa, 460 S., Tb.)
Nachdem eine Handvoll von Magiern mit dem N’guize-Ritual ihren Anführer Joseph Ragowski von den Toten wiedererweckt hat, muss dieser erfahren, dass ein Dämon den einst beachtlichen Kreis ihresgleichen auf die sechs Anwesenden reduziert hat. Kaum wird Ragowski über die tragische Entwicklung in Kenntnis gesetzt, taucht auch schon der besagte Dämon – Pinhead – auf, die letzten Bestandteile des Magischen Orders auszumerzen, der über Jahrhunderte hinweg im Schatten der Zivilisation agiert hatte. Doch damit ist sein Werk längst nicht beendet. Der Anführer der Zenobiten hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Lichtbringer Luzifer selbst herauszufordern und sich damit selbst auf den Thron der Hölle zu setzen.
Allerdings hat er es dabei mit Harry D’Amour zu tun, dem ehemaligen Polizisten, der sich nun in New York als Detektiv durchschlägt. Als seine gute Freundin Norma Paine, die einen engen Draht zu den Toten unterhält, mit dem Tod des Anwalts Carston Goode konfrontiert wird, ist es an Harry, dessen geheimes Haus in New Orleans aufzusuchen, von dem Goodes Frau keine Kenntnis haben darf. Goodes Haus entpuppt sich nicht nur als Ort der Magie und abartiger sexueller Praktiken, sondern er stößt auch auf Lemarchands geheimnisvollen Würfel, durch den der Dämon Felixson Eintritt in D’Amours Welt erhält. Der Detektiv entkommt der Auseinandersetzung mit Pinheads Gefolgsmann nur mit knapper Not, doch zum Ausruhen hat der Detektiv, der mit allerlei Schutzzaubern tätowiert ist, keine Zeit.
Pinhead, der wegen seiner geheimen Beschäftigung mit menschlicher Magie durch den Unverzehrten aus dem Orden verbannt wurde, hat sich Norma geschnappt und verlangt von D’Amour, die Dinge zu bezeugen, die Pinhead in Gang zu bringen versucht. Zusammen mit seinen Freunden Dale, Caz und Lana folgt D’Amour dem Zenobitenpriester in die Hölle, wo Luzifer und Pinhead eine epische Schlacht entfachen.
„Der Höllenpriester sah über die linke Schulter und flüsterte etwas in die Dunkelheit, die ihn umgab. Sie schien sich noch mehr zu verdichten, wie ein eifriger Komplize, der begierig jeden Befehl aufnahm. Harry war der stumme Beobachter der Geschehnisse, sein Kopf schwirrte von unbeantworteten Fragen. War diese seltsame Gestalt – die immer tiefer in ihren Selbstmordstuhl sackte, je mehr Klingen aus ihrem Körper gezogen wurden – wirklich der Gegenspieler, das leibhaftige Böse, der Gefallene, Satan? Er sah einfach zu bedauernswert aus, zu menschlich, wie er da auf seinem Todesthron saß. Die Vorstellung, dass dieses Geschöpf einst Gottes Liebling gewesen sein sollte, schien lächerlich.“ (S. 330) 
1995 hat der in Liverpool geborene und seit Jahren in Los Angeles lebende Autor, Illustrator, Maler und Filmemacher Clive Barker mit „Lord of Illusions“ seine aus den „Büchern des Blutes“ stammende Kurzgeschichte „Die letzte Illusion“ verfilmt und damit seine bis dato dritte und letzte Regiearbeit vorgelegt, nachdem der Film bei der Kritik und auch beim Publikum nicht allzu überschwänglich aufgenommen worden war. Barkers Versuch, mit Harry D’Amour eine Film-noir-Figur im Horror-Genre zu etablieren, wirkte wenig logisch und allzu holperig in der Inszenierung. Dabei hatte Barker mit „Hellraiser“, seiner ersten eigenen Adaption einer seiner Kurzgeschichten – „The Hellbound Heart“ – , einen modernen Klassiker des Horrorkinos geschaffen und mit den Zenobiten unvergessene Ikonen des Genres kreiert, die in unzähligen Sequels weiterhin auf der Leinwand ihr dämonisches Treiben zelebrierten.
Mit „Das scharlachrote Evangelium“ lässt Barker nun seine zwei wohl bekanntesten Figuren aufeinandertreffen und kreiert dabei ein Szenario, das ein wenig an Stephen Kings epische Schlacht in „The Stand – Das letzte Gefecht“ erinnert. Barker nimmt sich zunächst Zeit, die Geschichte von Harry D’Amour und seiner blinden Freundin Norma zu erzählen. Parallel dazu treibt Pinhead seine dämonische Vernichtungsarbeit, indem er zunächst die letzten verbliebenen menschlichen Magier tötet und ihren Leichen die Geheimnisse entnimmt, die ihn selbst noch mächtiger werden lassen, bevor er in der imponierenden Kathedrale der Hölle Luzifer selbst gegenübertritt.
Wie üblich bedeint sich Barker dabei der christlichen Mythologie und beweist eine enorme Vorstellungskraft, wenn er die Landschaft der Hölle in bildgewaltigen Szenarien beschreibt. Es ist wohl niemandem außer Clive Barker bislang gelungen, die Hölle in ebenso faszinierenden wie erschreckenden Bilder zu zeichnen und diese mit Dämonen zu bevölkern, deren Treiben jegliche menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Während das Hollywood-Franchise „Hellraiser“ längst zu einer Karikatur des ursprünglichen Konzepts verkommen ist, lässt „Das scharlachrote Evangelium“ darauf hoffen, dass die Zenobiten zumindest in Barkers literarischen Ambitionen weiterhin eine so beeindruckende Rolle spielen.
Leseprobe Clive Barker - "Das scharlachrote Evangelium"

Jim Thompson – „Südlich vom Himmel“

Dienstag, 7. Juli 2015

(Heyne, 297 S., Tb.)

Der junge Tommy Burwell arbeitet in den 20er Jahren in der westlichen Prärie von Texas an einer Pipeline, die bis nach Port Arthur am Golf von Mexiko reichen soll. Mit von der Partie sind ein Haufen von Knackis, Saufbrüdern und Landstreichern mit zerfetzten Kleidern am Leid und leeren Mägen, ebenso sein Kumpel Four Trey. Statt sich entspannt wie gewohnt um die Arbeitszeiterfassung zu kümmern, sind die beiden Männer diesmal für das Sprengen mit Dynamit eingeteilt, woran Tommy unschöne Erinnerungen hat.
Allein die gut ausgestattete Carol, die dem Camp nachreist, sorgt für angenehme Ablenkung vom harten Arbeitsalltag, und schon schmiedet das Liebespaar Pläne für die Zukunft. Allerdings ist mit den Jungs im Camp nicht zu spaßen, vor allem nicht mit Bud Lassen, der als Deputy Sheriff sichtlich Spaß daran hat, den Leuten das Leben schwerzumachen und dabei vor allem Tommy auf dem Kieker hat. Als Lassens zerteilte Leiche an einer Baggerschaufel gefunden wird, wird Tommy sogleich als Mörder verdächtigt und eingesperrt. Doch das ist der Anfang eines perfiden Plans, der von einer Gauner-Bande erdacht worden ist, um an die Lohngelder zu kommen, die alle zwei Wochen an die Arbeiter ausgezahlt werden.
„Was die Malocher anging …
Sie stiegen von den Ladeflächen, und alles an ihnen schrie vor Müdigkeit und Hunger; von diesem Tag und von all den bitteren Tagen zuvor. All die Leere dieser Tage und jener, die noch vor ihnen lagen. Das Schlimmste daran war, dass es ihnen nichts auszumachen schien. Sie hatten einen Tag geschafft. Den Tag zu schaffen, ganz gleich wie, war die Summe ihres Lebens. Und so erledigt, wie sie waren, rissen sie Witze und lachten. Warum auch nicht? Sie lachten über die Dinge, über die sie nicht hätten lachen sollen. Über ihre allgemeine Wertlosigkeit, über den Schmutz an Kleidung und Körper – alles klebte vor Schlamm aus Staub und Schweiß.“ (S. 92) 
„Südlich vom Himmel“, 1967 und damit zehn Jahre vor Thompsons Tod veröffentlicht, zählt zu den Spätwerken eines Autors, der bereits mit fünfzehn Jahren seine erste Kriminalgeschichte verkaufen konnte, aber seinen Lebensunterhalt als Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter und Alkoholschmuggler verdienen musste, bevor er Drehbücher für Filmemacher wie Stanley Kubrick verfassen durfte. 
Als zentraler Vertreter des Noir-Genres wird er nicht nur von Stephen King verehrt, sondern wird sukzessive auch in der Heyne-Hardcore-Reihe wieder dem deutschen Publikum zugänglich gemacht. „Südlich vom Himmel“ ist zwar auch ein Krimi, stellt sich aber vor allem als gut beobachtete Milieustudie dar, die kaum einer so authentisch präsentieren kann wie Thompson, der sich lange Zeit selbst mit Knochenjobs über Wasser halten musste. In seiner gewohnt schnörkellosen, direkten Art bringt er das einfache wie harte Leben von Wanderarbeitern auf den Punkt und beschreibt schonungslos, wie Träume zu sprichwörtlichem Staub zermahlen werden. 

Lee Child – (Jack Reacher: 17) „Der Anhalter“

Samstag, 4. Juli 2015

(Blanvalet, 446 S., HC)
Mit seinen ein Meter fünfundneunzig Körpergröße, der ohnehin kräftigen Statur und nun noch einer frisch gebrochenen Nase ist Jack Reacher nicht gerade in der besten Ausgangslage, um als Anhalter mitgenommen zu werden. Als er auf dem Weg nach Osten bis Virginia nach anderthalb Stunden Wartezeit endlich mitgenommen wird, ist der ehemalige und vielfach dekorierte Militärpolizist erst einmal froh, aber als er hinter den beiden Männern neben der Frau hinten im Wagen Platz nimmt, analysiert er sofort die Situation: Aus der einheitlichen Kleidung schließt Reacher, dass hier Kollegen unterwegs sind.
Alan King, Don McQueen und Karen Delfuenso sind im Vertrieb einer Software-Firma tätig und gerade von Kansas nach Chicago unterwegs, erfährt Reacher, doch nach einigen Meilen kommt ihm die Situation merkwürdig vor. Die Frau neben ihm ist auffällig ruhig, die Angaben der Männer nicht ganz schlüssig. Schließlich gibt die Frau Reacher durch einen Blinzel-Code zu verstehen, dass sie eine Geisel ist, dass die Männer mit ihrem Auto unterwegs sind und dass sie selbst eine Tochter hat. Er weiß nicht, dass die Männer in der Nähe von Kansas an einem Mord beteiligt gewesen sind, an dem neben dem County Sheriff Victor Goodman auch die FBI-Agentin Julia Sorenson ermittelte. Bevor Reacher die Frau befreien kann, gelingt es den Männern, mit ihr allein die Flucht fortzusetzen. Nachdem sie mit Reacher zusammen die Straßensperren passiert hatten, war er nicht mehr nützlich für sie. Nun setzt Reacher mit Sorenson alles daran, die Geisel zu befreien. Doch dann wird auch noch die zehnjährige Tochter der Geisel entführt.
„Sie war ein Mädchen vom Land. Zehn Jahre alt. Bestimmt kein Wunderkind. Sie würde jedem Erwachsenen mit einer halbwegs überzeugenden Story geglaubt haben. Jegliche Autorität würde sie überzeugt haben. Sie würde jede Art Versprechen bereitwillig hingenommen haben. Komm mit, Kleine. Wir haben deine Mama gefunden. Wir bringen dich zu ihr.
Aber wer?
Wer hatte überhaupt gewusst, dass Delfuenso verschwunden war? Natürlich sein ganzes Department, dazu die Nachbarn, und vermutlich einige Leute, mit denen sie seither telefoniert hatten. Und die beiden Kerle. Aber weshalb würden sie erst die Mutter ermorden und sich dann das Kind holen?“ (S. 238) 
Lee Child weiß, wie man packende Thriller schreibt. Nachdem der in England geborene Autor beim Fernsehen so gefeierte Thrillerserien wie „Heißer Verdacht“ und „Für alle Fitz“ betreut hatte, zog er in die USA und landete gleich mit seinem ersten Jack-Reacher-Roman „Größenwahn“ einen internationalen, preisgekrönten Bestseller. Seither zählen Lee Childs Jack-Reacher-Thriller zum Besten, was das Genre zu bieten hat, und mit Tom Cruise als „Jack Reacher“ (basierend auf dem 9. Band „Sniper“) hat die charismatische Figur mittlerweile auch den Weg auf die Leinwand gefunden. „Der Anhalter“ stellt bereits den 17. Roman um den ehemaligen Militärpolizisten dar, der nach dreizehn Jahren bei der Army mittlerweile fast ebenso lang auf eigenen Beinen steht und sich ohne familiäre Bindungen, einem Zuhause und Arbeitgeber eher ziellos durchs Leben treiben lässt. Indem Jack Reacher als Anhalter durch die USA reist, wird diese Lebensweise schon zu Beginn auf den Punkt gebracht. Auch wenn er etwas abgerissen erscheint, sind die Lektionen, die er beim Militär gelernt hat, in Fleisch und Blut übergegangen.
Aus einer zunächst unverfänglich erscheinenden Situation entwickelt „Der Anhalter“ einen raffinierten Plot, in dem Reachers nach wie vor geschulten Instinkte nicht nur sein eigenes Überleben sichern, sondern auch der Personen, die ihm am Herzen liegen. „Der Anhalter“ ist clever konstruiert, schnörkellos geschrieben, mit sympathischen Protagonisten gespickt, über die der Leser gern mehr erfahren würde, und schließlich so temporeich auf der Zielgeraden, dass es einem den Atem raubt. Mehr davon!
Leseprobe Lee Child - "Der Anhalter"

Don Winslow – (Art Keller: 2) „Das Kartell“

Sonntag, 28. Juni 2015

(Droemer, 831 S., Pb.)
Der US-amerikanische Drogenfahnder Art Keller hat sich ganz dem Kampf gegen die mexikanischen Kartelle verschrieben. Nachdem er sich in das Herz der dortigen Drogenmafia eingeschleust hatte und reihenweise Händlerringe auffliegen ließ, wurde aus dem Jäger Keller auf einmal selbst der Gejagte und sein ehemaliger Freund Adán Barrera zu seinem erbittertsten Feind. Mit seinen eigenmächtigen Aktionen zog sich Keller zwar auch den Zorn Washingtons zu, aber am Ende lag die weltweit mächtigste Drogenorganisation El Federación am Boden, ihr Anführer Barrera landete im Gefängnis, Keller zog sich in ein Kloster zurück.
Doch als Barrera einen neuen Deal aushandelt und fliehen kann, muss auch Keller seine Oase des Friedens verlassen und erneut den Kampf gegen seinen Erzfeind aufnehmen. Denn Barrera setzt wieder alles daran, das Gleichgewicht zwischen den Kartellen zu unterminieren und aus der neuen Alianza de sangre wieder die alte Federación zu etablieren. Dazu muss Barrera auch seinen Platzhalter Osiel Contreras ausschalten, der sich selbst als neuen patrón betrachtet. Was aus amerikanischer Sicht die Jagd auf Contreras, der direkt nach Bin Laden ganz oben auf der Fahndungsliste steht, schwierig macht, ist die Tatsache, dass dieser die mexikanischen Polizeibehörden in der Tasche hat. Gerardo Vera und Luis Aguilar haben mit ihren AFI- und SIEDO-Truppen zunächst das Tijuana-Kartell zerschlagen, nun machen sie zusammen mit Keller Jagd auf Barrera. Doch in diesem Krieg ist nie wirklich klar, wer auf welcher Seite steht. In dem komplexen Krieg zwischen den Kartellen sterben nicht nur die Kämpfenden, sondern auch Frauen, Kinder, Polizisten, schließlich auch Journalisten.
Als der anonyme Internet-Blog Esta Vida die Grausamkeiten des Drogenkriegs dokumentiert, gerät auch Pablo ins Visier der Drogenmafia.
„Früher hat er lange und tief geschlafen, sich wohlig hin und her gewälzt, seine Träume ausgekostet. Jetzt hasst und fürchtet er den Schlaf. Denn mit dem Schlaf kommen die Alpträume. Das ist schlecht für einen Mann, der Tausende von Morden gesehen hat. Und die Tausend ist keine rhetorische Ziffer, wie er nachts einmal nachgerechnet hat, nein, es waren wirklich so viele Morde. Nicht die Morde direkt, natürlich, obwohl er manchmal nur Minuten später am Tatort stand, sondern die Folgen. Die Toten, die Sterbenden, das Grauen. Die Verstümmelten, die Enthaupteten, die Gehäuteten.“ (S. 755) 
Zehn Jahre nach seinem Meisterwerk „Tage der Toten“, mit dem der amerikanische Bestseller-Autor Don Winslow („Zeit des Zorns“, „Missing – New York“) auf fiktive Weise die realen Hintergründe des ebenso komplexen wie brutalen mexikanischen Drogenkrieges verarbeitete, legt Winslow nun mit „Das Kartell“ eine Fortsetzung nach, die in jeder Hinsicht ein epochales Thriller-Epos darstellt.
Dabei lässt er mit den Adán Barrera und Art Keller nicht nur die beiden charismatischen Protagonisten aus „Tage der Toten“ wieder aufeinandertreffen, sondern führt einige weitere interessante Figuren ein, die mit ihren Lebensgeschichten jeweils genug Stoff für einen eigenen Roman bieten würden. Das betrifft nicht nur die einzelnen Anführer der Kartelle oder die Polizeichefs, Winslow zeichnet auch die Frauenfiguren und die Journalisten so vielschichtig und authentisch, dass der Leser sich mitten in diesem äußerst blutigen Krieg zu befinden scheint.
Dabei vermischt Winslow auf gekonnte Weise die Fakten mit einer spannenden Handlung, die von unberechenbaren Figuren vorangetrieben wird.
Es ist zwar hilfreich und auch unbedingt zu empfehlen, „Tage der Toten“ gelesen zu haben, aber „Das Kartell“ bildet ein ganz eigenständiges Werk, in dem es nicht nur um die Wahrung und Ausweitung von Machtverhältnissen geht, um gesicherte Transportwege für Drogen- und Waffenlieferungen bis nach Europa, sondern auch um Korruption und Rache. Selbst Art Keller wandelt hier auf einem schmalen moralischen Grat.
Vielleicht ist „Das Kartell“ der beste Thriller des Jahres, auf jeden Fall wirkt dieses atmosphärisch dicht geschriebene, pulsierend spannende Werk lange nach.
Leseprobe Don Winslow - "Das Kartell"

Donald Ray Pollock – „Das Handwerk des Teufels“

Freitag, 19. Juni 2015

(Heyne, 303 S., Tb.)
Kaum haben die beiden Prediger Roy Laferty und dessen Cousin Theodore Daniels aus Topperville einmal den Gottesdienst in der kleinen Gemeinde Coal Creek geleitet, heiratet Roy wenig später die unscheinbare Helen und zieht mit ihr und dem an den Rollstuhl gefesselten Theodore nach Topperville. Roy glaubt nach einem Spinnenbiss, Tote zum Leben erwecken zu können, doch als er nach dem Mord an seiner Frau feststellen muss, dass sie nicht wieder lebendig wird, verscharren die Prediger ihre Leiche im Wald und lassen nichts mehr von sich hören.
1958 stirbt Willard Russells Frau Charlotte, nachdem Willard und sein Sohn Arvin in Knockemstiff an einem Gebetsbaum vergeblich immer neue Opfertiere angenagelt hatten und Willard sogar den Anwalt Henry Dunlap erschlug, um seine Frau und das Haus halten zu können, das dem Anwalt gehörte.
Als sein Vater sich die Kehle durchschneidet, wächst Arvin bei seiner Großmutter auf und kümmert sich um Lenora, Helens und Roys Tochter. Als sie vom ortsansässigen Prediger verführt wird und ein Kind erwartet, bringt sie sich aus Scham um und lässt Arvin das Gesetz selbst in die Hand nehmen. Derweil sind Carl und Sandy Henderson seit dem Sommer 1965 unterwegs, Tramper aufzugabeln und zu ermorden, indem Carl sich als Fotograf ausgibt und den Anhaltern in abgelegenen Gefilden anbietet, sich mit seiner Frau zu vergnügen, während er ein paar Fotos schießt. Sandys Bruder ist Lee Bodecker, der als Sheriff in Meade nicht nur die jüngsten Todesfälle zu untersuchen hat, sondern auch seine Schwester vor dem Tunichtgut Carl zu bewahren und die verschwundenen Prediger aufzufinden versucht.
„Es ärgerte den Sheriff maßlos, dass diese beiden verdammten Perversen in seinem County vielleicht einen Mord begangen hatten, für den er sie nicht belangen konnte; aus diesem Grunde wiederholte er immer wieder dieselbe alte Geschichte, dass aller Wahrscheinlichkeit nach derselbe Freak, der die Familie in Millersburg niedergemetzelt hatte, auch Roy und Theodore in Stücke gehackt oder ihre Leichen in den Greenbrier River geworfen habe. Er erzählte die Geschichte so oft, dass er sie manchmal schon selbst glaubte.“ (S. 124) 
Seiner Heimatstadt Knockemstiff, Ohio, hat der amerikanische Schriftsteller Donald Ray Pollock bereits in seinem gleichnamigen, 2008 veröffentlichten Debüt Tribut gezollt. Mit dem 2011 erschienenen Nachfolger „Das Handwerk des Teufels“, der 2012 zunächst bei der Verlagsbuchhandlung Liebeskind und zwei Jahre später als Taschenbuch bei Heyne Hardcore erschienen ist, hat er die sehr episodenhafte Erzählweise seines Erstlings aufgelockert und zu einem homogeneren Schreibstil gefunden, bei dem Pollock dichter an den Figuren und ihren abgründigen Schicksalen bleibt.
Von den ersten Seiten an geht es um das sprichwörtliche „Handwerk des Teufels“, um Korruption, religiösen Fanatismus, verbotene Leidenschaften und die verlogene Hoffnung auf Erlösung – sei es durch Gott, den Alkohol oder auch brutalen Mord. Dabei spinnt der Autor ein dichtes Netz, die die menschlichen Abgründe, auf die sich seine Protagonisten zubewegen, ohne Ausweg erscheinen lassen, und bedient sich einer wunderbar eindringlichen wie schnörkellosen Sprache, die den Leser unerbittlich am Untergang von Pollocks unheilvollen Figuren teilhaben lässt.
Leseprobe Donald Ray Pollock - "Das Handwerk des Teufels"

Don Winslow – „Satori“

Samstag, 13. Juni 2015

(Heyne, 596 S., Tb.)
Der junge CIA-Agent Nikolai Hel wird nach drei Jahren Einzelhaft, die er für den Mord an General Kishikawa in den tristen Mauern des Sugamo-Gefängnisses absitzen musste, 1951 in einem Vorort von Tokio auf freien Fuß gesetzt, muss im Gegenzug aber in einer geheimen Mission den sowjetischen Oberbevollmächtigten für Rotchina, Juri Woroschenin, umbringen. Da sich die USA mit China im Krieg befinden, soll Hel als französischer Waffenhändler getarnt einen Keil zwischen Peking und Moskau treiben, um einen undurchdringlichen kommunistischen Block zu vermeiden.
Die schöne Französin Solange bereitet Hel, der in Japan aufgewachsen ist und dort in einer Vielzahl von Kampfkünsten unterrichtet worden ist, auf die heikle Mission vor, beginnt aber auch eine leidenschaftliche Affäre mit ihrem Schützling, der den Auftrag nutzen will, um auch eine ganz persönliche Mission zu erledigen, nämlich Rache an den Männern zu nehmen, die ihm nicht nur die Freiheit nahmen, sondern auch folterten. Derweil spielen sich auch die CIA-Männer Haverford, Singleton und Diamond gegeneinander aus. Hel, auch ein Meister des Strategie-Spiels Go, muss sich immer wieder auf die Spielzüge konzentrieren, um seine Optionen abzuwägen und seine Mission erfolgreich zu Ende bringen zu können.
„Er wechselte die Paradigmen und stellte sich das Szenario als Go-Brett vor, setzte seine schwarzen Steine und spielte. Er begegnete den zu erwartenden Herausforderungen, aber ansonsten fiel ihm nichts weiter auf. Falls Woroschenin meine wahre Identität kennt und sich daran erinnert, wie er mit der Gräfin Alexandra Iwanowna umgesprungen ist, dann ist es gut möglich, dass ich in eine Falle tappe, aber das weiß ich schon und bin darauf vorbereitet.
Da ist noch etwas anderes.
Er wechselte wieder das Gedankenmodell und beschloss, mit den weißen Steinen gegen seine eigenen schwarzen anzutreten.
Es war eine Offenbarung.“ (S. 247) 
Dass im Heyne-Verlag ein Werk von Don Winslow, der eigentlich bei Suhrkamp und Knaur beheimatet ist, erscheint, mag zunächst überraschen, aber das Nachwort des Autors klärt die Zusammenhänge auf: 2011 erschien im Heyne-Verlag nämlich die Neuauflage des Klassikers „Shibumi“ des 2005 verstorbenen Schriftstellers Rodney William Whitaker, den er 1979 unter seinem Pseudonym Trevanian („Im Auftrag des Drachen“) veröffentlicht hat. Auf den Vorschlag seines Agenten verfasste Don Winslow nun mit „Satori“ die Vorgeschichte zu Trevanians internationalen Thriller-Erfolg.
Dabei gelingt es dem Bestseller-Autor („Tage der Toten“, „Zeit des Zorns“) meisterhaft, seine Leser in die asiatische Kultur der 1950er Jahre einzuführen und die internationalen Spionage-Aktivitäten der damaligen Zeit in einen ebenso exotisch gefärbten wie spannenden Plot zu packen, der zum Ende hin immer wieder interessante Wendungen nimmt.
Leseprobe Don Winslow - "Satori"

Tess Gerritsen - (Rizzoli & Isles: 11) „Der Schneeleopard“

Sonntag, 31. Mai 2015

(Limes, 416 S., HC)
Als die Bostoner Polizei eines Morgens durch einen Briefträger über einen grausigen Leichenfund alarmiert wird, finden Jane Rizzoli und ihr Partner Barry Frost am Tatort eine nackte Leiche eines Mannes, der kopfüber von der Decke hängt, die Fußknöchel mit einem Nylonseil gefesselt und den Bauch so aufgeschlitzt, dass sich bereits ein Fliegenschwarm an den Inneren, die nicht entnommen wurden, gütlich tat. Der 64-jährige Leon Godt hatte sich einen Namen als leidenschaftlicher Jäger und einer der führenden Tierpräparatoren vor allem für große Wildkatzen gemacht und fand nun offensichtlich jenes Ende, das er zu seinen Lebzeiten den gnadenlosen Jägern in freier Wildbahn bereitet hatte.
Die Spur führt Rizzoli, ihre Kollegen und die Rechtsmedizinerin Dr. Maura Isles nach Botswana, wo Godts Sohn Elliot fünf Jahre zuvor bei einem Campingtrip, das als das „ultimative Buschabenteuer“ angepriesen wurde ebenso spurlos verschwand oder getötet wurde wie fünf seiner touristischen Begleiter und der Safari-Begleiter Clarence Nghobo. Allein die Londoner Buchhändlerin Millie Jacobson konnte damals den mörderischen Ereignissen entfliehen und hält sich seitdem auf einer Farm in Südafrika bei ihrem damaligen Retter und jetzigen Ehemann versteckt.
Als weitere Leichen mit ganz ähnlichen Verletzungen auch in anderen US-Bundesstaaten entdeckt werden, haben es Rizzoli & Co. auf einmal mit einem Serienkiller zu tun, der offenbar schon seit Jahren sein bizarres Werk verrichtet.
Rizzoli und ihr Mann, FBI-Agent Dean Gabriel, sind dringend auf Millie Jacobsons Hilfe angewiesen, um diese menschliche Bestie fassen zu können. Der nach wie vor vermisste Anbieter der Safari, Johnny Posthumus, ist nach Millies Angaben der offensichtliche Täter.
„Wir glaubten – ich glaubte -, dass wir bei ihm in sicheren Händen wären. Im Delta kann man auf Dutzende verschiedene Arten den Tod finden. Jedes Mal, wenn man aus dem Jeep steigt oder das Zelt verlässt, lauert irgendetwas auf einen oder trachtet einem nach dem Leben. An einem solchen Ort ist der eine Mensch, dem man einfach glauben und vertrauen muss, der Safari-Guide. Der Mann mit der Erfahrung, der Mann mit dem Gewehr.“ (S. 348f.) 

Mit ihrem bereits 11. Band in der Reihe um die Bostoner Polizistin Jane Rizzoli und ihre Freundin, die Pathologin Maura Isles, knüpft die amerikanische Thriller-Autorin Tess Gerritsen fast nahtlos an die erstklassig inszenierten Vorgänger an, mit denen es die sympathischen Protagonistinnen sogar zu einer eigenen Fernsehserie geschafft haben, die bereits in die fünfte Staffel geht.
Der neue Fall erhält vor allem durch die exotische afrikanische Kulisse neue atmosphärische Akzente, die vor allem durch die Ich-Erzählung der Safari-Touristin Millie Jacobson in Echtzeit auch eine dramatische Komponente erhalten. Natürlich entwickeln sich die Dinge und Ermittlungen wieder nicht erwartungsgemäß, und Jane wird durch den Fall wieder an ihre eigene Begegnung mit der menschlichen Bestie erinnert, die damals Jagd auf sie gemacht hatte.

Davon abgesehen halten sich die Einblicke in die privaten Nischen von Rizzoli & Isles eher in Grenzen. Dafür gestaltet sich der Fall um den exotischen (in der deutschen Ausgabe) titelgebenden Schneeleoparden bis zum furiosen Finale angenehm vielschichtig.

Scott Turow – „Die Erben des Zeus“

Montag, 25. Mai 2015

(Blessing, 431 S., HC)
Die eineiigen Zwillinge Paul und Cass Gianis halten seit ihrer Kindheit wie Pech und Schwefel zusammen. Doch als eines Tages im September 1982 Cass‘ Verlobte Dita Kronon ermordet in ihrem Bett aufgefunden wurde, hat sich der jahrzehntelange Streit zwischen den beiden aus Griechenland stammenden Familien Gianis und Kronon weiter zugespitzt. Zwar hat sich Cass damals schuldig bekannt und steht nach 25 Jahren Haft nun kurz vor seiner Entlassung, doch der Immobilien-Tycoon Hal Kronon ist längst nicht davon überzeugt, dass die Familie, die für den Mord an seiner Schwester verantwortlich gewesen ist, genügend gebüßt hat.
Also engagiert er mit der ehemaligen FBI-Agentin Evon Miller und dem Privatdetektiv Tim Brodie zwei Ermittler, die seinem Verdacht nachgehen sollen, dass auch Paul in die damaligen Ereignisse verwickelt war. Er selbst lässt Fernsehspots produzieren, die Paul wichtige Stimmen im Kampf um das Amt des Bürgermeisters von New York kosten.
Brodie, der damals als leitender Ermittler in der Mordsache keine gute Figur gemacht hatte, ist auf einmal gezwungen, sich wieder mit den Beweisen des Falls auseinanderzusetzen. Eine DNA-Untersuchung soll neue Erkenntnisse erbringen, doch wie Miller und Brodie erfahren müssen, liegt die Auflösung des Mordes viel tiefer verborgen.
„Giannis verheimlichte irgendwas. Das war das eigentliche Problem. Man konnte über die Presse und die Wahlkampf-Finanzierungsgesetze schimpfen und sagen, dass Politik verlogen war, und in neunzig Prozent der Fälle lag man damit richtig. Aber in Wahlkämpfen kamen oft harte Wahrheiten, bedeutsame Wahrheiten über Kandidaten ans Licht. Es ähnelte einer Gehirnoperation mit dem Pressluftbohrer. Aber mit jedem Tag wurde deutlicher, dass Gianis irgendetwas verschwieg.“ (S. 132) 
Scott Turow wirkte zwischen 1978 und 1986 als Staatsanwalt in Chicago und hat als Gegner der Todesstrafe beispielsweise 1995 die Freilassung von Alejandro Hernandez erreicht, nachdem dieser elf Jahre unschuldig in der Todeszelle gesessen hatte. Sein Romandebüt „Aus Mangel an Beweisen“ (1987) wurde nicht nur mit dem Silver Dagger prämiert, sondern 1990 auch erfolgreich von Alan J. Pakula mit Harrison Ford in der Hauptrolle verfilmt. Seither ist der amerikanische Justiz-Thriller-Autor nicht mehr aus den Bestseller-Listen wegzudenken. Dass er in das Zentrum seines neuen Romans „Die Erben des Zeus“ zwei griechisch-stämmige Familien stellt und mit Zeus Kronon auch eine zentrale Figur mit einem Götternamen versieht, kommt dabei nicht von ungefähr, denn der Roman erweist sich als komplexes Verwirrspiel, in dem die Anwälte und Ermittler lange Zeit im Nebel der dunklen Geheimnisse stochern, die sowohl die Kronons als auch die Gianis über Jahrzehnte gehütet haben. Gleich einer griechischen Tragödie ziehen sich die familiären Verstrickungen zurück bis zu Hals Vater Zeus, dessen Schwester Teri und deren bester Freundin Lidia, Pauls und Cass‘ Mutter.
Turow versteht es wie gewohnt souverän, den Leser schon mit dem ersten Kapitel, das die unmittelbare Vorgeschichte zum Mord rekapituliert, zu fesseln und über die nächsten 400 Seiten auch nicht mehr loszulassen. Wie ein Gerichtsmediziner seziert er die Abgründe zweier verhasster Familien, die auf schicksalhafte Weise seit einem Ladenpachtgeschäft miteinander verbunden sind. Stolz, Verrat, Schuld, Rache und Täuschung sind die großen Themen, die der Autor auf meisterhafte Weise in eine spannende Handlung webt und sprachlich so ungemein geschliffen präsentiert.
Leseprobe Scott Turow - "Die Erben des Zeus"

Jim Thompson – „Jetzt und auf Erden“

Donnerstag, 14. Mai 2015

(Heyne, 334 S., Tb.)
San Diego in den 1940er Jahren. James „Dilly“ Dillon hat schon in jungen Jahren einige Geschichten für gutes Geld verkaufen können, doch seit er mit einer Schreibblockade zu kämpfen hat, muss er sich und seine Familie mit schlecht bezahlten Handlanger-Jobs herumschlagen. Als er in einer Flugzeugfabrik anfängt, überrascht er seine Vorgesetzten mit einigen Verbesserungsvorschlägen und steigt schnell zum Lagerbuchhalter auf, was die Missgunst seiner Kollegen auf sich zieht. Allerdings ist die Arbeit auch so ermüdend, dass Dilly kaum dazu kommt, seine Schriftsteller-Ambitionen ernsthaft verfolgen zu können.
In dem viel zu kleinen Haus, wo er mit seiner Mutter, seiner Frau Roberta und den drei Kindern lebt, hat er nur sporadisch Zeit, auf der Toilette an einer Geschichte zu schreiben, aber außer Stückwerk kommt dabei nicht heraus. Immer wieder muss er an seinen Vater denken, der nach Ölquellen bohrte und ab und an sogar richtig viel Geld mit nach Hause brachte, und an bessere Zeiten, als er Storys für über tausend Dollar im Monat verkaufte, Direktor beim Writer’s Project wurde und eines von zwei Stipendien im Jahr von der Stiftung bekam.
„Und, fragte ich mich, warst du jemals glücklich? Hast du jemals deinen Frieden gehabt? Natürlich nicht, um Himmels willen. Du warst immer in der Hölle. Du bist nur noch tiefer gesunken. Und das wird so weitergehen, weil du wie dein Vater bist. Wie dein Vater ohne dessen Durchhaltevermögen. In ein, zwei Jahren haben sie dich in der Klapse. Weißt du nicht mehr, wie es mit deinem Vater abwärtsging? Genau wie bei dir. Ganz genau wie bei dir. Zornig. Sprunghaft. Trübsinnig. Und dann – na, du weißt es ja. Ha, ha. Du weißt es doch, verdammt.“ (S. 36) 
Als schließlich noch Dillys völlig abgebrannte Schwester Marge in den Schoß der Familie zurückkehrt, droht seine Welt vollends in Streit und Chaos zu versinken …
Obwohl Jim Thompsons Debütroman „Jetzt und auf Erden“ aus dem Jahre 1942 ebenso wie spätere Werke wie „Die Verdammten“, „In die finstere Nacht“ und „Blind vor Wut“ in wunderbar einheitlicher und ansprechender Aufmachung in der Heyne-Hardcore-Reihe erschienen ist, hat diese autobiografische Tour de Force noch wenig mit den finsteren Noir-Geschichten zu tun, mit denen der 1906 in Anadarko, Oklahoma, geborene Thompson zu einem der führenden Vertreter des Genres werden sollte. Finster ist trotzdem der Grundton, den Thompson in seinem längst zum Klassiker avancierten Werk anschlägt. Ebenso wie er selbst nach frühen Erfolgen als Schriftsteller sich als Glücksspieler, Sprengstoffexperte, Ölarbeiter und Alkoholschmuggler durchschlug, schlägt sich auch sein Alter Ego James Dillon mehr schlecht als recht durchs Leben.
„Jetzt und auf Erden“ präsentiert sich nicht als düsterer Krimi, besitzt keine Spannungsbögen oder knifflige Wendungen. Es ist die fast schon lapidare Ich-Erzählung eines schriftstellerischen Talents, dem irgendwann im ermüdenden Alltagstrott die zündenden Ideen und der Schwung ausgehen, lesenswerten Stoff zu produzieren. Thompson bedient sich dabei einiger Rückblenden, um die Geschichte seiner unglückseligen Familie und vor allem seine schwierige Beziehung zum eigenen Vater aufzudröseln, während die Gegenwart ganz im grauen Staub der Fabrikarbeit versinkt.
Er nimmt sich die Freiheit, seitenlang über die Abläufe in der Flugzeugfabrik zu schreiben, wohl wissend, den Leser auf eine Geduldsprobe zu stellen. Doch gerade mit der ausführlichen Beschreibung alltäglicher Routinearbeiten macht der Autor deutlich, wie Träume und Talente mit der Zeit aufgerieben werden können.
In seinem interessanten Vorwort weist Stephen King treffend darauf hin, dass Thompsons Romane „erschreckende Abbilder des kleinstädtischen Schmerzes, der Scheinheiligkeit und Verzweiflung“ sind. Besser lässt sich auch „Jetzt und auf Erden“ kaum beschreiben.
Leseprobe Jim Thompson - "Jetzt und auf Erden"

Karin Slaughter – (Georgia: 4) „Bittere Wunden“

Samstag, 9. Mai 2015

(Blanvalet, 573 S., HC)
Im Juli 1975 bekamen die beiden jungen Polizistinnen Amanda Wagner und Evelyn Mitchell von ihrem neuen Sergeant Luther Hodge den Auftrag, einer Vergewaltigungsanzeige im Ghetto-Viertel Techwood nachzugehen, nachdem ein Anwalt namens Treadwell ordentlich Staub im Büro des Sergeants aufgewirbelt hatte. Unter der Adresse, zu der Wagner und Mitchell geschickt worden sind, war Treadwells Nichte Kitty gemeldet, doch von Jane Delray, einer der Untermieterinnen, erfuhren die beiden Polizistinnen vom Sittendezernat, dass nicht nur Kitty, sondern auch Lucy Bennett und Mary Halston seit Monaten verschwunden sind.
Doch als sie die Suche nach den vermissten Prostituierten auf eigene Faust fortsetzen wollten, wurden sie von ihren männlichen Kollegen immer wieder auf übelste Weise diskriminiert und ausgebremst. Allein Hodge hielt den unbeirrbaren Frauen so gut es geht den Rücken frei. In der Gegenwart verkündet Amanda Wagner bei einer Pressekonferenz, dass das Georgia Bureau of Investigation eine Fahndung nach der 19-jährigen Studentin Ashleigh Renee Jordan ausgegeben hat. Will Trent darf diesen Fall nicht bearbeiten, weil seine Chefin ihn zum Dienst am Flughafen abgeordnet hat.
So hat er Zeit, mit Dr. Sara Linton, mit der er seit Wochen liiert ist, einen Spaziergang nach Buttermilk Bottom zu machen, wo das Kinderheim stand, in dem Will aufgewachsen ist. Wenig später taucht Wills Chefin Amanda Wagner dort auf und berichtet ihm, dass sein wegen mehrfachen Mordes verurteilter Vater aus dem Gefängnis entlassen worden ist. Will stellt sofort eine Verbindung zwischen dem aktuell vermissten Mädchen und den Fällen her, die vor 35 Jahren zur Verurteilung seines Vaters geführt haben. Offensichtlich findet die grausige Mordserie von damals heute ihre Fortsetzung.
„Sara hatte noch nie an das Konzept des Bösen geglaubt. Sie betrachtete das Wort als eine Ausrede – als Möglichkeit, Geistesgestörtheit oder Verderbtheit wegzuerklären. Ein sicheres Wort, hinter dem man sich verstecken konnte, statt der Wahrheit ins Auge zu sehen: dass Menschen zu abscheulichen Taten fähig waren; dass uns nicht viel davon abhielt, unseren niederen Trieben nachzugeben.“ (S. 344f.) 
Wie schon in „Harter Schnitt“, dem vorangegangenen Band in der „Georgia“-Reihe um Will Trent, Sara Linton, Evelyn Mitchell und Amanda Wagner, haben es die ProtagonistInnen in „Bittere Wunden“ mit einem sehr persönlichen Fall zu tun. Im Gegensatz zu dem dramaturgisch so homogen inszenierten Vorgänger wirkt „Bittere Wunden“ allerdings nicht nur wegen der Zeitsprünge wie ein dürftig aufeinander abgestimmtes Flickwerk, bei dem Karin Slaughter sich scheinbar nicht so recht entscheiden konnte, worauf das Buch seinen Fokus richten soll. Denn viel interessanter als der Fall der vermissten und gefolterten Mädchen ist der amerikanischen Bestseller-Autorin die Milieustudie gelungen, die den Leser eine Zeitreise zu dem Beginn der beruflichen Karriere der beiden Freundinnen Amanda und Evelyn unternehmen lässt.
Wie diese damals in einer Atmosphäre von Rassismus und Frauenfeindlichkeit ihren Weg bei der Polizei gemacht haben, ist eindrucksvoll emotional geschrieben und macht deutlich, warum die beiden taffen Frauen jetzt so sind, wie wir sie kennen. Ebenso aufschlussreich stellt sich Wills Reise in die Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit dem mörderischen Treiben seines Vaters dar. Seine Angst, dass er auch nur einen winzigen Teil seines Vaters in sich tragen könnte, lässt Will daran zweifeln, eine ernsthafte Beziehung zu einer Frau wie Sara zu unterhalten, die so ganz anders ist als seine Noch-Ehefrau Angie, mit der er durch eine traumatische Kindheit verbunden ist.
Karin Slaughter hätte sich damit begnügen können, den psychischen Befindlichkeiten ihrer Figuren auf den Grund zu gehen, doch als Thriller-Bestseller-Autorin musste natürlich auch ein Fall her, dessen Auflösung am Ende doch arg konstruiert wirkt.
„Bittere Wunden“ funktioniert wunderbar als gut recherchierte Geschichte über die sozioökonomische Struktur der Polizei in Atlanta in den 1970er Jahren und vor allem über die schwierige Rolle von Frauen innerhalb dieser staatlichen Organisation. Die Ermittlungen in den Fällen von damals und heute sind dagegen nicht so stringent dargelegt, wie wir es in schöner Regelmäßigkeit von Karin Slaughter gewohnt sind.
Leseprobe Karin Slaughter - "Bittere Wunden"

Karin Slaughter – (Georgia: 3) „Harter Schnitt“

Sonntag, 3. Mai 2015

(Blanvalet, 512 S., Tb.)
Nach der Geburt ihrer Tochter Emma hat Special Agent Faith Mitchell wieder ihren Job bei Georgia Bureau of Investigation aufgenommen. Tagsüber kümmert sich Faith‘ Mutter Evelyn um das gerade mal vier Monate alte Kind, mit dessen Vater Faith nichts mehr zu tun haben möchte. Als sie sich nach einem Computerkurs etwas verspätet, versucht Faith vergeblich, ihre Mutter zu erreichen, was absolut ungewöhnlich ist. Wie begründet ihre Sorge gewesen ist, erfährt Faith vor Ort: Bereits an der Tür entdeckt sie einen blutigen Handabdruck, ihre Emma findet sie im sonst verschlossenen Schuppen, in der Wohnung ihrer Mutter begegnet sie drei Männern, von denen einer bereits tot in der Wäschekammer liegt, die anderen beiden kann sie mit gezielten Schüssen ausschalten. Von ihrer Mutter fehlt allerdings jede Spur. 
Während Faith selbst sich erst mal von Dr. Sara Linton untersuchen lässt, bevor sie als Zeugin und Beteiligte vernommen werden kann, übernehmen Faith‘ Partner Will Trent und seine Vorgesetzte Amanda Wagner die Ermittlungen. Während Evelyn beim Atlanta Police Department den Weg für die Karriere von Frauen ebnete, erreichte ihre Freundin Amanda dasselbe beim GBI. Doch dann wurde gegen Evelyns Truppe im Drogendezernat wegen Korruption ermittelt. Alle Beteiligten wanderten in den Knast und stellten sich schützend vor ihre Vorgesetzte, die schließlich bei vollen Bezügen in Frühpension gehen durfte.
Doch die Vergangenheit hat Evelyn offensichtlich eingeholt. Will, der damals die Untersuchung gegen Evelyn geleitet hatte, und seine Kollegen identifizieren einige Tote als Mitglieder der mexikanischen Gang Los Texicanos. Und Evelyns Nachbarin und ehemalige Kollegin Roz Levy gibt in der Befragung zu Protokoll, dass sich Evelyn in letzter Zeit mit einem Mann getroffen hatte, der auf dem Unterarm ebenfalls das Tattoo der Los Texicanos trug.
Während Amanda, Faith und Will auf ein Zeichen von Evelyns Entführer warten, glaubt vor allem Will daran, dass es hier nicht um Geld, sondern um eine sehr persönliche Sache geht. Auf privater Ebene hat Will vor allem damit zu tun, seine Gefühle für Sara Linton und seine komplizierte Ehe mit Angie zu analysieren.
„Als Kind hatte Will sich beigebracht, nichts zu wollen, was er nicht haben konnte – die neuesten Spielsachen, Schuhe, die tatsächlich passten, selbst gekochte Mahlzeiten, die nicht aus einer Dose kamen. Seine Fähigkeit zur Selbstleugnung verschwand, sobald es um Sara Linton ging. Er konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie ihre Hand auf seiner Schulter sich angefühlt hatte, als sie gestern auf der Straße gestanden hatten. Ihr Daumen hatte seinen Hals gestreichelt. Sie hatte sich auf Zehenspitzen gestellt, damit sie auf gleicher Höhe waren, und einen Augenblick lang hatte er gedacht, sie würde ihn küssen.“ (S. 277) 
In ihrem dritten Roman (nach „Tote Augen“ und „Letzte Worte“), der die Schicksale der beiden GBI-Agenten Faith Mitchell und Will Trent mit dem der Ärztin Dr. Sara Linton verbindet, begnügt sich die amerikanische Thriller-Bestseller-Autorin Karin Slaughter erneut mit einer recht kurzen Einführung, um ihre Leser dann mit einem dermaßen packenden Fall zu fesseln, dass man „Harter Schnitt“ nicht mehr aus den Händen legen mag.
Dadurch, dass mit Faith Mitchell eine der Protagonistinnen so direkt in einen Fall involviert ist, wie sonst zuvor niemand, bangt das Publikum nicht nur intensiver mit, sondern erfährt dankenswerter Weise auch mehr über den Hintergrund der treibenden Kräfte der Georgia-Reihe. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht allein das Verhältnis von Faith zu ihrer Mutter und zu ihren Kindern Jeremy und Emma auf der einen Seite, sondern auch Wills merkwürdige Ehe mit Angie, mit der er seit der gemeinsamen Pflegeheim-Zeit verbunden ist.
Karin Slaughter ist eine absolute Meisterin, wenn es darum geht, eine Adrenalin-geschwängerte Spannung in einem undurchschaubaren Fall aufzubauen und dabei immer wieder auf die persönlichen Probleme ihrer Figuren einzugehen. Mit „Harter Schnitt“ hat die Autorin einmal mehr ihre unnachahmliche Fähigkeit unter Beweis gestellt, ihre Leserschaft mit einem extrem spannenden, sehr persönlichen Fall zu unterhalten und gleichzeitig die Bindung zu den außergewöhnlichen Handlungsträgern zu intensivieren.
Leseprobe Karin Slaughter - "Harter Schnitt"

Karin Slaughter – (Georgia: 1) „Tote Augen“

Freitag, 1. Mai 2015

(Blanvalet, 574 S., Tb.)
Die Ärztin Dr. Sara Linton versorgt im Grady Hospital gerade die schwangere Polizistin Faith Mitchell, die von ihrem Partner Will Trent nach einem Ohnmachtsanfall eingeliefert worden ist, als die Opfer eines Verkehrsunfalls ihre Aufmerksamkeit erfordern. Während ihr Kollege Krakauer sich um Fahrer und Beifahrer kümmert, hat es Sara mit einer Frau zu tun, die bevor sie angefahren worden ist, offensichtlich gefoltert und sexuell misshandelt wurde. Als sich Special Agent Will Trent vom Georgia Bureau of Investigation in dem Wald nahe des Unfalls auf die Suche nach der Höhle macht, in der die Frau gefoltert und ausgehungert wurde, stößt er auf ein weiteres weibliches Opfer, das sich nach der Flucht aus der Folterhöhle offensichtlich in einem Baum selbst das Leben nahm, um seinem Leiden ein Ende zu bereiten.
Während Sara auf der einen Seite versucht, als Ärztin mehr zur Aufklärung der Fälle beizutragen, als es ihre Pflicht wäre, versucht sie die merkwürdige Beziehung zu verstehen, die sie mit Will verbindet. Sara ist vor zwei Jahren aus dem Grant County, wo sie Coroner und Kinderärztin gewesen ist, nach Atlanta gezogen, nachdem ihr Mann, Polizeichef Jeffrey Tolliver, bei einem Bombenanschlag getötet worden war. Seither hat sie keine nennenswerten Freunde gefunden. Auf der anderen Seite lebt Will in einer merkwürdigen Ehe mit der Polizistin Angie, die immer mal wieder für Monate völlig aus Wills Leben verschwindet und dann ebenso unverhofft wieder auftaucht.
Ganz andere Probleme beschäftigen Faith Mitchell, die nicht nur mit ihrer aktuellen Schwangerschaft zu kämpfen hat, sondern der auch noch Diabetes diagnostiziert wird, was sie selbst daran zweifeln lässt, ob sie Will noch eine verlässlichere Partnerin sein kann.
„Faith schloss die Augen und stellte sich die Autopsiefotos von Jacquelyn Zabel vor, die Höhle, in der Jacquelyn und Anna Lindsey festgehalten worden waren. Sie rief sich die Abscheulichkeiten ins Bewusstsein, die diesen Frauen passiert waren – die Folterungen, der Schmerz. Wieder legte sie die Hand auf den Bauch. War das Kind, das in ihr wuchs, ein Mädchen? In was für eine Welt brachte Faith sie; eine Welt, on der junge Mädchen von ihren Vätern belästigt wurden, in der Magazine einem sagten, dass man nie perfekt genug sein könne, in der Sadisten einen von einem Augenblick auf den anderen aus der eigenen Welt heraus und weg vom eigenen Kind reißen und für den Rest des Lebens in eine Hölle auf Erden stoßen konnten?“ (S. 407) 
Derweil nimmt der Fall der beiden gefolterten Frauen größere Dimensionen an, als eine weitere Frau verschwindet. Abgesehen von ihrem ähnlichen Aussehen scheint die einzige Verbindung zwischen den Frauen ein Chatroom zu sein, zu dem die Ermittler keinen Zugang finden. Der einzige Mensch, der alle drei Frauen kennt, ist der Entführer …
Nach sechs Bänden der "Grant-County"-Reihe, in der die amerikanische „Thriller-Queen“ Karin Slaughter (BILD am Sonntag) den Fällen von Sara Linton und Jeffrey Tolliver nachging, hat sie mit „Verstummt“ und „Entsetzen“ zunächst zwei Bände um den Special Agent Will Trent herum konstruiert, ehe sie mit „Tote Augen“ nun erstmals Sara Linton und Will Trent in der „Georgia“-Reihe aufeinandertreffen lässt.
Auf knapp 600 Seiten nimmt die komplexe Ermittlung in den Fällen der entführten und gefolterten Frauen natürlich einen breiten Raum ein, und Karin Slaughter zeigt sich überhaupt nicht zimperlich, wenn es um die brutalen Details geht, die das Leiden und die Wunden der Opfer beschreiben. Zum Glück widmet die Autorin aber auch den persönlichen Entwicklungen ihrer Figuren viel Zeit. Wie Sara nach wie vor den Tod ihres Mannes vor drei Jahren zu verarbeiten und darüber hinaus zu definieren versucht, wie ihre Gefühle für Will Trent gestaltet sind, ist ebenso psychologisch nachvollziehbar dargelegt wie die Sorgen, die Faith Mitchell umtreiben, die bereits im Alter von 14 Jahren ihr erstes Kind geboren hat und nun nicht nur eine weitere Schwangerschaft zu verdauen hat, sondern auch die Diabetes-Diagnose, die sie ebenso sehr privat wie beruflich beschäftigt.
Und auch Will ist noch von seiner Vergangenheit gezeichnet, vom frühen Tod seiner Mutter, der Inhaftierung seines Vaters und den Aufenthalten in staatlichen Kinderheimen ebenso wie von der schwierigen Beziehung zu seiner Frau, die die meiste Zeit nicht da ist. Slaughter gelingt es geschickt, die Ermittlungen und die persönlichen Belange von Sara, Will und Faith nahtlos miteinander zu verweben, ohne die Spannung zu vernachlässigen. Selbst mit der Auflösung lässt sich Slaughter viel Zeit.
„Tote Augen“ stellt einen vielversprechenden Auftakt zu einer neuen Reihe da, in der kürzlich mit „Bittere Wunden“ bereits der vierte Teil erschienen ist.
Leseprobe Karin Slaughter - "Tote Augen"

Irvine Welsh – „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“

Dienstag, 21. April 2015

(Heyne, 447 S., HC)
Die taffe Fitnesstrainerin Lucy Brennan macht sich mit ihrem 1998er Cadillac DeVille gerade auf den Weg nach South Beach, als ihr zwei Männer mit wedelnden Armen auf dem fast verlassenen Causeway entgegenlaufen. Während der eine Typ über ihre Motorhaube abrollt, wird sein Begleiter von einem anderen Fahrzeug voll erwischt. Schließlich taucht ein dritter Mann mit einer Pistole aus dem Dunkeln, den Lucy beherzt entwaffnet.
Von einer Zeugin wird der Vorfall mit einem Handy gefilmt, Lucy avanciert in Blitzeseile zu einer Heldin, der von VH1 sogar eine eigene Fernsehshow in Aussicht gestellt wird. Allerdings wendet sich das Blatt, als herauskommt, dass der Mann, den Lena entwaffnete, Opfer eines Pädophilenrings gewesen ist, der zwei der Triebtäter verfolgt hat.
Statt einer eigenen Fernsehshow bekommt Lucy nun die Zeugin Lena Sorensen als Klientin, die bei einer Körpergröße von 1,60m ordentliche 100 Kilogramm auf die Waage bringt. Dabei ist Lucy gar nicht so eine Loserin, wie sie auf den ersten Blick erscheint, sondern eine populäre Künstlerin, die mit ihren Skulpturen aus Tierknochen bereits auf einige erfolgreiche Ausstellungen und Verkäufe zurückblicken kann. Da sie allerdings nicht die Vorgaben ihrer Trainerin erfüllt, greift Lucy zu drastischeren Mitteln und sperrt Lena in dem verlassenen Apartment ihrer Mutter ein, das sie erst wieder verlassen darf, wenn sie wieder ihr Normalgewicht erreicht hat.
„Bis du endlich erwachsen geworden bist und ich dich ernst nehmen kann, werde ich alle Entscheidungen für dich treffen, in deinem Interesse. Denn deine schlechten Entscheidungen wirken sich negativ auf mein Leben aus! Dieses Video von mir dem Fernsehen zu geben: schlechte Entscheidung! Dir den Mund mit Scheiße vollzustopfen, obwohl ich alles unternehme, damit du abnimmst: verdammt schlechte Entscheidung!“ (S. 210f.) 
Der im schottischen Leigth nahe bei Edinburgh geborene und mittlerweile in Chicago lebende Irvine Welsh ist durch die kongeniale Verfilmung seines Debüt-Romans „Trainspotting“ durch Danny Boyle weltberühmt geworden. Nachdem er 2012 mit dem epischen „Skagboys“ die Vorgeschichte zu diesem Bestseller erzählte, folgt nun mit „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ quasi das amerikanische Pendant dazu.
Hinter dem etwas kurios anmutenden Titel verbirgt sich ein beißender Kommentar auf den hedonistischen Körperkult und Schönheitswahn, wie er im Miami wohl am eindrucksvollsten zur Schau gestellt wird. Mit der körperbewussten Lucy und der zurückhaltenden Lena lässt Welsh zwei Frauentypen aufeinanderprallen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch hängen sie wie die titelgebenden siamesischen Zwillinge zusammen, die immer mal wieder wie ein McGuffin in bester Hitchcock-Tradition auftauchen. Die Geschichte der sechzehnjährigen siamesischen Zwillinge Amy und Annabel aus Arkansas taucht immer wieder in den Medien auf, weil sich das eine Mädchen von dem anderen trennen möchte, um mit seinem Freund ungestört zusammen sein zu können.
Wie Lucy und Lena miteinander umgehen, ist schon grenzwertig und wird von Welsh auch in expliziter Sprache wiedergegeben. Vor allem bei den Sexszenen nimmt der Bestseller-Autor kein Blatt vor den Mund und lässt der Fantasie nicht viel Raum. Der Roman weist gerade in der Mitte auch einige Längen auf, wenn sich die Story nicht wirklich weiterentwickelt. Dafür präsentiert Welsh immer wieder interessante Intermezzi wie die tagebuchähnlichen „Morgenseiten“, die Rezeption von Lenas Kunst in der Fachpresse und verschiedene email-Kommunikationen.
Zum Schluss hin nimmt „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ aber wieder mächtig an Fahrt auf und präsentiert einige interessante Wendungen und Hintergründe zum Verhalten der Protagonistinnen. Lucy und Lena präsentieren hier zwei Vorzeigefiguren des „American Way of Life“, den Fitnesswahn und Körperkult ebenso wie die Abhängigkeit von Fast Food auf der einen Seite, die Medienhysterie auf der anderen Seite.
Leseprobe Irvine Welsh - "Das Sexleben siamesischer Zwillinge"

Donald Ray Pollock – „Knockemstiff“

Samstag, 18. April 2015

(Heyne, 256 S., Tb.)
In Knockemstiff, Ohio, liegt der Hund begraben. Es ist ein so ödes Kaff, dass sich die Menschen an Erinnerungen und Träume klammern oder der wenig erquicklichen Realität zu entfliehen versuchen. Bobby erinnert sich beispielsweise an eine Augustnacht, als er sieben Jahre alt war und mit seinem Vater ins Torch-Drive-in fuhr, um „Godzilla“ zu gucken. Erst geriet sein aus dem Autoaschenbecher Whiskey trinkende Vater in eine Schlägerei mit einem Schrank von einem Mann, dann legte sich auch Bobby mit einem größeren Jungen an, was seinem Vater erstmals ein Lob abrang.
Ein 19-jähriger Junge versteckte sich drei Jahre lang mit einem Taschenmesser und einem Bindfadenball auf den Mitchell Flats in einem alten Schulbus vor dem Militärdienst und entledigte sich auch der beiden Soldaten, die nach ihm suchten.
Um seinen Vater zu beeindrucken, der immer wieder von seinem Sohn gefordert hat, sich endlich ein Mädchen zu nehmen, inszeniert dieser geschickt eine Entjungferung auf dem Rücksitz seines Autos, so dass der Alte endlich Ruhe gibt und er in der Achtung seiner Clique steigt.
Der 28-jährige Hank jobbt noch immer in Maude Speakmans Laden und trauert seinem ersten Schwarm Tina Elliot nach, die mit ihrem Freund Boo zu einem Ölfeld nach Texas ziehen will.
„Ich schätze, ich habe Tina Elliot immer geliebt, vom ersten Augenblick, als ich sie sah, obwohl sie bis ins Mark verdorben ist. Kurz nachdem ich im Laden angefangen hatte, war sie mit ihrer Mutter reingekommen, da war sie noch ein kleines, unscheinbares Ding und sagte, sie würde mir für einen Reese Peanut Butter Cup einen Kuss geben. Das war, bevor sie alt genug für andere Dinge war, und seit sie anfing, mit Jungs rumzumachen, hat sie einen gesucht, der sie von hier wegbringt. Ich wünschte, ich wäre derjenige, wirklich, aber ich glaube nicht, dass ich jemals die Senke hier verlasse, nicht mal für Tina. Ich bin schon mein ganzes Leben lang hier, wie ein Giftpilz an einem verrotteten Baumstumpf, nicht mal in die Stadt gehe ich, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.“ (S. 41 f.) 
So wie Hank geht es irgendwie allen Protagonisten, die meistens als Ich-Erzähler in 18 Kapiteln Episoden aus ihrem an sich ereignislosen Leben zum Besten geben. Der einzige Zusammenhang zwischen den Kapiteln bildet der fatalistisch-deprimierte Grundton, mit dem die Figuren sich in ihr perspektivloses Schicksal ergeben.
Mit seinem 2008 veröffentlichten Debüt als Schriftsteller hat der in Ohio aufgewachsene Donald Ray Pollock einen Erzählband kreiert, dem keine wirkliche Story zugrunde liegt. Stattdessen setzt sich „Knockemstiff“ aus Fragmenten zusammen, die in schnörkelloser Sprache die stille Verzweiflung einfängt, die ganz verschiedenen Kleinstadtmenschen anhaftet, wenn sie ihre Träume, wenn sie denn welche gehegt haben, nicht verwirklichen können und sich nur noch vom Alltag treiben und zermürben lassen, die sich mit Alkoholexzessen, Raufereien und auch mal Sex mit der eigenen Schwester vergnügen.
Dabei braucht es keine drastischen Darstellungen von Sex und Gewalt. Pollock, der selbst in Knockemstiff aufgewachsen ist, es aber immerhin bis in die Nachbarstadt geschafft hat, genügt ein kurzer Blick auf die rohen Umstände und gelegentlichen emotionalen Ausschläge in Knockemstiff, um eine ebenso triste wie wuchtige Gesellschaftsstudie zu kreieren.
Leseprobe Donald Ray Pollock - "Knockemstiff"

Ryan David Jahn – „Der letzte Morgen“

Sonntag, 12. April 2015

(Heyne, 528 S., Pb.)
In einer kühlen Aprilnacht des Jahres 1952 in Los Angeles erschießt der dreizehnjährige Sandy seinen verhassten Stiefvater Neil und lässt es so aussehen, als sei dieser vor dem Haus von einem Auftragskiller erledigt worden. Etwa zur selben Zeit ersticht Teddy Stuart, Buchhalter des Unterweltbosses James „The Man“ Manning, einen Kartengeber, den er für einen Falschspieler hält. Als Detective Carl Bachman den ersten Tatort aufsucht, braucht er keinen großartigen detektivischen Spürsinn, um den Jungen als Täter auszumachen, doch als Bezirksstaatsanwalt Seymour Markley davon hört, dass Sandy seinem Opfer einen fünfzackigen Stern auf die Stirn geritzt hat, wozu ihn ein Comic inspiriert hat, glaubt der Staatsdiener, Manning endlich hinter Gitter bringen zu können. Er will einen Deal mit dem Buchhalter des Gangsters aushandeln, damit dieser gegen seinen Boss aussagt und Manning als Eigentümer des Verlags, der den Comic „Down City“ herausgebracht hat, des Mordes aus krimineller Fahrlässigkeit angeklagt werden kann.
Doch Manning weiß sich gegen das drohende Unheil zu wappnen. Er setzt seine skrupellose Tochter Evelyn auf den Milchmann Eugene Dahl an, der den Comic gezeichnet hat, und lässt sie belastende Beweise in Dahls Zimmer platzieren. Doch entgegen von Mannings Plan entwickeln Evelyn und Eugene Gefühle füreinander. Dem Ziel des ausgeklügelten Komplotts gelingt es zwar, sich der drohenden Festnahme zunächst zu entziehen, aber er benötigt unbedingt die Hilfe von Menschen, die ihn zuvor verraten haben, um nicht ein Leben lang auf der Flucht sein zu müssen. Zusammen mit Evelyn schmiedet er einen waghalsigen Plan.
„Nervosität und Furcht drohen ihn zu übermannen. Für Situationen dieser Art war er nicht geschaffen. Es gibt geborene Soldaten, und sie fühlen sich auf dem Schlachtfeld heimisch. Es gibt geborene Spione, und die sind in Moskau zu Hause. Er ist ein geborener Träumer und nirgends auf der Welt zu Hause. Er weiß nicht, wie er mit dieser Art Stress fertig werden soll, und obgleich er sich angestrengt bemüht, nach außen hin gelassen zu erscheinen, spürt er einen kleinen Gesichtsmuskel zucken. Außerdem vibriert sein gesamter Körper. Er stellt sich vor, dass er wie ein Mann aussieht, der auf dem elektrischen Stuhl stirbt, aber gleichzeitig davonzugehen versucht.“ (S. 239) 
Seit der amerikanische Drehbuchautor und Schriftsteller Ryan David Jahn für seinen bei Heyne Hardcore erschienenen Debütroman „Ein Akt der Gewalt“ mit dem Debut Dagger Award ausgezeichnet wurde, hat er mit „Der Cop“ und „Die zweite Haut“ weitere erstklassige Thriller präsentiert, die ihn zu einem neuen Stern am Thriller-Himmel avancieren ließen.
Nun legt er mit „Der letzte Morgen“ sein bislang epischstes und komplexestes Werk vor, das sich seit der ersten Seite vor allem um den Verlust von Unschuld dreht. Im Mittelpunkt der vielschichtigen Geschichte stehen weniger die großen Kontrahenten – Bezirksstaatsanwalt Markley auf der einen und Gangsterboss Manning auf der anderen Seite -, sondern deren Schachfiguren, die um ihre eigene Haut zu retten, auf einmal nicht mehr davor zurückschrecken, das Leben anderer Menschen auszulöschen. Das trifft sowohl auf den dreizehnjährigen Sandy zu, als auch auf Eugene Dahl, der es nicht geschafft hat, sich als Comic-Autor durchzusetzen und seinen Lebensunterhalt als Milchmann verdienen muss.
Doch auch die Nebenfiguren sind Jahn großartig gelungen. Hier sticht vor allem der Heroin-süchtige Cop Carl Bachman heraus, der seit dem Tod seiner Frau Naomi aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist und in einem Pensionszimmer lebt. Als er mit Sandys Mutter Candice eine Affäre beginnt, steht nicht nur seinem Liebesglück, sondern auch seiner Ermittlungsarbeit seine Drogensucht im Weg. Doch auch Evelyn und Eugene ist das Glück einer auf Vertrauen basierenden Beziehung nicht vergönnt. Wie Jahn mit all diesen Figuren und ihren Schicksalen jongliert, stellt sich als großartige Kunst dar.
„Ich wollte ein großes Buch schreiben, das etwas über Kindheit und Gerechtigkeit erzählt und über die Desillusionierung des Erwachsenwerdens – also darüber, was aus unseren Kindheitsträumen wird, wenn wir älter werden. Es sollte um Liebe und Hass gehen und um die Grauzone dazwischen, in der sich diese beiden Gefühle oft vermischen. Außerdem sollte sich das Buch episch anfühlen, obwohl es in nur einer Stadt und über einen relativ kurzen Zeitraum im Jahr 1952 spielt. Ich hoffe, das ist gelungen“, verrät der Autor im Interview auf randomhouse.de.
Leseprobe Ryan David Jahn - "Der letzte Morgen"

Joe R. Lansdale – „Akt der Liebe“

Samstag, 11. April 2015

(Heyne, 287 S., Tb.)
An einem Montag kurz nach Mitternacht findet der schwarze Säufer Smokey in einer Gasse des Houstoner Ghettos Pearl Harbor die schrecklich zerstückelte Leiche von Bella Louise, die ihm vor einer Stunde noch für fünf Dollar Erleichterung verschafft hat. Wenig später trifft auch Philip Barlowe am Tatort ein. Der Reporter unterhält im Houston Bugle mit „Houston: Crime Scene“ eine eigene erfolgreiche Kolumne und verweist in seiner Aufsehen erregenden Berichterstattung auf Insiderinformationen aus Polizeikreisen. Barlowe nennt den Killer Houston Hacker und sieht diesen in der Nachfolge Jack the Rippers. Der Hacker wendet sich mit Briefen sowohl an Barlowe als auch an die Cops und kündigt weitere Gräueltaten an.
Dem ermittelnden Detective Marvin „Gorilla“ Hanson kommt diese sensationslüsterne Zeitungsmache überhaupt nicht entgegen. Zusammen mit seinem Partner Joe Clark macht er sich auf die Jagd nach dem Hacker, der eine seltsame Erregung verspürt, wenn er sich an öffentlichen Orten an Frauen vergeht. Fast scheint es, als wolle er geschnappt werden. Hanson nimmt der Fall immer stärker mit. Er entfremdet sich von seiner Frau und Tochter, schläft kaum noch, treibt sich nachts auf den Straßen herum. Schließlich deutet alles darauf hin, dass der Killer es auch auf Hansons Familie abgesehen hat …
„Und langsam näherte sich sein Element, die Nacht, sie kroch heran, schwarzer Samt voller Geräusche der Stadt und ihrer Gerüche … und wie einzelne Diamanten, die auf der samtenen Dunkelheit lagen, waren da die Frauen. Huren, jede Einzelne von ihnen. Und wenn er könnte, wenn er genug Zeit hätte in einer Nacht, würde er sie alle vom Samt klauben und den Stoff ohne das Glitzern zurücklassen, voller Dunkelheit … und rotem, rotem Blut.“ (S. 103) 
Als Joe R. Lansdale 1981 „Akt der Liebe“ erstmals veröffentlicht sah, hat er die seiner Meinung nach eher mittelmäßigen Detektiv-, Western- und Science-fiction-Abenteuer hinter sich gelassen, an denen er sich zuvor versucht hatte, und eine Tür aufgestoßen, die den Weg beispielsweise zu Thomas Harris‘ „Hannibal“-Reihe und dem Slasher-Genre ebnen sollte. „Akt der Liebe“ präsentiert sich dabei als echter Rohdiamant. Mit ungeschliffener Sprache begleitet Lansdale in seinem stakkatoartigen Plot nicht nur einen soziopathischen Killer mit nekromantischen Neigungen bei seinem Blutrausch-Treiben, sondern beobachtet auch, wie diese abscheuliche Mordserie einen Cop an den Rand der Verzweiflung treibt. Und schließlich bekommt auch die Sensationsgier der Medien ihr Fett weg, die sich damit rechtfertigen, nur die Nachfrage ihres Publikums zu befriedigen.
Die Vernetzung von Verbrechen und ihrer Aufklärung, der Zersetzung von moralischen und familiären Werten sowie die Rolle der Medien bei diesem Zusammenspiel würden durchaus einen weitaus umfangreicheren, psychologisch fundierteren und atmosphärisch dichteren Roman nahelegen.
So wirkt „Akt der Liebe“ wie die erste Fingerübung eines Autors, der mittlerweile zu den ganz Großen seines Genres zählt, aber eine, die in ihrer Radikalität und Schärfe dem Leser den Geruch von Blut direkt in die Nase treibt. Ein Vorwort von Andrew Vachss und ein Nachwort von Lansdale selbst beschreiben den Stellenwert von „Akt der Liebe“ für das Horror-Genre und für die Entwicklung des Autors, der durch Heyne Hardcore endlich einer breiteren Leserschaft bekannt gemacht wird.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Akt der Liebe"