Jack Ketchum – „Jagdtrip“

Sonntag, 26. Juni 2016

(Heyne, 351 S., Tb.)
Seit seiner Zeit in Vietnam ist Lee nicht mehr derselbe. Seine Frau Alma empfindet zunehmend Angst um sich und ihren gemeinsamen fünfjährigen Sohn Lee Jr., weil Lee unter Verfolgungswahn leidet und immer wieder zu plötzlichen Gewaltausbrüchen neigt. Um sich und seine Familie nicht weiter zu gefährden, zieht er sich mit seinem Hund in den Wald zurück, schützt die dort angelegten Marihuana-Pflanzen mit tödlichen Fallen, wie er sie in Vietnam gesehen hat.
Seine Ruhe wird durch einen Trupp Camper gestört, dem der erfolgreiche Schriftsteller Kelsey ebenso angehört wie seine Frau Caroline, seine Geliebte Michelle, sein Agent Alan Walker, sein Freund und weit weniger erfolgreiche Schriftsteller-Kollege Charles Ross und der Fotograf Walter Graham. Mit Zelten, Verpflegung und Gewehren bewaffnet, gehen sie auf die Jagd und werden selbst zu Gejagten, als sie zufällig auf Lees Rauschmittelfeld stoßen.
„Während Lee die Männer beobachtete – durch das Gestrüpp, durch Eschen, die ihm die Sicht nahmen, und durch das Flimmern der Hitze -, verharrte sein Hund mit aufgerichtetem Nackenfell in wachsamer Lauerstellung. Das Sonnenlicht, das durch die Bäume drang, zeichnete Tarnflecken auf ihre Gestalten. Sie waren und sie waren nicht …
Cops, Zivilisten, Soldaten, Vietcong.
Aber wer immer sie waren, sie hatten ihn aufgespürt. Einer von ihnen schoss Fotos. Ein anderer riss einen Zweig ab. Am Ende des Zweiges wuchsen Blätter und Blütenkapseln. Sein Zweig. Seine Blätter. Seine Blütenkapseln. Und damit mischte sich in seine Angst nun auch Ärger.“ (S. 151f.) 
In seinem Vorwort („Was hast du während des Krieges getan, Daddy?“) zu dem ursprünglich 1987 unter dem Titel „Cover“ veröffentlichten Roman „Jagdtrip“, den der Heyne Verlag in seinem Hardcore-Programm nun als deutsche Erstveröffentlichung herausgebracht hat, beschreibt Jack Ketchum ausführlich, wie schwierig es für ihn als Autor, der nicht am Vietnam-Krieg teilgenommen hat, gewesen ist, Erfahrungen von Veteranen glaubwürdig zu schildern, weshalb er viele Bücher zum Thema gelesen, vor allem aber viele Gespräche mit ungewöhnlich erzählfreudigen Veteranen geführt hat. Dadurch ist Ketchum mit „Jagdtrip“ mehr als nur ein konventioneller Horrorroman gelungen, in dem Camper von degenerierten kannibalistischen Waldbewohnern zerstückelt werden, sondern auch eine überraschend tiefgründige Auseinandersetzung mit den Traumata, die viele Soldaten nach ihrer Rückkehr aus Vietnam mit nach Hause brachten.
Vor allem bei Lee hat der Krieg deutliche Spuren hinterlassen, wie seine Erinnerungen an erschütternde Begebenheiten deutlich machen, aber auch sein Kamerad McCann, der den Krieg besser verdaut zu haben scheint und den irgendwann das schlechte Gewissen packt, schildert seine Erlebnisse ebenso wie Kelsey, der seine Erfahrungen auch in seinem Roman „Zweifacher Veteran“ verarbeitet hat.
Besonders einfühlsam ist die wenn auch nur kurz angerissene Beziehung zwischen Lee und seiner Frau beschrieben, die Liebe, aber auch die Angst, die beide miteinander verbindet. Auf der anderen Seite fasziniert die außergewöhnliche Beziehung, die Kelsey zu seiner Frau und seiner Geliebten unterhält.
Ketchum, der bereits so kompromisslose Werke wie „Evil“, „Blutrot“ und „Beutejagd“ abgeliefert hat, lässt sich in „Jadgtrip“ viel Zeit mit der Einführung seiner Figuren, ihren oft traumatischen Erinnerungen und ihren Problemen, und selbst der Jagdausflug beginnt als das Abenteuer, als das es geplant gewesen ist, bevor der Zusammenstoß mit Lee die tragischen Ereignisse erst richtig ins Rollen bringt. Für Horror-Fans, die auch mit Ketchums Werk vertraut sind, mag „Jagdtrip“ vielleicht eine Enttäuschung sein, weil der Roman nicht die billigen Klischees und Mechanismen bedient, die das Genre oft so vorhersehbar machen, aber als psychologisch tiefsinniges Drama überzeugt dieses Frühwerk auf ganzer Linie.
Leseprobe Jack Ketchum - "Jagdtrip"

Stewart O’Nan – „Letzte Nacht“

Dienstag, 21. Juni 2016

(mare, 159 S., HC)
Fünf Tage vor Weihnachten öffnet die „Red Lobster“-Filiale in New Britain das letzte Mal die Türen für ihre Gäste. Nachdem die Konzernzentrale bei einer Unternehmensstudie festgestellt hatte, dass sich der Standort nicht rechnet, muss Geschäftsführer Manny DeLeon seine Mitarbeiter an diesem Dezemberabend endgültig nach Hause schicken. Von den vierundvierzig Mitarbeitern, die er noch vor zwei Monaten beschäftigte, werden nur fünf mit ins „Olive Garden“ in Bristol übernommen.
Besonders schwer wiegt für Manny, dass er seine ehemalige Geliebte Jacquie nicht mehr wiedersehen wird. Dass sie mit Rodney einen neuen Freund hat und Mannys Freundin Deena ein Kind erwartet, hat jede Chance zunichte gemacht, dass sie noch mal zusammenkommen. Für Manny geht es nun nur noch darum, den Gästen des Restaurants an diesem verschneiten Winterabend wie gewohnt den besten Service zu bieten …
„Wer außer den Leuten, die hier arbeiten, denkt schon über Red Lobster nach? Und auch die denken eigentlich nicht drüber nach. Vielleicht Eddie, der bestimmt froh ist, einen Ort zu haben, wo er jeden Tag hinkommen kann, oder Kendra, die darüber nicht immer froh ist, aber Manny kann sich nicht vorstellen, dass Rich oder Leron viele Gedanken auf so etwas wie einen Job verschwenden. Vielleicht hat auch Manny nicht genug drüber nachgedacht, denn all die Jahre fand er es selbstverständlich, dass es das Lobster gab. In der Hinsicht ist er wohl genau wie Eddie. Und jetzt ist es zu spät.“ (S. 72) 
Stewart O’Nan hat sich in seiner eindrucksvollen Schriftstellerkarriere immer wieder mit dem Schicksal der kleinen Leute beschäftigt und dabei ganz tief in ihr Innerstes geblickt. In der Geschichte „Letzte Nacht“ genügt ihm ein einziger Tag in einem zur Schließung vorgesehenen Restaurant, um die Befindlichkeiten vor allem des Geschäftsführers zu beschreiben.
Nach all den Jahren empfindet er eine Verbundenheit zu seiner Arbeit, seinen Mitarbeitenden und Kunden, die ihm den Abschied schwer machen, vor allem von Jacquie. Auch wenn es um nichts mehr geht und die Schließung ebenso beschlossene Sache ist wie die Versetzung von fünf Angestellten in ein anderes Restaurant des Konzerns, will Manny nur das Beste für seine Kunden, kümmert sich um die schwer zu handhabende Schneefräse, schiebt den Wagen eines Stammgastes an und verteilt gewissenhaft Beurteilungskarten an unzufriedene Gäste, denn nicht mehr alle Spezialitäten des Hauses sind am letzten Abend noch verfügbar.
Von den anderen Angestellten erfährt der Leser nicht allzu viel. Die Handlung wird allein aus Mannys Perspektive geschildert. Aber in diesem Mikrokosmos gelingt es dem Autor, das Pflichtbewusstsein und die Fürsorge eines Managers seiner Arbeit und seinen Angestellten gegenüber ganz schnörkellos in Worte zu fassen.
Am Ende soll eine Lotterieziehung für eine glückliche Wendung der teils ungewissen Schicksale der Serviererinnen, Köche, Bäcker, Spüler und des Barpersonals sorgen, vor allem für ein Happy End des irgendwie bemühten, durchweg gutherzigen Geschäftsführers.
„Letzte Nacht“ ist ein berührendes Buch über die Tugendhaftigkeit und gutherzige Gesinnung eines Mannes, der niemandem etwas schuldig ist, aber trotzdem nur das Beste für alle Menschen in seinem Leben will.

Jason Starr – „Brooklyn Brothers“

Sonntag, 19. Juni 2016

(Diogenes, 454 S., Tb.)
Der aus Carnasie in Brooklyn stammende Baseball-Star Jake Thomas ist bereits seit sechs Jahren mit seiner Highschool-Liebe Christina verlobt, hat sie seit dem steilen Auftrieb seiner Karriere in Pittsburgh aber kaum noch gesehen. Nachdem er mittlerweile auch die Vorzüge anderer Frauen kennenlernen durfte, die sich dem Sunnyboy bei jeder Gelegenheit an den Hals schmissen, war er eigentlich schon mit dem Gedanken dabei, die Verlobung mit der noch bei ihren Eltern lebende Zahnarzthelferin zu lösen.
Doch nun scheint ihm die vierzehnjährige Mexikanerin Marianna Fernandez einen Strich durch die Rechnung zu machen, die er in San Diego kennengelernt hatte und deren Eltern Jake nun der Unzucht mit einer Minderjährigen beschuldigen.
Um für gute Presse zu sorgen, kehrt Jake zu einem angekündigten Besuch nach Brooklyn zurück, um den Hochzeitstermin mit Christina bekanntzumachen.
„Er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Bei allen anderen würde er nie wissen, ob sie nicht nur wegen seines Geldes und seines Ruhms mit ihm zusammen waren, weil er Jake Thomas war. Christina hatte ihn bereits geliebt, bevor er Jake Thomas war, zumindest bevor der Name irgendetwas bedeutete. Selbstverständlich würde er sie einen Ehevertrag unterschreiben lassen, sicher ist sicher, aber es tat gut zu wissen, dass sie ihn wirklich liebte.“ (S. 77) 
Darüber ist sein alter Baseball-Kumpel Ryan Rossetti alles andere als erfreut. Wegen einer Verletzung musste er seine Karriere aufgeben und schlägt sich nun als Maler durchs Leben, träumt aber davon, mit Christina ein neues Leben anzufangen. Christina befindet sich nach Jakes Rückkehr zwischen den Fronten und wird auch von ihrem nichtsnutzigen Vater bekniet, Jake zu heiraten, damit sie beide ein besseres Leben führen können.
Aus der einstigen Freundschaft zwischen Jake und Ryan ist eine erbitterte Rivalität geworden, die sich im Ringen um Christinas Gunst zuspitzt. Als direkt vor Jakes Haustür ein Mann erschossen wird, geraten die Dinge zunehmend außer Kontrolle …
Der aus Brooklyn stammende Erfolgsautor Jason Starr („Hard Feelings“, „Twisted City“) weiß, wovon er in „Brooklyn Brothers“ schreibt. Zumindest die Milieuschilderungen der Unterschicht, die in schlecht bezahlten Jobs malochen, um die Miete und den Unterhalt für das klapprige Auto bezahlen zu können, die Drogen konsumieren, um dem Elend für eine Weile zu entfliehen, und vor Gewalt nicht zurückschrecken, um ihre Sucht finanzieren zu können, sind Starr in seinem 2006 erschienenen Roman „Lights Out“ – so der Originaltitel – durchaus gut gelungen.
Weniger überzeugend ist dagegen die Dreiecks-Love-Story zwischen den besten Highschool-Freunden und Christina ausgearbeitet. Das liegt vor allem an der überzogen stereotyp gezeichneten Figur des Baseball-Stars, der mit seinem Geld und Status glaubt, sich alles erlauben zu können, der seinen Agenten, seinen Anwalt und seine Mitmenschen wie Dreck behandelt und einzig daran interessiert ist, bei möglichst vielen Frauen zu landen und alle möglichen Privilegien in Anspruch nehmen zu können.
Auch Christina ist mit ihren wechselhaften Gefühlen nicht sehr differenziert charakterisiert, während Ryan in jeder Hinsicht der große Verlierer ist. Um ein wenig Pep in die arg konstruierte Story zu bringen, streut Starr noch Familientragödien, Auftragsmorde, vorzeitige Samenergüsse, im Alkoholrausch begangene Sünden und Schlägereien ins Spiel, was den Unterhaltungswert des Romans zwar steigert, ihn aber nicht besser macht. Da sind die Leser des New Yorker Schriftstellers Besseres gewohnt.
Leseprobe Jason Starr - "Brooklyn Brothers"

Benedict Wells – „Fast genial“

Mittwoch, 15. Juni 2016

(Diogenes, 352 S., Tb.)
Seit seine Mutter Katherine Angela Dean wegen ihrer Depressionen ihren Job als Sekretärin bei einer Immobilienfirma verloren und ihr Mann Ryan Wilco sich an der Börse verspekuliert hat, lebt der 17-jährige Francis seit über zwei Jahren mit Katherine im Pine-Tree-Trailerpark am Stadtrand der Kleinstadt Claymont in Delaware. Mittlerweile sind Katherine und sein Stiefvater geschieden. Während der Rechtsanwalt mit Francis‘ Halbbruder Nicky nach New York City gezogen ist, sind Francis und seine Mutter von Jersey City nach Claymont gezogen, wo der Junge die Highschool besucht und als Küchenhilfe in einem Imbiss arbeitet.
Als seine Mutter zum dritten Mal in die psychiatrische Klinik eingeliefert werden muss, lernt Francis dort die zwei Jahre ältere Anne-May kennen, die sich umbringen wollte, weil sie als kleines Mädchen von ihrem Vater vergewaltigt worden ist. Während der Besuche bei seiner Mutter freundet sich Francis mit dem wortkargen Mädchen an. Als seine Mutter nach einem Selbstmordversuch der Magen ausgepumpt wird, entdeckt Francis einen Abschiedsbrief, in dem Katherine ihrem Sohn gesteht, dass er ein Retortenbaby sei, dessen Ursprung in der längst geschlossenen Samenbank für Genies liegt, die der Unternehmer Warren P. Monroe mit dem österreichischen Eugeniker Dr. Friedrich von Waldenfels gegründet hat.
Aus der Akte, die ein Mitarbeiter des Instituts für Katherine entwendet hat, geht hervor, dass Francis‘ Erzeuger unter dem Decknamen Donor James geführt wurde, Harvard-Absolvent gewesen ist, Cello spielte und einen IQ von 170 hatte. Zusammen mit Anne-May und seinem Freund Grover Paul Chedwick macht sich Francis auf die Suche nach seinem Vater …
„Es gab Momente im Leben, in denen alles einen Sinn bekam und in denen man von einer auf die andere Sekunde wusste, was man zu tun hatte. Francis sah die Dinge nun klar: Er musste seinen Vater finden. Alles würde sich ändern, wenn er ihn traf. Er würde aus seinem Drecksleben in Claymont ausbrechen und den Leuten endlich zeigen, dass er doch kein Versager war.“ (S. 81) 
Es beginnt eine interessante Odyssee durch elf Staaten, bei der Francis nicht nur einige schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hat, sondern auch auf schmerzvolle Weise erfahren muss, dass die Dinge nicht so sind, wie sie zunächst scheinen …
Nach „Spinner“ und „Becks letzter Sommer“ war „Fast genial“ 2011 der dritte Roman des in München geborenen und nun in Berlin lebenden Schriftstellers Benedict Wells. Er setzt darin die Tradition vor, jugendliche Protagonisten auf eine Entdeckungsreise zum eigenen Ich zu schicken. Dabei werden zwar auch gesellschaftlich stark diskutierte Themen wie der Versuch, Genies zu „züchten“, sowie die Kluft zwischen Arm und Reich angeschnitten, doch Wells bleibt immer so dicht bei seiner Hauptfigur, dass eine tiefgründige Auseinandersetzung ausbleibt. Francis ist schließlich viel zu sehr damit beschäftigt, seinen biologischen Vater zu finden und seinem Leben eine neue Wendung zu geben. Das ist vor allem kurzweilig und vergnüglich zu lesen, auch wenn die Zusammensetzung des Road-Trip-Trios etwas konstruiert wirkt.
Leseprobe Benedict Wells - "Fast genial"

Anthony McCarten – „Superhero“

Sonntag, 12. Juni 2016

(Diogenes, 303 S., Tb.)
Der 14-jährige Donald Delpe lebt mit seinem älteren Bruder Jeff und seinen Eltern Renata und Jim in der englischen Kleinstadt Watford. Allerdings nicht mehr lange, denn er ist unheilbar an Leukämie erkrankt. Die letzte Chemotherapie hat zwar zunächst ganz gut angeschlagen und Renata wird nicht müde, sich durch die Fachliteratur zu kämpfen und ihrem jüngsten Spross immer wieder Lebensmut zuzusprechen, doch dann entdecken die Ärzte neue Metastasen.
Während Renata Donald weiterhin anstachelt, bloß nicht aufzugeben, scheint auch Jim resigniert zu haben. Er versucht nur noch, seinem sterbenskranken Kind etwas Lebensfreude und Erfahrungen mitzugeben, die eigentlich für spätere Lebensjahre vorherbestimmt sind. Donald selbst geht mit seiner Krankheit vor allem künstlerisch um. Mit MiracleMan hat der begnadete Comiczeichner einen sehr menschlichen Superhelden kreiert, der auch furzt, in die bildhübsche Krankenschwester Rachel verknallt ist und gegen den Bösewicht Gummifinger um sein Leben kämpfen muss, während Donald selbst sich in die 15-jährige Shelly verguckt hat.
In dem Psychiater Dr. Adrian King findet Donald schließlich nicht nur einen Arzt, sondern einen echten Verbündeten, der ihn mit auf Ausflüge nimmt und alles dafür tut, Donald seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen …
„Soweit ich sehe, soll es für ihn die erste und letzte große Erfahrung in seinem Leben sein. Es geht um … das Wesentliche. Er fühlt sich vom Leben betrogen und will noch etwas von der Welt haben, bevor er sich von allem verabschiedet. Deshalb muss das ganze Leben, einfach alles, zu diesem einen Ereignis verdichtet werden. Die Nacht seines Lebens. Danach gibt es wahrscheinlich nur noch Verzweiflung und das Ende.“ (S. 204) 
Mit seinem dritten Roman nach „Liebe am Ende der Welt“ und „Englischer Harem“ hat der neuseeländische Theaterstück-, Drehbuch- und Romanautor Anthony McCarten die tragische Figur eines sterbenskranken Teenagers in den Mittelpunkt einer sehr warmherzigen wie tiefsinnigen, jedoch nie kitschigen, dafür aber sehr humorvollen Geschichte mit ebenso sympathischen Charakteren gestellt.
Fast wie ein Drehbuch geschrieben, skizziert McCarten in drei Akten jeweils kurz das Set („Innen. Onkologie. Tag“, „Außen. Eine Straße in der Stadt. Tag“), beschreibt dann kurz die Atmosphäre, lässt seine Protagonisten dann in sehr realistische, gefühlvolle und witzige Dialoge treten und wirft immer wieder thematisch passende Auszüge aus Donalds Comicgeschichte ein.
Neben der Haupthandlung um Donalds Krankheit und die Verwirklichung seines letzten großen Lebenswunsches bildet vor allem die Nebenhandlung um Dr. King einen weiteren interessanten Part der Geschichte, wenn er seine eigene unglückliche Ehe mit der schönen Sophie zu verarbeiten versucht.
2011 wurde der Roman übrigens nach McCartens eigenem Drehbuch von Ian Fitzgibbon unter dem deutschen Titel „Am Ende eines viel zu kurzen Tages“ verfilmt.
Leseprobe Anthony McCarten - "Superhero"

Karin Slaughter – (Georgia: 5) „Schwarze Wut“

Donnerstag, 9. Juni 2016

(Blanvalet, 510 S., HC)
Um an den mysteriösen Big Whitey heranzukommen, der einen Drogenring in Macon, Georgia, unterhält, tarnt sich GBI-Agent Will Trent als krimineller Biker, wo er sich in die Drogenszene einschleust. Leider ist auch Detective Lena Adams in den Fall verwickelt, mit der Trent bereits in einem früheren Fall zu tun hatte, weil sie den Tod von Jeffrey Tolliver zu verantworten hat, der mit Trents jetziger Lebensgefährtin Sara Linton liiert war. Mit ihrem Team führt sie eine Razzia in einem Fixertreff durch, wo sie Sidney Michael Waller festnehmen wollen, der nicht nur als Drogenhändler, Zuhälter und Waffenschieber bekannt ist, sondern auch der Vergewaltigung seiner Nichte und der Ermordung seiner Schwester verdächtigt wird.
Doch bei der Razzia verliert nicht nur Waller, sondern auch ihr Kollege Eric Haigh sein Leben. Ein völlig verängstigter Junge wird hinter einer Wand entdeckt und weigert sich, auch nur ein Wort zu sprechen. Wenig später wird Lena in ihrem Haus überfallen, ihr Mann Jared, Sara Lintons Stiefsohn, überlebt schwerverletzt. Will kann im letzten Moment verhindern, dass Lena einen der Angreifer erschlägt, muss aber höllisch aufpassen, dass seine Tarnung nicht auffliegt, von der auch Sara nichts weiß.
Während sich Lena bei der internen Ermittlung des Macon Police Department rechtfertigen muss, arbeiten Will und seine Partnerin Faith mit Hochdruck daran, Big Whiteys Identität aufzudecken und in den inneren Kreis des Drogenhändlerrings vorzudringen.
„Will stieg aus, obwohl jedes Atom in seinem Körper ihm sagte, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Aber er hatte keine andere Wahl. Jared Long lag im Krankenhaus, Lena war fast getötet worden. Irgendwo dort draußen war ein Drogendealer unterwegs, der es offensichtlich genoss, andere zu verletzen. Wenn Will seine Arbeit nicht richtig machte, würden noch mehr Leute im Krankenhaus landen. Oder unter der Erde.“ (S. 275)
Da Big Whitey offensichtlich über die Aktivitäten der Polizei stets informiert ist, scheint es mindestens einen Maulwurf im Department zu geben, was die Ermittlungen nicht unbedingt einfacher macht …
Karin Slaughter hat in ihrem mittlerweile fünften Band um die Kinderärztin Sara Linton und GBI-Agent Will Trent eigentlich einen recht gewöhnlichen Fall konstruiert. Interessant wird er erst durch die sehr komplexen persönlichen Verstrickungen zwischen Will Trent, Sara Linton und Lena Adams. Das schwere Geflecht aus Vergangenheitsbewältigung, Vorurteilen, Misstrauen und Geheimnissen bildet nehmen der Aufklärung von Big Whiteys Identität den eigentlichen Spannungsmotor eines Thrillers, der nur sporadisch die psychologischen Tiefen seiner Figuren erkundet und sich manchmal zu sehr in dem fast unüberschaubaren Beziehungswirrwarr verliert, mit dem die (teils) verdeckte Ermittlung behaftet ist.
Hier wird vor allem Lenas persönliche Tragödie im Zusammenhang mit der Razzia in Rückblicken aufgearbeitet und auch der schmale Grat, auf dem Will in der Beziehung zu Sara wandelt, zu den treibenden Handlungssträngen.  
„Schwarze Wut“ ist sicher nicht Karin Slaughters Meisterwerk und auch kein Höhepunkt in ihrer Georgia-Reihe, bringt aber zumindest weitere interessante Aspekte in der Geschichte der Hauptfiguren zutage.
 Leseprobe Karin Slaughter - "Schwarze Wut"

Joey Goebel – „Freaks“

Sonntag, 5. Juni 2016

(Diogenes, 193 S., Tb.)
Wenn sich die 80-jährige Opal, die achtjährige Ember, der Schwarze Luster, der Iraker Ray und die ehemalige Nachtclubtänzerin, nun im Rollstuhl sitzende Aurora zusammen in ihrer Kleinstadt irgendwo in Kentucky blicken lassen, ziehen sie sofort die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung auf sich. Das liegt nicht nur an der optisch außergewöhnlichen Kombination, sondern auch an der jeweils sehr eigenen Lebensgeschichte.
Ray ist mit seiner Familie nur nach Amerika gekommen, um sich bei dem Soldaten zu entschuldigen, den er im Irak-Krieg angeschossen hatte. Luster stammt aus einer berüchtigten Drogendealerfamilie und ist der wortgewandteste im Quintett. Die sexbesessene Opal läuft trotz ihres hohen Alters noch immer mit „Sex Pistols“- und „Misfits“-T-Shirts herum und ist die Babysitterin von Ember, die von ihren Eltern überhaupt nicht in den Griff zu bekommen ist und kurz vor dem Schulverweis steht. Aurora will mit ihrer nuttigen Vergangenheit abschließen und hat sich auch aus Protest gegen ihres als Pfarrer wirkenden Vater den Satanisten angeschlossen.
Gemeinsam suchen sie für ihre Power-Pop-New-Wave-Heavy-Metal-Punkrock-Band namens Freaks einen gemeinsamen Übungsraum, denn sie haben Großes vor.
 „Die Musik wird allmählich alt, und alles ist schon mal dagewesen, aber ich bezweifle ehrlich, dass es je eine Band gegeben hat, die wie wir geklungen oder ausgesehen hat. Ich weiß genau, wie sich das jetzt anhört, aber ich glaube, wir haben das Potential, das Größte zu werden, seit die Leute Elvis im Radio hörten und ihn für einen Schwarzen hielten.“ (S. 122) 
Gerade mal 190 Seiten braucht der aus Henderson, Kentucky, stammende Joey Goebel für seinen 2003 erschienenen Debütroman, der sich wie ein Drehbuch liest und in dem die einzelnen Protagonisten abwechselnd ihre Sicht der Dinge schildern, aber auch Nebenfiguren wie Embers Eltern, Auroras Vater, ein Polizist und der Konzertveranstalter beschreiben ihre Begegnungen mit den exzentrisch wirkenden Außenseitern, denen der Autor seine ungeteilte Sympathien schenkt. „Freaks“ stellt gleichermaßen Buchtitel, Bandname und Programm eines Buches dar, das sich verzweifelt und wütend gegen eine gleichgeschaltete Masse zu erheben versucht, ihren ätzenden Opportunismus, ihre angepasste, unaufgeregte Lebensweise, die vorhersehbaren Reaktionen und Redeweisen verurteilt. Wie Goebel seine heldenhaften Außenseitern gegen die gleichförmigen Angepassten aufbegehren lässt, ist dabei ebenso humorvoll wie ätzend und tragisch geschrieben, dass man als hoffentlich nicht ganz so angepasster Leser hoffen mag, dass die selbsternannten Freaks doch bitte Erfolg haben werden.
Leseprobe Joey Goebel - "Freaks"

Fabio Volo – „Der Weg nach Hause“

Samstag, 4. Juni 2016

(Diogenes, 410 S., Pb.)
Im Gegensatz zu seinem drei Jahre älteren, so viel vernünftigeren Bruder Andrea ist Marco schon zu Jugendzeiten immer wieder in Schwierigkeiten geraten und wurde sogar einmal in Handschellen von einem Polizisten abgeführt, nachdem er das Auto eines Nachbarn demolierte, als sich dieser geweigert hatte, die Alarmanlage des Wagens abzustellen.
Die enge Beziehungen zwischen den Brüdern, die in ihrer Kindheit noch Bestand hatte, löste sich auf, Marco eröffnete in London ein Restaurant und schleppt nach wie vor am liebsten ausgewählte Kundinnen ab, während Andrea nach seinem Studium in einem Ingenieursbüro arbeitet und seit zwölf Jahren mit Daniela verheiratet ist. Als ihr Vater ins Krankenhaus kommt und nach seiner Entlassung wegen seiner fortschreitenden Demenz auf Pflege angewiesen ist, kehrt Marco nach einem Jahr wieder nach Hause zurück und betreut mit Andrea den Vater in dessen Wohnung.
Andrea und Marco kommen sich zwangsläufig wieder näher, geraten aber auch immer wieder aneinander. Während Andreas Ehe unvermittelt vor dem Aus steht, trifft Marco seine erste Liebe Isabella wieder. In ihrem Elternhaus erinnern sie sich an ihre Kindheit, an die Frauen in ihrem Leben, an die viel zu früh verstorbene Mutter und philosophieren über die Liebe, das Leben, den Tod.
„Ein Mensch ist, was er ist, was bleibt und was verschwindet. Und eine Menge andere Dinge, die seine Welt ausmachen, ihn auf Trab halten und eines Tages mit einem Klick nicht mehr da sind. Und wenn er gut war, hat er irgendetwas, ein winziges Stück von sich selbst an die weitergegeben, die bleiben.“ (S. 339) 
Fabio Volo hat bereits mit seinen früheren Romanen „Lust auf dich“, „Einfach losfahren“, „Noch ein Tag und eine Nacht“ und „Zeit für mich und Zeit für dich“ wunderbare Bücher über Freundschaften, die Liebe und vor allem das Leben geschrieben. Im Gegensatz zu Paulo Coelho, der ähnlich elementare Themen stets spirituell überhöht moralisiert, erzählt der italienische Autor eher leichtfüßig und lässt seine sympathischen Protagonisten unverhofft schon mal in mittelschwere Krisen stürzen, doch bei allen Rückschlägen, die sie bei der Bewältigung ihrer Probleme verarbeiten müssen, finden sie auch neue Wege, mit ihrem Leben und ihren Gefühlen umzugehen.
In Volos neuen Roman „Der Weg nach Hause“ werden die beiden unterschiedlichen Brüder Andrea und Marco durch die Krankheit ihres Vaters wieder zusammengeführt und erhalten durch die Spiegelung in den Gesprächen miteinander neue Sichtweisen auf ihr eigenes Leben und finden so allen unterschiedlichen Ansichten zum Trotz wieder zu einer einander wertschätzenden Beziehung. Dabei bedient sich Volo wie gewohnt einer leichten Sprache, die wunderbar die Waage hält zwischen humorvollen Tönen und tiefgründigem Ernst.
Leseprobe Fabio Volo - "Der Weg nach Hause"

Stephen King – „Stark – The Dark Half“

Montag, 30. Mai 2016

(Hoffmann und Campe, 477 S., HC)
1960 war der in Bergenfield, New Jersey, geborene Thad Beaumont elf Jahre alt. Das Jahr war insofern prägend für sein späteres Leben, weil er nicht nur eine Urkunde von „American Teen“ für seine Kurzgeschichte „Outside Marty’s House“ erhielt, sondern auch von starken Kopfschmerzen gepeinigt wurde, die sich durch ein Phantomgeräusch ankündigten, das wie das Tschilpen Tausender kleiner Vögel anhörte.
Als Dr. Pritchard den vermutlich gutartigen Tumor, der durch den dunklen Schatten auf dem Röntgenbild verkörpert wurde, entfernen wollte, stieß er auf ein blindes Auge und weitere Körperteile eines vermutlich nicht vollständig absorbierten Zwillings. 28 Jahr später lebt Thad mit seiner Frau Liz und den beiden Zwillingen Wendy und William in Ludlow und blickt auf eine wechselhafte Schriftstellerkarriere zurück.
Mit seinem Debütroman „The Sudden Dancers“ war er 1972 für den National Book Award nominiert, konnte mit seinem nächsten Roman aber nicht mehr an diesen Erfolg anknüpfen. Dafür schafften es die drei harten Thriller, die Thad unter dem Pseudonym George Stark ab 1975 veröffentlichte, jeweils mühelos auf die Bestsellerlisten. In einem „People“-Artikel wird das Geheimnis von George Stark allerdings gelüftet. Für die Fotografin posieren Thad und Liz vor einem eigens gestalteten Grabstein mit der Inschrift „George Stark – 1975-1988 – Kein angenehmer Zeitgenosse“ auf dem Homeland-Friedhof in Castle Rock, wo die Beaumonts auch ein Sommerhaus am Ufer des Castle Lake besitzen.
Zuvor hatte der Student Frederick Clawson die wahre Identität von George Stark erkannt und Beaumont entsprechend erpresst. Doch mit der Beerdigung von George Stark ist vor allem der vermeintlich Verstorbene nicht einverstanden, der sich auf einmal körperlich manifestiert hat und alle Menschen umbringt, die mit seiner Beerdigung zu tun haben.
Sheriff Alan Pangborn, der anfangs noch Thad verdächtigt, den Einheimischen Homer Gamache umgebracht zu haben, muss im Laufe seiner Ermittlungen auch zugeben, dass unheimliche Dinge vor sich gehen. Und George Stark setzt alle Hebel in Bewegung, in seinen Büchern wieder zum Leben erweckt zu werden.
„Welches Recht hatte dieser Mistkerl, sich seiner zu entledigen? Welches gottverdammte Recht? Weil er schon vor ihm ein realer Mensch gewesen war? Weil Stark selbst nicht wusste, warum und wann er seinerseits in die Realität eingetreten war? Das war Unsinn. Was George Stark anging, hatte Anciennität nicht das Geringste zu besagen. Es war nicht seine Aufgabe, sich einfach hinzulegen und widerspruchslos zu sterben, was Beaumont offenbar von ihm erwartete. Seine Aufgabe war vielmehr, am Leben zu bleiben. Das war er schon seinen Lesern schuldig.“ (S. 339) 
Nach seiner Novelle „Die Leiche“ und den beiden Romanen „The Dead Zone“ und „Cujo“ war „Stark – The Dark Half“ aus dem Jahr 1989 der dritte Roman des bis heute fortdauernden Zyklus von Geschichten, die in der fiktiven Stadt Castle Rock angesiedelt sind. Bedeutsamer ist allerdings die Tatsache, dass Stephen King mit diesem Roman die Aufdeckung seines eigenes Pseudonyms Richard Bachman verarbeitet hat. Davon abgesehen bietet „Stark“ vor allem Einsichten in den schriftstellerischen Schaffensprozess, kommentiert Verlagswesen und Publikumsgeschmack und ruft durch die zu Tausenden auftretenden Sperlinge Reminiszenzen an Hitchcocks „Die Vögel“ wach.
In erster Linie bietet der Roman aber erstklassige Spannungsliteratur, der in einem geschickt konstruierten Showdown gipfelt und 1990 kongenial durch Horror-Papst George Romero („Die Nacht der lebenden Toten“) mit Timothy Hutton in der Hauptrolle verfilmt worden ist.

Fabio Volo – „Noch ein Tag und eine Nacht“

Donnerstag, 26. Mai 2016

(Diogenes, 299 S., Tb.)
Der fünfunddreißigjährige Giacomo ist es gewohnt, Frauen, die ihm gefallen, sofort kennenzulernen, um sie vor allem ins Bett zu kriegen. An festen Beziehungen ist er nie so recht interessiert. Bei der Frau in der Straßenbahn ist es anders. Zwei Monate lang beobachtet er die geheimnisvolle Unbekannte, tauscht mit ihr ein angedeutetes Lächeln und stumme Blicke. Er fragt sich, ob man sich in einen Menschen verlieben kann, den man nicht kennt, sondern nur täglich auf dem Weg zur Arbeit in der Straßenbahn sieht. Sie anzusprechen traut er sich nicht.
Eines Tages macht sie den ersten Schritt, lädt Giacomo auf einen Kaffee ein. Sie stellt sich als Michela vor und erzählt ihm, dass sie aus beruflichen Gründen am nächsten Tag nach New York zieht. Giacomo ist entsetzt, bekommt Michela nicht mehr aus seinem Kopf und beschließt, für ein paar Tage nach New York zu fliegen, obwohl er davon ausgeht, dass sie nicht allein nach New York gegangen ist. Tatsächlich freut sich Michela über seinen Besuch, und die beiden lassen sich auf ein ungewöhnliches Spiel ein.
„Ich wollte mich völlig meinen Gefühlen hingeben, keine Worte, Gesten und Aufmerksamkeiten abwägen müssen. Mich nicht zurückhalten müssen. Wollte die Freiheit zu sein, wie ich wollte. Ohne die Angst, jemanden zu enttäuschen, ohne die Angst, Reißaus nehmen zu müssen. Michela war dafür genau die Richtige. Es war seltsam, aber durch dieses Spiel konnte ich nicht falsch verstanden werden, und ich musste keine Versprechungen machen.“ (S. 157) 
Mit seinem vierten Roman „Noch ein Tag und eine Nacht“ erweist sich der italienische Bestseller-Autor Fabio Volo einmal mehr als Romancier der großen Gefühle. Doch statt kitschig die romantischen Klischees einer Liebesgeschichte wiederzukäuen, nimmt er den Leser auf eine abenteuerliche Reise mit, die dem Schreiben über die Liebe ganz neue Facetten abgewinnt.
Mit Giacomo hat der Autor einen durch und durch sympathischen Ich-Erzähler geschaffen, der ganz reflektiert seine Beziehungen zu Frauen zu analysieren versteht, der mit liebevollen Erinnerungen an seine Kindheit zurückdenkt und Freundschaften auch zu durchaus nervigen, aber aufmerksamen Menschen zu pflegen versteht.
Wie Giacomos Alltag und Gefühlsleben durch die eigenartige Beziehung zu Michela durcheinandergebracht wird, wie diese seinen Mut und seine Offenheit beflügelt, ist einfach luftig leicht und wunderschön geschrieben, wobei die spritzigen Dialoge zwischen Giacomo und Michela beweisen, dass es sich hier tatsächlich um eine ganz außergewöhnliche Beziehung und vor allem eine ebensolche Geschichte handelt, wie sie nur Fabio Volo schreiben kann.
Leseprobe Fabio Volo - "Noch ein Tag und eine Nacht"

James Lee Burke – (Weldon Holland: 1) „Fremdes Land“

Sonntag, 22. Mai 2016

(Heyne, 576 S., Pb.)
Während sein Vater auf Arbeitssuche bei einer Pipeline in Osttexas gewesen war, von der er nie zurückkehrte, lebte Weldon Avery Holland 1934 mit seiner mental angeschlagenen Mutter und seinem Großvater Hackberry Holland zusammen. Der fast zwei Meter große Mann hatte es als Gesetzeshüter mit Verbrechern wie Bill Dalton und John Wesley Hardin aufgenommen und ließ sich auch im fortgeschrittenen Alter von niemandem einschüchtern, auch nicht von dem Gangsterpärchen Bonnie Parker und Clyde Barrow, die nach einem Bankraub auf seinem Grundstück kampiert haben und denen der junge Weldon mit dem Gewehr ein Loch in die Heckscheibe ihres Autos schoss.
Zehn Jahre nimmt der frisch gebackene Lieutenant Weldon Holland an der Ardennenoffensive teil, kommt knapp mit dem Leben davon und bewahrt auch seinen Sergeant Hershel Pine und die jüdische Kriegsgefangene Rosita Lowenstein vor dem sicheren Tod. Als sie nach Kriegsende gemeinsam nach Texas zurückkehren, gründen Weldon und Hershel 1946 die Dixie Bell Pipeline Company, doch der anfängliche Erfolg führt die Mächtigen auf den Plan.
„Wir waren am Ziel, die technischen Möglichkeiten unserer Nation sprengten alle Grenzen. Die Raffinerien, die wie Juwelen an der Küste von Texas funkelten und ihren Rauch gleich außerirdischen Fabriken in die große amerikanische Nacht entsandten, waren kein Schandfleck, sondern die konsequente Fortführung von Walt Whitmans Ode an die Verheißung der Vereinigten Staaten.“ (S. 141) 
Roy Wiseheart ist es gewohnt, alles zu bekommen, wonach ihm gerade ist, und lässt es natürlich nicht auf sich beruhen, als Weldon sein Fusionierungsangebot ausschlägt. Wenig später erhält Hershels attraktive Frau Linda Gail eine Rolle in einem von Wiseheart co-produzierten Film und beginnt eine Affäre mit dem mächtigen Mann, während ein unangenehmer Cop namens Hubert Slakely das Leben der beiden Pärchen zunehmend zur Hölle macht …
Nach seinen Reihen um Kleinstadtanwalt Billy Bob Holland und dessen Cousin, Sheriff Hackberry Holland, eröffnet der aus Louisiana stammende Schriftsteller James Lee Burke mit „Fremdes Land“ ein weiteres Kapitel der Holland-Familienchronik, diesmal mit Hackberry Hollands Enkel Weldon, dessen Werdegang von seiner Kindheit, über den Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Einstieg ins riskante Ölgeschäft nachgezeichnet wird.
Weldon agiert dabei als Ich-Erzähler, doch auch andere Personen berichten in einzelnen Kapiteln aus ihrer Perspektive. Dabei entwickelt sich wie bei Burke üblich ein dichtes Geflecht aus Liebe, Lügen, Gewalt und Verrat, ohne dass seine Figuren in schlichten Schwarz-Weiß-Kategorien einzuordnen sind. Vor allem der mächtige Roy Wiseheart und sein eher im Hintergrund agierende Vater Dalton Wiseheart bleiben bis zum Ende mit ihren Schachzügen undurchsichtig.
Weldon und damit auch der Leser wissen nur um die raffiniert geknüpften Schlingen, die sich von mehreren Seiten aus um die Hälse seiner engsten Vertrauten ziehen. Sehr anschaulich beschreibt der Bestseller-Autor die Aufbruchsstimmung, die das Ölgeschäft bei risikofreudigen Abenteurern auslöst, wie sie zu Geld und Anerkennung kommen, wie sie aber auch in das Visier mächtiger Neider geraten, die überhaupt nicht zimperlich bei der Wahl ihrer Mittel und Waffen sind, um ihre Besitztümer zu schützen. Dabei wechseln sich Passagen von poetischer Schönheit und brutaler Gewalt ebenso ab, wie die Figuren zwischen Glück, Liebe, Hoffnung, Wut, Schmerz und Trauer wanken.
Leseprobe James Lee Burke - "Fremdes Land"

Olen Steinhauer – „Der Anruf“

Samstag, 14. Mai 2016

(Blessing, 270 S., HC)
Nachdem auf dem Wiener Flughafen im Jahre 2006 alle hundertzwanzig Insassen eines Airbus, den Terroristen in ihre Gewalt gebracht haben, ums Leben gekommen sind, wird der Fall sechs Jahre später von der CIA neu aufgerollt, denn der Verdacht, dass es bei damals innerhalb der Organisation einen Maulwurf gab, der den Rettungsplan vereitelt hat, konnte bislang nicht bewiesen werden.
Der damals in Wien stationierte Henry Pelham macht sich auf den Weg an die amerikanische Westküste, um seine damalige Kollegin Celia Favreau zum Abendessen einzuladen.
Dass Henry diesem Treffen nervös entgegensieht, liegt nicht nur daran, dass er damals eine kurze Affäre mit Celia unterhielt und davon träumte, mit ihr den Rest seines Lebens zu verbringen, sondern auch an seinem Plan, sie dazu zu bringen, ihre Beteiligung an dem Verrat zuzugeben. Im Mittelpunkt des Verhörs, zu dem sich das Abendessen schnell entwickelt, steht ein Anruf, der zur Zeit der Entführung aus dem Büro von Celias Chef Bill Compton nach Amman in Jordanien geführt worden ist.
„Auf der einen Seite habe ich einen Auftrag zu erledigen und bin dafür um die halbe Welt geflogen – in meiner Tasche steckt ein Handy, das all unsere Worte aufnimmt. Auf der anderen Seite muss ich auf meine emotionale Gesundheit achten. Auf das, was meine Sinne wahrnehmen. Ich schaue ihr ins Gesicht, rieche gelegentlich ihren Duft und spüre ganz selten die Berührung ihrer Hand. Und die ganze Zeit stelle ich mir eine grundlegende Frage: Liebe ich diese Frau noch?“ (S. 75) 
Doch auch wenn Celia vor Jahren mit der Company abgeschlossen hat und in Carmel-by-the-Sea mit Mann und Kindern sesshaft geworden ist, sind ihre kommunikativen Fähigkeiten nicht eingerostet. So entwickelt sich das Verhör ganz anders, als Henry geplant hat …
Mit der Milo-Weaver-Trilogie „Der Tourist“, „Last Exit“ und „Die Spinne“ hat der amerikanische Autor Olen Steinhauer dem etwas eingeschlafenen Spionage-Genre neues Leben eingehaucht und sich als Meister komplexer Figurenbeziehungen und internationaler Verstrickungen erwiesen. Während er an seinem Roman „Die Kairo-Affäre“ schrieb, inspirierte ihn die BBC-Verfilmung des epischen Christopher-Reid-Gedichts „The Song Of Lunch“ mit Alan Rickman und Emma Thompson in den Hauptrollen zu einem Kammerspiel-artigen Thriller, der die ganze Welt der Spionage auf ein einziges Abendessen herunterbricht.
Wie Henry und Celia in „Der Anruf“ einander umgarnen, aushorchen und versuchen, sich gegenseitig in die Falle tappen zu lassen, ist einfach großartig geschrieben. Dabei sorgt die wechselnde Erzählperspektive zwischen Henry und Celia sowie die von ihnen erinnerten Ereignisse in der Vergangenheit für ein vielschichtiges Spielfeld, auf dem auch der Leser bald nicht mehr unterscheiden kann, wer Freund und Feind ist.
Leseprobe Olen Steinhauer - "Der Anruf"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 1) „Schwarzes Echo“

Mittwoch, 11. Mai 2016

(Knaur, 425 S., eBook)
Harry Bosch, Vietnam-Veteran, ehemaliges Aushängeschild des Morddezernats von Los Angeles und Vorlage für einen Spielfilm und eine Fernsehserie, wurde zu den berüchtigten Hollywood Detectives strafversetzt, nachdem einen unbewaffneten Tatverdächtigen in vermeintlicher Notwehr erschossen hat. Nun wird er zum Mulholland-Damm gerufen, wo nach einem anonymen Notruf die Leiche von Boschs Vietnam-Kollegen William Meadows gefunden wurde. Da Bosch keine verwertbaren Spuren außer dem Schriftzug eines Graffiti-Künstlers findet und nicht an die gelegte Fährte glaubt, dass das Opfer an einer Überdosis gestorben ist, unternimmt er weitere Untersuchungen.

Allerdings hat er dabei nicht nur Lewis und Clarke von der Abteilung für Innere Angelegenheiten im Hacken, sondern bekommt auch die FBI-Ermittlerin Eleanor Wish als neue Partnerin in dem Fall zugeteilt.
Der Überfall auf ein Pfandhaus in der Nähe des Zeitpunkts, an dem Meadows ermordet worden ist, ein Pfandschein in Meadows‘ Haus und ein Banküberfall führen Bosch auf eine Spur, die bis nach Vietnam zurückreicht und schließlich bis in durchaus vertraute Kreise in Boschs Umfeld führen.
„Er glaubte, dass Meadows seit seiner Entlassung von TI oder zumindest seit der Charlie Company etwas im Sinn gehabt hatte. Er war planmäßig vorgegangen, hatte legale Jobs angenommen, bis seine Bewährung zu Ende ging. Dann hatte er gekündigt und mit der Ausführung des Planes begonnen. Da war Bosch ganz sicher. Und er vermutete, dass Meadows entweder im Gefängnis oder im offenen Vollzug auf die Männer gestoßen war, mit denen er die Bank ausgeraubt hatte. Und von denen er dann ermordet worden war.“
Michael Connelly wurde 1986 für eine seiner Polizeireportagen für den Pulitzer Preis nominiert und wechselte anschließend als Polizeireporter zur Los Angeles Times. Als er 1992 für sein Thriller-Debüt „Schwarzes Echo“ gleich den Edgar Award, einen renommierten amerikanischen Krimi-Preis, erhielt, war der Startschuss für eine bis heute überaus erfolgreiche Thriller-Serie gelegt.

Tatsächlich kam es später auch – wie Harry Boschs Biografie schon im Debüt „prophezeit“ - zu einer Verfilmung eines seiner Fälle. In „Schwarzes Echo“ wird Bosch als Einzelgänger charakterisiert, der nach einem tragischen Unglück vom Morddezernat zu den Hollywood Detectives versetzt worden ist und auch dort immer wieder bei Vorgesetzten und Kollegen aneckt. Aus seiner Vergangenheit wird in „Schwarzes Echo“ vor allem seine Zeit in Vietnam aufgearbeitet.

Connelly erweist sich als sorgfältiger Autor mit präziser Sprache, wobei er bereits mit seinem Debüt dokumentiert, dass er die Regeln des Genres beherrscht – was „Schwarzes Echo“ leider auch etwas vorhersehbar macht: die obligatorische Wendung im Finale, das Geständnis der Schuldigen in der finalen Konfrontation, die „überraschende“ Rettung des Helden in buchstäblich letzter Sekunde … Von diesen Standard-Bausteinen abgesehen bietet das Bosch-Debüt durchweg spannende und kurzweilige Thriller-Kost mit einem charismatischen Cop, der bis heute zurecht erfolgreich ermittelt. 

Joe R. Lansdale – „Das abenteuerliche Leben des Deadwood Dick“

Montag, 9. Mai 2016

(Tropen, 477 S., HC)
Willie Jackson ist nicht mal zwanzig Jahre alt, als er sich mit dem Plan befasst, sich auf den Weg nach Westen zu machen, um sich den schwarzen Soldaten anzuschließen, dreizehn Yankee-Dollar im Monat zu verdienen und Kleidung, Essen und ein Pferd zum Reiten zu bekommen. Doch sein Spaziergang zu Wilkes Gemischtwarenladen macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Als Sam Ruggert mitbekommt, dass Willie seiner Frau auf den Hintern schaut, muss Willie um sein Leben laufen, um nicht als Ehrengast bei einem Lynchmord zu enden.
Von seinem Pa bekommt er noch eine Pistole Kaliber 44 und seine alte Taschenuhr, wenig später töten Ruggerts Leute Willies Pa und das Schwein, brennen das Haus ab und schießen auf das altersschwache Pferd Jesse. Willie und Jesse kommen bis nach East Texas und kommen bei dem ehemaligen Soldaten Tate Loving unter, der den Jungen auf seiner Farm gegen Kost und Logis arbeiten lässt und ihn zudem in Lesen und Schießen unterrichtet.
Unter dem Namen Nat Love schließt sich Willie im Norden der Armee an und überlebt mit knapper Not einem Apachenüberfall. Zusammen mit Cullen, dem einzig anderen Überlebenden des Hinterhalts, desertiert Nat und lässt sich in Deadwood nieder, wo er sich in die wunderschöne Win verliebt. Doch Ruggert hat seine Suche nach dem lüsternen jungen Mann nicht aufgegeben und ist Nat dicht auf den Fersen. Nichtsdestotrotz hat Nat Zukunftspläne mit Win.
„Wir hatten Träume und waren uns einig darüber, dass sie so groß waren wie die der Weißen. Auch waren wir beide der Ansicht, dass wir hier draußen in der Wildnis eher wie alle anderen waren als irgendwo sonst. Dennoch hing weder ihr Herz noch meines an Deadwood.“ (S. 199) 
Doch bevor er sich ein neues Leben leisten kann, will er noch einen Schießwettbewerb gewinnen, an dem auch der legendäre Wild Bill Hickok teilnimmt …
Joe R. Lansdale hat bereits in seinen Kurzgeschichten „Soldierin‘“ und „Hide and Horns“ über den legendären Nat Love (1854 - 1921) geschrieben und nun für seine umfassende Western-Biographie über den als Sklaven geborenen Soldaten, Cowboy und Autor vor allem die Jahre zwischen seiner erzwungenen Flucht von zuhause bis zum finalen Duell mit seinem unbarmherzigen Verfolger Ruggert abgedeckt.
Wie schon in seinen Südstaaten-Thrillern zuvor macht Lansdale in „Das abenteuerliche Leben des Deadwood Dick“ auf die Probleme der Schwarzen aufmerksam, die auch nach offizieller Abschaffung der Sklaverei in den seltensten Fällen Gleichberechtigung erfahren. In gewohnt humorvoller, lockerer Sprache lässt der Autor seinen Protagonisten als Ich-Erzähler auftreten und sorgt so für die beabsichtigte Authentizität einer ebenso spannenden wie tragischen Geschichte. Und überhaupt geht es in diesem gewalttätigen, zuweilen blutig-brutalen Roman ums Geschichtenerzählen, denn so wie Nat Love seine Geschichte wiedergibt, wird die von Deadwood Dick wiederum von Wild Bill schon zu Lebzeiten in Groschenromanen veröffentlicht, wobei die Wahrheit oft keine wirkliche Rolle spielt und nur als grobe Inspiration für die Geschichten dient.
Und so kann sich auch der Leser von Lansdales Roman nicht sicher kann, wie nah an der Wahrheit Nats Schilderungen seines Lebens wohl sind. Abgesehen von dieser metaphorischen Spielerei ist Lansdale ein atmosphärisch dichter Western-Thriller gelungen, der von stark gezeichneten Figuren lebt, die der Leser kaum so schnell vergessen werden, und der mit einem furiosen Showdown endet.
Leseprobe Joe R. Lansdale - "Das abenteuerliche Leben des Deadwood Dick"

J. Paul Henderson – „Letzter Bus nach Coffeeville“

Mittwoch, 4. Mai 2016

(Diogenes, 521 S., HC)
An seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag lässt Eugene Chaney wie jedes Jahr seit seinem Renteneintritt vor sieben Jahren sein Leben Revue passieren und fragt sich, warum er mittlerweile die Einsamkeit der Gesellschaft anderer Menschen bevorzugt. Er denkt aber auch über den Sinn des Lebens, den Tod und den Verlust von geliebten Menschen nach. Doc, wie Gene liebevoll von seinen Patienten und Freunden genannt wurde, trauert noch immer seiner Frau Beth und seiner Tochter Esther nach, die von einem riesigen Donut getötet wurden, erinnert sich an seine verstorbenen Eltern und die beiden Bürgerrechtler Bob und Nancy, die seine besten Freunde werden sollte.
Nancy hatte ihm ganz zu Beginn ihrer Beziehung Gene davon erzählt, dass ihre Mutter und auch schon ihre Grandma an Alzheimer erkrankt waren und sie selbst keine Kinder haben wolle, damit sie die Krankheit nicht weitervererben kann. Schwerer wiegt allerdings das Versprechen, das sie Gene in ihrer ersten Liebesnacht in North Carolina abnimmt: Wenn sie auch die „Krankheit des Vergessens“ bekommen sollte, bringt Doc sie zurück nach Mississippi und leistet ihr Sterbehilfe.
Nachdem Nancy am Morgen darauf spurlos verschwunden war, hört Gene erst über vierzig Jahre später wieder von ihr. Es sei an der Zeit, das Versprechen einzulösen.
„Doc war der Meinung, jeder unheilbar kranke Mensch, dessen Lebensqualität auf dem Nullpunkt angekommen war, habe das Recht, die Umstände seines eigenen Todes selbst zu bestimmen – wann und wie es passieren sollte. Er sah keinerlei Sinn darin, dass Menschen gegen ihren Willen weiterleben mussten. Dazu kam, dass Doc kein gläubiger Mensch und somit auch nicht davon überzeugt war, es würde allein Gott obliegen, wie lange ein Mensch lebte und wie er sein Ende fand.“ (S. 94) 
Nancy will in Coffeeville sterben und ihr Vermögen zu gleichen Teilen an die Schule, an der sie Lehrerin gewesen ist, und an die Alzheimerforschung gehen. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Freund Bob machen sich Doc und Nancy in einem alten Bus auf eine abenteuerliche Reise, die das Trio von Hershey über Nashville, Waltons Mountain und Memphis bis nach Coffeeville führt, wobei noch einige Verwandte und Anhalter der Reise abenteuerliche Momente bescheren.
Der in Amerikanistik promovierte Amerikaner J. Paul Henderson hat sich in seinem Debütroman eines Themas angenommen, von dem er selbst betroffen gewesen ist, da seine eigene Mutter an Alzheimer erkrankt und gestorben war. Doch statt Trübsal zu blasen und über den bedauernswerten geistigen Verfall und den zunehmenden Verlust der eigenen Identität im Verlauf der unheilbaren Krankheit zu lamentieren, nimmt Henderson die Krankheit als Ausgangspunkt für einen Road Trip der besonderen Art.
Hier werden nicht nur die Lebensgeschichten der drei Protagonisten erzählt, sondern viele weitere nahe und entfernte Verwandte und Waisen sorgen für interessante Zwischenstationen und Zwischentöne, die dem ernsten Zweck der Reise meist ganz humorvolle Anekdoten verleihen. So liest sich „Letzter Bus nach Coffeeville“ nicht wie die Heimreise einer Todgeweihten, sondern in leicht fließender Sprache eher wie ein Loblied auf das Leben, auf die Liebe und die Freundschaft.
Leseprobe J. Paul Henderson - "Letzter Bus nach Coffeeville"

Michael Chabon – „Telegraph Avenue“

Sonntag, 1. Mai 2016

(Rowohlt, 670 S., Tb.)
Anno 2004 leben der ehemalige Elektriker und Golfkriegsveteran Archy Stallings und der weiße Jude Nat Jaffe in ihrer eigenen Welt namens Brokeland Records. Dabei handelt es sich um einen Second-Hand-Jazzplattenladen in titelgebender Telegraph Avenue in Oakland, eingebettet zwischen einem Donut-Laden und dem „King of Bling“. So unterschiedlich die beiden Freunde auch sind, so leben sie doch für den Jazz und freuen sich, dass der Musiker Cochise Jones zu ihren besten Kunden zählt. Ungemach naht allerdings in Gestalt des ehemaligen Football-Stars Gibson Goode, der als fünftreichster Schwarzer Amerikas einen Megastore seiner Kette "Dogpile" direkt neben Brokeland eröffnen will, wobei er auch den Stadtrat und Brokeland-Stammkunden Chandler Flowers auf seine Seite ziehen kann.
Noch machen den beiden Freunden die um sich greifende Digitalisierung und der Online-Handel mit Musik keine allzu großen Sorgen, doch da Dogpile auch Platten in seinem Sortiment haben wird, sehen sich Archy und Nat vor in ihrer Existenzgrundlage bedroht.
Davon abgesehen müssen sich ihre Frauen, Gwen und Aviva, die als Hebammen zusammen arbeiten, mit einer Klage auseinandersetzen, nachdem es bei einer ihrer präferierten Hausgeburten zu Komplikationen gekommen ist und der zuständige Arzt im Krankenhaus die Meinung vertreten hat, die Hebammen würden Voodoo praktizieren. Als wären das nicht schon genug Probleme, findet die hochschwangere Gwen heraus, das Archy sie betrügt, und setzt ihn kurzerhand vor die Tür, während Archys Vater Luther versucht, nach zwei erfolgreichen „Stratter“-Filmen Geld für einen weiteren Film der Reihe aufzutreiben, die ihn einst zu einem Blaxploitation-Action-Helden gemacht hatte.
 Und schließlich finden Nats Sohn Julius, der aufgrund seiner weiblichen Ausstrahlung Julie genannt wird, und Archys verlorener Sohn Titus zueinander. Archy bekommt von Gibson „G Bad“ Goode das Angebot, ein Jobangebot bei Dogpile, damit er seine junge Familie auch weiterhin ernähren kann.
„Er wusste, dass Nat und er sich finanziell in einem immer engeren Kreis drehten. Und da kam dieser Typ daher, der sich selbst in Zeiten, da die Plattenketten dicht machten und unzählige Gratis-Downloads in die Hosentasche passten, der es sich selbst jetzt leisten konnte, einen hammermäßigen Plattenladen zu eröffnen, fünfmal so groß wie Brokeland und zehnmal so umfangreich, der es sich nur des Ruhms und der Tugend zuliebe leisten konnte, Archy für alle Zeiten pleitegehen zu lassen, unerschöpflich finanziert durch sein Medienimperium, sein lizenziertes Abbild, sein alchemistisches Händchen mit Ghetto-Immobilien. Wehte an einem Samstagnachmittag bei Brokeland herein, ein König in Zivil, um seinen Stiefel in den Nacken der Eroberten zu setzen.“ (S. 333) 
Vordergründig thematisiert der neue Roman von Pulitzer-Preisträger Michael Chabon exemplarisch an einem altehrwürdigen, Traditionen bewahrenden Second-Hand-Plattenladen den Untergang eines ganzen Industriezweigs, wie ihn kürzlich auch Schauspieler und Regisseur Colin Hanks in seinem Film „All Things Must Pass – The Rise and Fall of Tower Records“ dokumentierte. Aber vielmehr als zum Beispiel Nick Hornbys „High Fidelity“ präsentiert Michael Chabon auch eine Musikgeschichte des Jazz, wie sie vor allem in der bewegenden Trauerrede von Archy Stallings zum Ausdruck kommt.
Darin kommt gleichsam ein anderer Schwerpunkt in dem Roman zum Tragen, nämlich die Vermischung der Kulturen. Was der verstorbene Jazz-Musiker Cochise Jones zu seinen Lebzeiten als „kalifornisches Kreol“ bezeichnete, nämlich die Symbiose aus Afrika und Europa, Chopin, Kirchenmusik, Irish Folk, Polyrhythmik, das Gefühl vom Bayou, macht auch „Telegraph Avenue“ aus. Es zeichnet nicht nur vielschichtige Charaktere unterschiedlicher Jahrgänge, Hautfarben, Bildungsschichten und Kulturen, sondern ein soziokulturelles Gesamtbild Amerikas jener gar nicht so lang verjährter Tage, in denen jeder mit seinen eigenen gewichtigen Problemen zu kämpfen hat, in denen es um das Bewahren familiärer Werte und kultureller Errungenschaften geht.
Das ist wie beim großen Fabulierer Chabon gewohnt wort- und bildgewaltig beschrieben, anekdotenreich und mit allerlei Zitaten gespickt filmreif präsentiert, wenn auch gelegentlich etwas zu ausufernd manieristisch übertrieben, wie das aus nur einem, 18 Seiten (!) umfassenden Satz bestehende Kapitel „Ein Vogel von großer Erfahrung“.
Auch von einigen anderen Längen im Mittelteil abgesehen bietet „Telegraph Avenue“ ein intellektuell anspruchsvolles Lesevergnügen, in der die Jazz-Musikgeschichte fast akribisch und von rezensierender Intensität den Mittelpunkt einer komplexen Sozialgeschichte bildet.
Leseprobe Michael Chabon - "Telegraph Avenue"

Heinz Strunk – „Der goldene Handschuh“

Samstag, 23. April 2016

(Rowohlt, 256 S., HC)
Um drei Uhr morgens trifft man im Februar 1974 in der St.-Pauli-Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ allerlei verwahrloste Gestalten, die ihre wenig erbaulichen Spitznamen - Leiche (dessen Körer sich im unaufhörlichen Verfall zu befinden scheint und dreizehn Jahre wegen „heimtückischen“ Mordes gesessen hat), der Schiefe, Soldaten-Norbert oder Fanta-Rolf – wie Adelstitel vor sich hertragen. Herbert Nürnberg hat das Lokal 1962 eröffnet und 365 Tage im Jahr und 24 Stunden am Tag geöffnet.
Hier treibt sich auch Fritz „Fiete“ Honka herum, der als Kind von seinem Vater halbtot geschlagen wurde, in Kinderheimen aufgewachsen ist und seit einem Fahrradunfall im Gesicht entstellt ist. Da er zu schlecht in der Schule war, konnte er seinen Traum, Autoschlosser zu werden, nicht realisieren. Seitdem schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch und ertrinkt seine Wut in Alkohol und lässt sie an den heruntergekommenen Frauen aus, die er in der Kneipe an der Reeperbahn kennenlernt und schließlich versklavt, umbringt und zerstückelt teilweise auf dem Dachboden in Mülltüten entsorgt. Den entsetzlichen Gestank, auf den er von seinen gelegentlichen Besuchern angesprochen wird, schiebt er auf die Griechen, die den ganzen Tag kochen.
Als er überraschenderweise einen Job als Nachtwächter bei Shell bekommt, hofft Honka auf eine Wende zum Normalen in seinem Leben, mit regelmäßigem Einkommen und einer hübschen Frau an seiner Seite, wahlweise die attraktive Putzfrau Helga, deren Ehemann Erich aber noch im Wege steht.
„Fiete kann sich das nicht länger tatenlos anschauen, es geht längst nicht mehr um ihn, er muss Helga da rausholen, aus eigener Kraft wird sie es nie schaffen. Wenn er, Fiete, nicht sehr bald was unternimmt, ist sie auf immer und ewig mit dem nutzlosen Krüppel zusammengepfercht, lebendig begraben im Tonndorf’schen Mausoleum, unfähig, den Sargdeckel zu heben.“ (S. 162) 
Seit der Hamburger Heinz Strunk im Jahr 2004 mit seinem Debütroman „Fleisch ist mein Gemüse“ seine von Akne, Wichsfantasien und Schützenfesten geprägte Jugendzeit in Winsen/Luhe verarbeitet hat, zählt der sonst mit Studio Braun auf den Theaterbühnen aktive Strunk zu den festen Größen in Deutschlands Comedy-Szene. Sein neues Buch „Der goldene Handschuh“ ist zwar erstmals frei von autobiografischen Zügen, ist aber auch in seiner Hamburger Heimat angesiedelt und trotz der tragischen Geschichte voller Strunk-Humor.
Der Autor bekam im Hamburger Staatsarchiv Zugang zu bislang verschlossenen Akten zum Fall Honka, dessen Morde an vier Frauen erst entdeckt worden sind, als die Feuerwahr im Juli 1975 nach dem Löschen eines Brands in Hamburg-Ottensen auf mumifizierte Leichenteile in der Wohnung des 39-jährigen Mieters Fritz Honka gestoßen war.
„Der goldene Handschuh“ liest sich allerdings nicht wie ein reißerischer Thriller, der auf effektvolle Weise die bestialischen Morde und die Jagd auf einen gerissenen Täter schildert. Da sich Honka nur Frauen als Opfer wählte, die sich am Rande der Gesellschaft bewegt haben, sich für Alkohol und Unterkunft prostituierten und von niemandem vermisst worden sind, konnte er sich wie die meisten Kunden im „Goldenen Handschuh“ unbemerkt seinem Treiben widmen.
Strunk verlegt seinen Roman eher auf die ganz persönliche Geschichte eines Mannes, der unter schwierigen Verhältnissen aufgewachsen ist und dem später im Gerichtsprozess eine schwere „seelische Abnormität“ attestiert wird.
„Der goldene Handschuh“ ist vor allem eine treffende Milieustudie, die sich überhaupt nicht abwertend über die Figuren am Randbereich der Gesellschaft äußert. Indem Strunk auch einen Abkömmling einer wohlhabenden Reederei-Familie in der verrufenen Kneipe verkehren lässt, macht er deutlich, wie schmal der Grat zwischen Normalität und Wahnsinn, zwischen Anerkennung und Wut, Tugendhaftigkeit und Verkommenheit ist. Dabei bedient sich Strunk einer entwaffnend offenen Sprache, die zugleich brüllendkomische und tieftraurige Momente heraufbeschwört.
Leseprobe Heinz Strunk - "Der goldene Handschuh"

Stewart O’Nan – „Westlich des Sunset“

Dienstag, 19. April 2016

(Rowohlt, 416 S., HC)
Nachdem sein früherer literarischer Ruhm längst verblasst ist, kämpft der amerikanische 41-jährige Schriftsteller F. Scott Fitzgerald im Jahr 1937 nicht nur gegen seine Alkoholsucht, sondern auch gegen den finanziellen Ruin. Seine Frau Zelda, die an einer offensichtlich unheilbaren bipolaren Störung leidet, musste er kürzlich aus der Einrichtung in Pratt in das Highland Hospital bringen lassen, das er sich eigentlich ebenso wenig leisten kann wie das Schulgeld seiner Tochter Scottie. Fitzgerald zieht in die Villenanlage Garden of Allah, wo er sich im Kreis von Hollywood-Stars wie Humphrey Bogart, Valentino, Joan Crawford und Gloria Swanson bewegt und darauf hofft, bei Metro Goldwyn Meyer als Drehbuchautor so viel zu verdienen, dass er sich in Ruhe seinem nächsten Roman widmen kann.
Er arbeitet an Filmen wie „Three Comrades“ und „A Yank In America“, doch nur selten werden die Projekte, in denen Fitzgerald involviert ist, auch verwirklicht, eine Namensnennung im Vorspann gelingt ihm nur einmal. Weitaus öfter muss sich der verdiente Autor damit herumplagen, dass seine Entwürfe von anderen Autoren wieder zerpflückt werden und er selbst irgendwann gefeuert wird. Als Fitzgerald sich in die äußerst quirlige Klatschreporterin Sheilah Graham verliebt, keimt wieder Hoffnung in seinem komplizierten, von Misserfolgen und Alkoholsucht gezeichneten Leben auf.
„Er hatte mal ein Talent zum Glücklichsein gehabt, aber damals war er noch jung und erfolgreich gewesen. Doch war er jetzt nicht wieder erfolgreich? Wenn er so mit ihr zusammen war, konnte er die Vergangenheit vergessen. Das konnte niemand anders bei ihm erreichen, und doch befürchtete er, sie letztlich zu enttäuschen.“ (S. 236) 
Francis Scott Fitzgerald zählt mit Romanen wie „Der große Gatsby“ (1925) und „Zärtlich ist die Nacht“ (1934) neben Kollegen wie Ernest Hemingway und William Faulkner zu den Hauptvertretern der Prosa der amerikanischen Moderne und hat in seinen Werken viel Autobiographisches verarbeitet und viele seiner Figuren sich selbst, seiner Frau Zelda und seinen Freunden nachgebildet. In Stewart O’Nans („Emily, allein“, „Die Chance“) neuen Roman „Westlich des Sunset“ wird Fitzgerald selbst zu einem biographischen Objekt, wobei der Roman nur die letzten drei Jahre des Schriftstellers abdeckt. Dabei gelingt O’Nan nicht nur ein eindringliches Portrait des gequälten Mannes, der in Hollywood verzweifelt versucht, so viele Aufträge an Land ziehen zu können, dass er seine Rechnungen bezahlen kann, sondern zeichnet damit gleichermaßen ein Bild des verlogenen und kurzlebigen Hollywood-Spektakels, das sich Tag für Tag hinter den Kulissen der Studios ereignet und alle Beteiligten immer wieder zur Verzweiflung bringt.
O’Nan selbst bildet sich dabei kein Urteil, sondern bleibt immer bei seiner Figur, über die er auch nie richtet. Stattdessen zeichnet er Fitzgerald als Künstler, der ums nackte Überleben und seine künstlerische Integrität kämpft, der nicht mehr mit seiner psychisch gestörten Frau zusammen sein, aber ebenso wenig seine Liebe zu Sheilah öffentlich machen kann.
So stellt „Westlich des Sunset“ sowohl eine spannende Künstler-Biographie als auch ein vielschichtiges Hollywood-Portrait dar, das O’Nan auf gewohnt farbenprächtige, bildreiche Weise zu beschreiben versteht.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Westlich des Sunset"

John Irving – „Straße der Wunder“

Sonntag, 10. April 2016

(Diogenes, 776 S., HC)
Juan Diego hat zwei gänzlich voneinander getrennte und völlig unterschiedliche Leben geführt, wie er sagt - eines als Müllkippenkind in Mexiko, das andere nach seinem Umzug nach Iowa in der amerikanischen Erfahrungswelt. Man könnte auch sagen, ein Leben sei real gewesen, das andere erfunden, eines in der Erinnerung, das andere in seinen Träumen …
Juan wächst mit seiner unverständlich sprechenden Schwester Lupe auf einer Mülldeponie im mexikanischen Oaxaca auf. Die als Prostituierte arbeitende Mutter hat die beiden Kinder früh im Stich gelassen und sie in die Obhut des von jesuitischen Priestern und Nonnen geführten Waisenhauses gegeben. Sie sind eine von nur zehn Familien, die in der Siedlung Guerrero leben und auf der Deponie das Sammeln und Sortieren von Glas, Aluminium und Kupfer übernehmen. Da Juan sich aber auch das Lesen selbst beigebracht hat, wird er von den beiden alten Jesuitenpriestern Alfonso und Octavio auch der „Müllkippenleser“ genannt, und Bruder Pepe fühlt sich als Lehrer an der Jesuitenschule dafür zuständig, Juan mit geeignetem Lesestoff zu versorgen.
Aber auch seine Schwester Lupe ist mit einer besonderen Gabe gesegnet. Sie kann in den Gedanken anderer Menschen lesen und – etwas weniger zuverlässig – die Zukunft vorhersagen. Ihr gemeinsames Leben nimmt eine schicksalhafte Wende, als sie eine Anstellung im Zirkus Circo las Maravillas finden, Juan, der seit einem Unfall im Alter von vierzehn Jahren hinkt, als Hochseilartist und Lupe als Wahrsagerin.

Vierzig Jahre später ist aus Juan Diego ein bekannter Schriftsteller geworden. Er unternimmt eine Reise auf die Philippinen, die sein ehemaliger Student und in Manila mit seinen erbaulichen Romanen recht bekannte Autor Clark French organisiert hat, und erinnert sich an seine Kindheit auf der Deponie, die Zeit im Zirkus und seine Begegnung mit Miriam und ihrer Tochter Dorothy, die ihn noch immer in seinen Träumen heimsuchen.

„Miriam und Dorothy waren so sehr mit seinen Träumen verwoben, dass er sich sogar fragte, ob die beiden Frauen etwa nur in seinen Träumen existierten. Nur – existieren mussten sie, denn schließlich hatten andere sie ja auch gesehen!“ (S. 484) 

Der amerikanische Bestseller-Autor John Irving, dessen Romane „Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“ und „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ auch erfolgreich verfilmt worden sind, hat schon immer ein feines Gespür dafür gehabt, außergewöhnliche Figuren zu kreieren, die in ihrem ganz eigenen Universum leben und fast schon berauschend magische Geschichten erleben. Im Mittelpunkt seines neuen Romans steht vor allem der auf einer Müllkippe aufgewachsene Schriftsteller Juan Diego Guerrero, der sich während seiner Philippinen-Reise an die Geschichte seines Lebens erinnert, das untrennbar mit seiner außergewöhnlichen Schwester, dem Deponiechef el jefe, den Jesuitenpriestern und einigen Frauen verbunden ist.

Da Juan Diego aber ein geborener Geschichtenerzähler ist, wird gerade im späteren Verlauf des Romans nicht ganz klar, was er tatsächlich erlebt oder vielleicht nur erfunden oder geträumt hat, zumal er unter dem wechselnden Einfluss von Betablockern und Viagra steht. Interessant herausgearbeitet ist dabei vor allem das Verhältnis von Juan und seiner Schwester Lupe. Dadurch, dass nur er versteht, was Lupe für die meisten anderen unverständlich von sich gibt, entsteht zwischen den beiden Waisen eine so innige Bindung, dass Lupe eine folgenschwere Entscheidung trifft, um ihrem Bruder ein besseres Leben zu ermöglichen.

Aber auch die Beziehung zwischen dem autodidaktisch gebildeten Juan und seinen jesuitischen Lehrern bietet viel Raum für die Auseinandersetzung mit dem Glauben an sich, dem Glauben an Wunder, dem Tod und der Literatur. In letzter Hinsicht wird auch die Beziehung zwischen Juan und Clark, zwischen Lehrer und ehemaligem Studenten interessant, wenn es um die Qualität und die Wurzeln der Literatur geht. Kann gute Literatur nur aus dem eigenen Erfahrungsschatz des Schriftstellers gedeihen, oder ist es eher die Phantasie, die Autoren zu großen Werken inspiriert?

Und schließlich thematisiert Irving in seinem umfangreichen Roman auch den Umgang mit der eigenen Biografie. Was macht das Individuum aus? Sind es seine Taten, seine Erinnerungen, seine Träume, seine Erfahrungen? All diese Fragen und Themen verwebt Irving zu einem schillernden, in jeder Hinsicht Grenzen sprengenden Roman, dessen einzige Schwäche darin besteht, dass er seine sympathischen Hauptfiguren nie wirklich zur Ruhe kommen lässt und die Geschichte(n) stellenweise unnötig ausschweifend erzählt, so dass hin und wieder der Faden verloren geht. Zum Ende hin bekommt Irving wieder die Kurve und zu alter Stärke zurück, führt die losen Enden gekonnt zusammen. „Straße der Wunder“ ist ein Roman über das Wunder des Lebens und die grenzenlosen Möglichkeiten der Fantasie, wie sie im Glauben und in der Literatur, in Träumen und Erzählungen zum Ausdruck kommen. Es geht aber auch um Liebe und Tod, Sex, Opfer und Verlust, die Heimat und das Fremde.  Irving erweist sich einmal mehr als Meister, all diese großen Themen in einem bunten Fabulierkunstwerk zu vereinen und den Leser mit Figuren bekannt zu machen, die man so schnell nicht vergisst.


Benedict Wells – „Spinner“

Freitag, 1. April 2016

(Diogenes, 309 S., HC)
Mit seinen zwanzig Jahren fühlt sich Jesper Lier nicht wirklich wohl in seiner Haut. Als er von München nach Berlin gezogen ist, hatte er erst zweihundert Seiten seines ambitionierten Romans „Der Leidensgenosse“ geschrieben, im vergangenen Jahr ist das Werk unter dem Einfluss von Schwindelanfällen, Alkohol und jeder Menge Schlaftabletten zu einem Monstrum von über tausend Seiten mutiert. Er verdient kein Geld, bekommt bei Frauen nichts geregelt und verlässt seine abgeranzte Wohnung am Prenzlauer Berg mit der Dusche, die exakt anderthalb Minuten lang warmes Wasser von sich gibt, nur für sein Praktikum beim „Berliner Boten“ und um sich etwas zu essen zu kaufen.
Auf dem Weg zur Uni, wo er sich regelmäßig pro forma immatrikuliert, um weiterhin Kindergeld beziehen und den öffentlichen Nahverkehr nutzen zu können, trifft er die Philosophiestudentin Miriam Schmidt und verliebt sich in sie. Während er auf der einen Seite versucht, ihr seine Liebe zu gestehen, bemühen sich seine Freunde Gustav und Frank massiv darum, Jesper die Bundeshauptstadt schmackhaft zu machen. Inmitten von beruflicher Desorientierung, Versagensängsten als Schriftsteller und unglücklicher Verliebtheit bekommt es Jesper auch noch mit zwei russischen Ganoven zu tun, die aus seinem eigenen Roman entsprungen zu sein scheinen und ihm das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist …
„Wie einfach war alles mal gewesen, und was hatte ich nur daraus gemacht. Ich kam nicht mehr raus aus diesem Alptraum. Schon seit Jahren kam ich nicht mehr raus. Ich wollte dieses Leben hier doch gar nicht, ich wollte, dass alles wieder so fehlerlos und neu war wie früher.“ (S. 236) 
Seit seinem erfolgreich bei Diogenes im Jahre 2008 veröffentlichten und im vergangenen Jahr mit Christian Ulmen in der Hauptrolle verfilmten Debütroman „Becks letzter Sommer“ zählt der 1984 in München geborene Schriftsteller Benedict Wells zu den interessanten jungen Autoren hierzulande, so dass der Züricher Verlag Wells‘ eigentliches Debüt, „Spinner“, 2009 nachfolgen ließ.
Der Romantitel ist dabei sympathisches Programm. Mit dem Ich-Erzähler Jesper Lier hat Wells mit heftigem Augenzwinkern ein gleichaltriges Alter Ego geschaffen, das etwas überfordert scheint, sein neues Leben in einer anderen Großstadt auf die Reihe zu kriegen, worunter nicht nur die Arbeit an seinem großen Roman zählt, sondern auch zwischenmenschliche Beziehungen jeglicher Art und die zu Frauen im ganz Besonderen.
Herausgekommen ist eine luftig-leicht geschriebene Großstadt-Odyssee, in der die Angst vor dem Scheitern auf verschiedenen Ebenen den jungerwachsenen Lebensmut zu erdrücken droht und den Protagonisten aber nur von einer misslichen Lage in die nächsten katapultiert. Wells beschreibt diese durchaus verständlichen Ängste meist mit einem so erfrischenden und warmherzigen Humor, dass der Leser stets mit Jesper mitfühlt, leidet und hofft. Allerdings fällt der Ton manchmal auch etwas zu lakonisch und salopp aus, was zu dem ambitionierten Schriftsteller Jesper so gar nicht passt.
Leseprobe Benedict Wells - "Spinner"