Michael Connelly – (Harry Bosch: 7) „Dunkler als die Nacht“

Donnerstag, 18. August 2016

(Heyne, 464 S., HC – Knaur eBook, 431 S., eBook)
Drei Jahre nach seiner Herztransplantation steht für den ehemaligen FBI-Ermittler und Experten für Serienmorde Terry McCaleb vor allem die Familie im Vordergrund. Immerhin ist McCaleb seit vier Monaten Vater einer Tochter, die er mit seiner Frau Graciela auf der Insel Catalina vor Los Angeles aufzieht. Doch dann taucht unvermittelt Sheriff’s Detective Jaye Winston bei ihm zuhause auf und bittet ihn, sich nur einmal die Unterlagen zum Mord an Edward Gunn anzusehen, einem trinkfreudigen Nichtsnutz, der immer wieder von dem Cop Harry Bosch im Gefängnis aufgesucht worden ist.
Interessanterweise führen einige Hinweise zu den düsteren Gemälden von Hieronymus Bosch und weiter zu seinem Namensvetter Harry Bosch, der gerade als Ermittler im Strafverfahren gegen den Hollywood-Regisseur David Storey aussagen soll.
Er ist angeklagt, eine junge Schauspielerin nach dem Sex erwürgt zu haben und es wie eine autoerotische Asphyxie aussehen zu lassen. Beide Fälle weisen unübersehbare Parallelen auf, so dass sich McCaleb mehr mit dem Fall zu beschäftigen beginnt, als er eigentlich sollte, selbst als er von Winston offiziell zurückgepfiffen wird. Was McCaleb aber besonders irritiert, ist der Umstand, dass die Indizien darauf hinweisen, dass ausgerechnet Harry Bosch für den Tod von Edward Gunn verantwortlich zu sein scheint.
„McCaleb wusste, viele Verbrecher machten Fehler, die zu ihrer Überführung führten, weil sie im Unterbewusstsein nicht ungestraft davonkommen wollten. Das Gesetz des ewigen Kreislaufs, dachte McCaleb. Vielleicht sorgte Bosch unbewusst dafür, dass sich das große Rad auch für ihn drehte.“ (S. 230) 
Als sich McCaleb und Bosch über diese seltsamen Zusammenhänge unterhalten, bemerkt Bosch zu seiner Verteidigung, dass McCaleb etwas übersehen haben muss, worauf sich dieser noch einmal an die Arbeit macht und tatsächlich auf eine interessante Spur stößt, die dem Verfahren gegen den arroganten Hollywood-Filmemacher eine ganz neue Richtung verleiht …
Der amerikanische Bestseller-Autor Michael Connelly hat mit seiner Reihe um den eigenwilligen Ermittler Harry Bosch nicht nur Krimi-Geschichte geschrieben, sondern auch die Vorlage für die Amazon-Net-TV-Serie „Bosch“ geliefert. In „Dunkler als die Nacht“ führt er seinen beliebten Protagonisten erstmals mit einer Hauptfigur aus einem seiner anderen Romane zusammen, Terry McCaleb aus „Das zweite Herz“. Der Leser erlebt hier zwei außergewöhnliche Ermittler, die zunächst auf unterschiedlichen Seiten stehen, dann aber gemeinsam der Wahrheit auf die Spur kommen und dabei lebensgefährliche Situationen überstehen müssen.
Connelly führt sein Publikum in die düsteren Bilderwelten des niederländischen Malers Hieronymus Bosch ein, wobei sein berühmtes Triptychon „Der Garten der Lüste“ im Zentrum des Mordes an Edward Gunn steht. Darüber hinaus gewährt der Autor Einblicke vor allem in das Privatleben von McCaleb, das sich seit seiner Herzoperation grundlegend verändert hat, ohne dass der Ermittler seine Leidenschaft für die Aufklärung ungewöhnlicher Verbrechen eingebüßt hätte.
Bosch agiert dagegen eher im Hintergrund, doch bezieht der Thriller seine Spannung vor allem aus dem Zusammenspiel der beiden Ermittler. Dabei gelingt es Connelly, sowohl einen klassischen Strafprozess als auch sorgfältige Ermittlungsarbeit dramaturgisch geschickt miteinander zu verbinden und den Leser von der ersten bis zur letzten Seite glänzend zu unterhalten.
 Leseprobe Michael Connelly - "Dunkler als die Nacht"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 1) „Neonregen“

Mittwoch, 17. August 2016

(Pendragon, 420 S., Pb. - Edel:eBooks, 294 S., eBook)
Lieutenant Dave Robicheaux vom New Orleans Police Department sucht im Staatsgefängnis von Angola den Killer Johnny Massina auf, der dort im kleinen Hochsicherheitstrakt die letzten drei Stunden seines Lebens verbringt, weil dieser wie bei den Anonymen Alkoholikern seine Fehler vor Gott und anderen alle seine Fehler eingestehen will. Bei der Auflistung all seiner Verbrechen betont er nicht nur, dass er nicht – wie alle angenommen haben - das Mädchen aus Hotelfenster geworfen hat, sondern warnt Robicheaux auch vor den Kolumbianern, die den Cop kaltmachen wollen.
Streak – so wird Robicheaux wegen der weißen Strähne in seinem Haar genannt – schenkt dieser Warnung zunächst nicht viel Beachtung, schließlich sind er und sein Partner Cletus Purcel noch mit der Leiche eines jungen schwarzen Mädchens beschäftigt, das Robicheaux beim Angeln aus dem Bayou Lafourche gefischt hat.
Während der Leichenbeschauer vom Sprengel Cataouatche Tod durch Ertrinken festgestellt hat und der Sheriff keine Autopsie verlangt hat, geht Robicheaux anhand der Einstichwunden an ihren Armen von Mord aus. Doch kaum gehen Robicheaux und Purcel dem Hinweis aus der Todeszelle nach, bekommt Streak nächtlichen Besuch von drei Männern, die dem Cop in der Badewanne ordentlich zusetzen. Die Spur führt zu Julio Segura, der offensichtlich sein Geld aus dem Drogenhandel in Waffengeschäfte investiert. Das ruft wiederum die CIA auf den Plan. Doch die Ermittlungen entwickeln sich ganz anders als vorschriftsmäßig und lassen vor allem Robicheaux’ Partner über die Stränge schlagen.
„Manchmal hatte es den Anschein, als ob die Besten von uns immer mehr den Leuten ähnelten, die wir am meisten verabscheuten. Und wenn ein guter Polizist einmal ins Unglück stürzte, war er meist gar nicht mehr in der Lage, zurückzublicken und den genauen Augenblick zu bestimmen, wo er falsch abgebogen und in einer Einbahnstraße gelandet war.“ (S. 222)
1987 veröffentlichte James Lee Burke mit „The Neon Rain“ seinen ersten Band um den ehemaligen Vietnam-Veteran und Ex-Alkoholiker Dave Robicheaux, der mittlerweile zu einer echten Kultfigur der amerikanischen Krimiliteratur geworden ist und endlich auch hierzulande wiederentdeckt wird, nachdem die in den 90er Jahren bei Goldmann und Ullstein erschienenen deutschen Ausgaben längst vergriffen sind.
Während Edel:eBooks den Backkatalog wenigstens im eBook-Format wiederveröffentlicht hat, macht sich nun der Pendragon Verlag daran, die Robicheaux-Titel wieder als Hardcopy auf den deutschen Markt zu bringen.
Nach „Mississippi Jam“, dem siebten und bislang auf Deutsch noch gar nicht erhältlichen Robicheaux-Band, veröffentlicht Pendragon mit „Neonregen“ nun den ersten Band in einer leicht verbesserten Neuübersetzung durch Hans H. Harbort und ergänzt die Neuausgabe durch ein Vorwort des Autors, in dem er erzählt, wie das Buch zunächst von 111 Verlagen abgelehnt worden war, ehe es seinen internationalen Siegeszug begann und den Auftakt einer Trilogie bildete, die lose auf Miltons „Paradise Lost“ basiert. Das ebenfalls neu hinzugefügte Nachwort von Alf Mayer wirft einen Blick auf die späte Karriere des US-amerikanischen Autors.
Bereits mit „Neonregen“ erweist sich Burke als grandioser Erzähler, der seine Figuren mit allen Ecken und Kanten versieht und sie eben nicht in eindeutige Kategorien steckt. So haben die vermeintlich guten Cops in „Neonregen“ ebenso ihre ganz dunklen Seiten wie die Ganoven ihre menschlichen Züge präsentieren.
Es sind schließlich das Miteinander, die pointierten Dialoge, die handfesten, oft brutalen Auseinandersetzungen und die raffinierten Wendungen, die „Neonregen“ so lesenswert machen. Dabei beschwört Burke eine dramatisch dichte Atmosphäre herauf, die einfach unnachahmlich bleibt.
 Leseprobe James Lee Burke - "Neonregen"

Jeffery Deaver – „Die Saat des Bösen“

Mittwoch, 10. August 2016

(Blanvalet, 412 S., Tb.)
Nachdem die siebzehnjährige Megan McCall nach einem Alkoholrausch aufgefunden wurde, ist sie durch das Sozialamt zu einer Therapie verdonnert geworden. Doch nachdem sie die Fragen von Dr. James Peters beantwortet hat, entführt er sie. Ihre besorgten Eltern, der ehemalige erfolgreiche Staatsanwalt Tate Collier und seine Ex-Frau Bett McCall, finden jeweils Briefe vor, in denen Megan ihre Wut und Enttäuschung über sie zum Ausdruck bringt, doch weder Tate noch Bett glauben wirklich daran, dass Megan weggelaufen sein könnte. Also setzt Tate seinen Freund Konnie, Detective bei der State Police, darauf an, neben seiner offiziellen Tätigkeit ein wenig die Augen offen zu halten.
Tate gelingt es dank seiner außerordentlichen rhetorischen Fähigkeiten, auch Megans Ex-Freund Joshua LeFevre und ihren Englisch-Lehrer und Freund Robert Carson einzuspannen, sich ebenfalls umzuhören. Zeugenaussagen führen schließlich zu einem Lieferwagen, der offenbar in die Richtung der Berge gefahren ist, wo früher verschiedene religiöse Erweckungszentren ihren Sitz hatten. Währenddessen entdeckt vor allem Konnie, der sich nach seiner zweijährigen Zwangsversetzung nichts sehnlicher wünscht, als seine deduktiven Fähigkeiten wieder im Morddezernat unter Beweis zu stellen, zunehmend Ungereimtheiten bei den Indizien, die auf Megans Ausreißen hindeuten sollten.
Collier wird das Gefühl nicht los, dass der Entführer ihm etwas heimzahlen möchte, und er muss sich zwangsläufig mit einem Fall auseinandersetzen, der ihn den Job des Staatsanwalts aufgeben ließ.
„Colliers Qual würde sein, dass er den Rest seiner Tage mit Zweifeln leben würde. Er würde nie wissen, was mit seiner Tochter geschehen war. Er würde nichts weiter haben als den Brief eines lästigen Kindes, ihre letzten grausamen Worte an ihn, die ihn auf ewig und immer wieder fragen lassen würden: Wo ist sie? Wo ist sie? Wo ist mein Mädchen?“ (S. 169) 
Bevor der US-amerikanische preisgekrönte Bestsellerautor Jeffery Deaver 1997 mit „Die Assistentin“ bzw. „Der Knochenjäger“ den ersten Band seiner erfolgreichen Lincoln-Rhyme-Reihe veröffentlichte, der zwei Jahre später ebenso erfolgreich von Phillip Noyce mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen verfilmt wurde, hat er fast zehn Jahre lang meist unzusammenhängende Thriller geschrieben, die mittlerweile meist vergriffen sind.
Nun veröffentlicht Blanvalet nicht nur die Reihen um Lincoln Rhyme und Kathryn Dance, sondern auch die Frühwerke im Taschenbuch. „Die Saat des Bösen“ ist zwei Jahre vor „Die Assistentin“ entstanden und zählt leider zu den schwächeren Werken des ansonsten so versierten Autors. Das liegt nicht allein an dem Umstand, dass religiös motivierte Kriminelle gerade in der heutigen Zeit einfach zu abgeschmackt sind und auch in der Geschichte der Kriminalliteratur und des Films in jeder erdenklichen Variation ihren Niederschlag gefunden haben. Vor diesem Hintergrund wirkt das Gebaren von Megans Entführer in „Die Saat des Bösen“ etwas altbacken und dermaßen konstruiert, dass kaum echte Spannung aufkommt.
Die einzige überzeugende Identifikationsfigur könnte die entführte Megan darstellen, doch bekommt sie überraschend wenig Raum bei der Darstellung ihrer Situation und Gefühlslage. Am aufschlussreichsten dient noch ihr Erstgespräch in der Praxis von Dr. Peters, doch mit ihrer Entführung verlässt Deaver gleichermaßen sein Opfer ebenso wie seine Leser. Denn den Schwerpunkt seiner Geschichte legt der Autor auf die Suche der Ex-Eheleute nach Megan und die verqueren Ambitionen ihres Entführers. Da weder Tate Collier noch seine Ex-Frau Bett das Mitgefühl des Lesers wecken können, verläuft das extrem vorhersehbare Geschehen weitgehend spannungsbefreit, um im Finale noch ein paar „Überraschungen“ zu präsentieren.
Im Bücherregal macht sich die Neuausgabe von „Die Saat des Bösen“ neben den anderen in den vergangenen Jahren von Blanvalet veröffentlichten Deaver-Werken ganz gut und macht auch Sammler-Herzen glücklich, doch von seiner späteren Meisterschaft ist Deaver noch ein gutes Stück entfernt.
 Leseprobe Jeffery Deaver - "Die Saat des Bösen"

Lee Child – (Jack Reacher: 1) „Größenwahn“

Samstag, 6. August 2016

(Heyne, 479 S., HC)
Vor sechs Monaten ist Jack Reacher, Sohn eines Army-Offiziers, mit dem Dienstgrad eines Majors aus dem Dienst der Militärpolizei entlassen worden. Seither reist der 36-Jährige ziel- und arbeitslos durch Amerika, bis es ihm in den Sinn kommt, auf den Spuren des Blues-Gitarristen Blind Blake mit dem Bus nach Margrave, Georgia, zu reisen, wo er allerdings in Eno’s Diner unvermittelt verhaftet wird, weil er eines Mordes beschuldigt wird.
Wie sich nach der Autopsie des Opfers herausstellt, handelt es sich bei dem Toten um Reachers Bruder älteren Bruder Joe, den er seit sieben Jahren aus den Augen verloren hat und der offensichtlich zuletzt beim Finanzministerium gearbeitet hat. Die Spur führt zunächst zu dem Bankmanager Hubble, mit dem Reacher in U-Haft kommt, wo er nur knapp einem Mordanschlag entkommt.
Als Reachers Alibi endlich überprüft worden ist, macht er sich mit dem engagierten Chief Detective Finlay und der attraktiven Roscoe auf die Suche nach dem wahren Täter und stößt auf den Bürgermeister Teale und den Unternehmer Kliner, der mit seiner Stiftung für mächtigen Wohlstand in der unscheinbaren Kleinstadt sorgt. Doch als Finlays Chef Morrison und dessen Frau brutal in ihrem Haus abgeschlachtet werden, wird klar, dass eine Bande von skrupellosen Killern jeden aus dem Weg räumt, der das riskante Unternehmen gefährdet, das offensichtlich bis in einer Woche zum Abschluss kommen muss.
Für Jack Reacher wird der Aufenthalt in Margrave schließlich zu einer sehr persönlichen Angelegenheit. Er will nicht nur herausfinden, was sein Bruder überhaupt in dieser Kleinstadt zu tun hatte, sondern auch seine Mörder stellen. Dabei muss er sorgfältig abwägen, wem er überhaupt vertrauen kann, denn offensichtlich sind vor allem die Stadtoberhäupter in kriminelle Machenschaften von unvorstellbaren Ausmaßen verwickelt.
„Sie hatten die verbotene Tür aufgestoßen. Sie hatten einen zweiten, fatalen Fehler gemacht. Jetzt waren sie so gut wie tot. Ich würde sie zur Strecke bringen und sie anlächeln, wenn sie starben. Denn der Angriff auf mich war ein zweiter Angriff auf Joe. Er war nicht mehr da, um mir beizustehen. Es war eine zweite Herausforderung. Eine zweite Demütigung. Hier ging es nicht um Selbstverteidigung. Hier ging es darum, Joes Andenken zu ehren.“ (S. 211) 
Gleich mit seinem ersten Roman „Größenwahn“ aus dem Jahr 1997 gelang dem britischen Autor Lee Child ein großer Wurf und bildete gleichzeitig den Start der bis heute erfolgreichen Romanserie um den Ex-Militärpolizisten Jack Reacher, aus der sogar die beiden Romane „Sniper“ (Band 9) und „Die Gejagten“ (Band 18) mit Tom Cruise in der Hauptrolle verfilmt worden sind.
Auch wenn sich jeder einzelne Roman unabhängig von den anderen lesen lässt, ist es doch faszinierend und hilfreich, im Auftaktroman die grundlegenden Informationen zum Ich-Erzähler Jack Reacher zu erhalten, der als Sohn eines Soldaten überall in der Welt zur Schule gegangen ist, selbst Karriere beim Militär gemacht hat, indem er Deserteure aus der Army aufgespürt hat, und seit seiner Entlassung ziellos durch die Staaten reist, stets mit Bargeld bezahlt und anonym in Bussen und Zügen unterwegs ist.
Vor allem wird die tragische Tatsache thematisiert, wie Reacher seinen Bruder verliert, so unglaubwürdig nun auch das Szenario wirkt, wie er zufällig in Margrave auf seine Leiche stößt. In seinem ersten Fall erweist sich Reacher als entschlossener Mann mit ausgeprägten deduktiven Fähigkeiten und imponierendem Kampfgeist. Das geschilderte Leben in der Kleinstadt wirkt ein wenig wie Science-Fiction und auch die Art des Verbrechens, dem Reacher & Co auf der Spur sind, überzeugt nicht so recht. Doch Child versteht es, Jack Reacher als sympathischen und durchschlagskräftigen Mann mit bewegter Vergangenheit und starken Prinzipien zu etablieren sowie aus einem an sich unglaubwürdigen Szenario einen spannenden und actionreichen Plot zu kreieren. Dies wird auch in den nachfolgenden Jack-Reacher-Romanen die Erfolgsformel darstellen.
 Leseprobe Lee Child "Größenwahn"

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 9) „Doppeltes Spiel“

Donnerstag, 4. August 2016

(Pendragon, 304 S., Tb.)
Als Suitcase Simpson mit seinem Partner Arthur Angstrom eines Morgens im Osten von Paradise seinen Streifendienst absolviert, entdeckt er im Kofferraum eines verdächtig weit auf die Straße hinausragenden Cadillac die Leiche von Petrov Ognowski, dem eine .22er Kugel im Schädel steckt. Wie Chief Jesse Stone und seine Crew bald herausfinden, gehörte der Tote zur Gang von Reggie Galen, dessen Anwesen sich gleich neben dem von Knocko Moynihan liegt, die sich einst in Boston das Revier geteilt hatten und nun nebeneinander wohnen, weil sie die eineiigen Zwillinge Rebecca und Robbie geheiratet haben.
Kaum hat Jesse Stone die beiden vermeintlichen Ex-Gangster aufgesucht, wird auch Knocko Moynihan tot aufgefunden, und Jesse Stone wird das Gefühl nicht los, dass die beiden attraktiven Zwillingsschwestern etwas mit den Morden zu tun haben.
Derweil wird die Privatdetektivin Sunny Randall damit beauftragt, die achtzehnjährige Cheryl DeMarco aus den Fängen einer religiösen Gruppe namens Bund der Erneuerung zu befreien, wobei die die Unterstützung von Jesse anfordert. Dabei kommen sie sich wieder näher, haben aber immer noch nicht mit ihren Ex-Partnern abgeschlossen.
„Er hatte ein Alkoholproblem, das ihn in Los Angeles den Job gekostet hatte. Und er lebte in den Ruinen einer gescheiterten Ehe. Sie war sich ziemlich sicher, dass er den Alkohol in den Griff bekommen konnte. Jedenfalls hatte es mehrere Situationen gegeben, in denen er seine Entschlossenheit demonstriert hatte.
Und was seine Beziehung zu Jenn anging … Offensichtlich war das wirklich Schnee von gestern.“ (S. 240)
Da Robert B. Parker 2010, als er „Doppeltes Spiel“ veröffentlicht hatte, verstorben ist, bildet der Roman leider schon das Ende seiner überaus erfolgreichen, mit Tom Selleck in der Hauptrolle auch ebenso ansprechend verfilmten Jesse-Stone-Reihe.
Zum Abschluss kämpft der Chief von Paradise erneut an mehreren Fronten, muss sich mit (ehemaligen?) Gangstern aus Boston und ihren verführungswilligen Frauen herumschlagen, den rachsüchtigen Vater des ersten Todesopfers in Schach halten, den Praktiken einer religiösen Gruppe auf den Grund gehen und sich schließlich darüber klar werden, wie er die Beziehung zu Sunny gestalten soll.
Parker bildet die Handlung überwiegend in knackiger Dialogform ab, so dass sich das Drehbuch zum Roman fast von selbst zu schreiben scheint. Nur gelegentlich werden die Dialoge von kurzen, schnörkellosen inneren Einsichten von Jesse und Sunny sowie gelegentlich nötigen Beschreibungen der Szenen aufgelockert. Parker-Fans freuen sich über das Wiedersehen mit Sunny Randall, der Parker eine eigene Serie gewidmet hat, und mit Susan Silverman, die wir aus der Spenser-Reihe kennen.
„Doppeltes Spiel“ überzeugt durch eine klare, prägnante Sprache, einen trockenen Humor und sympathische Figuren, die für reichlich Aufregung in einem extrem kurzweiligen Roman sorgen. 
 Leseprobe Robert B. Parker "Doppeltes Spiel"

James Lee Burke – (Billy Bob Holland: 3) „Die Glut des Zorns“

Dienstag, 2. August 2016

(Edel:eBooks, 383 S., eBook)
Der ehemalige Texas Ranger und Bundesstaatsanwalt Billy Bob Holland, der in Deaf Smith, Texas, eine kleine Anwaltspraxis unterhält, nimmt die schon vor langer Zeit ausgesprochene Einladung seines Schulfreundes Tobin Voss an und besucht ihn auf unbestimmte Zeit auf dessen Farm im Bitterroot Valley in Montana. Seit Voss bei der Navy gewesen, einer fundamentalistischen Sekte beigetreten, nach Mexiko gegangen ist und sein Medizinstudium absolviert und ein Mädchen aus Montana geheiratet hat, das vor fünf Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, zieht es den Doc immer häufiger auf die Ranch in Montana, wo er sich nun mit seiner siebzehnjährigen Tochter Maisey aufhält.
Billy Bob erfährt, dass vergangene Nacht jemand auf ihr Haus geschossen habe, wahrscheinlich Typen von der Miliz. Kaum wird ein Mann namens Wyatt Dixon aus dem Bezirksgefängnis entlassen, wo er einen Notizzettel mit einem halben Dutzend Namen hinterließ, darunter den von Billy Bob Holland, wird Maisey von drei jungen Männern vergewaltigt. Wenig später wird nicht nur deren vermeintlicher Anführer Lamar Ellison ermordet aufgefunden, sondern auch seine beiden Mitstreiter.
Der Doc gerät ziemlich schnell ins Visier des Sheriffs, und als Holland auf eigene Faust zu ermitteln beginnt, hat er es nicht nur persönlich mit Wyatt Dixon und seinem jungen Begleiter Terry Witherspoon zu tun, sondern macht auch die Bekanntschaft des exzentrischen Schriftstellers Xavier Girard und seiner Frau, der Schauspielerin Holly Girard, sowie des Milizanführers Carl Hinkel und des Gangsters Nicki Molinari. Er lässt sich mit der Ärztin Cleo Lonnigan ein und bekommt unerwartet Besuch von seinem Sohn Lucas und der Privatdetektivin Temple Carrol, zu der sich Holland sehr hingezogen fühlt.
Zu guter Letzt ist die Bundesbehörde ATF mit ihm Spiel, die die Indianerin Sue Lynn als Informantin einsetzt, um herauszufinden, wer für das Attentat im Alfred P. Murrah Building verantwortlich gewesen ist, bei dem etliche ATF-Agenten den Tod gefunden hatten. Der Umgang zwischen all diesen zwielichtigen Gestalten ist von Hass und Gewalt geprägt, und der texanische Anwalt mischt hier munter mit.
Wann immer Billy Bob seine Gewalt nicht zügeln kann und von Gewissensbissen geplagt wird, erscheint ihm der Geist seines Freundes und Texas-Rangers-Kollegen L. Q. Navarro, den er damals bei einem unbefugten Ausritt versehentlich erschossen hatte …
„Das Gesetz hatte in Maiseys Fall versagt; es hatte gegenüber Doc versagt und in gewisser Weise auch bei Sue Lynn Big Medicine. Manchmal musste man die Würfel zinken, sonst wurde man von dem Bösen verzehrt, das die Gesellschaft oder die Regierung aus welchem Grund auch immer dulden.“ (Pos. 5499). 
Neben seiner äußerst populären, mittlerweile zwanzig Bände umfassenden Reihe um den New-Iberia-Detective Dave Robicheaux zählt auch James Lee Burkes Zyklus um den texanischen Anwalt Billy Bob Holland zu den lesenswertesten Glanzlichtern amerikanischer Kriminalliteratur. Im Gegensatz zur Robicheaux-Reihe, bei der allein die Titelfigur als Ich-Erzähler fungiert, werden bei „Die Glut des Zorns“ auch andere Erzählperspektiven zugelassen und beleben so interessante Nebenschauplätze. Ähnlich wie in den Robicheaux-Büchern tummeln sich auch hier eine Vielzahl von schillernden, teils exzentrischen Figuren, und ähnlich wie Billy Bob Holland tappt auch der Leser lange Zeit im Dunkeln, welche Absichten die jeweiligen Persönlichkeiten eigentlich verfolgen.
Burke erweist sich als Meister der interessanten Figurenzeichnung und der pointierten Dialoge, kreiert eine stets brodelnde Atmosphäre aus Schweiß, Blut, Alkohol und Gewalt, streut aber auch immer wieder intime Momente und schöne Landschaftsbeschreibungen ein. Vor allem ist der dritte Billy-Bob-Holland-Band aber eine spannende Tour de Force vor der trügerisch idyllischen Kulisse Montanas.
 Leseprobe James Lee Burke - "Die Glut des Zorns"

Adam Davies – „Froschkönig“

Freitag, 22. Juli 2016

(Diogenes, 384 S., HC)
Statt in die Anwaltskanzlei seines Vaters in Connecticut einzutreten, zieht es Harry Driscoll nach seinem Abschluss an einer Eliteuniversität nach New York, wo er im Verlag Prestige als Assistent im Lektorat strandet. Da seine ihm anvertrauten Projekte wie der „Kalender und Jahrbuch für Marathonläufer“ regelmäßig im Verzug ist, weshalb er bei seinem Chef Andrew Nadler regelmäßig vorsprechen muss. Wie viele seiner oft hochqualifizierten Kollegen sehnt sich Harry nach einer kaum realisierbaren Beförderung zum Lektor und davon, ein eigenes Buch zu schreiben und zu veröffentlichen.
Um mit seinem kümmerlichen Gehalt überhaupt über die Runden zu kommen, hat er sich als illegaler Untermieter in Alphabet City, einem der heruntergekommensten Viertel Manhattans, bei einem Freund eingenistet, der seine Werbejingles ohne Kopfhörer komponiert. Und da er sich keine Bücher leisten kann, hat Harry angefangen, im Wörterbuch zu lesen und sich ungewöhnliche Begriffe zu merken.
Den einzigen Lichtblick in seinem Leben bildet die auch bei Prestige arbeitende Evie Goddard, mit der der Sechsundzwanzigjährige eine leidenschaftliche, auch auf die Liebe zu Buchstaben und Wörtern basierende Beziehung unterhält. Doch weil er die an einer schweren Unterleibserkrankung leidenden Evie nicht sagen kann, dass er sie liebt und zudem eine Affäre mit Judith Krugman unterhält, die bereits ihr eigenes Imprint-Label im Verlag besitzt und durch die er eine bessere Position im Verlagswesen zu ergattern hofft, setzt Harry diese einzigartige Beziehung aufs Spiel.
„Wie habe ich mich verändert? Wie konnte aus so einem Menschen jemand werden, der das einzige existierende Exemplar eines wichtigen Manuskripts verliert, der in eine verachtenswerte Affäre mit einer Frau verwickelt ist, die ihm nichts bedeutet, während die Frau, die er liebt, allein und leidend dahockt und darauf wartet, dass er nach Hause kommt und mit ihr die Kanonenkugel macht?“ (S. 263) 
Mit seinem 2002 veröffentlichten Debütroman „Froschkönig“ ist dem amerikanischen Autor Adam Davies („Goodbye, Lemon“) ein Liebesroman gelungen, der wie sein Ich-Erzähler eigentlich jedes Klischee zu vermeiden sucht, dabei aber selbst nicht ohne auskommt. Allein die Tatsache, dass Harry seine große Liebe durch eine Affäre riskiert, ist fraglos eines der größten Klischees des Genres. Doch Davies gelingt es nicht nur, seinen an sich durch und durch unsympathischen wie unfähigen Protagonisten ansatzweise liebenswürdig und bedauernswert erscheinen zu lassen, sondern auch der im Fokus seiner Geschichte stehenden Love Story einzigartige Aspekte zu verleihen. Das beginnt bei skurrilen Details wie den Fruchtfliegen unter Harrys Bett, setzt sich bei der maßlosen Unfähigkeit in seinem Job fort und gipfelt in seinen verzweifelten Versuchen, es zu Höherem in der Verlagsbranche zu bringen.
Doch bei allem durchaus schwarzen Humor versteht es der Autor, seine Figur eine Läuterung durchmachen zu lassen, die fraglos erstrebenswert, aber nicht unbedingt glaubwürdig ist. Nichtsdestotrotz bietet „Froschkönig“ eine erfrischend andere Liebesgeschichte mit herrlich unkonventionellen Figuren und humorvollen Einblicken in die Verlagsszene.

Daniel Woodrell – „Tomatenrot“

Donnerstag, 21. Juli 2016

(Liebeskind, 222 S., HC)
In dem kleinen Kaff West Table in Missouri zählt der junge Sammy Barlach zum Bodensatz der Gesellschaft. Er jobbt in einer Hundefutterfabrik und versetzt am Freitag seinen Lohn für Alkohol und Drogen, um sich im Laufe des Wochenendes mit irgendwelchen Mädchen abzugeben. Um aus seinem elendigen Leben mehr zu machen, bricht er in von Urlaubern verlassene Villen ein, die ihm noch bewusster machen, dass er ein Versager ist. Bei einem dieser Brüche stößt er auf die neunzehnjährige Jamalee mit ihren kurzen tomatenroten Haaren und ihren etwas jüngeren, hübschen Bruder Jason, bei dem die Frauen in dem Friseursalon, wo er seine Lehre macht, schon immer Schlange stehen. Sammy kommt bei den beiden unter und lernt dabei deren Mutter Bev kennen, die als Escortdame und Polizeispitzel ihr Geld verdient.
Sammy lässt sich auf eine Affäre mit der Frau ein, mag aber auch Jamalee, die nur davon träumt, aus dem miesen Viertel Venus Holler herauszukommen und etwas Großes aus ihrem Leben zu machen. Doch als ihr Bruder Jason tot in einem Teich gefischt wird, scheinen sich die Abgründe ihres Lebens nur noch zu vertiefen.
Um an den Autopsiebericht zu kommen, den der ortsansässige Automechaniker Abbott Dell verfasst hat, setzt Bev ihre legendären Reize ein, doch durch ihre Aktion bringen sie nur den Sheriff und die Mächtigen auf den Plan, die Jasons Tod nur unter den Teppich kehren wollen, um sich wieder ihrem Alltag widmen zu können. Doch so leicht lassen sich Bev, Jam und Sammy nicht einschüchtern …
„So ein Angst einflößendes Gesicht ist alles, was Leute wie ich in dieser anderen Welt vorzuzeigen haben, dieser Welt, die unsere beherrscht, das Einzige, was dort noch ein wenig Autorität vermittelt und irgendwelchen zögerlichen Respekt einheimst. Wenn wir niedrigen Elementen nicht Zähne zeigen und schnell zubeißen, dann sind wir nur weicher, lehmiger Dreck, über den alle jederzeit hinwegtrampeln können, und das würden die auch tun, denn selbst wenn wir Zähne zeigen, ist da schon ein ausgetretener Trampelpfad quer durch unseren Verstand und über unsere Rücken.“ (S. 118) 
Es ist ein tristes Bild, das der aus St. Louis und Kansas City stammende Bestseller-Autor Daniel Woodrell („Winters Knochen“) in seinem bereits 1998 veröffentlichten und ein Jahr später mit dem Preis des amerikanischen P.E.N. ausgezeichneten Romans „Tomatenrot“ zeichnet. Seine zumeist jugendlichen Protagonisten leben am Rand der Gesellschaft und sich voll und schmerzlich bewusst, dass es ihnen nicht vorbestimmt ist, allein durch harte Arbeit zu Ansehen und Wohlstand zu kommen. Stattdessen versinken sie weiter im Sumpf aus Drogen, Sex, Gewalt und Verbrechen.
Allein Jason hätte durch sein blendendes Aussehen etwas aus sich machen können, doch als er feststellt, dass er mit Frauen nichts anfangen kann, und seine Homosexualität entdeckt, ist er schon dem Untergang geweiht.
Vor allem Woodrells Ich-Erzähler Sammy analysiert die trostlose Situation immer wieder mit treffenden Worten und Vergleichen, doch ein Ausweg bleibt ihm ebenso verwehrt wie seinen Freunden, die für ihn für eine kurze Zeit wie eine Familie sind.
„Tomatenrot“ bildet nur eine kurze Episode aus dem unsteten Leben eines gesellschaftlichen Außenseiters, der sich seines Schicksals schmerzhaft bewusst ist und trotzdem verzweifelt versucht, mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, sein Gesicht in einer Welt zu wahren, die nur Verachtung für ihn übrig hat.
 Leseprobe Daniel Woodrell - "Tomatenrot"

Lee Child – (Jack Reacher: 18) „Die Gejagten“

Dienstag, 12. Juli 2016

(Blanvalet, 448 S., HC)
Nach seiner aktiven Zeit als Militärpolizist beim 110th MP Special Unit hat Jack Reacher keinen festen Job mehr gehabt und reist meist per Anhalter durch die Staaten und übernachtet in schäbigen Motels. Als er in Nordostecke von Virginia an einem weiteren Motel abgesetzt wird, bekommt er umgehend Besuch von zwei Männern, die ihm den Rat geben, möglichst schnell zu verduften, um einem Kriegsgerichtsverfahren aus dem Weg zu gehen. Doch Reacher lässt sich nicht einschüchtern. Schließlich hat er den langen Weg von South Dakota nach Virginia auf sich genommen, um Major Susan Turner persönlich kennenzulernen, nachdem er ihre Stimme am Telefon als sympathisch und interessant empfunden hatte.
Doch als er seine alte Dienststelle aufsucht, der nun Turner als Kommandeur vorsteht, wird er von Colonel Morgan in Empfang genommen, der ihm mitteilt, dass Major Turner im Militärgefängnis sitzt und er selbst wegen Mordes an dem Kleinkriminellen Juan Rodriguez alias Big Dog angeklagt ist und sich mit dem Umstand anfreunden muss, vor vierzehn Jahren mit Candice Dayton eine Tochter gezeugt zu haben. Und als hätte Reacher nun nicht schon genug Probleme am Hals, wird er nach Buch zehn des United States Code wieder in den Militärdienst einberufen.
Reacher nimmt die Dinge wie gewohnt selbst in die Hand, befreit Turner aus dem Gefängnis und begibt sich mit ihr per Bus und Anhalter auf die Flucht, bis sie den Spieß umzudrehen beginnen und herauszufinden versuchen, wer ein Interesse daran hat, Turner und Reacher aus dem Verkehr zu ziehen. Offensichtlich hängt die Jagd auf Reacher und Turner mit Vorfällen in Afghanistan zusammen, wo Turner gerade zwei ihrer Leute verloren hat. Und Reacher hat auch schon eine Idee, was für Leute hinter der ganzen Sache stecken:
„Sie sind sehr korrekte Leute mit einer Betrugsmasche, die ihnen Unmengen von Geld einbringt. Sie sind bereit, achttausend Meilen entfernt in Afghanistan Straftaten bis hin zum Mord verüben zu lassen, aber daheim vor ihrer Haustür soll alles sauber und ordentlich ablaufen. Sie sind Duzfreunde von Offshore-Bankern, können finanzielle Arrangements in einer Stunde statt in einer Woche treffen, verstehen sich darauf, alte Personalakten jeder Teilstreitkraft zu durchsuchen und zu manipulieren, und haben einen effektiven Schlägertrupp, der ihnen den Rücken freihält. Ich gehe jede Wette ein, dass sie hohe Stabsoffiziere in D.C. sind.“ (S. 173) 
Seit Lee Child 1997 mit seinem Debütroman „Größenwahn“ seinen unorthodoxen Protagonisten Jack Reacher eingeführt hat, sind seine Thriller um den ehemaligen Kommandeur einer Spezialeinheit der Militärpolizei, der seit seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst keinem geregelten Job mehr nachgeht, zunehmend erfolgreicher geworden, bis 2012 folgerichtig Band 9 der Reihe – „Sniper“ – mit Tom Cruise in der Hauptrolle unter dem Titel „Jack Reacher“ fürs Kino adaptiert worden ist.
Weitere neun Bände später wird im November 2016 auch Band 18 – „Die Gejagten“ – als Sequel in die Kinos kommen. Da die einzelnen Jack-Reacher-Bände nicht zwingend aufeinander aufbauen und für sich abgeschlossene Fälle thematisieren, ist dies auch gar nicht problematisch. Im Prinzip ist jeder Jack-Reacher-Thriller filmreif, denn Lee Child hat mit dem großen Kraftpaket, der über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn verfügt, eine überaus charismatische Figur geschaffen, der nie aufgibt und sehr analytisch zum Ziel gelangt. Mit diesen Eigenschaften befreit er eben auch die zu Unrecht inhaftierte Susan Turner aus dem Militärgefängnis und macht sich mit ihr auf die Suche nach den Drahtziehern des Komplotts, mit dem die beiden hochrangigen (Ex-)Kommandeure aus dem Verkehr gezogen werden soll. Gerade die Actionszenen sind bereits drehbuchreif geschrieben, die obligatorische Liebes-Beziehung zwischen Reacher und Turner ebenso, aber auch das Katz- und Maus-Spiel zwischen den als Romeo und Julia bezeichneten Auftraggebern, ihrem Aufräumtrupp und den beiden Angeklagten ist temporeich und spannend inszeniert.
Allein bei der Charakterisierung von Reachers mutmaßlicher Tochter schießt Child etwas über das Ziel hinaus. Davon abgesehen bietet „Die Gejagten“ geradlinige Action mit coolen Figuren, die kurzweiligen Lesegenuss garantieren und auf die Verfilmung neugierig machen.
 Leseprobe Lee Child "Die Gejagten"

Donald Ray Pollock – „Die himmlische Tafel“

Freitag, 8. Juli 2016

(Liebeskind, 431 S., HC)
An der Grenze zwischen Georgia und Alabama fristen der Farmer Pearl Jewett und seine drei Söhne Cane, Cob und Chimney ein trostloses Dasein, das ihnen, so das gläubige Familienoberhaupt, im Jenseits mit einem Platz an der himmlischen Tafel vergolten werde. Zu den wenigen erbaulichen Momenten im Leben der Jewett-Söhne zählen die Stunden, in denen Cane, mit dreiundzwanzig Jahren der älteste und bestaussehende Sohn, seinen jüngeren Brüdern aus dem Groschenroman „Das Leben von Bloody Bill Bucket“ vorliest, in dem die kriminellen Machenschaften eines ehemaligen Soldaten der Konföderierten verherrlicht werden.
Als ihr Vater nach all den selbsterwählten Entbehrungen ausgezehrt stirbt, haben die drei Brüder wenig Interesse, das heruntergewirtschaftete Farmland zu bestellen, und machen sich auf den Weg, ihrem Idol Bloody Bill Bucket nachzueifern, der als Bankräuber für Angst und Schrecken gesorgt hatte. Ihr Plan sieht vor, drei Pferde von Major Tardweller zu stehlen, eine Bank um tausend Dollar zu erleichtern und weiter nach Kanada zu ziehen. Nachdem ausgerechnet Cob, der jüngste und beschränkteste Jewett-Spross, Tardweller erschießen muss und die Jewetts-Brüder die ersten Banken überfallen haben, werden auf ihre Köpfe zunehmend höhere Belohnungen ausgesetzt.
Davon weiß Ellworth Fiddler, Farmer im Süden Ohios, nichts, als die drei jungen Männer großzügig für Kost und Logis bezahlen. Für Ellsworth, der durch einen Trickbetrüger all seine Ersparnisse verloren hat und mit seiner Frau Eula noch die Tatsache verarbeiten muss, dass ihr Sohn Eddie wahrscheinlich freiwillig in den Krieg gegen die Deutschen gezogen ist, scheint sich nun das Blatt endlich zum Guten zu wenden, aber der Traum von einem besseren Leben scheint für die Jewetts in immer weitere Ferne zu rücken. Allein Cane scheint zu begreifen, dass sie einem falschen Versprechen hinterherlaufen.
„Er hatte zwar immer gewusst, dass es sich um eine haarsträubende Geschichte handelte, die von jemandem (und vielleicht war Charles Foster Winthrop III. gar nicht sein richtiger Name) aufgeschrieben worden war, der womöglich nicht mehr über das Töten und Bankraub wusste als eine alte Jungfer, die ihr ganzes Leben in einem Zimmer im Haus ihres Vaters verbracht hatte, aber es hatte ihnen Hoffnung geschenkt, wenn es eigentlich keine mehr gab, etwas, wonach man streben konnte, das größer war als das Leben, das sie geführt hatten, selbst wenn es verrückt war zu glauben, dass sie jemals damit durchkommen würden. Wo wären sie jetzt, wenn sie das Buch niemals in dieser vergammelten Reisetasche gefunden hätten?“ (S. 202) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Donald Ray Pollock hat erst im reifen Alter von 45 Jahren seine erste Geschichte veröffentlicht und 2008 mit dem nach seiner Heimatstadt Knockemstiff, Ohio, benannten Kurzgeschichtensammlung international für Aufsehen gesorgt. Drei Jahre später erschien sein Debütroman „Das Handwerk des Teufels“, ein abgründiger Roman um Korruption, religiösen Fanatismus und die verlogene Hoffnung auf Erlösung. Mit diesen Themen beseelt Pollock auch seinen neuen Roman „Die himmlische Tafel“.
Im Mittelpunkt dieses wieder sehr abgründigen Romans stehen zwar vor allem die sehr unterschiedlichen Jewetts-Brüder, die die in einem Groschenroman erzählten Abenteuer eines Gesetzlosen als Inspiration für ihr eigenes Schicksal annehmen, aber Pollock stellt in seinem atmosphärisch dichten, psychologisch tiefgründigen wie schnörkellos geschriebenen Werk auch andere interessante Figuren vor.
Da ist vor allem das Fiddler-Ehepaar, das einem Betrüger auf dem Leim gegangen ist und für das nach dem plötzlichen Verschwinden ihres einzigen Sohnes Cob Jewett eine Art Ersatzsohn wird. Außerdem hat der junge Lieutenant Vincent Bovard nicht nur damit zu kämpfen, dass er von einer Horde Ungebildeter umgeben ist, sondern auch seine homosexuellen Neigungen nicht ausleben kann. Und schließlich wird noch das kleinstädtische Treiben in Meade aus der Sicht des Sanitärinspekteurs Jasper Cone beschrieben, wobei vor allem Einblicke in die häufig auch von Soldaten frequentierte Hurenscheune gewährt werden.
Pollock erweist sich einmal mehr als begnadeter Erzähler, der die Sorgen, Nöte, Träume und Hoffnungen seiner Figuren in einer kompromisslos klaren Sprache beschreibt und ihre zunächst lose aneinandergereihten Schicksale nach und nach geschickt miteinander verzahnt. Auch wenn die wachsende Fangemeinde des spät zum Schreiben berufenen Pollock stets drei, vier Jahre auf ein neues Werk des u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Autors warten muss, wird sie durch die ausgeprägte Klasse seiner Geschichten hundertfach entschädigt.

Anthony McCarten – „Ganz normale Helden“

Sonntag, 3. Juli 2016

(Diogenes, 454 S., HC)
Ein Jahr nach dem Tod ihres jüngsten Kindes Donny liegt die Familie von Renata und Jim Delpy in Trümmern. Da Renata nicht verhindern konnte, ihren geliebten Sohn an den Krebs zu verlieren, versucht sie, jeden der Schritte ihres achtzehnjährigen Sohnes Jeff zu kontrollieren, der daraufhin Reißaus nimmt und sich in die virtuellen Welten von www.lifeoflore.com stürzt, wo er als Mentor und Führer sogenannte Noobs – Neulinge – gegen Bezahlung unter seine Fittiche nimmt. Um seinen Sohn aufzuspüren, begibt sich sein Vater Jim, Gründungs-Partner in der Londoner Kanzlei Delpe, Danby, Roland & Partner, auf für ihn völlig unbekanntes Terrain, erschafft einen eigenen Charakter in dem Spiel und versucht dort, Kontakt zur virtuellen Identität seines Sohnes zu erhalten.
Doch bis dahin ist es ein langer Weg, denn AGI – so Jims Name in dem Online-Rollenspiel, den er sich seiner Steuererklärung (adjusted gross income) entliehen hat – muss erst einige Level abschließen, bevor er in die Sphären vordringen kann, in denen sich Jeff als „Merchant of Menace“ bewegt. Währenddessen chattet Renata in einem Internetforum mit Gott und sucht ebenso Trost wie Rat. Doch während Jim und Renata jeder für sich heimlich online nach ihrem noch lebenden Sohn suchen, verlieren sie zunehmend den Bezug zueinander und verlieren sich in den Verlockungen der virtuellen Welten.
„Aufregend ist es, das muss er zugeben. Kein Wunder, dass Kids stundenlang nicht aus ihrem Zimmer kommen, versunken in die Suche nach Strategien zum Überleben. Dass sie nicht kommen, wenn man sie ruft. Jim versteht nun viel besser, wie schwer es ist, ein solches Spiel mitten in einer Mission zu unterbrechen, gerade wenn es um alles geht, und das nur, um zum Abendessen zu kommen, die Figuren allein in der Gefahr zurücklassen, fast schon Menschen, deren Verschwinden oder Tod man betrauern würde.“ (S. 187) 
Jim findet Gefallen an den Missionen und Kämpfen in LOL, lernt mit Kayla eine aufregende Frau kennen und ist mit sich im Unreinen, ob er mit einer virtuellen Affäre seine Frau betrügen würde. Jim flüchtet aber nicht nur online aus der Krise in der Ehe, er kauft ein sanierungsreifes Landhaus und zieht sich dort immer öfter zurück, um mit dem Bauunternehmer Lance an ihm zu arbeiten. Darunter hat aber nicht nur Jims Arbeit in der Kanzlei zu leiden …
„Ganz normale Helden“ stellt die unmittelbare Fortsetzung des einfühlsamen Romans „Superhelden“ dar, in dem Donald Delpys Kampf gegen den Krebs im Mittelpunkt der Geschichte stand, aber auch die Verwirklichung seines Wunsches, einmal vor seinem Tod mit einer Frau zu schlafen. Um die Verwirklichung von Träumen geht es indirekt auch in der Fortsetzung, in der Donalds und Jeffs Eltern die treibenden Figuren sind. Sie stehen als Eltern eines viel zu früh verstorbenen Sohnes und eines aus dem Elternhaus geflüchteten Achtzehnjährigen vor der großen Herausforderung, ihre Familie an der Trauer nicht zerbrechen zu lassen, ihren noch lebenden Sohn nicht auch noch für immer zu verlieren, aber auch sich selbst nicht zu sehr auseinanderzuleben. McCarten erweist sich einmal mehr als einfühlsamer Erzähler, der seine Figuren verschiedene Stadien der Trauer, Wut, Verzweiflung, Hoffnung, Lust und Flucht durchleben lässt. Vor allem der Eskapismus, den seine Protagonisten betreiben, indem sie in der virtuellen Welt nach Antworten, Hoffnung und Vergebung suchen, ist sehr anschaulich dargestellt. Auch die Durchdringung von virtueller und realer Welt beschreibt McCarten sehr eindringlich, vor allem wenn Jeff seinen Online-Meister Luther im wirklichen Leben kennenlernt und erste homosexuelle Erfahrungen macht.
Dem neuseeländischen Bestseller-Autor („Englischer Harem“) ist mit „Ganz normale Helden“ eine gelungene Fortsetzung seines Meisterwerks „Superhero“ gelungen. Indem er diesmal die Erzählung auf die trauernden, einsamen Eltern fokussiert, fällt sie nicht so humorvoll aus wie der Vorgänger, sondern schildert auf schmerzlich-intensive Weise, wie sich einst Liebende nach einer Tragödie auseinanderleben und ebenso hilf- wie orientierungslos nach Auswegen aus ihrem emotionalen Ausnahmezustand suchen.
 Leseprobe Anthony McCarten - "Ganz normale Helden"

Jack Ketchum – „Jagdtrip“

Sonntag, 26. Juni 2016

(Heyne, 351 S., Tb.)
Seit seiner Zeit in Vietnam ist Lee nicht mehr derselbe. Seine Frau Alma empfindet zunehmend Angst um sich und ihren gemeinsamen fünfjährigen Sohn Lee Jr., weil Lee unter Verfolgungswahn leidet und immer wieder zu plötzlichen Gewaltausbrüchen neigt. Um sich und seine Familie nicht weiter zu gefährden, zieht er sich mit seinem Hund in den Wald zurück, schützt die dort angelegten Marihuana-Pflanzen mit tödlichen Fallen, wie er sie in Vietnam gesehen hat.
Seine Ruhe wird durch einen Trupp Camper gestört, dem der erfolgreiche Schriftsteller Kelsey ebenso angehört wie seine Frau Caroline, seine Geliebte Michelle, sein Agent Alan Walker, sein Freund und weit weniger erfolgreiche Schriftsteller-Kollege Charles Ross und der Fotograf Walter Graham. Mit Zelten, Verpflegung und Gewehren bewaffnet, gehen sie auf die Jagd und werden selbst zu Gejagten, als sie zufällig auf Lees Rauschmittelfeld stoßen.
„Während Lee die Männer beobachtete – durch das Gestrüpp, durch Eschen, die ihm die Sicht nahmen, und durch das Flimmern der Hitze -, verharrte sein Hund mit aufgerichtetem Nackenfell in wachsamer Lauerstellung. Das Sonnenlicht, das durch die Bäume drang, zeichnete Tarnflecken auf ihre Gestalten. Sie waren und sie waren nicht …
Cops, Zivilisten, Soldaten, Vietcong.
Aber wer immer sie waren, sie hatten ihn aufgespürt. Einer von ihnen schoss Fotos. Ein anderer riss einen Zweig ab. Am Ende des Zweiges wuchsen Blätter und Blütenkapseln. Sein Zweig. Seine Blätter. Seine Blütenkapseln. Und damit mischte sich in seine Angst nun auch Ärger.“ (S. 151f.) 
In seinem Vorwort („Was hast du während des Krieges getan, Daddy?“) zu dem ursprünglich 1987 unter dem Titel „Cover“ veröffentlichten Roman „Jagdtrip“, den der Heyne Verlag in seinem Hardcore-Programm nun als deutsche Erstveröffentlichung herausgebracht hat, beschreibt Jack Ketchum ausführlich, wie schwierig es für ihn als Autor, der nicht am Vietnam-Krieg teilgenommen hat, gewesen ist, Erfahrungen von Veteranen glaubwürdig zu schildern, weshalb er viele Bücher zum Thema gelesen, vor allem aber viele Gespräche mit ungewöhnlich erzählfreudigen Veteranen geführt hat. Dadurch ist Ketchum mit „Jagdtrip“ mehr als nur ein konventioneller Horrorroman gelungen, in dem Camper von degenerierten kannibalistischen Waldbewohnern zerstückelt werden, sondern auch eine überraschend tiefgründige Auseinandersetzung mit den Traumata, die viele Soldaten nach ihrer Rückkehr aus Vietnam mit nach Hause brachten.
Vor allem bei Lee hat der Krieg deutliche Spuren hinterlassen, wie seine Erinnerungen an erschütternde Begebenheiten deutlich machen, aber auch sein Kamerad McCann, der den Krieg besser verdaut zu haben scheint und den irgendwann das schlechte Gewissen packt, schildert seine Erlebnisse ebenso wie Kelsey, der seine Erfahrungen auch in seinem Roman „Zweifacher Veteran“ verarbeitet hat.
Besonders einfühlsam ist die wenn auch nur kurz angerissene Beziehung zwischen Lee und seiner Frau beschrieben, die Liebe, aber auch die Angst, die beide miteinander verbindet. Auf der anderen Seite fasziniert die außergewöhnliche Beziehung, die Kelsey zu seiner Frau und seiner Geliebten unterhält.
Ketchum, der bereits so kompromisslose Werke wie „Evil“, „Blutrot“ und „Beutejagd“ abgeliefert hat, lässt sich in „Jadgtrip“ viel Zeit mit der Einführung seiner Figuren, ihren oft traumatischen Erinnerungen und ihren Problemen, und selbst der Jagdausflug beginnt als das Abenteuer, als das es geplant gewesen ist, bevor der Zusammenstoß mit Lee die tragischen Ereignisse erst richtig ins Rollen bringt. Für Horror-Fans, die auch mit Ketchums Werk vertraut sind, mag „Jagdtrip“ vielleicht eine Enttäuschung sein, weil der Roman nicht die billigen Klischees und Mechanismen bedient, die das Genre oft so vorhersehbar machen, aber als psychologisch tiefsinniges Drama überzeugt dieses Frühwerk auf ganzer Linie.
Leseprobe Jack Ketchum - "Jagdtrip"

Stewart O’Nan – „Letzte Nacht“

Dienstag, 21. Juni 2016

(mare, 159 S., HC)
Fünf Tage vor Weihnachten öffnet die „Red Lobster“-Filiale in New Britain das letzte Mal die Türen für ihre Gäste. Nachdem die Konzernzentrale bei einer Unternehmensstudie festgestellt hatte, dass sich der Standort nicht rechnet, muss Geschäftsführer Manny DeLeon seine Mitarbeiter an diesem Dezemberabend endgültig nach Hause schicken. Von den vierundvierzig Mitarbeitern, die er noch vor zwei Monaten beschäftigte, werden nur fünf mit ins „Olive Garden“ in Bristol übernommen.
Besonders schwer wiegt für Manny, dass er seine ehemalige Geliebte Jacquie nicht mehr wiedersehen wird. Dass sie mit Rodney einen neuen Freund hat und Mannys Freundin Deena ein Kind erwartet, hat jede Chance zunichte gemacht, dass sie noch mal zusammenkommen. Für Manny geht es nun nur noch darum, den Gästen des Restaurants an diesem verschneiten Winterabend wie gewohnt den besten Service zu bieten …
„Wer außer den Leuten, die hier arbeiten, denkt schon über Red Lobster nach? Und auch die denken eigentlich nicht drüber nach. Vielleicht Eddie, der bestimmt froh ist, einen Ort zu haben, wo er jeden Tag hinkommen kann, oder Kendra, die darüber nicht immer froh ist, aber Manny kann sich nicht vorstellen, dass Rich oder Leron viele Gedanken auf so etwas wie einen Job verschwenden. Vielleicht hat auch Manny nicht genug drüber nachgedacht, denn all die Jahre fand er es selbstverständlich, dass es das Lobster gab. In der Hinsicht ist er wohl genau wie Eddie. Und jetzt ist es zu spät.“ (S. 72) 
Stewart O’Nan hat sich in seiner eindrucksvollen Schriftstellerkarriere immer wieder mit dem Schicksal der kleinen Leute beschäftigt und dabei ganz tief in ihr Innerstes geblickt. In der Geschichte „Letzte Nacht“ genügt ihm ein einziger Tag in einem zur Schließung vorgesehenen Restaurant, um die Befindlichkeiten vor allem des Geschäftsführers zu beschreiben.
Nach all den Jahren empfindet er eine Verbundenheit zu seiner Arbeit, seinen Mitarbeitenden und Kunden, die ihm den Abschied schwer machen, vor allem von Jacquie. Auch wenn es um nichts mehr geht und die Schließung ebenso beschlossene Sache ist wie die Versetzung von fünf Angestellten in ein anderes Restaurant des Konzerns, will Manny nur das Beste für seine Kunden, kümmert sich um die schwer zu handhabende Schneefräse, schiebt den Wagen eines Stammgastes an und verteilt gewissenhaft Beurteilungskarten an unzufriedene Gäste, denn nicht mehr alle Spezialitäten des Hauses sind am letzten Abend noch verfügbar.
Von den anderen Angestellten erfährt der Leser nicht allzu viel. Die Handlung wird allein aus Mannys Perspektive geschildert. Aber in diesem Mikrokosmos gelingt es dem Autor, das Pflichtbewusstsein und die Fürsorge eines Managers seiner Arbeit und seinen Angestellten gegenüber ganz schnörkellos in Worte zu fassen.
Am Ende soll eine Lotterieziehung für eine glückliche Wendung der teils ungewissen Schicksale der Serviererinnen, Köche, Bäcker, Spüler und des Barpersonals sorgen, vor allem für ein Happy End des irgendwie bemühten, durchweg gutherzigen Geschäftsführers.
„Letzte Nacht“ ist ein berührendes Buch über die Tugendhaftigkeit und gutherzige Gesinnung eines Mannes, der niemandem etwas schuldig ist, aber trotzdem nur das Beste für alle Menschen in seinem Leben will.

Jason Starr – „Brooklyn Brothers“

Sonntag, 19. Juni 2016

(Diogenes, 454 S., Tb.)
Der aus Carnasie in Brooklyn stammende Baseball-Star Jake Thomas ist bereits seit sechs Jahren mit seiner Highschool-Liebe Christina verlobt, hat sie seit dem steilen Auftrieb seiner Karriere in Pittsburgh aber kaum noch gesehen. Nachdem er mittlerweile auch die Vorzüge anderer Frauen kennenlernen durfte, die sich dem Sunnyboy bei jeder Gelegenheit an den Hals schmissen, war er eigentlich schon mit dem Gedanken dabei, die Verlobung mit der noch bei ihren Eltern lebende Zahnarzthelferin zu lösen.
Doch nun scheint ihm die vierzehnjährige Mexikanerin Marianna Fernandez einen Strich durch die Rechnung zu machen, die er in San Diego kennengelernt hatte und deren Eltern Jake nun der Unzucht mit einer Minderjährigen beschuldigen.
Um für gute Presse zu sorgen, kehrt Jake zu einem angekündigten Besuch nach Brooklyn zurück, um den Hochzeitstermin mit Christina bekanntzumachen.
„Er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Bei allen anderen würde er nie wissen, ob sie nicht nur wegen seines Geldes und seines Ruhms mit ihm zusammen waren, weil er Jake Thomas war. Christina hatte ihn bereits geliebt, bevor er Jake Thomas war, zumindest bevor der Name irgendetwas bedeutete. Selbstverständlich würde er sie einen Ehevertrag unterschreiben lassen, sicher ist sicher, aber es tat gut zu wissen, dass sie ihn wirklich liebte.“ (S. 77) 
Darüber ist sein alter Baseball-Kumpel Ryan Rossetti alles andere als erfreut. Wegen einer Verletzung musste er seine Karriere aufgeben und schlägt sich nun als Maler durchs Leben, träumt aber davon, mit Christina ein neues Leben anzufangen. Christina befindet sich nach Jakes Rückkehr zwischen den Fronten und wird auch von ihrem nichtsnutzigen Vater bekniet, Jake zu heiraten, damit sie beide ein besseres Leben führen können.
Aus der einstigen Freundschaft zwischen Jake und Ryan ist eine erbitterte Rivalität geworden, die sich im Ringen um Christinas Gunst zuspitzt. Als direkt vor Jakes Haustür ein Mann erschossen wird, geraten die Dinge zunehmend außer Kontrolle …
Der aus Brooklyn stammende Erfolgsautor Jason Starr („Hard Feelings“, „Twisted City“) weiß, wovon er in „Brooklyn Brothers“ schreibt. Zumindest die Milieuschilderungen der Unterschicht, die in schlecht bezahlten Jobs malochen, um die Miete und den Unterhalt für das klapprige Auto bezahlen zu können, die Drogen konsumieren, um dem Elend für eine Weile zu entfliehen, und vor Gewalt nicht zurückschrecken, um ihre Sucht finanzieren zu können, sind Starr in seinem 2006 erschienenen Roman „Lights Out“ – so der Originaltitel – durchaus gut gelungen.
Weniger überzeugend ist dagegen die Dreiecks-Love-Story zwischen den besten Highschool-Freunden und Christina ausgearbeitet. Das liegt vor allem an der überzogen stereotyp gezeichneten Figur des Baseball-Stars, der mit seinem Geld und Status glaubt, sich alles erlauben zu können, der seinen Agenten, seinen Anwalt und seine Mitmenschen wie Dreck behandelt und einzig daran interessiert ist, bei möglichst vielen Frauen zu landen und alle möglichen Privilegien in Anspruch nehmen zu können.
Auch Christina ist mit ihren wechselhaften Gefühlen nicht sehr differenziert charakterisiert, während Ryan in jeder Hinsicht der große Verlierer ist. Um ein wenig Pep in die arg konstruierte Story zu bringen, streut Starr noch Familientragödien, Auftragsmorde, vorzeitige Samenergüsse, im Alkoholrausch begangene Sünden und Schlägereien ins Spiel, was den Unterhaltungswert des Romans zwar steigert, ihn aber nicht besser macht. Da sind die Leser des New Yorker Schriftstellers Besseres gewohnt.
Leseprobe Jason Starr - "Brooklyn Brothers"

Benedict Wells – „Fast genial“

Mittwoch, 15. Juni 2016

(Diogenes, 352 S., Tb.)
Seit seine Mutter Katherine Angela Dean wegen ihrer Depressionen ihren Job als Sekretärin bei einer Immobilienfirma verloren und ihr Mann Ryan Wilco sich an der Börse verspekuliert hat, lebt der 17-jährige Francis seit über zwei Jahren mit Katherine im Pine-Tree-Trailerpark am Stadtrand der Kleinstadt Claymont in Delaware. Mittlerweile sind Katherine und sein Stiefvater geschieden. Während der Rechtsanwalt mit Francis‘ Halbbruder Nicky nach New York City gezogen ist, sind Francis und seine Mutter von Jersey City nach Claymont gezogen, wo der Junge die Highschool besucht und als Küchenhilfe in einem Imbiss arbeitet.
Als seine Mutter zum dritten Mal in die psychiatrische Klinik eingeliefert werden muss, lernt Francis dort die zwei Jahre ältere Anne-May kennen, die sich umbringen wollte, weil sie als kleines Mädchen von ihrem Vater vergewaltigt worden ist. Während der Besuche bei seiner Mutter freundet sich Francis mit dem wortkargen Mädchen an. Als seine Mutter nach einem Selbstmordversuch der Magen ausgepumpt wird, entdeckt Francis einen Abschiedsbrief, in dem Katherine ihrem Sohn gesteht, dass er ein Retortenbaby sei, dessen Ursprung in der längst geschlossenen Samenbank für Genies liegt, die der Unternehmer Warren P. Monroe mit dem österreichischen Eugeniker Dr. Friedrich von Waldenfels gegründet hat.
Aus der Akte, die ein Mitarbeiter des Instituts für Katherine entwendet hat, geht hervor, dass Francis‘ Erzeuger unter dem Decknamen Donor James geführt wurde, Harvard-Absolvent gewesen ist, Cello spielte und einen IQ von 170 hatte. Zusammen mit Anne-May und seinem Freund Grover Paul Chedwick macht sich Francis auf die Suche nach seinem Vater …
„Es gab Momente im Leben, in denen alles einen Sinn bekam und in denen man von einer auf die andere Sekunde wusste, was man zu tun hatte. Francis sah die Dinge nun klar: Er musste seinen Vater finden. Alles würde sich ändern, wenn er ihn traf. Er würde aus seinem Drecksleben in Claymont ausbrechen und den Leuten endlich zeigen, dass er doch kein Versager war.“ (S. 81) 
Es beginnt eine interessante Odyssee durch elf Staaten, bei der Francis nicht nur einige schwerwiegende Entscheidungen zu treffen hat, sondern auch auf schmerzvolle Weise erfahren muss, dass die Dinge nicht so sind, wie sie zunächst scheinen …
Nach „Spinner“ und „Becks letzter Sommer“ war „Fast genial“ 2011 der dritte Roman des in München geborenen und nun in Berlin lebenden Schriftstellers Benedict Wells. Er setzt darin die Tradition vor, jugendliche Protagonisten auf eine Entdeckungsreise zum eigenen Ich zu schicken. Dabei werden zwar auch gesellschaftlich stark diskutierte Themen wie der Versuch, Genies zu „züchten“, sowie die Kluft zwischen Arm und Reich angeschnitten, doch Wells bleibt immer so dicht bei seiner Hauptfigur, dass eine tiefgründige Auseinandersetzung ausbleibt. Francis ist schließlich viel zu sehr damit beschäftigt, seinen biologischen Vater zu finden und seinem Leben eine neue Wendung zu geben. Das ist vor allem kurzweilig und vergnüglich zu lesen, auch wenn die Zusammensetzung des Road-Trip-Trios etwas konstruiert wirkt.
Leseprobe Benedict Wells - "Fast genial"

Anthony McCarten – „Superhero“

Sonntag, 12. Juni 2016

(Diogenes, 303 S., Tb.)
Der 14-jährige Donald Delpe lebt mit seinem älteren Bruder Jeff und seinen Eltern Renata und Jim in der englischen Kleinstadt Watford. Allerdings nicht mehr lange, denn er ist unheilbar an Leukämie erkrankt. Die letzte Chemotherapie hat zwar zunächst ganz gut angeschlagen und Renata wird nicht müde, sich durch die Fachliteratur zu kämpfen und ihrem jüngsten Spross immer wieder Lebensmut zuzusprechen, doch dann entdecken die Ärzte neue Metastasen.
Während Renata Donald weiterhin anstachelt, bloß nicht aufzugeben, scheint auch Jim resigniert zu haben. Er versucht nur noch, seinem sterbenskranken Kind etwas Lebensfreude und Erfahrungen mitzugeben, die eigentlich für spätere Lebensjahre vorherbestimmt sind. Donald selbst geht mit seiner Krankheit vor allem künstlerisch um. Mit MiracleMan hat der begnadete Comiczeichner einen sehr menschlichen Superhelden kreiert, der auch furzt, in die bildhübsche Krankenschwester Rachel verknallt ist und gegen den Bösewicht Gummifinger um sein Leben kämpfen muss, während Donald selbst sich in die 15-jährige Shelly verguckt hat.
In dem Psychiater Dr. Adrian King findet Donald schließlich nicht nur einen Arzt, sondern einen echten Verbündeten, der ihn mit auf Ausflüge nimmt und alles dafür tut, Donald seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen …
„Soweit ich sehe, soll es für ihn die erste und letzte große Erfahrung in seinem Leben sein. Es geht um … das Wesentliche. Er fühlt sich vom Leben betrogen und will noch etwas von der Welt haben, bevor er sich von allem verabschiedet. Deshalb muss das ganze Leben, einfach alles, zu diesem einen Ereignis verdichtet werden. Die Nacht seines Lebens. Danach gibt es wahrscheinlich nur noch Verzweiflung und das Ende.“ (S. 204) 
Mit seinem dritten Roman nach „Liebe am Ende der Welt“ und „Englischer Harem“ hat der neuseeländische Theaterstück-, Drehbuch- und Romanautor Anthony McCarten die tragische Figur eines sterbenskranken Teenagers in den Mittelpunkt einer sehr warmherzigen wie tiefsinnigen, jedoch nie kitschigen, dafür aber sehr humorvollen Geschichte mit ebenso sympathischen Charakteren gestellt.
Fast wie ein Drehbuch geschrieben, skizziert McCarten in drei Akten jeweils kurz das Set („Innen. Onkologie. Tag“, „Außen. Eine Straße in der Stadt. Tag“), beschreibt dann kurz die Atmosphäre, lässt seine Protagonisten dann in sehr realistische, gefühlvolle und witzige Dialoge treten und wirft immer wieder thematisch passende Auszüge aus Donalds Comicgeschichte ein.
Neben der Haupthandlung um Donalds Krankheit und die Verwirklichung seines letzten großen Lebenswunsches bildet vor allem die Nebenhandlung um Dr. King einen weiteren interessanten Part der Geschichte, wenn er seine eigene unglückliche Ehe mit der schönen Sophie zu verarbeiten versucht.
2011 wurde der Roman übrigens nach McCartens eigenem Drehbuch von Ian Fitzgibbon unter dem deutschen Titel „Am Ende eines viel zu kurzen Tages“ verfilmt.
Leseprobe Anthony McCarten - "Superhero"

Karin Slaughter – (Georgia: 5) „Schwarze Wut“

Donnerstag, 9. Juni 2016

(Blanvalet, 510 S., HC)
Um an den mysteriösen Big Whitey heranzukommen, der einen Drogenring in Macon, Georgia, unterhält, tarnt sich GBI-Agent Will Trent als krimineller Biker, wo er sich in die Drogenszene einschleust. Leider ist auch Detective Lena Adams in den Fall verwickelt, mit der Trent bereits in einem früheren Fall zu tun hatte, weil sie den Tod von Jeffrey Tolliver zu verantworten hat, der mit Trents jetziger Lebensgefährtin Sara Linton liiert war. Mit ihrem Team führt sie eine Razzia in einem Fixertreff durch, wo sie Sidney Michael Waller festnehmen wollen, der nicht nur als Drogenhändler, Zuhälter und Waffenschieber bekannt ist, sondern auch der Vergewaltigung seiner Nichte und der Ermordung seiner Schwester verdächtigt wird.
Doch bei der Razzia verliert nicht nur Waller, sondern auch ihr Kollege Eric Haigh sein Leben. Ein völlig verängstigter Junge wird hinter einer Wand entdeckt und weigert sich, auch nur ein Wort zu sprechen. Wenig später wird Lena in ihrem Haus überfallen, ihr Mann Jared, Sara Lintons Stiefsohn, überlebt schwerverletzt. Will kann im letzten Moment verhindern, dass Lena einen der Angreifer erschlägt, muss aber höllisch aufpassen, dass seine Tarnung nicht auffliegt, von der auch Sara nichts weiß.
Während sich Lena bei der internen Ermittlung des Macon Police Department rechtfertigen muss, arbeiten Will und seine Partnerin Faith mit Hochdruck daran, Big Whiteys Identität aufzudecken und in den inneren Kreis des Drogenhändlerrings vorzudringen.
„Will stieg aus, obwohl jedes Atom in seinem Körper ihm sagte, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Aber er hatte keine andere Wahl. Jared Long lag im Krankenhaus, Lena war fast getötet worden. Irgendwo dort draußen war ein Drogendealer unterwegs, der es offensichtlich genoss, andere zu verletzen. Wenn Will seine Arbeit nicht richtig machte, würden noch mehr Leute im Krankenhaus landen. Oder unter der Erde.“ (S. 275)
Da Big Whitey offensichtlich über die Aktivitäten der Polizei stets informiert ist, scheint es mindestens einen Maulwurf im Department zu geben, was die Ermittlungen nicht unbedingt einfacher macht …
Karin Slaughter hat in ihrem mittlerweile fünften Band um die Kinderärztin Sara Linton und GBI-Agent Will Trent eigentlich einen recht gewöhnlichen Fall konstruiert. Interessant wird er erst durch die sehr komplexen persönlichen Verstrickungen zwischen Will Trent, Sara Linton und Lena Adams. Das schwere Geflecht aus Vergangenheitsbewältigung, Vorurteilen, Misstrauen und Geheimnissen bildet nehmen der Aufklärung von Big Whiteys Identität den eigentlichen Spannungsmotor eines Thrillers, der nur sporadisch die psychologischen Tiefen seiner Figuren erkundet und sich manchmal zu sehr in dem fast unüberschaubaren Beziehungswirrwarr verliert, mit dem die (teils) verdeckte Ermittlung behaftet ist.
Hier wird vor allem Lenas persönliche Tragödie im Zusammenhang mit der Razzia in Rückblicken aufgearbeitet und auch der schmale Grat, auf dem Will in der Beziehung zu Sara wandelt, zu den treibenden Handlungssträngen.  
„Schwarze Wut“ ist sicher nicht Karin Slaughters Meisterwerk und auch kein Höhepunkt in ihrer Georgia-Reihe, bringt aber zumindest weitere interessante Aspekte in der Geschichte der Hauptfiguren zutage.
 Leseprobe Karin Slaughter - "Schwarze Wut"

Joey Goebel – „Freaks“

Sonntag, 5. Juni 2016

(Diogenes, 193 S., Tb.)
Wenn sich die 80-jährige Opal, die achtjährige Ember, der Schwarze Luster, der Iraker Ray und die ehemalige Nachtclubtänzerin, nun im Rollstuhl sitzende Aurora zusammen in ihrer Kleinstadt irgendwo in Kentucky blicken lassen, ziehen sie sofort die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung auf sich. Das liegt nicht nur an der optisch außergewöhnlichen Kombination, sondern auch an der jeweils sehr eigenen Lebensgeschichte.
Ray ist mit seiner Familie nur nach Amerika gekommen, um sich bei dem Soldaten zu entschuldigen, den er im Irak-Krieg angeschossen hatte. Luster stammt aus einer berüchtigten Drogendealerfamilie und ist der wortgewandteste im Quintett. Die sexbesessene Opal läuft trotz ihres hohen Alters noch immer mit „Sex Pistols“- und „Misfits“-T-Shirts herum und ist die Babysitterin von Ember, die von ihren Eltern überhaupt nicht in den Griff zu bekommen ist und kurz vor dem Schulverweis steht. Aurora will mit ihrer nuttigen Vergangenheit abschließen und hat sich auch aus Protest gegen ihres als Pfarrer wirkenden Vater den Satanisten angeschlossen.
Gemeinsam suchen sie für ihre Power-Pop-New-Wave-Heavy-Metal-Punkrock-Band namens Freaks einen gemeinsamen Übungsraum, denn sie haben Großes vor.
 „Die Musik wird allmählich alt, und alles ist schon mal dagewesen, aber ich bezweifle ehrlich, dass es je eine Band gegeben hat, die wie wir geklungen oder ausgesehen hat. Ich weiß genau, wie sich das jetzt anhört, aber ich glaube, wir haben das Potential, das Größte zu werden, seit die Leute Elvis im Radio hörten und ihn für einen Schwarzen hielten.“ (S. 122) 
Gerade mal 190 Seiten braucht der aus Henderson, Kentucky, stammende Joey Goebel für seinen 2003 erschienenen Debütroman, der sich wie ein Drehbuch liest und in dem die einzelnen Protagonisten abwechselnd ihre Sicht der Dinge schildern, aber auch Nebenfiguren wie Embers Eltern, Auroras Vater, ein Polizist und der Konzertveranstalter beschreiben ihre Begegnungen mit den exzentrisch wirkenden Außenseitern, denen der Autor seine ungeteilte Sympathien schenkt. „Freaks“ stellt gleichermaßen Buchtitel, Bandname und Programm eines Buches dar, das sich verzweifelt und wütend gegen eine gleichgeschaltete Masse zu erheben versucht, ihren ätzenden Opportunismus, ihre angepasste, unaufgeregte Lebensweise, die vorhersehbaren Reaktionen und Redeweisen verurteilt. Wie Goebel seine heldenhaften Außenseitern gegen die gleichförmigen Angepassten aufbegehren lässt, ist dabei ebenso humorvoll wie ätzend und tragisch geschrieben, dass man als hoffentlich nicht ganz so angepasster Leser hoffen mag, dass die selbsternannten Freaks doch bitte Erfolg haben werden.
Leseprobe Joey Goebel - "Freaks"

Fabio Volo – „Der Weg nach Hause“

Samstag, 4. Juni 2016

(Diogenes, 410 S., Pb.)
Im Gegensatz zu seinem drei Jahre älteren, so viel vernünftigeren Bruder Andrea ist Marco schon zu Jugendzeiten immer wieder in Schwierigkeiten geraten und wurde sogar einmal in Handschellen von einem Polizisten abgeführt, nachdem er das Auto eines Nachbarn demolierte, als sich dieser geweigert hatte, die Alarmanlage des Wagens abzustellen.
Die enge Beziehungen zwischen den Brüdern, die in ihrer Kindheit noch Bestand hatte, löste sich auf, Marco eröffnete in London ein Restaurant und schleppt nach wie vor am liebsten ausgewählte Kundinnen ab, während Andrea nach seinem Studium in einem Ingenieursbüro arbeitet und seit zwölf Jahren mit Daniela verheiratet ist. Als ihr Vater ins Krankenhaus kommt und nach seiner Entlassung wegen seiner fortschreitenden Demenz auf Pflege angewiesen ist, kehrt Marco nach einem Jahr wieder nach Hause zurück und betreut mit Andrea den Vater in dessen Wohnung.
Andrea und Marco kommen sich zwangsläufig wieder näher, geraten aber auch immer wieder aneinander. Während Andreas Ehe unvermittelt vor dem Aus steht, trifft Marco seine erste Liebe Isabella wieder. In ihrem Elternhaus erinnern sie sich an ihre Kindheit, an die Frauen in ihrem Leben, an die viel zu früh verstorbene Mutter und philosophieren über die Liebe, das Leben, den Tod.
„Ein Mensch ist, was er ist, was bleibt und was verschwindet. Und eine Menge andere Dinge, die seine Welt ausmachen, ihn auf Trab halten und eines Tages mit einem Klick nicht mehr da sind. Und wenn er gut war, hat er irgendetwas, ein winziges Stück von sich selbst an die weitergegeben, die bleiben.“ (S. 339) 
Fabio Volo hat bereits mit seinen früheren Romanen „Lust auf dich“, „Einfach losfahren“, „Noch ein Tag und eine Nacht“ und „Zeit für mich und Zeit für dich“ wunderbare Bücher über Freundschaften, die Liebe und vor allem das Leben geschrieben. Im Gegensatz zu Paulo Coelho, der ähnlich elementare Themen stets spirituell überhöht moralisiert, erzählt der italienische Autor eher leichtfüßig und lässt seine sympathischen Protagonisten unverhofft schon mal in mittelschwere Krisen stürzen, doch bei allen Rückschlägen, die sie bei der Bewältigung ihrer Probleme verarbeiten müssen, finden sie auch neue Wege, mit ihrem Leben und ihren Gefühlen umzugehen.
In Volos neuen Roman „Der Weg nach Hause“ werden die beiden unterschiedlichen Brüder Andrea und Marco durch die Krankheit ihres Vaters wieder zusammengeführt und erhalten durch die Spiegelung in den Gesprächen miteinander neue Sichtweisen auf ihr eigenes Leben und finden so allen unterschiedlichen Ansichten zum Trotz wieder zu einer einander wertschätzenden Beziehung. Dabei bedient sich Volo wie gewohnt einer leichten Sprache, die wunderbar die Waage hält zwischen humorvollen Tönen und tiefgründigem Ernst.
Leseprobe Fabio Volo - "Der Weg nach Hause"

Stephen King – „Stark – The Dark Half“

Montag, 30. Mai 2016

(Hoffmann und Campe, 477 S., HC)
1960 war der in Bergenfield, New Jersey, geborene Thad Beaumont elf Jahre alt. Das Jahr war insofern prägend für sein späteres Leben, weil er nicht nur eine Urkunde von „American Teen“ für seine Kurzgeschichte „Outside Marty’s House“ erhielt, sondern auch von starken Kopfschmerzen gepeinigt wurde, die sich durch ein Phantomgeräusch ankündigten, das wie das Tschilpen Tausender kleiner Vögel anhörte.
Als Dr. Pritchard den vermutlich gutartigen Tumor, der durch den dunklen Schatten auf dem Röntgenbild verkörpert wurde, entfernen wollte, stieß er auf ein blindes Auge und weitere Körperteile eines vermutlich nicht vollständig absorbierten Zwillings. 28 Jahr später lebt Thad mit seiner Frau Liz und den beiden Zwillingen Wendy und William in Ludlow und blickt auf eine wechselhafte Schriftstellerkarriere zurück.
Mit seinem Debütroman „The Sudden Dancers“ war er 1972 für den National Book Award nominiert, konnte mit seinem nächsten Roman aber nicht mehr an diesen Erfolg anknüpfen. Dafür schafften es die drei harten Thriller, die Thad unter dem Pseudonym George Stark ab 1975 veröffentlichte, jeweils mühelos auf die Bestsellerlisten. In einem „People“-Artikel wird das Geheimnis von George Stark allerdings gelüftet. Für die Fotografin posieren Thad und Liz vor einem eigens gestalteten Grabstein mit der Inschrift „George Stark – 1975-1988 – Kein angenehmer Zeitgenosse“ auf dem Homeland-Friedhof in Castle Rock, wo die Beaumonts auch ein Sommerhaus am Ufer des Castle Lake besitzen.
Zuvor hatte der Student Frederick Clawson die wahre Identität von George Stark erkannt und Beaumont entsprechend erpresst. Doch mit der Beerdigung von George Stark ist vor allem der vermeintlich Verstorbene nicht einverstanden, der sich auf einmal körperlich manifestiert hat und alle Menschen umbringt, die mit seiner Beerdigung zu tun haben.
Sheriff Alan Pangborn, der anfangs noch Thad verdächtigt, den Einheimischen Homer Gamache umgebracht zu haben, muss im Laufe seiner Ermittlungen auch zugeben, dass unheimliche Dinge vor sich gehen. Und George Stark setzt alle Hebel in Bewegung, in seinen Büchern wieder zum Leben erweckt zu werden.
„Welches Recht hatte dieser Mistkerl, sich seiner zu entledigen? Welches gottverdammte Recht? Weil er schon vor ihm ein realer Mensch gewesen war? Weil Stark selbst nicht wusste, warum und wann er seinerseits in die Realität eingetreten war? Das war Unsinn. Was George Stark anging, hatte Anciennität nicht das Geringste zu besagen. Es war nicht seine Aufgabe, sich einfach hinzulegen und widerspruchslos zu sterben, was Beaumont offenbar von ihm erwartete. Seine Aufgabe war vielmehr, am Leben zu bleiben. Das war er schon seinen Lesern schuldig.“ (S. 339) 
Nach seiner Novelle „Die Leiche“ und den beiden Romanen „The Dead Zone“ und „Cujo“ war „Stark – The Dark Half“ aus dem Jahr 1989 der dritte Roman des bis heute fortdauernden Zyklus von Geschichten, die in der fiktiven Stadt Castle Rock angesiedelt sind. Bedeutsamer ist allerdings die Tatsache, dass Stephen King mit diesem Roman die Aufdeckung seines eigenes Pseudonyms Richard Bachman verarbeitet hat. Davon abgesehen bietet „Stark“ vor allem Einsichten in den schriftstellerischen Schaffensprozess, kommentiert Verlagswesen und Publikumsgeschmack und ruft durch die zu Tausenden auftretenden Sperlinge Reminiszenzen an Hitchcocks „Die Vögel“ wach.
In erster Linie bietet der Roman aber erstklassige Spannungsliteratur, der in einem geschickt konstruierten Showdown gipfelt und 1990 kongenial durch Horror-Papst George Romero („Die Nacht der lebenden Toten“) mit Timothy Hutton in der Hauptrolle verfilmt worden ist.