Lee Child – (Jack Reacher: 2) „Ausgeliefert“

Sonntag, 11. September 2016

(Heyne, 510 S., Tb.)
Jack Reacher, ehemaliger Kommandant bei der Militärpolizei und seit dreizehn Monaten ohne festen Job und Plan für seine Zukunft, hält sich am letzten Tag im Juni gerade in Chicago auf, als er vor einer Reinigung einer gehbehinderten Frau zur Hilfe kommt und einen Augenblick darauf eine 9mm-Automatik-Pistole auf seiner alten Narbe spürt. Und schon wird er zusammen mit der ihm unbekannten Frau in eine Limousine gestoßen und in ein über tausendsiebenhundert Meilen entferntes Versteck gefahren.
Wie Reacher während der langen Fahrt herausfindet, handelt es sich bei der Frau um die gut dreißigjährige FBI-Beamtin Holly Johnson, Tochter des Vorsitzendes der Vereinigten Stabschefs. Als Holly nicht wie geplant zur angesetzten Budget-Sitzung erscheint, alarmiert Agent-in-Charge McGrath FBI-Direktor Harland Webster, der sofort ein Team zusammentrommeln lässt, um Holly Johnson aufzufinden.
Tatsächlich gelingt es den beiden Agenten Brogan und Milosevic schnell, eine Spur zur Limousine und zum Lieferwagen zu finden, mit denen die Geiseln offensichtlich nach Montana verschleppt worden sind. Dort hält sich in den Wäldern eine perfekt ausgestattete Miliz auf, die nicht nur einen unabhängigen Staat anstrebt, sondern der jetzigen Regierung einen gehörigen Denkzettel verpassen will. Doch dabei haben sie die Rechnung ohne den hochdekorierten Reacher gemacht …
„Alles hatte sich geändert. Er hatte sich geändert. Er lag da und spürte die kalte Wut in sich, mahlend wie Zahnräder. Kalte, unversöhnliche Wut. Unkontrollierbar. Sie hatten einen Fehler gemacht. Sie hatten ihn vom Zuschauer zu einem Feind verwandelt. Ein schlimmer Fehler. Sie hatten die verbotene Tür aufgestoßen, nicht wissend, was da herausplatzen konnte. Er lag da und fühlte sich wie eine tickende Bombe, die von den Kerlen tief ins Herz ihres Territoriums getragen wurde. Er spürte die Aufwallung von Wut in sich, genoss sie, staute sie in sich auf.“ (S. 158) 
Mit Jack Reacher hat Lee Child, ehemaliger Produzent beim britischen Fernsehen, Mitte der 1990er Jahre einen außergewöhnlichen Helden kreiert, der nach dreizehn erfolgreichen Jahren bei der Militärpolizei den Dienst quittierte und seither eher ziellos sein Heimatland durchstreift.
Wie schon in Lee Childs Debüt „Größenwahn“ gerät Jack Reacher auch in „Ausgeliefert“ per Zufall in eine absolut heikle Situation, die er dank seiner jahrelang geschulten Fähigkeiten gut zu analysieren und schließlich auch zu lösen versteht.
Bis dahin führt der Autor seine Leser durch einen packenden Plot voller Action und akribisch recherchierter Informationen über Waffen und Taktiken. Reacher fühlt sich für die durch eine Knieverletzung gehandicapte Frau verantwortlich und weicht nie freiwillig von ihrer Seite. Sein unbeirrbarer Gerechtigkeitssinn führt dazu, dass Reacher all seine Kräfte und Fähigkeiten einsetzt, um der bestens ausgerüsteten Montana-Miliz das Handwerk zu legen. Dass das FBI ihn zunächst für einen der Entführer hält, macht es Reacher zwar zunächst nicht leichter, aber seinem Durchsetzungswillen haben weder das FBI noch die Soldaten der Miliz viel entgegenzusetzen.  
„Ausgeliefert“ bietet atemlose Spannung in einem dramaturgisch gekonnt inszenierten Thriller, der ebenso von der Action lebt wie von der sympathischen Entschlossenheit seines Helden.
Leseprobe Lee Child - "Ausgeliefert"

Steve Mosby – „Nachtschatten“

Montag, 5. September 2016

(Droemer, 413 S., Pb.)
Detective Inspector Zoe Dolan und ihr Partner Chris Sands haben es gerade mit einem Stalker zu tun, der seinen Opfern - attraktiven Single-Frauen um die Mitte zwanzig – in ihren Wohnungen auflauert und sie vergewaltigt. Gerade als sie sich dem letzten Opfer, Julie Kennedy, befassen, wird Zoe Dolan selbst Opfer eines Einbruchs. Bevor der Täter allerdings fliehen kann, identifiziert ihn Zoe als Drew MacKenzie, den kleinen Bruder eines der Mädchen, mit denen die Polizistin früher in der heruntergekommenen Thornton-Siedlung herumhing. Darum wird sich Zoe allerdings später kümmern müssen, denn noch ist sie fieberhaft damit beschäftigt, dem gefürchteten Stalker auf die Spur zu kommen, der bei seinen Misshandlungen der mittlerweile fünf Frauen immer brutaler vorgegangen ist, sodass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er eines seiner Opfer auch tötet.
Währenddessen arbeitet die nach der Trennung von ihrem Freund Peter alleinlebende Jane ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge Mayday, wo sie eines Tages den Anruf eines Mannes erhält, der behauptet, verantwortlich für diese Taten gewesen zu sein. Obwohl ihr Chef darauf pocht, auch bei solchen Anrufen Vertraulichkeit wahren zu lassen, sucht Jane DI Zoe Dolan auf und berichtet von dem Mann, der mittlerweile immer wieder sein Gewissen bei Jane zu erleichtern versucht. Zoe glaubt nicht, dass es sich bei diesem Mann um den gesuchten Stalker handelt, der nun auch einen Mord auf zu verantworten hat. Doch Jane weiß von einem Detail zu berichten, das bislang nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist. Nun könnte auch Jane in Lebensgefahr schweben …
„Mörder halten sich oft an bestimmte Muster. Nicht selten nehmen solche Taten an Häufigkeit und Grausamkeit zu, während der Täter den Bezug zur Realität immer mehr verliert und unvorsichtiger wird. Mörder wie er enden in einer Art Supernova. Wenn das auf diesen Fall zutraf, dann würde es bald noch weitere Opfer geben, und zwar in kürzeren Abständen. Wir kämen ihm zwar schneller auf die Spur, aber nicht, bevor noch andere Frauen ihr Leben ließen.“ (S. 323) 
Mit seinem dritten Roman, dem 2007 auch hierzulande als Hardcover veröffentlichten „Der 50/50- Killer“, feierte der britische Autor Steve Mosby seinen internationalen Durchbruch, wurde gleich für den US-amerikanischen Literaturpreis Barry Award in der Kategorie "Best British Crime Novel" nominiert und erhielt 2012 den „Dagger in the Library“-Preis der britischen Crime Writers’ Association. Doch das Niveau dieses Bestsellers konnte Mosby seither kaum noch aufrechterhalten. Mittlerweile erscheinen die deutschen Erstausgaben seiner Bücher über Droemer Knaur als Paperback.
Mit seinem aktuellen Thriller „Nachtschatten“ bewegt sich Mosby leider weiterhin auf eher mittelmäßigem Niveau. Das liegt nicht nur in dem allzu vertrauten Plot begründet, dem Mosby wenig Neues abgewinnen kann, sondern vor allem in seiner drögen Art, Handlungen und Emotionen zu beschreiben. Statt lebendige Dialoge zu verwenden, begnügt sich der Autor mit langweiligen Schilderungen, die dem Spannungsaufbau einfach abträglich sind. Dafür sorgen auch die von Beginn an kreierten Handlungsnebenstränge, mit denen sich der Leser recht lange im spannungsfreien Raum bewegen muss. Am Ende zaubert Mosby immerhin eine feine Facette zum Täterprofil aus dem Hut, aber das reicht leider nicht aus, um einen stellenweise sogar langweiligen Thriller zu retten. Dabei hätte gerade aus den beiden interessanten Hauptfiguren – DI Zoe Dolan und Mayday-Mitarbeiterin Jane – mehr herausgeholt werden können.
 Leseprobe Steve Mosby - "Nachtschatten"

Linwood Barclay – (Promise Falls: 1) "Lügennest“

Donnerstag, 1. September 2016

(Knaur, 503 S., Pb.)
Nach dem Tod seiner Frau Jan vor fünf Jahren kündigte der Reporter David Harwood seinen Job bei dem Promise Falls Standard und zog mit seinem Sohn Ethan nach Boston, wo er allerdings wegen seiner Arbeitszeiten beim Boston Globe kaum Zeit für seinen Sohn aufbringen konnte. Deshalb ist David mit dem nun neunjährigen Ethan in sein Elternhaus zurückgekehrt und hat wieder bei seiner alten Zeitung zu arbeiten begonnen. Allerdings bekommt er schon am ersten Arbeitstag von der Herausgeberin zu hören, dass der Standard eingestellt wird. Doch das ist nur der Anfang einer Reihe von merkwürdigen bis erschreckenden Ereignissen, die die Kleinstadt heimsuchen. Zunächst muss David beim Besuch seiner Cousine Marla Pickens feststellen, dass sie plötzlich zu einem Kind gekommen ist, das ihr – so ihre Aussage – ein Engel in die Arme gelegt hat.
Vor neun Monaten verlor Marla ihr eigenes Kind bei der Geburt, dann ist sie auffällig geworden, als sie aus dem Krankenhaus, das ihre Tante Agnes leitet, ein fremdes Kind mitnehmen wollte. Als David den Jungen zur eigentlichen Familie zurückbringen will, findet er Mrs. Gaynor tot in ihrem Haus vor. Da ihr Mann in Boston bei einer Konferenz gewesen ist und über ein Alibi verfügt, wird Marla verdächtigt, Rosemary Gaynor getötet und Matthew entführt zu haben.
Doch Detective Barry Duckworth stößt bei seinen Ermittlungen bald auf Ungereimtheiten. Zudem hat er mit Überfällen auf Frauen auf dem Campus des Thackaray Campus zu tun, mit 23 auf einer Schnur aufgehängten toten Eichhörnchen und einem Riesenrad auf dem stillgelegten Ferienpark, das von unbekannter Hand in Gang gesetzt worden ist und in dessen Kabine mit der Nummer 23 drei Puppen platziert wurden. David setzt alles daran, Marlas Unschuld zu beweisen, und macht sich auf die Suche nach dem Kindermädchen der Gaynors, das plötzlich spurlos verschwunden ist.
„Der Mörder hätte einfach verschwinden können. Das Baby wäre zu guter Letzt gefunden worden. Aber nein. Der Mörder – oder sonst jemand – will das Baby in die Obhut von jemandem geben. Warum in die von Marla?
In Promise Falls gab es genügend Menschen, bei denen Matthew hätte abgegeben werden können, warum ausgerechnet bei Marla? Die genau am anderen Ende der Stadt wohnt. Und die bereits – wenn auch nur einmal – als Kindesentführerin auffällig geworden war.“ (S. 231) 
Tatsächlich kommen David und der Detective allmählich einem vertrackten Komplott auf die Spur, in die ganz prominente Persönlichkeiten der Stadt verwickelt sind.
Linwood Barclay, der 2007 mit seinem Debütroman „Ohne ein Wort“ gleich einen internationalen Bestseller veröffentlicht hat, gibt mit „Lügennest“ den Startschuss einer vielversprechend startenden Trilogie. Im Mittelpunkt des dramaturgisch geschickt konstruierten Thrillers steht der sympathische Ich-Erzähler David Harwood, der seiner Familie zuliebe in seine Heimatstadt zurückkehrt und sofort mit einer Reihe von Problemen konfrontiert wird, von denen das Fehlen eines Jobs und einer eigenen Wohnung noch die geringsten sind. Nachdem er ausführlich seine eigene Geschichte geschildert hat, werden auch die weiteren Protagonisten eingeführt, ohne allerdings allzu viel von ihnen preiszugeben. Einzig Marlas bedauerliches Schicksal erhält etwas mehr Raum, schließlich ist sie auch die Hauptverdächtige.
Auch wenn der Mord an Rosemary Gaynor und die Frage, wie Marla an deren Sohn gekommen ist, im Zentrum von „Lügennest“ steht, werden auch die Nebenhandlungen immer wieder aufgegriffen, ohne am Ende aufgelöst zu werden. Schließlich stehen mit „Lügennacht“ (Dezember 2016) und „Lügenfalle“ (April 2017) noch zwei Folgebände an.  
Barclay gelingt es sehr überzeugend, einzelne Facetten der geheimnisvollen Vorgänge in Promise Falls zu enthüllen, aber noch sehr viele offene Fragen, gerade um Figuren wie Bürgermeisterkandidat Randall Finley, ungeklärt zu lassen, so dass man mit Spannung die Fortsetzungen erwartet.
Leseprobe Linwood Barclay - "Promise Falls I: Lügennest"

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 1) „Ein letzter Drink“

Sonntag, 28. August 2016

(Diogenes, 354 S., Pb.)
Patrick Kenzie und Angie Gennaro sind seit Kindesbeinen miteinander befreundet und unterhalten gemeinsam die Detektei Kenzie & Gennaro in Bostons Viertel Dorchester. Als Kenzie ins Ritz-Carlton zu einem Gespräch mit dem Abgeordneten Jim Vurnan, Senator Sterling Mulkern und Senator Brian Paulson gebeten wird, bekommt er den Auftrag, die schwarze 41-jährige Jenna Angeline aufzufinden, eine Angestellte des Bundesparlaments, die seit neun Tagen vermisst wird. Mit ihr sind allerdings auch streng vertrauliche Dokumente verschwunden, die offensichtlich in Zusammenhang mit dem Gesetz gegen Straßenterrorismus stehen, das demnächst im Senat verabschiedet werden soll.
Kenzie und Gennaro finden die Frau tatsächlich bei ihrer Schwester und bekommen von ihr ein Foto zu sehen, auf dem Senator Paulson einen schwarzen Jungen missbraucht. Und schon befinden sich die beiden Privatermittler in einem Kreuzfeuer wieder, das die beiden erbittert verfeindeten Gangs entfachen, die von Socia auf der einen Seite und seinem Sohn Roland auf der anderen Seite angeführt werden. Denn auch die beiden Bandenführer sind in diesen Skandal involviert, der nicht nur in Politikerkreisen hohe Wellen schlagen dürfte, sollte er an die Öffentlichkeit kommen …
„Jenna Angeline war ein Wrack. Sie war verängstigt und erschöpft und wütend, und sie heulte die Welt an wie ein Wolf. Aber anders als die meisten Menschen in ihrer Lage war sie gefährlich, weil sie etwas besaß, das ihr ein Stück von dem verschaffen sollte, was ihr diese Welt bislang vorenthalten hatte. Aber so funktioniert die Welt normalerweise nicht, und Menschen wie Jenna sind Zeitbomben. Sie reißen vielleicht ein paar Menschen mit in den Tod, aber bei dem Inferno gehen sie auf jeden Fall selbst mit drauf.“ (S. 97) 
Als der in Dorchester, Boston, geborene Dennis Lehane 1994 seinen Debütroman „A Drink Before the War“ veröffentlichte, wurde er nicht nur gleich mit dem Shamus Award für den besten Erstlings-Roman ausgezeichnet, sondern startete damit auch eine Serie von bislang sechs Romanen um das charismatische Detektiv-Duo Kenzie & Gennaro.
Der Diogenes-Verlag, der bereits Lehanes Bestseller „Shutter Island“ und „Mystic River“ in neuer Übersetzung und dann auch die nach dem Epos „Im Aufruhr jener Tage“ folgenden Werke als deutsche Erstveröffentlichung herausgebracht hat, macht sich nun daran, mit den zuvor bei Ullstein erschienenen Romane um Kenzie & Gennaro nachzulegen.
Lehane begibt sich mit seinem Debüt auf die Spuren der klassischen Schwarzen Serie, wie sie beispielsweise Humphrey Bogart unvergesslich als Sam Spade verkörpert hat. Lehanes Ermittler, die weit mehr als nur eine freundschaftliche Arbeitsbeziehung miteinander unterhalten, geraten gleich in ihrem ersten Abenteuer in eine von Straßengewalt, Rassismus und Korruption geprägte Welt, der sie auch nur mit Gewalt begegnen können, um nicht selbst unter die Räder zu kommen. Dabei versteht es der Autor, in seinem Debüt vor allem das düstere Lokalkolorit seiner Bostoner Heimat einzufangen und sie gleichermaßen auf seine Figuren zu übertragen. Diese hätten durchaus noch etwas mehr Profil erhalten können, aber davon abgesehen bietet „Ein letzter Drink“ packende Krimi-Unterhaltung, auf deren Fortsetzung bei Diogenes sich Lehane-Fans hoffentlich in den nächsten Jahren noch erfreuen dürfen.
 Leseprobe Dennis Lehane - "Ein letzter Drink"

Leon de Winter – „Geronimo“

Samstag, 27. August 2016

(Diogenes, 446 S., HC)
Im September 2010 hält sich Usama bin Laden, Al-Kaida-Füher und weltweit am meisten gesuchter Terrorist, seit fünf Jahren in seinem Versteck im pakistanischen Abbottabad auf und verlässt es nur nachts, um mit dem Moped das Lebensmittelgeschäft oder eine seiner drei Frauen zu besuchen, die er nur mit Hilfe der blauen Pillen zu befriedigen vermag. Sein größter Schatz besteht allerdings in einem USB-Stick, den sein treuer Kämpfer Abu Ahmed al-Kuweiti besorgt hat und dessen Inhalt zwar nur aus sieben Fotos, einem Word-Dokument und einem Video besteht, dafür aber so brisant sind, dass – so bin Ladens Überzeugung – die Amerikaner das Weiße Haus stürmen und eine Revolution anzetteln würden.
Tom Johnson, ehemals Mitglied der Special Activities Division der CIA, erfährt im Februar 2011 bei einem Treffen mit seinen alten Freunden vom ST6, dass die Special Unit mit dem Aufspüren von Usama bin Laden – kurz UBL - beauftragt worden ist. „Kill or capture“ lautet die Anweisung. Doch statt ihn umzubringen, planen sie, seinen als Ben Laden bekannten Doppelgänger als Bin Ladens Leiche zu präsentieren und UBL in Eigenregie zu kidnappen und alles aus ihm an Informationen rauszuholen.
Die Operation gelingt, der in einem Holzschemel versteckte USB-Stick gelangt in die Hände des in der Nachbarschaft von UBLs Versteck lebenden Jungen Jabbar, der davon träumt, als reicher Mann nach Amerika zu gehen, um dort für das afghanische Mädchen Apana zu sorgen, dem man die Ohrmuscheln abgeschnitten und die Hände abgehackt hat, weil es sich von der Musik aus dem Westen verführen ließ.
„Wenn er das Geheimnis fand, war das der Schlüssel zur Greencard. Er würde Spielberg treffen. Und Apana würde neue Hände bekommen, darum würde er Spielberg als Gegenleistung für das Geheimnis bitten. Spielberg war Jude, okay, das war Jesus auch, als Jude geboren, aber das durfte kein Hinderungsgrund sein. Apana musste Hände und Ohren bekommen, und sie würden auf einer Ranch leben.“ (S. 307) 
Tom lernt die beiden Kinder kennen und setzt alles daran, ihr gefährdetes Leben zu retten. Doch dann sorgt ein dramatisches Ereignis für eine spektakuläre Wende in der Geschichte.
In seinem neuen Roman „Geronimo“, dessen Titel übrigens dem Codewort entspricht, das die Seals Team 6 bei der Entdeckung von Osama bin Laden verwenden sollten, spielt der niederländische Autor Leon de Winter mit der (Verschwörungs-)Theorie, dass Osama – im Roman leicht zu Usama abgewandelt – gar nicht getötet, sondern nur gekidnappt worden ist. Doch „Geronimo“ thematisiert nicht nur die tollkühne Aktion des ST6-Teams, sondern auch die innige Verbindung zwischen den beiden Kindern Jabbar und Apana auf der einen Seite und die zwischen Apana und Tom durch die Goldberg-Variationen von Bach auf der anderen.
Und auch Toms eigene schmerzliche Vergangenheit wird in Telefonaten mit seiner Ex-Frau Vera aufgearbeitet, nachdem die beiden ihre gemeinsame Tochter bei dem Bombenattentat in Madrid verloren hatten. So präsentiert sich „Geronimo“ zwar als packender Agenten-Thriller mit einer mehr als nur interessanten Prämisse, aber es stellt Bin Laden auch als Menschen dar, der für seine Frauen Eis und Schokolade einkaufen geht und seine ehelichen Pflichten nur mit chemischer Unterstützung wahrnehmen kann.
Berührend ist vor allem aber die von Mitleid, Güte und Liebe geprägte Geschichte von Jabbar und Apana, die einen wunderbar warmen Kontrast zu dem Tötungsauftrag der US-amerikanischen Spezialeinheit bildet.
 Leseprobe Leon de Winter - "Geronimo"

Ray Bradbury – „Geisterfahrt“

Dienstag, 23. August 2016

(Diogenes, 265 S., HC)
Seit den 1950er Jahren, als er mit „Die Mars-Chroniken“ (1950) und „Fahrenheit 451“ (1953) Klassiker der Literaturgeschichte und Pflichtlektüre in den Schulen veröffentlichte, zählt der 1920 geborene und 2012 verstorbene amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury zu den fantasiebegabtesten und versiertesten Geschichtenerzählern der Welt. Vor allem in unzähligen Story-Sammlungen wie „Der illustrierte Mann“, „Medizin für Melancholie“ und „Die Mechanismen der Freude“ dokumentierte Bradbury seinen schier unerschöpflichen Vorrat an geradezu magischen Geschichten, mit denen er seine Leser ebenso in die Vergangenheit wie in die Zukunft mitnahm.
„Geisterfahrt“ aus dem Jahre 1997 ist leider schon eine der letzten Geschichtensammlungen aus seiner Hand, aber auch im Alter von 77 Jahren sind dem Visionär noch beeindruckende Einfälle aus der Feder gesprudelt. In „Nachtzug nach Babylon“ beobachtet der Zauberlehrling James Cruesoe in einem Zug fasziniert, wie ein Trickspieler die Aufmerksamkeit seines Publikums fesselt, während es in „Wenn es MGM erwischt, wer kriegt dann den Löwen?“ um eine herrlich witzige Spielerei aus dem Zweiten Weltkrieg geht, bei der die fast benachbarten Gelände der MGM-Studios und Howard Hughes‘ Flugzeugfabrik zur Täuschung des Feindes die Beschilderung vertauschten.
„Guten Tag, ich muss fort“ ist die Geschichte des vor vier Jahren verstorbenen Henry Grossbock, der nicht darüber hinwegkommt, dass seine geliebte Frau nicht mehr so oft sein Grab besucht und schon gar keine Tränen mehr verdrückt, weshalb er sich aus seinem Grab heraus auf den Weg zu seinem Freund Steve Ralphs macht, um ihm sein Leid zu klagen. Die vielleicht schönste Geschichte, „Haus zweigeteilt“, dreht sich um das sexuelle Erwachen von Teenagern. Der zwölfjährige Chris kann es kaum fassen, dass sich die drei Jahre ältere Vivian an seiner Hose zu schaffen macht.
„Es war so seltsam. Chris konnte nur daliegen und sich von Vivian alles erklären lassen mit dieser dunklen, unglaublichen Pantomime. Von so etwas wird einem im ganzen Leben nichts gesagt, dachte er. Gar nichts wird einem gesagt. Vielleicht ist es zu gut zum Weitersagen, zu seltsam und wunderbar, um es in Worte zu fassen.“ (S. 45) 
In „Schwerer Diebstahl“ erleben die beiden Schwestern Rose und Emily Wilkes noch einmal den Zauber ihrer ersten Liebe, als eines Nachts die Liebesbriefe an Emily aus den Jahren 1919 bis 1921 gestohlen werden und mit unbekanntem Namen unterschrieben wieder in ihrem Briefkasten landen. „Kennen Sie mich wieder?“ beschreibt das unerwartete Aufeinandertreffen des Fleischers Harry Stadler mit einem seiner Kunden in Florenz, wo sie bei einem gemeinsamen Abendessen feststellen, dass sie gar keine Gemeinsamkeiten haben. Die Titelgeschichte erzählt von einem Jungen, der mit Staunen erlebt, wie ein Fremder mit völlig verdunkelnder Gesichtsmaske in der Stadt auftaucht und versucht, seine Studebakers, die er in Gurney verkauft, an den Mann zu bringen, was ihm durch sein Aufsehen erregendes Auftreten auch gelingt.
Aber im Grunde genommen geht es um die Dinge und Erfahrungen, die Menschen verändern, und vor allem um die Menschen, die andere Menschen verändern. Einen ähnlichen Subtext gibt es in „Es verändert sich nichts“, wo ein Mann in einer Buchhandlung am Meer alte Jahrbücher durchstöbert und dabei erst auf ein Foto seines alten Freundes Charlie Nesbitt stößt, allerdings in einem Jahrbuch von 1912, 26 Jahre vor seinem eigentlichen Schulabschluss und unter anderem Namen. Danach findet er unzählige weitere Beispiele in anderen Jahrbüchern, bis er seinem eigenen, jüngeren Ich im aktuellen Jahrbuch von Roswell High begegnet.
Immer wieder geht es um Erinnerungen, Träume und Identität, um die großen Mysterien des Lebens und des Todes, um Religion, Freundschaft und Liebe. Bradbury gelingt es, diese existentiellen Themenschatz in immer wieder neue, erfrischende, magische und verführerische Geschichten zu weben, dass man immer ein wenig oder meist sogar viel länger bei seinen sympathischen Helden verbleiben möchte.

Jeff Menapace – „Das Spiel (1): Opfer“

Sonntag, 21. August 2016

(Heyne, 400 S., Tb.)
Der 38-jährige Patrick und seine fünf Jahre jüngere Amy Lambert fahren mit ihren beiden Kindern Carrie und Caleb zu einem Wochenendtrip „mitten ins Nirgendwo“ an den Crescent Lake in Pennsylvania, doch schon die Fahrt dahin steht unter keinem guten Stern. An der Tankstelle macht Patrick die Bekanntschaft eines seltsamen Typen, der kurzerhand Patricks Benzinrechnung übernimmt. Kurz vor dem Ziel tauscht Carrie an einem Diner unbemerkt von ihren Eltern ihre Puppe Josie bei einem fremden Mann gegen einen Lolli ein, dann wird Amy im Supermarkt von einem Typen sexuell belästigt. Doch auch am Feriendomizil reißen die merkwürdigen Ereignisse nicht ab.
Als sich Patrick und Amy nachts miteinander vergnügen, schreit Amy entsetzt auf, als sie einen kahlköpfigen Mann am Fenster erblickt. Der Sheriff hält Amy allerdings eher für überspannt, als dass er der Sache auf den Grund geht. Noch ahnen sie nicht, dass sie längst ins Visier der skrupellosen psychopathischen Brüder Arty und Jim Fannelli geraten sind, die bei ihren ausgefallenen Spielen ausgeprägten Spaß an den Qualen ihrer Opfer haben. Bevor sich die Brüder aber an den Lamberts zu schaffen machen, haben sie noch einige andere menschliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
„Jim stieß sich von der Brust des jungen Mannes ab und sprang auf die Beine. Er hob einen Fuß hoch in die Luft und trat mit aller Gewalt auf das Gesicht des geblendeten Jungen, der daraufhin das Bewusstsein verlor. Ein zweiter und dritter Tritt zerquetschten den Kopf des Jungen und brachten ihn um den Großteil seiner Zähne. Jim schaute auf und grinste Arty an. Mit den wild flackernden Augen und dem Speichel, der von seinen Lippen tropfte, sah er aus wie ein Perverser, der einen Porno betrachtet.“ (S. 240) 
Wenn einer in die Fußstapfen des großen Horror-Meisters Richard Laymon treten kann, ist es der amerikanische Autor Jeff Menapace, dessen 2013 begonnene „Spiel“-Trilogie nun auch passenderweise durch Heyne Hardcore in Deutschland seine Fans finden wird. Auch wenn das Setting von „Opfer“ – Teil 1 der „Spiel“-Trilogie“ – genauso gut einem Laymon-Roman entnommen sein könnte, beweist Menapace, dass er durchaus über eine eigene Stimme verfügt und vor allem ein besseres Gefühl für die Dramaturgie besitzt.
Während Laymon oft nur die Gewalt und den Sex an sich auf voyeuristische Weise in den Vordergrund rückte, inszeniert Menapace das Grauen auf schleichende Weise. Er zeichnet er die Lamberts während ihrer Reise zum Crescent Lake als absolute Durchschnittsfamilie, wobei Patrick und Amy auch nach zwölf Ehejahren noch total verliebt ineinander sind. Davon abgesehen lotet der Autor keine psychologischen Tiefen aus. Während die Lamberts als unauffällige Normalos ohne Ecken und Kanten durchgehen, wird zumindest bei den Fannelli-Brüdern versucht, durch Rückblenden Licht in ihre dunklen Persönlichkeiten zu bringen. Hier bedient Menapace allerdings auch nur die Genre-Konventionen.
Was „Opfer“ mehr als eine stimmige Charakterisierung der Figuren auszeichnet, ist der geschickt konstruierte Plot, in der die Fannellis und Lamberts zwar immer wieder Berührungspunkte haben, doch zur unvermeidlichen Konfrontation kommt es ungewöhnlich spät. Bei den Gewalt- und Sex-Darstellungen hält sich der Autor überraschend stark zurück. Laymon-Fans würden sich definitiv eine gehörige Prise mehr Torture Porn wünschen.
Trotz einiger Schwächen bietet der erste Teil der „Spiel“-Trilogie kurzweilige Horror-Unterhaltung mit bekannten Versatzstücken des Genres, die aber gekonnt in Szene gesetzt worden sind und neugierig auf die Fortsetzungen machen, die für Dezember 2016 („Rache“) und Mai 2017 („Tod“) angekündigt sind.

Leseprobe Jeff Menapace - "Das Spiel: Opfer"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 7) „Dunkler als die Nacht“

Donnerstag, 18. August 2016

(Heyne, 464 S., HC – Knaur eBook, 431 S., eBook)
Drei Jahre nach seiner Herztransplantation steht für den ehemaligen FBI-Ermittler und Experten für Serienmorde Terry McCaleb vor allem die Familie im Vordergrund. Immerhin ist McCaleb seit vier Monaten Vater einer Tochter, die er mit seiner Frau Graciela auf der Insel Catalina vor Los Angeles aufzieht. Doch dann taucht unvermittelt Sheriff’s Detective Jaye Winston bei ihm zuhause auf und bittet ihn, sich nur einmal die Unterlagen zum Mord an Edward Gunn anzusehen, einem trinkfreudigen Nichtsnutz, der immer wieder von dem Cop Harry Bosch im Gefängnis aufgesucht worden ist.
Interessanterweise führen einige Hinweise zu den düsteren Gemälden von Hieronymus Bosch und weiter zu seinem Namensvetter Harry Bosch, der gerade als Ermittler im Strafverfahren gegen den Hollywood-Regisseur David Storey aussagen soll.
Er ist angeklagt, eine junge Schauspielerin nach dem Sex erwürgt zu haben und es wie eine autoerotische Asphyxie aussehen zu lassen. Beide Fälle weisen unübersehbare Parallelen auf, so dass sich McCaleb mehr mit dem Fall zu beschäftigen beginnt, als er eigentlich sollte, selbst als er von Winston offiziell zurückgepfiffen wird. Was McCaleb aber besonders irritiert, ist der Umstand, dass die Indizien darauf hinweisen, dass ausgerechnet Harry Bosch für den Tod von Edward Gunn verantwortlich zu sein scheint.
„McCaleb wusste, viele Verbrecher machten Fehler, die zu ihrer Überführung führten, weil sie im Unterbewusstsein nicht ungestraft davonkommen wollten. Das Gesetz des ewigen Kreislaufs, dachte McCaleb. Vielleicht sorgte Bosch unbewusst dafür, dass sich das große Rad auch für ihn drehte.“ (S. 230) 
Als sich McCaleb und Bosch über diese seltsamen Zusammenhänge unterhalten, bemerkt Bosch zu seiner Verteidigung, dass McCaleb etwas übersehen haben muss, worauf sich dieser noch einmal an die Arbeit macht und tatsächlich auf eine interessante Spur stößt, die dem Verfahren gegen den arroganten Hollywood-Filmemacher eine ganz neue Richtung verleiht …
Der amerikanische Bestseller-Autor Michael Connelly hat mit seiner Reihe um den eigenwilligen Ermittler Harry Bosch nicht nur Krimi-Geschichte geschrieben, sondern auch die Vorlage für die Amazon-Net-TV-Serie „Bosch“ geliefert. In „Dunkler als die Nacht“ führt er seinen beliebten Protagonisten erstmals mit einer Hauptfigur aus einem seiner anderen Romane zusammen, Terry McCaleb aus „Das zweite Herz“. Der Leser erlebt hier zwei außergewöhnliche Ermittler, die zunächst auf unterschiedlichen Seiten stehen, dann aber gemeinsam der Wahrheit auf die Spur kommen und dabei lebensgefährliche Situationen überstehen müssen.
Connelly führt sein Publikum in die düsteren Bilderwelten des niederländischen Malers Hieronymus Bosch ein, wobei sein berühmtes Triptychon „Der Garten der Lüste“ im Zentrum des Mordes an Edward Gunn steht. Darüber hinaus gewährt der Autor Einblicke vor allem in das Privatleben von McCaleb, das sich seit seiner Herzoperation grundlegend verändert hat, ohne dass der Ermittler seine Leidenschaft für die Aufklärung ungewöhnlicher Verbrechen eingebüßt hätte.
Bosch agiert dagegen eher im Hintergrund, doch bezieht der Thriller seine Spannung vor allem aus dem Zusammenspiel der beiden Ermittler. Dabei gelingt es Connelly, sowohl einen klassischen Strafprozess als auch sorgfältige Ermittlungsarbeit dramaturgisch geschickt miteinander zu verbinden und den Leser von der ersten bis zur letzten Seite glänzend zu unterhalten.
 Leseprobe Michael Connelly - "Dunkler als die Nacht"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 1) „Neonregen“

Mittwoch, 17. August 2016

(Pendragon, 420 S., Pb. - Edel:eBooks, 294 S., eBook)
Lieutenant Dave Robicheaux vom New Orleans Police Department sucht im Staatsgefängnis von Angola den Killer Johnny Massina auf, der dort im kleinen Hochsicherheitstrakt die letzten drei Stunden seines Lebens verbringt, weil dieser wie bei den Anonymen Alkoholikern seine Fehler vor Gott und anderen alle seine Fehler eingestehen will. Bei der Auflistung all seiner Verbrechen betont er nicht nur, dass er nicht – wie alle angenommen haben - das Mädchen aus Hotelfenster geworfen hat, sondern warnt Robicheaux auch vor den Kolumbianern, die den Cop kaltmachen wollen.
Streak – so wird Robicheaux wegen der weißen Strähne in seinem Haar genannt – schenkt dieser Warnung zunächst nicht viel Beachtung, schließlich sind er und sein Partner Cletus Purcel noch mit der Leiche eines jungen schwarzen Mädchens beschäftigt, das Robicheaux beim Angeln aus dem Bayou Lafourche gefischt hat.
Während der Leichenbeschauer vom Sprengel Cataouatche Tod durch Ertrinken festgestellt hat und der Sheriff keine Autopsie verlangt hat, geht Robicheaux anhand der Einstichwunden an ihren Armen von Mord aus. Doch kaum gehen Robicheaux und Purcel dem Hinweis aus der Todeszelle nach, bekommt Streak nächtlichen Besuch von drei Männern, die dem Cop in der Badewanne ordentlich zusetzen. Die Spur führt zu Julio Segura, der offensichtlich sein Geld aus dem Drogenhandel in Waffengeschäfte investiert. Das ruft wiederum die CIA auf den Plan. Doch die Ermittlungen entwickeln sich ganz anders als vorschriftsmäßig und lassen vor allem Robicheaux’ Partner über die Stränge schlagen.
„Manchmal hatte es den Anschein, als ob die Besten von uns immer mehr den Leuten ähnelten, die wir am meisten verabscheuten. Und wenn ein guter Polizist einmal ins Unglück stürzte, war er meist gar nicht mehr in der Lage, zurückzublicken und den genauen Augenblick zu bestimmen, wo er falsch abgebogen und in einer Einbahnstraße gelandet war.“ (S. 222)
1987 veröffentlichte James Lee Burke mit „The Neon Rain“ seinen ersten Band um den ehemaligen Vietnam-Veteran und Ex-Alkoholiker Dave Robicheaux, der mittlerweile zu einer echten Kultfigur der amerikanischen Krimiliteratur geworden ist und endlich auch hierzulande wiederentdeckt wird, nachdem die in den 90er Jahren bei Goldmann und Ullstein erschienenen deutschen Ausgaben längst vergriffen sind.
Während Edel:eBooks den Backkatalog wenigstens im eBook-Format wiederveröffentlicht hat, macht sich nun der Pendragon Verlag daran, die Robicheaux-Titel wieder als Hardcopy auf den deutschen Markt zu bringen.
Nach „Mississippi Jam“, dem siebten und bislang auf Deutsch noch gar nicht erhältlichen Robicheaux-Band, veröffentlicht Pendragon mit „Neonregen“ nun den ersten Band in einer leicht verbesserten Neuübersetzung durch Hans H. Harbort und ergänzt die Neuausgabe durch ein Vorwort des Autors, in dem er erzählt, wie das Buch zunächst von 111 Verlagen abgelehnt worden war, ehe es seinen internationalen Siegeszug begann und den Auftakt einer Trilogie bildete, die lose auf Miltons „Paradise Lost“ basiert. Das ebenfalls neu hinzugefügte Nachwort von Alf Mayer wirft einen Blick auf die späte Karriere des US-amerikanischen Autors.
Bereits mit „Neonregen“ erweist sich Burke als grandioser Erzähler, der seine Figuren mit allen Ecken und Kanten versieht und sie eben nicht in eindeutige Kategorien steckt. So haben die vermeintlich guten Cops in „Neonregen“ ebenso ihre ganz dunklen Seiten wie die Ganoven ihre menschlichen Züge präsentieren.
Es sind schließlich das Miteinander, die pointierten Dialoge, die handfesten, oft brutalen Auseinandersetzungen und die raffinierten Wendungen, die „Neonregen“ so lesenswert machen. Dabei beschwört Burke eine dramatisch dichte Atmosphäre herauf, die einfach unnachahmlich bleibt.
 Leseprobe James Lee Burke - "Neonregen"

Jeffery Deaver – „Die Saat des Bösen“

Mittwoch, 10. August 2016

(Blanvalet, 412 S., Tb.)
Nachdem die siebzehnjährige Megan McCall nach einem Alkoholrausch aufgefunden wurde, ist sie durch das Sozialamt zu einer Therapie verdonnert geworden. Doch nachdem sie die Fragen von Dr. James Peters beantwortet hat, entführt er sie. Ihre besorgten Eltern, der ehemalige erfolgreiche Staatsanwalt Tate Collier und seine Ex-Frau Bett McCall, finden jeweils Briefe vor, in denen Megan ihre Wut und Enttäuschung über sie zum Ausdruck bringt, doch weder Tate noch Bett glauben wirklich daran, dass Megan weggelaufen sein könnte. Also setzt Tate seinen Freund Konnie, Detective bei der State Police, darauf an, neben seiner offiziellen Tätigkeit ein wenig die Augen offen zu halten.
Tate gelingt es dank seiner außerordentlichen rhetorischen Fähigkeiten, auch Megans Ex-Freund Joshua LeFevre und ihren Englisch-Lehrer und Freund Robert Carson einzuspannen, sich ebenfalls umzuhören. Zeugenaussagen führen schließlich zu einem Lieferwagen, der offenbar in die Richtung der Berge gefahren ist, wo früher verschiedene religiöse Erweckungszentren ihren Sitz hatten. Währenddessen entdeckt vor allem Konnie, der sich nach seiner zweijährigen Zwangsversetzung nichts sehnlicher wünscht, als seine deduktiven Fähigkeiten wieder im Morddezernat unter Beweis zu stellen, zunehmend Ungereimtheiten bei den Indizien, die auf Megans Ausreißen hindeuten sollten.
Collier wird das Gefühl nicht los, dass der Entführer ihm etwas heimzahlen möchte, und er muss sich zwangsläufig mit einem Fall auseinandersetzen, der ihn den Job des Staatsanwalts aufgeben ließ.
„Colliers Qual würde sein, dass er den Rest seiner Tage mit Zweifeln leben würde. Er würde nie wissen, was mit seiner Tochter geschehen war. Er würde nichts weiter haben als den Brief eines lästigen Kindes, ihre letzten grausamen Worte an ihn, die ihn auf ewig und immer wieder fragen lassen würden: Wo ist sie? Wo ist sie? Wo ist mein Mädchen?“ (S. 169) 
Bevor der US-amerikanische preisgekrönte Bestsellerautor Jeffery Deaver 1997 mit „Die Assistentin“ bzw. „Der Knochenjäger“ den ersten Band seiner erfolgreichen Lincoln-Rhyme-Reihe veröffentlichte, der zwei Jahre später ebenso erfolgreich von Phillip Noyce mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen verfilmt wurde, hat er fast zehn Jahre lang meist unzusammenhängende Thriller geschrieben, die mittlerweile meist vergriffen sind.
Nun veröffentlicht Blanvalet nicht nur die Reihen um Lincoln Rhyme und Kathryn Dance, sondern auch die Frühwerke im Taschenbuch. „Die Saat des Bösen“ ist zwei Jahre vor „Die Assistentin“ entstanden und zählt leider zu den schwächeren Werken des ansonsten so versierten Autors. Das liegt nicht allein an dem Umstand, dass religiös motivierte Kriminelle gerade in der heutigen Zeit einfach zu abgeschmackt sind und auch in der Geschichte der Kriminalliteratur und des Films in jeder erdenklichen Variation ihren Niederschlag gefunden haben. Vor diesem Hintergrund wirkt das Gebaren von Megans Entführer in „Die Saat des Bösen“ etwas altbacken und dermaßen konstruiert, dass kaum echte Spannung aufkommt.
Die einzige überzeugende Identifikationsfigur könnte die entführte Megan darstellen, doch bekommt sie überraschend wenig Raum bei der Darstellung ihrer Situation und Gefühlslage. Am aufschlussreichsten dient noch ihr Erstgespräch in der Praxis von Dr. Peters, doch mit ihrer Entführung verlässt Deaver gleichermaßen sein Opfer ebenso wie seine Leser. Denn den Schwerpunkt seiner Geschichte legt der Autor auf die Suche der Ex-Eheleute nach Megan und die verqueren Ambitionen ihres Entführers. Da weder Tate Collier noch seine Ex-Frau Bett das Mitgefühl des Lesers wecken können, verläuft das extrem vorhersehbare Geschehen weitgehend spannungsbefreit, um im Finale noch ein paar „Überraschungen“ zu präsentieren.
Im Bücherregal macht sich die Neuausgabe von „Die Saat des Bösen“ neben den anderen in den vergangenen Jahren von Blanvalet veröffentlichten Deaver-Werken ganz gut und macht auch Sammler-Herzen glücklich, doch von seiner späteren Meisterschaft ist Deaver noch ein gutes Stück entfernt.
 Leseprobe Jeffery Deaver - "Die Saat des Bösen"

Lee Child – (Jack Reacher: 1) „Größenwahn“

Samstag, 6. August 2016

(Heyne, 479 S., HC)
Vor sechs Monaten ist Jack Reacher, Sohn eines Army-Offiziers, mit dem Dienstgrad eines Majors aus dem Dienst der Militärpolizei entlassen worden. Seither reist der 36-Jährige ziel- und arbeitslos durch Amerika, bis es ihm in den Sinn kommt, auf den Spuren des Blues-Gitarristen Blind Blake mit dem Bus nach Margrave, Georgia, zu reisen, wo er allerdings in Eno’s Diner unvermittelt verhaftet wird, weil er eines Mordes beschuldigt wird.
Wie sich nach der Autopsie des Opfers herausstellt, handelt es sich bei dem Toten um Reachers Bruder älteren Bruder Joe, den er seit sieben Jahren aus den Augen verloren hat und der offensichtlich zuletzt beim Finanzministerium gearbeitet hat. Die Spur führt zunächst zu dem Bankmanager Hubble, mit dem Reacher in U-Haft kommt, wo er nur knapp einem Mordanschlag entkommt.
Als Reachers Alibi endlich überprüft worden ist, macht er sich mit dem engagierten Chief Detective Finlay und der attraktiven Roscoe auf die Suche nach dem wahren Täter und stößt auf den Bürgermeister Teale und den Unternehmer Kliner, der mit seiner Stiftung für mächtigen Wohlstand in der unscheinbaren Kleinstadt sorgt. Doch als Finlays Chef Morrison und dessen Frau brutal in ihrem Haus abgeschlachtet werden, wird klar, dass eine Bande von skrupellosen Killern jeden aus dem Weg räumt, der das riskante Unternehmen gefährdet, das offensichtlich bis in einer Woche zum Abschluss kommen muss.
Für Jack Reacher wird der Aufenthalt in Margrave schließlich zu einer sehr persönlichen Angelegenheit. Er will nicht nur herausfinden, was sein Bruder überhaupt in dieser Kleinstadt zu tun hatte, sondern auch seine Mörder stellen. Dabei muss er sorgfältig abwägen, wem er überhaupt vertrauen kann, denn offensichtlich sind vor allem die Stadtoberhäupter in kriminelle Machenschaften von unvorstellbaren Ausmaßen verwickelt.
„Sie hatten die verbotene Tür aufgestoßen. Sie hatten einen zweiten, fatalen Fehler gemacht. Jetzt waren sie so gut wie tot. Ich würde sie zur Strecke bringen und sie anlächeln, wenn sie starben. Denn der Angriff auf mich war ein zweiter Angriff auf Joe. Er war nicht mehr da, um mir beizustehen. Es war eine zweite Herausforderung. Eine zweite Demütigung. Hier ging es nicht um Selbstverteidigung. Hier ging es darum, Joes Andenken zu ehren.“ (S. 211) 
Gleich mit seinem ersten Roman „Größenwahn“ aus dem Jahr 1997 gelang dem britischen Autor Lee Child ein großer Wurf und bildete gleichzeitig den Start der bis heute erfolgreichen Romanserie um den Ex-Militärpolizisten Jack Reacher, aus der sogar die beiden Romane „Sniper“ (Band 9) und „Die Gejagten“ (Band 18) mit Tom Cruise in der Hauptrolle verfilmt worden sind.
Auch wenn sich jeder einzelne Roman unabhängig von den anderen lesen lässt, ist es doch faszinierend und hilfreich, im Auftaktroman die grundlegenden Informationen zum Ich-Erzähler Jack Reacher zu erhalten, der als Sohn eines Soldaten überall in der Welt zur Schule gegangen ist, selbst Karriere beim Militär gemacht hat, indem er Deserteure aus der Army aufgespürt hat, und seit seiner Entlassung ziellos durch die Staaten reist, stets mit Bargeld bezahlt und anonym in Bussen und Zügen unterwegs ist.
Vor allem wird die tragische Tatsache thematisiert, wie Reacher seinen Bruder verliert, so unglaubwürdig nun auch das Szenario wirkt, wie er zufällig in Margrave auf seine Leiche stößt. In seinem ersten Fall erweist sich Reacher als entschlossener Mann mit ausgeprägten deduktiven Fähigkeiten und imponierendem Kampfgeist. Das geschilderte Leben in der Kleinstadt wirkt ein wenig wie Science-Fiction und auch die Art des Verbrechens, dem Reacher & Co auf der Spur sind, überzeugt nicht so recht. Doch Child versteht es, Jack Reacher als sympathischen und durchschlagskräftigen Mann mit bewegter Vergangenheit und starken Prinzipien zu etablieren sowie aus einem an sich unglaubwürdigen Szenario einen spannenden und actionreichen Plot zu kreieren. Dies wird auch in den nachfolgenden Jack-Reacher-Romanen die Erfolgsformel darstellen.
 Leseprobe Lee Child "Größenwahn"

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 9) „Doppeltes Spiel“

Donnerstag, 4. August 2016

(Pendragon, 304 S., Tb.)
Als Suitcase Simpson mit seinem Partner Arthur Angstrom eines Morgens im Osten von Paradise seinen Streifendienst absolviert, entdeckt er im Kofferraum eines verdächtig weit auf die Straße hinausragenden Cadillac die Leiche von Petrov Ognowski, dem eine .22er Kugel im Schädel steckt. Wie Chief Jesse Stone und seine Crew bald herausfinden, gehörte der Tote zur Gang von Reggie Galen, dessen Anwesen sich gleich neben dem von Knocko Moynihan liegt, die sich einst in Boston das Revier geteilt hatten und nun nebeneinander wohnen, weil sie die eineiigen Zwillinge Rebecca und Robbie geheiratet haben.
Kaum hat Jesse Stone die beiden vermeintlichen Ex-Gangster aufgesucht, wird auch Knocko Moynihan tot aufgefunden, und Jesse Stone wird das Gefühl nicht los, dass die beiden attraktiven Zwillingsschwestern etwas mit den Morden zu tun haben.
Derweil wird die Privatdetektivin Sunny Randall damit beauftragt, die achtzehnjährige Cheryl DeMarco aus den Fängen einer religiösen Gruppe namens Bund der Erneuerung zu befreien, wobei die die Unterstützung von Jesse anfordert. Dabei kommen sie sich wieder näher, haben aber immer noch nicht mit ihren Ex-Partnern abgeschlossen.
„Er hatte ein Alkoholproblem, das ihn in Los Angeles den Job gekostet hatte. Und er lebte in den Ruinen einer gescheiterten Ehe. Sie war sich ziemlich sicher, dass er den Alkohol in den Griff bekommen konnte. Jedenfalls hatte es mehrere Situationen gegeben, in denen er seine Entschlossenheit demonstriert hatte.
Und was seine Beziehung zu Jenn anging … Offensichtlich war das wirklich Schnee von gestern.“ (S. 240)
Da Robert B. Parker 2010, als er „Doppeltes Spiel“ veröffentlicht hatte, verstorben ist, bildet der Roman leider schon das Ende seiner überaus erfolgreichen, mit Tom Selleck in der Hauptrolle auch ebenso ansprechend verfilmten Jesse-Stone-Reihe.
Zum Abschluss kämpft der Chief von Paradise erneut an mehreren Fronten, muss sich mit (ehemaligen?) Gangstern aus Boston und ihren verführungswilligen Frauen herumschlagen, den rachsüchtigen Vater des ersten Todesopfers in Schach halten, den Praktiken einer religiösen Gruppe auf den Grund gehen und sich schließlich darüber klar werden, wie er die Beziehung zu Sunny gestalten soll.
Parker bildet die Handlung überwiegend in knackiger Dialogform ab, so dass sich das Drehbuch zum Roman fast von selbst zu schreiben scheint. Nur gelegentlich werden die Dialoge von kurzen, schnörkellosen inneren Einsichten von Jesse und Sunny sowie gelegentlich nötigen Beschreibungen der Szenen aufgelockert. Parker-Fans freuen sich über das Wiedersehen mit Sunny Randall, der Parker eine eigene Serie gewidmet hat, und mit Susan Silverman, die wir aus der Spenser-Reihe kennen.
„Doppeltes Spiel“ überzeugt durch eine klare, prägnante Sprache, einen trockenen Humor und sympathische Figuren, die für reichlich Aufregung in einem extrem kurzweiligen Roman sorgen. 
 Leseprobe Robert B. Parker "Doppeltes Spiel"

James Lee Burke – (Billy Bob Holland: 3) „Die Glut des Zorns“

Dienstag, 2. August 2016

(Edel:eBooks, 383 S., eBook)
Der ehemalige Texas Ranger und Bundesstaatsanwalt Billy Bob Holland, der in Deaf Smith, Texas, eine kleine Anwaltspraxis unterhält, nimmt die schon vor langer Zeit ausgesprochene Einladung seines Schulfreundes Tobin Voss an und besucht ihn auf unbestimmte Zeit auf dessen Farm im Bitterroot Valley in Montana. Seit Voss bei der Navy gewesen, einer fundamentalistischen Sekte beigetreten, nach Mexiko gegangen ist und sein Medizinstudium absolviert und ein Mädchen aus Montana geheiratet hat, das vor fünf Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, zieht es den Doc immer häufiger auf die Ranch in Montana, wo er sich nun mit seiner siebzehnjährigen Tochter Maisey aufhält.
Billy Bob erfährt, dass vergangene Nacht jemand auf ihr Haus geschossen habe, wahrscheinlich Typen von der Miliz. Kaum wird ein Mann namens Wyatt Dixon aus dem Bezirksgefängnis entlassen, wo er einen Notizzettel mit einem halben Dutzend Namen hinterließ, darunter den von Billy Bob Holland, wird Maisey von drei jungen Männern vergewaltigt. Wenig später wird nicht nur deren vermeintlicher Anführer Lamar Ellison ermordet aufgefunden, sondern auch seine beiden Mitstreiter.
Der Doc gerät ziemlich schnell ins Visier des Sheriffs, und als Holland auf eigene Faust zu ermitteln beginnt, hat er es nicht nur persönlich mit Wyatt Dixon und seinem jungen Begleiter Terry Witherspoon zu tun, sondern macht auch die Bekanntschaft des exzentrischen Schriftstellers Xavier Girard und seiner Frau, der Schauspielerin Holly Girard, sowie des Milizanführers Carl Hinkel und des Gangsters Nicki Molinari. Er lässt sich mit der Ärztin Cleo Lonnigan ein und bekommt unerwartet Besuch von seinem Sohn Lucas und der Privatdetektivin Temple Carrol, zu der sich Holland sehr hingezogen fühlt.
Zu guter Letzt ist die Bundesbehörde ATF mit ihm Spiel, die die Indianerin Sue Lynn als Informantin einsetzt, um herauszufinden, wer für das Attentat im Alfred P. Murrah Building verantwortlich gewesen ist, bei dem etliche ATF-Agenten den Tod gefunden hatten. Der Umgang zwischen all diesen zwielichtigen Gestalten ist von Hass und Gewalt geprägt, und der texanische Anwalt mischt hier munter mit.
Wann immer Billy Bob seine Gewalt nicht zügeln kann und von Gewissensbissen geplagt wird, erscheint ihm der Geist seines Freundes und Texas-Rangers-Kollegen L. Q. Navarro, den er damals bei einem unbefugten Ausritt versehentlich erschossen hatte …
„Das Gesetz hatte in Maiseys Fall versagt; es hatte gegenüber Doc versagt und in gewisser Weise auch bei Sue Lynn Big Medicine. Manchmal musste man die Würfel zinken, sonst wurde man von dem Bösen verzehrt, das die Gesellschaft oder die Regierung aus welchem Grund auch immer dulden.“ (Pos. 5499). 
Neben seiner äußerst populären, mittlerweile zwanzig Bände umfassenden Reihe um den New-Iberia-Detective Dave Robicheaux zählt auch James Lee Burkes Zyklus um den texanischen Anwalt Billy Bob Holland zu den lesenswertesten Glanzlichtern amerikanischer Kriminalliteratur. Im Gegensatz zur Robicheaux-Reihe, bei der allein die Titelfigur als Ich-Erzähler fungiert, werden bei „Die Glut des Zorns“ auch andere Erzählperspektiven zugelassen und beleben so interessante Nebenschauplätze. Ähnlich wie in den Robicheaux-Büchern tummeln sich auch hier eine Vielzahl von schillernden, teils exzentrischen Figuren, und ähnlich wie Billy Bob Holland tappt auch der Leser lange Zeit im Dunkeln, welche Absichten die jeweiligen Persönlichkeiten eigentlich verfolgen.
Burke erweist sich als Meister der interessanten Figurenzeichnung und der pointierten Dialoge, kreiert eine stets brodelnde Atmosphäre aus Schweiß, Blut, Alkohol und Gewalt, streut aber auch immer wieder intime Momente und schöne Landschaftsbeschreibungen ein. Vor allem ist der dritte Billy-Bob-Holland-Band aber eine spannende Tour de Force vor der trügerisch idyllischen Kulisse Montanas.
 Leseprobe James Lee Burke - "Die Glut des Zorns"

Adam Davies – „Froschkönig“

Freitag, 22. Juli 2016

(Diogenes, 384 S., HC)
Statt in die Anwaltskanzlei seines Vaters in Connecticut einzutreten, zieht es Harry Driscoll nach seinem Abschluss an einer Eliteuniversität nach New York, wo er im Verlag Prestige als Assistent im Lektorat strandet. Da seine ihm anvertrauten Projekte wie der „Kalender und Jahrbuch für Marathonläufer“ regelmäßig im Verzug ist, weshalb er bei seinem Chef Andrew Nadler regelmäßig vorsprechen muss. Wie viele seiner oft hochqualifizierten Kollegen sehnt sich Harry nach einer kaum realisierbaren Beförderung zum Lektor und davon, ein eigenes Buch zu schreiben und zu veröffentlichen.
Um mit seinem kümmerlichen Gehalt überhaupt über die Runden zu kommen, hat er sich als illegaler Untermieter in Alphabet City, einem der heruntergekommensten Viertel Manhattans, bei einem Freund eingenistet, der seine Werbejingles ohne Kopfhörer komponiert. Und da er sich keine Bücher leisten kann, hat Harry angefangen, im Wörterbuch zu lesen und sich ungewöhnliche Begriffe zu merken.
Den einzigen Lichtblick in seinem Leben bildet die auch bei Prestige arbeitende Evie Goddard, mit der der Sechsundzwanzigjährige eine leidenschaftliche, auch auf die Liebe zu Buchstaben und Wörtern basierende Beziehung unterhält. Doch weil er die an einer schweren Unterleibserkrankung leidenden Evie nicht sagen kann, dass er sie liebt und zudem eine Affäre mit Judith Krugman unterhält, die bereits ihr eigenes Imprint-Label im Verlag besitzt und durch die er eine bessere Position im Verlagswesen zu ergattern hofft, setzt Harry diese einzigartige Beziehung aufs Spiel.
„Wie habe ich mich verändert? Wie konnte aus so einem Menschen jemand werden, der das einzige existierende Exemplar eines wichtigen Manuskripts verliert, der in eine verachtenswerte Affäre mit einer Frau verwickelt ist, die ihm nichts bedeutet, während die Frau, die er liebt, allein und leidend dahockt und darauf wartet, dass er nach Hause kommt und mit ihr die Kanonenkugel macht?“ (S. 263) 
Mit seinem 2002 veröffentlichten Debütroman „Froschkönig“ ist dem amerikanischen Autor Adam Davies („Goodbye, Lemon“) ein Liebesroman gelungen, der wie sein Ich-Erzähler eigentlich jedes Klischee zu vermeiden sucht, dabei aber selbst nicht ohne auskommt. Allein die Tatsache, dass Harry seine große Liebe durch eine Affäre riskiert, ist fraglos eines der größten Klischees des Genres. Doch Davies gelingt es nicht nur, seinen an sich durch und durch unsympathischen wie unfähigen Protagonisten ansatzweise liebenswürdig und bedauernswert erscheinen zu lassen, sondern auch der im Fokus seiner Geschichte stehenden Love Story einzigartige Aspekte zu verleihen. Das beginnt bei skurrilen Details wie den Fruchtfliegen unter Harrys Bett, setzt sich bei der maßlosen Unfähigkeit in seinem Job fort und gipfelt in seinen verzweifelten Versuchen, es zu Höherem in der Verlagsbranche zu bringen.
Doch bei allem durchaus schwarzen Humor versteht es der Autor, seine Figur eine Läuterung durchmachen zu lassen, die fraglos erstrebenswert, aber nicht unbedingt glaubwürdig ist. Nichtsdestotrotz bietet „Froschkönig“ eine erfrischend andere Liebesgeschichte mit herrlich unkonventionellen Figuren und humorvollen Einblicken in die Verlagsszene.

Daniel Woodrell – „Tomatenrot“

Donnerstag, 21. Juli 2016

(Liebeskind, 222 S., HC)
In dem kleinen Kaff West Table in Missouri zählt der junge Sammy Barlach zum Bodensatz der Gesellschaft. Er jobbt in einer Hundefutterfabrik und versetzt am Freitag seinen Lohn für Alkohol und Drogen, um sich im Laufe des Wochenendes mit irgendwelchen Mädchen abzugeben. Um aus seinem elendigen Leben mehr zu machen, bricht er in von Urlaubern verlassene Villen ein, die ihm noch bewusster machen, dass er ein Versager ist. Bei einem dieser Brüche stößt er auf die neunzehnjährige Jamalee mit ihren kurzen tomatenroten Haaren und ihren etwas jüngeren, hübschen Bruder Jason, bei dem die Frauen in dem Friseursalon, wo er seine Lehre macht, schon immer Schlange stehen. Sammy kommt bei den beiden unter und lernt dabei deren Mutter Bev kennen, die als Escortdame und Polizeispitzel ihr Geld verdient.
Sammy lässt sich auf eine Affäre mit der Frau ein, mag aber auch Jamalee, die nur davon träumt, aus dem miesen Viertel Venus Holler herauszukommen und etwas Großes aus ihrem Leben zu machen. Doch als ihr Bruder Jason tot in einem Teich gefischt wird, scheinen sich die Abgründe ihres Lebens nur noch zu vertiefen.
Um an den Autopsiebericht zu kommen, den der ortsansässige Automechaniker Abbott Dell verfasst hat, setzt Bev ihre legendären Reize ein, doch durch ihre Aktion bringen sie nur den Sheriff und die Mächtigen auf den Plan, die Jasons Tod nur unter den Teppich kehren wollen, um sich wieder ihrem Alltag widmen zu können. Doch so leicht lassen sich Bev, Jam und Sammy nicht einschüchtern …
„So ein Angst einflößendes Gesicht ist alles, was Leute wie ich in dieser anderen Welt vorzuzeigen haben, dieser Welt, die unsere beherrscht, das Einzige, was dort noch ein wenig Autorität vermittelt und irgendwelchen zögerlichen Respekt einheimst. Wenn wir niedrigen Elementen nicht Zähne zeigen und schnell zubeißen, dann sind wir nur weicher, lehmiger Dreck, über den alle jederzeit hinwegtrampeln können, und das würden die auch tun, denn selbst wenn wir Zähne zeigen, ist da schon ein ausgetretener Trampelpfad quer durch unseren Verstand und über unsere Rücken.“ (S. 118) 
Es ist ein tristes Bild, das der aus St. Louis und Kansas City stammende Bestseller-Autor Daniel Woodrell („Winters Knochen“) in seinem bereits 1998 veröffentlichten und ein Jahr später mit dem Preis des amerikanischen P.E.N. ausgezeichneten Romans „Tomatenrot“ zeichnet. Seine zumeist jugendlichen Protagonisten leben am Rand der Gesellschaft und sich voll und schmerzlich bewusst, dass es ihnen nicht vorbestimmt ist, allein durch harte Arbeit zu Ansehen und Wohlstand zu kommen. Stattdessen versinken sie weiter im Sumpf aus Drogen, Sex, Gewalt und Verbrechen.
Allein Jason hätte durch sein blendendes Aussehen etwas aus sich machen können, doch als er feststellt, dass er mit Frauen nichts anfangen kann, und seine Homosexualität entdeckt, ist er schon dem Untergang geweiht.
Vor allem Woodrells Ich-Erzähler Sammy analysiert die trostlose Situation immer wieder mit treffenden Worten und Vergleichen, doch ein Ausweg bleibt ihm ebenso verwehrt wie seinen Freunden, die für ihn für eine kurze Zeit wie eine Familie sind.
„Tomatenrot“ bildet nur eine kurze Episode aus dem unsteten Leben eines gesellschaftlichen Außenseiters, der sich seines Schicksals schmerzhaft bewusst ist und trotzdem verzweifelt versucht, mit den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, sein Gesicht in einer Welt zu wahren, die nur Verachtung für ihn übrig hat.
 Leseprobe Daniel Woodrell - "Tomatenrot"

Lee Child – (Jack Reacher: 18) „Die Gejagten“

Dienstag, 12. Juli 2016

(Blanvalet, 448 S., HC)
Nach seiner aktiven Zeit als Militärpolizist beim 110th MP Special Unit hat Jack Reacher keinen festen Job mehr gehabt und reist meist per Anhalter durch die Staaten und übernachtet in schäbigen Motels. Als er in Nordostecke von Virginia an einem weiteren Motel abgesetzt wird, bekommt er umgehend Besuch von zwei Männern, die ihm den Rat geben, möglichst schnell zu verduften, um einem Kriegsgerichtsverfahren aus dem Weg zu gehen. Doch Reacher lässt sich nicht einschüchtern. Schließlich hat er den langen Weg von South Dakota nach Virginia auf sich genommen, um Major Susan Turner persönlich kennenzulernen, nachdem er ihre Stimme am Telefon als sympathisch und interessant empfunden hatte.
Doch als er seine alte Dienststelle aufsucht, der nun Turner als Kommandeur vorsteht, wird er von Colonel Morgan in Empfang genommen, der ihm mitteilt, dass Major Turner im Militärgefängnis sitzt und er selbst wegen Mordes an dem Kleinkriminellen Juan Rodriguez alias Big Dog angeklagt ist und sich mit dem Umstand anfreunden muss, vor vierzehn Jahren mit Candice Dayton eine Tochter gezeugt zu haben. Und als hätte Reacher nun nicht schon genug Probleme am Hals, wird er nach Buch zehn des United States Code wieder in den Militärdienst einberufen.
Reacher nimmt die Dinge wie gewohnt selbst in die Hand, befreit Turner aus dem Gefängnis und begibt sich mit ihr per Bus und Anhalter auf die Flucht, bis sie den Spieß umzudrehen beginnen und herauszufinden versuchen, wer ein Interesse daran hat, Turner und Reacher aus dem Verkehr zu ziehen. Offensichtlich hängt die Jagd auf Reacher und Turner mit Vorfällen in Afghanistan zusammen, wo Turner gerade zwei ihrer Leute verloren hat. Und Reacher hat auch schon eine Idee, was für Leute hinter der ganzen Sache stecken:
„Sie sind sehr korrekte Leute mit einer Betrugsmasche, die ihnen Unmengen von Geld einbringt. Sie sind bereit, achttausend Meilen entfernt in Afghanistan Straftaten bis hin zum Mord verüben zu lassen, aber daheim vor ihrer Haustür soll alles sauber und ordentlich ablaufen. Sie sind Duzfreunde von Offshore-Bankern, können finanzielle Arrangements in einer Stunde statt in einer Woche treffen, verstehen sich darauf, alte Personalakten jeder Teilstreitkraft zu durchsuchen und zu manipulieren, und haben einen effektiven Schlägertrupp, der ihnen den Rücken freihält. Ich gehe jede Wette ein, dass sie hohe Stabsoffiziere in D.C. sind.“ (S. 173) 
Seit Lee Child 1997 mit seinem Debütroman „Größenwahn“ seinen unorthodoxen Protagonisten Jack Reacher eingeführt hat, sind seine Thriller um den ehemaligen Kommandeur einer Spezialeinheit der Militärpolizei, der seit seinem Ausscheiden aus dem Militärdienst keinem geregelten Job mehr nachgeht, zunehmend erfolgreicher geworden, bis 2012 folgerichtig Band 9 der Reihe – „Sniper“ – mit Tom Cruise in der Hauptrolle unter dem Titel „Jack Reacher“ fürs Kino adaptiert worden ist.
Weitere neun Bände später wird im November 2016 auch Band 18 – „Die Gejagten“ – als Sequel in die Kinos kommen. Da die einzelnen Jack-Reacher-Bände nicht zwingend aufeinander aufbauen und für sich abgeschlossene Fälle thematisieren, ist dies auch gar nicht problematisch. Im Prinzip ist jeder Jack-Reacher-Thriller filmreif, denn Lee Child hat mit dem großen Kraftpaket, der über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn verfügt, eine überaus charismatische Figur geschaffen, der nie aufgibt und sehr analytisch zum Ziel gelangt. Mit diesen Eigenschaften befreit er eben auch die zu Unrecht inhaftierte Susan Turner aus dem Militärgefängnis und macht sich mit ihr auf die Suche nach den Drahtziehern des Komplotts, mit dem die beiden hochrangigen (Ex-)Kommandeure aus dem Verkehr gezogen werden soll. Gerade die Actionszenen sind bereits drehbuchreif geschrieben, die obligatorische Liebes-Beziehung zwischen Reacher und Turner ebenso, aber auch das Katz- und Maus-Spiel zwischen den als Romeo und Julia bezeichneten Auftraggebern, ihrem Aufräumtrupp und den beiden Angeklagten ist temporeich und spannend inszeniert.
Allein bei der Charakterisierung von Reachers mutmaßlicher Tochter schießt Child etwas über das Ziel hinaus. Davon abgesehen bietet „Die Gejagten“ geradlinige Action mit coolen Figuren, die kurzweiligen Lesegenuss garantieren und auf die Verfilmung neugierig machen.
 Leseprobe Lee Child "Die Gejagten"

Donald Ray Pollock – „Die himmlische Tafel“

Freitag, 8. Juli 2016

(Liebeskind, 431 S., HC)
An der Grenze zwischen Georgia und Alabama fristen der Farmer Pearl Jewett und seine drei Söhne Cane, Cob und Chimney ein trostloses Dasein, das ihnen, so das gläubige Familienoberhaupt, im Jenseits mit einem Platz an der himmlischen Tafel vergolten werde. Zu den wenigen erbaulichen Momenten im Leben der Jewett-Söhne zählen die Stunden, in denen Cane, mit dreiundzwanzig Jahren der älteste und bestaussehende Sohn, seinen jüngeren Brüdern aus dem Groschenroman „Das Leben von Bloody Bill Bucket“ vorliest, in dem die kriminellen Machenschaften eines ehemaligen Soldaten der Konföderierten verherrlicht werden.
Als ihr Vater nach all den selbsterwählten Entbehrungen ausgezehrt stirbt, haben die drei Brüder wenig Interesse, das heruntergewirtschaftete Farmland zu bestellen, und machen sich auf den Weg, ihrem Idol Bloody Bill Bucket nachzueifern, der als Bankräuber für Angst und Schrecken gesorgt hatte. Ihr Plan sieht vor, drei Pferde von Major Tardweller zu stehlen, eine Bank um tausend Dollar zu erleichtern und weiter nach Kanada zu ziehen. Nachdem ausgerechnet Cob, der jüngste und beschränkteste Jewett-Spross, Tardweller erschießen muss und die Jewetts-Brüder die ersten Banken überfallen haben, werden auf ihre Köpfe zunehmend höhere Belohnungen ausgesetzt.
Davon weiß Ellworth Fiddler, Farmer im Süden Ohios, nichts, als die drei jungen Männer großzügig für Kost und Logis bezahlen. Für Ellsworth, der durch einen Trickbetrüger all seine Ersparnisse verloren hat und mit seiner Frau Eula noch die Tatsache verarbeiten muss, dass ihr Sohn Eddie wahrscheinlich freiwillig in den Krieg gegen die Deutschen gezogen ist, scheint sich nun das Blatt endlich zum Guten zu wenden, aber der Traum von einem besseren Leben scheint für die Jewetts in immer weitere Ferne zu rücken. Allein Cane scheint zu begreifen, dass sie einem falschen Versprechen hinterherlaufen.
„Er hatte zwar immer gewusst, dass es sich um eine haarsträubende Geschichte handelte, die von jemandem (und vielleicht war Charles Foster Winthrop III. gar nicht sein richtiger Name) aufgeschrieben worden war, der womöglich nicht mehr über das Töten und Bankraub wusste als eine alte Jungfer, die ihr ganzes Leben in einem Zimmer im Haus ihres Vaters verbracht hatte, aber es hatte ihnen Hoffnung geschenkt, wenn es eigentlich keine mehr gab, etwas, wonach man streben konnte, das größer war als das Leben, das sie geführt hatten, selbst wenn es verrückt war zu glauben, dass sie jemals damit durchkommen würden. Wo wären sie jetzt, wenn sie das Buch niemals in dieser vergammelten Reisetasche gefunden hätten?“ (S. 202) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Donald Ray Pollock hat erst im reifen Alter von 45 Jahren seine erste Geschichte veröffentlicht und 2008 mit dem nach seiner Heimatstadt Knockemstiff, Ohio, benannten Kurzgeschichtensammlung international für Aufsehen gesorgt. Drei Jahre später erschien sein Debütroman „Das Handwerk des Teufels“, ein abgründiger Roman um Korruption, religiösen Fanatismus und die verlogene Hoffnung auf Erlösung. Mit diesen Themen beseelt Pollock auch seinen neuen Roman „Die himmlische Tafel“.
Im Mittelpunkt dieses wieder sehr abgründigen Romans stehen zwar vor allem die sehr unterschiedlichen Jewetts-Brüder, die die in einem Groschenroman erzählten Abenteuer eines Gesetzlosen als Inspiration für ihr eigenes Schicksal annehmen, aber Pollock stellt in seinem atmosphärisch dichten, psychologisch tiefgründigen wie schnörkellos geschriebenen Werk auch andere interessante Figuren vor.
Da ist vor allem das Fiddler-Ehepaar, das einem Betrüger auf dem Leim gegangen ist und für das nach dem plötzlichen Verschwinden ihres einzigen Sohnes Cob Jewett eine Art Ersatzsohn wird. Außerdem hat der junge Lieutenant Vincent Bovard nicht nur damit zu kämpfen, dass er von einer Horde Ungebildeter umgeben ist, sondern auch seine homosexuellen Neigungen nicht ausleben kann. Und schließlich wird noch das kleinstädtische Treiben in Meade aus der Sicht des Sanitärinspekteurs Jasper Cone beschrieben, wobei vor allem Einblicke in die häufig auch von Soldaten frequentierte Hurenscheune gewährt werden.
Pollock erweist sich einmal mehr als begnadeter Erzähler, der die Sorgen, Nöte, Träume und Hoffnungen seiner Figuren in einer kompromisslos klaren Sprache beschreibt und ihre zunächst lose aneinandergereihten Schicksale nach und nach geschickt miteinander verzahnt. Auch wenn die wachsende Fangemeinde des spät zum Schreiben berufenen Pollock stets drei, vier Jahre auf ein neues Werk des u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Autors warten muss, wird sie durch die ausgeprägte Klasse seiner Geschichten hundertfach entschädigt.

Anthony McCarten – „Ganz normale Helden“

Sonntag, 3. Juli 2016

(Diogenes, 454 S., HC)
Ein Jahr nach dem Tod ihres jüngsten Kindes Donny liegt die Familie von Renata und Jim Delpy in Trümmern. Da Renata nicht verhindern konnte, ihren geliebten Sohn an den Krebs zu verlieren, versucht sie, jeden der Schritte ihres achtzehnjährigen Sohnes Jeff zu kontrollieren, der daraufhin Reißaus nimmt und sich in die virtuellen Welten von www.lifeoflore.com stürzt, wo er als Mentor und Führer sogenannte Noobs – Neulinge – gegen Bezahlung unter seine Fittiche nimmt. Um seinen Sohn aufzuspüren, begibt sich sein Vater Jim, Gründungs-Partner in der Londoner Kanzlei Delpe, Danby, Roland & Partner, auf für ihn völlig unbekanntes Terrain, erschafft einen eigenen Charakter in dem Spiel und versucht dort, Kontakt zur virtuellen Identität seines Sohnes zu erhalten.
Doch bis dahin ist es ein langer Weg, denn AGI – so Jims Name in dem Online-Rollenspiel, den er sich seiner Steuererklärung (adjusted gross income) entliehen hat – muss erst einige Level abschließen, bevor er in die Sphären vordringen kann, in denen sich Jeff als „Merchant of Menace“ bewegt. Währenddessen chattet Renata in einem Internetforum mit Gott und sucht ebenso Trost wie Rat. Doch während Jim und Renata jeder für sich heimlich online nach ihrem noch lebenden Sohn suchen, verlieren sie zunehmend den Bezug zueinander und verlieren sich in den Verlockungen der virtuellen Welten.
„Aufregend ist es, das muss er zugeben. Kein Wunder, dass Kids stundenlang nicht aus ihrem Zimmer kommen, versunken in die Suche nach Strategien zum Überleben. Dass sie nicht kommen, wenn man sie ruft. Jim versteht nun viel besser, wie schwer es ist, ein solches Spiel mitten in einer Mission zu unterbrechen, gerade wenn es um alles geht, und das nur, um zum Abendessen zu kommen, die Figuren allein in der Gefahr zurücklassen, fast schon Menschen, deren Verschwinden oder Tod man betrauern würde.“ (S. 187) 
Jim findet Gefallen an den Missionen und Kämpfen in LOL, lernt mit Kayla eine aufregende Frau kennen und ist mit sich im Unreinen, ob er mit einer virtuellen Affäre seine Frau betrügen würde. Jim flüchtet aber nicht nur online aus der Krise in der Ehe, er kauft ein sanierungsreifes Landhaus und zieht sich dort immer öfter zurück, um mit dem Bauunternehmer Lance an ihm zu arbeiten. Darunter hat aber nicht nur Jims Arbeit in der Kanzlei zu leiden …
„Ganz normale Helden“ stellt die unmittelbare Fortsetzung des einfühlsamen Romans „Superhelden“ dar, in dem Donald Delpys Kampf gegen den Krebs im Mittelpunkt der Geschichte stand, aber auch die Verwirklichung seines Wunsches, einmal vor seinem Tod mit einer Frau zu schlafen. Um die Verwirklichung von Träumen geht es indirekt auch in der Fortsetzung, in der Donalds und Jeffs Eltern die treibenden Figuren sind. Sie stehen als Eltern eines viel zu früh verstorbenen Sohnes und eines aus dem Elternhaus geflüchteten Achtzehnjährigen vor der großen Herausforderung, ihre Familie an der Trauer nicht zerbrechen zu lassen, ihren noch lebenden Sohn nicht auch noch für immer zu verlieren, aber auch sich selbst nicht zu sehr auseinanderzuleben. McCarten erweist sich einmal mehr als einfühlsamer Erzähler, der seine Figuren verschiedene Stadien der Trauer, Wut, Verzweiflung, Hoffnung, Lust und Flucht durchleben lässt. Vor allem der Eskapismus, den seine Protagonisten betreiben, indem sie in der virtuellen Welt nach Antworten, Hoffnung und Vergebung suchen, ist sehr anschaulich dargestellt. Auch die Durchdringung von virtueller und realer Welt beschreibt McCarten sehr eindringlich, vor allem wenn Jeff seinen Online-Meister Luther im wirklichen Leben kennenlernt und erste homosexuelle Erfahrungen macht.
Dem neuseeländischen Bestseller-Autor („Englischer Harem“) ist mit „Ganz normale Helden“ eine gelungene Fortsetzung seines Meisterwerks „Superhero“ gelungen. Indem er diesmal die Erzählung auf die trauernden, einsamen Eltern fokussiert, fällt sie nicht so humorvoll aus wie der Vorgänger, sondern schildert auf schmerzlich-intensive Weise, wie sich einst Liebende nach einer Tragödie auseinanderleben und ebenso hilf- wie orientierungslos nach Auswegen aus ihrem emotionalen Ausnahmezustand suchen.
 Leseprobe Anthony McCarten - "Ganz normale Helden"

Jack Ketchum – „Jagdtrip“

Sonntag, 26. Juni 2016

(Heyne, 351 S., Tb.)
Seit seiner Zeit in Vietnam ist Lee nicht mehr derselbe. Seine Frau Alma empfindet zunehmend Angst um sich und ihren gemeinsamen fünfjährigen Sohn Lee Jr., weil Lee unter Verfolgungswahn leidet und immer wieder zu plötzlichen Gewaltausbrüchen neigt. Um sich und seine Familie nicht weiter zu gefährden, zieht er sich mit seinem Hund in den Wald zurück, schützt die dort angelegten Marihuana-Pflanzen mit tödlichen Fallen, wie er sie in Vietnam gesehen hat.
Seine Ruhe wird durch einen Trupp Camper gestört, dem der erfolgreiche Schriftsteller Kelsey ebenso angehört wie seine Frau Caroline, seine Geliebte Michelle, sein Agent Alan Walker, sein Freund und weit weniger erfolgreiche Schriftsteller-Kollege Charles Ross und der Fotograf Walter Graham. Mit Zelten, Verpflegung und Gewehren bewaffnet, gehen sie auf die Jagd und werden selbst zu Gejagten, als sie zufällig auf Lees Rauschmittelfeld stoßen.
„Während Lee die Männer beobachtete – durch das Gestrüpp, durch Eschen, die ihm die Sicht nahmen, und durch das Flimmern der Hitze -, verharrte sein Hund mit aufgerichtetem Nackenfell in wachsamer Lauerstellung. Das Sonnenlicht, das durch die Bäume drang, zeichnete Tarnflecken auf ihre Gestalten. Sie waren und sie waren nicht …
Cops, Zivilisten, Soldaten, Vietcong.
Aber wer immer sie waren, sie hatten ihn aufgespürt. Einer von ihnen schoss Fotos. Ein anderer riss einen Zweig ab. Am Ende des Zweiges wuchsen Blätter und Blütenkapseln. Sein Zweig. Seine Blätter. Seine Blütenkapseln. Und damit mischte sich in seine Angst nun auch Ärger.“ (S. 151f.) 
In seinem Vorwort („Was hast du während des Krieges getan, Daddy?“) zu dem ursprünglich 1987 unter dem Titel „Cover“ veröffentlichten Roman „Jagdtrip“, den der Heyne Verlag in seinem Hardcore-Programm nun als deutsche Erstveröffentlichung herausgebracht hat, beschreibt Jack Ketchum ausführlich, wie schwierig es für ihn als Autor, der nicht am Vietnam-Krieg teilgenommen hat, gewesen ist, Erfahrungen von Veteranen glaubwürdig zu schildern, weshalb er viele Bücher zum Thema gelesen, vor allem aber viele Gespräche mit ungewöhnlich erzählfreudigen Veteranen geführt hat. Dadurch ist Ketchum mit „Jagdtrip“ mehr als nur ein konventioneller Horrorroman gelungen, in dem Camper von degenerierten kannibalistischen Waldbewohnern zerstückelt werden, sondern auch eine überraschend tiefgründige Auseinandersetzung mit den Traumata, die viele Soldaten nach ihrer Rückkehr aus Vietnam mit nach Hause brachten.
Vor allem bei Lee hat der Krieg deutliche Spuren hinterlassen, wie seine Erinnerungen an erschütternde Begebenheiten deutlich machen, aber auch sein Kamerad McCann, der den Krieg besser verdaut zu haben scheint und den irgendwann das schlechte Gewissen packt, schildert seine Erlebnisse ebenso wie Kelsey, der seine Erfahrungen auch in seinem Roman „Zweifacher Veteran“ verarbeitet hat.
Besonders einfühlsam ist die wenn auch nur kurz angerissene Beziehung zwischen Lee und seiner Frau beschrieben, die Liebe, aber auch die Angst, die beide miteinander verbindet. Auf der anderen Seite fasziniert die außergewöhnliche Beziehung, die Kelsey zu seiner Frau und seiner Geliebten unterhält.
Ketchum, der bereits so kompromisslose Werke wie „Evil“, „Blutrot“ und „Beutejagd“ abgeliefert hat, lässt sich in „Jadgtrip“ viel Zeit mit der Einführung seiner Figuren, ihren oft traumatischen Erinnerungen und ihren Problemen, und selbst der Jagdausflug beginnt als das Abenteuer, als das es geplant gewesen ist, bevor der Zusammenstoß mit Lee die tragischen Ereignisse erst richtig ins Rollen bringt. Für Horror-Fans, die auch mit Ketchums Werk vertraut sind, mag „Jagdtrip“ vielleicht eine Enttäuschung sein, weil der Roman nicht die billigen Klischees und Mechanismen bedient, die das Genre oft so vorhersehbar machen, aber als psychologisch tiefsinniges Drama überzeugt dieses Frühwerk auf ganzer Linie.
Leseprobe Jack Ketchum - "Jagdtrip"