Richard Laymon – „Das Ufer“

Freitag, 7. Oktober 2016

(Heyne, 576. S., Tb.)
Als sich das Teenagermädchen Leigh West 1969 am Lake Wahconda in den etwa gleichaltrigen Jungen Charlie verliebt, endet ihr erstes Mal tragisch: Charlie stürzt in dem verlassenen Haus, das er für das zärtliche Rendezvous ausgewählt hat, durch den morschen Holzboden und verunglückt dabei tödlich. Bei seiner Beerdigung beschimpfte seine Mutter Edith Payne sie als Hure, die ihren Sohn umgebracht habe.
Mittlerweile ist Leighs Tochter Deana im gleichen Alter wie sie damals und muss ein ganz ähnliches Schicksal erleiden: Bei einem gemeinsamen Ausflug wird ihr Freund Allan an einer Lichtung von einem Auto erfasst und an einem Baum zu Tode gequetscht.
Als sich Officer Mace Harrison des Falls annimmt, machen Leigh und Deana den Cop auf einen schwarzen Wagen in der Nähe ihres Hauses aufmerksam, den Deana für das Tatfahrzeug hält, und auf den temperamentvollen Koch Nelsen, den Leigh vor kurzem entlassen hat und der ein Rachemotiv haben könnte. Leigh lässt sich auf eine Affäre mit dem attraktiven Mace ein und beginnt bald zu ahnen, dass sich hinter der zuvorkommenden und leidenschaftlichen Art ihres Liebhabers mehr verbirgt.
Vor allem Deana kommt der Mann mehr als unheimlich vor.
„Er wirkte benommen, aber seine Augen hatten immer noch diesen wilden Blick, und sein Mund stand auch immer noch offen, als wäre er in Trance. Seine Augenbrauen und die Oberlippe glänzten vor Schweiß.
Mein Gott. Der Kerl sieht echt merkwürdig aus. Was ist mit ihm los?
Mit dem Reden scheint er auch Probleme zu haben. Er musste ewig herumsuchen, bevor er die richtigen Worte fand. Ganz anders als der Mace, den sie bisher kennengelernt hatte.“ (S. 388f.) 
In der Literaturkritik wird Laymons umfangreiches Werk zurecht in übernatürlichen Horror und natürlicher Horror eingeteilt, wobei der 2001 nach einem Herzinfarkt verstorbene Autor gerade in letzterer Kategorie seine eindrucksvollsten Arbeiten präsentierte. Die Zerstörung familiärer Werte und der Sicherheit, die amerikanische Bürger gerade in adretten Vorstadtsiedlungen empfinden, durch den vermeintlich netten Nachbarn thematisiert Laymon auf kompromisslos unbarmherzige Weise, schildert das Foltern und Morden bar jeder inneren Zensur.
Für diese Art von Horror bildet der 2009 posthum erschienene Roman „The Lake“, der durch Heyne Hardcore nun in deutscher Erstveröffentlichung unter dem Titel „Das Ufer“ veröffentlicht wurde, ein Paradebeispiel. Dabei wirkt ein Unfall, der sich vor gut zwei Jahrzehnten an einem idyllischen See ereignet hat, bis in die Gegenwart nach, wobei das weitere familiäre Umfeld zu den damaligen Geschehnissen erst nach und nach ans Tageslicht tritt.
Nach anfänglich etwas wirrer Einführung der beiden Zeitebenen, in denen sich die Romanabhandlung abspielt, gelingt es Laymon, zumindest die innige Mutter-Tochter-Beziehung in seiner gewohnt schlicht gehaltenen Sprache zu charakterisieren. Auch die Beteiligung weiterer Figuren an der nachfolgenden Handlung führt der Autor geschickt aus, wobei er bis zum Ende geschickt offenlässt, wer sich außer dem mutmaßlichen Täter eventuell noch auf der bösen Seite befinden könnte.
Allerdings sind – auch das typisch Laymon – die Charaktere erschreckend flach gezeichnet und zudem scheinbar nur von unerfüllt starkem Paarungstrieb gesteuert. Dabei muss der Leser immer mal über unlogische und auch etwas zähe Handlungsabläufe sowie unschlüssige Figurenkonstellationen hinwegsehen, wird aber für psychologisch geschickt konstruierten Psychohorror mit dem vertrauten Sex- und Gewalt-Mix belohnt, für den Laymon bei seinen Fans so beliebt ist. Dieses Spätwerk des amerikanischen Horror-Meisters zählt zwar nicht zu den besten seiner Arbeiten, bietet aber unterhaltsamen Genre-Stoff, der durch ein kommentiertes Werkverzeichnis von Richard Laymon der im Wilhelm Heyne veröffentlichten Titel ergänzt wird.
Leseprobe Richard Laymon - "Das Ufer"

Donal Ryan – „Die Gesichter der Wahrheit“

Dienstag, 4. Oktober 2016

(Diogenes, 245 S., HC)
Vor zwei Monaten hat der Bauunterunternehmer Pokey Burke in einer irischen Kleinstadt seine Angestellten entlassen und ist über alle Berge getürmt, ohne die Sozialleistungen für seine Leute abgeführt zu haben. Entsprechend mies ist die Stimmung in der Bevölkerung, die auf unfertigen Häusern und unbezahlten Rechnungen sitzt. Um den Frust abzubauen, beschäftigt sich das Meer der Arbeitslosen und unzufriedenen Frauen mit sich selbst, vornehmlich aber mit seinen Nachbarn.
Da werden Affären gesponnen, Missgunst geerntet und Hass gesät. Am Ende wird der gewalttätige Vater von Burkes ehemaligen Vorarbeiter Bobby Mahon tot aufgefunden und sein Sohn mit dem blutigen Holzscheit in der Hand als sein Mörder ausgemacht.
„O Herr, segne und behüte uns, ist es nicht eine Gottschande, dass innerhalb weniger Tage Kinder geraubt und gute Männer in ihrer eigenen Küche totgeschlagen werden und Vergewaltiger freikommen? Und jetzt ist auch noch die Rede davon, dass die Renten gekürzt werden sollen! Ist es nicht eine Beleidigung für Gottes Augen, dass er zusehen muss, wie Menschen ohne Schutz bleiben vor Elend und vor Wahnsinnigen? Was ist überhaupt aus unserem Land geworden?“ (S. 206f.) 
In seinem 2012 erschienenen und nun durch Diogenes in deutscher Übersetzung veröffentlichten Episodenroman „Die Gesichter der Wahrheit“ lässt der aus dem Süden Irlands stammende Bauingenieur, Jurist und Autor in 21 Kapiteln jeweils ausgesuchte Personen in der nicht näher benannten irischen Kleinstadt die Ereignisse rekapitulieren, die seit der Pleite des Bauunternehmers für Unruhe gesorgt hat.
Dabei werden nicht nur allein die wirtschaftlichen Sorgen einzelner Familien thematisiert, sondern vor allem der Blick vom eigenen Elend weg hin zum vermeintlich verabscheuungswürdigen Verhalten der Nachbarn. Munter werden hier Affären ausgeschmückt, Mitbürger diffamiert, sexuelle Gelüste und Frustrationen ersonnen.
Zwar gelingt es Ryan mit seinem Zweitwerk, die vielfältigen Stimmungen in der Kleinstadt einzufangen und durch die jeweiligen Ich-Erzählungen die Atmosphäre aus Neid, Verzweiflung, Hoffnung, Hass und Begehren facettenreich zu beschreiben, aber durch die lockere Aneinanderreihung der kurzen Kapitel kann der Leser stets nur von außen auf die einseitigen Monologe schauen und sich nie wirklich mit einzelnen Figuren identifizieren.
Durch die Kapitel werden die Puzzleteile des wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Niedergangs in der Kleinstadt zwar nach und nach zusammengesetzt, aber eine dramaturgisch sinnvolle Handlung darf der Leser nicht erwarten. Erst in den letzten Kapiteln kommt der Mord an Bobbys alten Herrn und das Verschwinden des Kindes zur Auflösung.
Sprachlich hat Ryan versucht, jeder Figur eine eigene Stimme zu verleihen, was durchaus Abwechslung in den Roman bringt und für ein großes Maß an Authentizität sorgt, aber wirklich fesseln vermag „Die Gesichter der Wahrheit“ nicht.
 Leseprobe Donal Ryan - "Die Gesichter der Wahrheit"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 14) „Schwarzgeld“

Montag, 3. Oktober 2016

(Diogenes, 365 S., Pb.)
Als Lew Archer, Privatdetektiv aus Los Angeles, sich im Süden des Countys in einem noblen Tennisclub mit dem vielleicht zwanzigjährigen Peter Jamieson trifft, beauftragt der fettleibige, irgendwie vorzeitig gealtert erscheinende junge Mann den Ex-Cop mit der Suche nach Virginia (Ginny) Fablon. Sie sei im Begriff, eine große Dummheit zu begehen, wenn sie sich mit Francis Martel einlässt, einem Mann, der sich als französischer Aristokrat ausgibt. Dabei sei die Hochzeit zwischen Peter und Ginny, die zusammen aufgewachsen sind, für den nächsten Monat angesetzt gewesen.
Tatsächlich forscht Archer zunächst in der Vergangenheit des Mannes, der Peters Verlobten so den Kopf verdreht hat, und erfährt, dass sich Martel offensichtlich unter wechselnden Namen bei verschiedenen Universitäten eingeschrieben und bereits vor sieben Jahren für kurze Zeit als Aushilfe in dem hiesigen Tennisclub gearbeitet hatte. Zu jenem Zeitpunkt ist auch Ginnys Vater im Meer ertrunken, nachdem er seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte und seinen Selbstmord zwei Tage zuvor in Gegenwart seiner Frau und Tochter angekündigt hatte.
Archer beginnt im Laufe seiner Ermittlungen aber zunehmend daran zu zweifeln, dass es sich bei diesem Unglücksfall um Selbstmord handelte. Die Spur führt Archer schließlich nach Las Vegas, wo Martel scheinbar eine Menge Schwarzgeld abgezweigt hatte und somit auch weitere Interessenten auf sich aufmerksam machte, so zum Beispiel den mittellosen Fotografen Harry Hendricks und seine betörende wie frustrierte Frau Kitty, die hinter Martels Geld her sind.
„Und dann kam mir der Gedanke, dass Ginny und Kitty, zwei Mädchen aus völlig unterschiedlichen Gegenden der Stadt, letztlich eine Menge gemeinsam hatten. Keine von beiden hatte das Missgeschick der Schönheit unbeschadet überstanden. Es hatte sie zu leblosen Wesen gemacht, Zombies in einer toten, öden Welt, ebenso schmerzlich anzusehen wie eine sinnlose Kreuzigung.“ (S. 309) 
Auch wenn Ross Macdonald (1915 - 1983) hierzulande noch nicht so einen großen Namen besitzt wie seine berühmten Kollegen Raymond Chandler und Dashiell Hammett, sorgt der Diogenes Verlag seit einer Weile mit wundervollen Neuübersetzungen seines Werks dafür, dass der Gewinner des Silver (1964) und des Gold Dagger Award (1965) auch zunehmend deutschsprachige Leser erreicht.
Mit dem sympathischen Privatdetektiv Lew Archer hat Macdonald nämlich eine echte Kultfigur erschaffen, die – wie Donna Leon in ihrem Nachwort erwähnt – „das eigene Handeln nicht weniger als das Verhalten anderer nach moralischen Kriterien bewertet“.
Archer nähert sich seinen Fällen ganz unvoreingenommen, verurteilt niemanden, empfindet Mitleid und sorgt sich vor allem um die Frauen, mit denen er es zu tun bekommt, ohne sich auf Affären mit ihnen einzulassen.
„Schwarzgeld“ ist ein klassischer Kriminalroman, bei dem es zunächst anscheinend nur um das Auffinden einer Person geht, bevor vergangene Ereignisse und in den Fall involvierte Personen in einem anderen Licht erscheinen und weitere Morde aufzuklären sind. Wie viele seiner bereits verfilmten Romane (u.a. als „Familiengeheimnisse“, „Killer aus dem Dunkel“ und „Eine Frau für alle Fälle“ sowie die sechsteilige Fernsehserie „Archer“) liest sich auch „Schwarzgeld“ wie ein Drehbuch zu einem Film. Die Handlung wird vor allem durch die überaus lebendigen Dialoge vorangetrieben. Archer ermittelt durch unzählige Gespräche, die er mit Beteiligten und möglichen Zeugen führt und durch die er sehr schnell herausfindet, mit welchem Typus von Mensch er es zu tun hat. Archers Schlussfolgerungen und Beschreibungen sind dabei in brillant präziser Prosa verfasst, ohne überflüssige Worte, dafür voller schöner Vergleiche, die das Lesen einfach zu einem durchgängigen Vergnügen machen.
 Leseprobe Ross Macdonald - "Schwarzgeld"

Irvine Welsh – „Ein ordentlicher Ritt“

Samstag, 1. Oktober 2016

(Heyne, 448 S., Pb.)
Terry „Juice“ Lawson zählt sicher nicht zu den charmantesten Taxifahrern in Edinburgh. Die anhaltenden Straßenbahnarbeiten nimmt er gern als Ausrede, um mit seinen ahnungslosen Kunden unerhört weite Umwege zu fahren, seine männlichen Kunden schwallt er erbarmungslos in der Hoffnung auf ein sattes Trinkgeld zu, während sich weibliche Kundschaft oft genug mit dem Fahrer zusammen auf dem Rücksitz wiederfindet. Als gelegentlicher Pornodarsteller ist es Terry schließlich gewohnt, sich jedes ihm bietende Loch zu stopfen.
Etwas Abwechslung in seinen Alltag bringt der amerikanische Fernsehstar und einflussreiche Baumagnat Ronald Checker, der Geschäftliches in Schottland zu erledigen hat und Terry gern als Stammfahrer engagieren möchte. Allerdings muss er auch für den Puffbesitzer Victor „die Schwuchtel“ Syme ein Auge auf dessen Schuppen werfen, in dem Kelvin nicht gerade pfleglich mit den Mädchen umgeht.
Unter ihnen zählt vor allem Jinty, die Freundin von Terrys nicht ganz so hellen, aber umso besser bestückten Stiefbruders Jonty, zur besseren Ware. Doch nach einer Hurrikanwarnung für Schottlands Ostküste und einem Zwischenfall im Pub With No Name verschwindet Jinty spurlos. Und Terry muss auf die Schnelle Golf spielen lernen, weil Terry mit einem dänischen Investor um eine seltene Whisky-Flasche ein Doppel angesetzt hat, und sich um seine zwei unehelichen Söhne kümmern. Daneben muss aber eben auch immer Zeit für einen ordentlichen Fick sein.
„Nix gegen einen Fick auf der Rückbank vom Taxi, doch ne schöne Luxussuite is natürlich unschlagbar. Eins habe ich über die Jahre gelernt: Wenn das Schicksal dich wien Pferd bestückt hat, dann musste das verdammt noch mal auch ausnutzen. Und wenns dich außerdem mit ner Zunge so lang wien Schal von Doctor Who beschenkt hat, dann sollteste auch die einsetzen.“ (S. 111) 
Als Autor des erfolgreich von Danny Boyle verfilmten Romans „Trainspotting“ ist der in Schottland geborene und mittlerweile in Chicago lebende Irvine Welsh weltberühmt geworden und hat sich seitdem mit Romanen wie „Drecksau“ und „Porno“ als lautstarke Stimme der Undergroundliteratur etabliert.
Mit „Ein ordentlicher Ritt“ beweist Welsh einmal mehr, dass er ein unnachahmliches Gespür für ausgefallene, um nicht zu sagen eigentlich unsympathische Figuren besitzt, die er jeweils überwiegend als Ich-Erzähler auftreten lässt und dabei auch ihren zunächst gewöhnungsbedürftigen Sprachduktus übernimmt. Besonders interessant gestaltet sich die ungewöhnliche Kombination des ständig herumvögelnden Taxifahrers, Pornodarstellers und Kleinkriminellen Terry Juice und dem selbstgefälligen Ami-Promi, die zu besseren Freunden werden, als man zunächst annehmen dürfte. Die Story entwickelt sich dabei so rasend schnell wie ein wilder Ritt mit Terrys Taxi durch Edinburgh und bringt eine ganze Handvoll interessanter Charaktere zutage, so den ebenfalls als Ich-Erzähler auftretenden Jonty, der als Maler sein Geld verdient und naiverweise davon ausgeht, dass seine hübsche Freundin Jinty als Putzfrau ihren Teil zum gemeinsamen Lebensunterhalt beisteuert.
Wie der Autor den ungewöhnlichen Hurrikan, Terrys Umgang mit seinen familiären Verhältnissen und den unzähligen Frauen in seinem Leben, die Tücken der Jagd nach der begehrten Whisky-Flasche und die Ermittlungen im Fall der verschwundenen Jinty miteinander verknüpft, ist schon virtuos und extrem unterhaltsam, aber eben nichts für zartbesaitete Gemüter.
Wer sich nicht an den ausufernden Sex-Episoden und dem rohen Sprachstil stört, wird mit einem mehr als nur ordentlichen Ritt belohnt.
 Leseprobe Irvine Welsh - "Ein ordentlicher Ritt"

Ethan Hawke – „Hin und weg“

Freitag, 30. September 2016

(Kiepenheuer & Witsch, 207 S., HC)
Als der 20-jährige Schauspieler William Harding in der New Yorker Bar The Bitter End die Sängerin Sarah kennenlernt, verliebt er sich augenblicklich in sie. Sie ist gerade aus Seattle zurück nach New York gekommen, nachdem sie eine dreijährige Beziehung beendet hatte, und hat bislang nur Bücher von schwarzen Autorinnen gelesen.
Sarah liest ihm Gedichte vor, bis sie sich wild küssen, doch sie wehrt sich lange dagegen, mit William zu schlafen, was ihn wiederum ganz verrückt macht. Trotzdem zieht Sarah bei ihm ein, bis ihre eigene Wohnung fertig ist.
Bei einem gemeinsamen Trip nach Paris wird auch die letzte Hürde genommen. Weil William noch für eine Rolle in der Stadt bleibt, sehen sie sich vier Wochen lang nicht, und bei seiner Rückkehr nach New York findet er Sarah völlig entfremdet vor …
„Ich wusste, wenn es mit Sarah nicht klappte, würde es nie mit einer Frau klappen. Ich würde bestimmt als ein kauziges, weinerliches Muttersöhnchen enden, das sich in der Ecke einen runterholte. Ich wünschte, ich wäre bei meinem Vater aufgewachsen. Offensichtlich hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie Männer sich zu verhalten hatten.“ (S. 144) 
Als Hauptdarsteller in Filmen wie „Reality Bites – Voll das Leben“, „Der Club der toten Dichter“, „Before Sunrise“ und „Schnee, der auf Zedern fällt“ hat es der amerikanische Schauspieler Ethan Hawke zu internationaler Anerkennung gebracht. Dass er allerdings auch herzerweichend schreiben kann, bewies er 1996 mit seinem Debütroman „Hin und weg“, auf den 2002 „Aschermittwoch“ und in diesem Jahr „Regeln für einen Ritter“ folgten.
Aus der Perspektive seines Ich-Erzählers William beschreibt der Schauspieler-Autor einfühlsam all die widersprüchlichsten Gefühle, die mit einer ersten großen Liebe verbunden sind, eine Achterbahnfahrt zwischen unvorstellbarem Begehren und niederschmetternden Ängsten vor Zurückweisung.
In lebendigen Dialogen und melancholisch angehauchten Monologen fächert der leidenschaftliche Twen das ganze Spektrum der alles verzehrenden Liebe und Leidenschaft auf, die nur für eine sehr kurze Zeit die volle Erfüllung finden. Was „Hin und weg“ besonders lesenswert macht, sind die erst leisen, dann lauter werdenden Zweifel an der glücklichen Entwicklung der Beziehung, die Streitgespräche, die die jeweiligen Ängste so treffend zum Ausdruck bringen, Williams immer wieder eingestreuten Erinnerungen an seine frühere Freundin Samantha und die Zeit mit seinen Eltern und seinem Freund Decker.
Ethan Hawke gelingt es, auf gerade mal 200 Seiten das ganze Panoptikum der Liebe in all ihren schillernden Facetten zu beschreiben, und zwar so, als würde der Leser selbst noch einmal die lust- und schmerzvollen Erinnerungen an die eigene erste Liebe wiederentdecken.

Patricia Cornwell – (Kay Scarpetta: 23) „Paranoia“

Dienstag, 27. September 2016

(Hoffmann und Campe, 494 S., HC)
Dr. Kay Scarpetta wurde in den Neunzigern Chief Medical Examiner in Virginia und Vormund ihrer damals zehnjährigen Nichte Lucy Farinelli, die beruflich zunächst eine Laufbahn beim FBI einschlug, bevor sie zum ATF (Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms) wechselte und ihre eigene forensische Computerfirma gründete.
Mittlerweile arbeitet die 35-Jährige mit ihrem Technologieunternehmen eng mit dem Institut ihrer Tante zusammen, dem Cambridge Forensic Center (CFC). Doch als Scarpetta mit der denkmalgeschützten Villa an der Grenze zum Campus von Harvard einen Tatort aufsucht, wo die halbnackte Leiche der 37-jährigen Chanel Gilbert von der Haushälterin entdeckt worden ist, gerät die Beziehung zu ihrer Cousine ins Wanken, als sie ein Video auf ihr Handy gesendet bekommt, das das Wohnzimmer der FBI-Akademie zeigt, wo Lucy vor über fünfzehn Jahren ihr Praktikum absolviert hat.
Das Video wurde – wie der Vorspann verrät – scheinbar von der Kriminellen Carrie Grethen im Juli 1997 gedreht, die vor dreizehn Jahren bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen sein soll. Dass Lucy mit Carrie eine Beziehung hatte, erfüllt Scarpetta mit Besorgnis, denn offensichtlich hat Carrie mit der Videobotschaft mehr vor, als ihren Empfänger in Angst und Schrecken zu versetzen.
Auf jeden Fall kann die Forensikerin weder ihren Mann, FBI-Agent Benton Wesley, noch ihren Kollegen Pete Marino in das einweihen, was die Videobotschaften, die sich nach dem Abspielen automatisch löschen, präsentieren. Denn demnach hätten sowohl Lucy als auch Benton gegen das bundesweite Schusswaffengesetz verstoßen. Während Scarpetta mit ihren Kollegen von der Polizei zu enträtseln versucht, wie Chanel Gilbert zu Tode gekommen ist, durchsucht das FBI Lucys Anwesen.
Wie sich im Laufe des Tages herausstellt, scheint die tot geglaubte Carrie einen perfiden Plan zu verfolgen, sich sowohl an Lucy als auch an Scarpetta zu rächen. Und Scarpetta fragt sich allmählich, wem sie noch trauen kann …
„Wir sind es gewohnt, Geheimnisse für uns zu behalten. Manchmal lügen wir. Vielleicht führen wir einander bewusst in die Irre, indem wir Dinge absichtlich unter den Tisch fallen lassen, weil unser Beruf das verlangt. In Momenten wie diesem, während ein Helikopter des FBI über unseren Köpfen dröhnt und Agents das Anwesen meiner Nichte durchsuchen, frage ich mich, ob es das alles wert ist.“ (S. 149) 
1990 hat die ehemalige Polizei-Reporterin Patricia Cornwell mit der Figur der Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta eine der langlebigsten Figuren der modernen Krimigeschichte geschaffen und damit in den Anfangsjahren renommierte Preise wie den Gold Dagger oder Edgar Allan Poe Award einheimsen können. Mit ihrem bereits 23. Band der Reihe kann die in Miami geborene Autorin allerdings nicht mehr an ihre frühere Glanzzeit anknüpfen. Das liegt vor allem an dem sperrigen Plot, mit dem Cornwell kaum Spannung aufbauen kann. Die Handlung des mit 500 Seiten viel zu langen Romans beschränkt sich nur auf Lucys Anwesen und das Gilbert-Anwesen, wobei Scarpetta als Ich-Erzählerin in langatmigen Monologen ihre Erinnerungen an Lucys Werdegang und einen fast tödlich endenden Tauchervorfall rekapituliert, bei dem die Psychopathin Carrie Grethen Scarpettas Bein mit einer Harpune durchbohrt hatte.
Allerdings gelingt es Cornwell nicht, die beiden Schauplätze und die jeweiligen Handlungsstränge stimmig miteinander zu verbinden. Stattdessen wird eigentlich alles in Frage gestellt, an das sich Scarpetta erinnern und wem sie wirklich trauen kann. Erst im Finale türmen kommen weitere Leichen ins Spiel, doch werden die Vorfälle nur beiläufig erwähnt. Cornwell hält sich leider viel zu lange mit den ominösen Videobotschaften auf und langweilt ihre Leser mit nichtssagenden Spekulationen, Gefühlsregungen, Verdachtsmomenten und zunehmend in Frage gestellten Erinnerungen, so dass die Spannung vollkommen auf der Strecke bleibt.

Joe R. Lansdale – „Der Gott der Klinge“

Samstag, 24. September 2016

(Heyne, 400 S., Tb.)
Seit Becky Jones in ihrem eigenen Zuhause vergewaltigt worden ist, plagen sie schlimme Alpträume. Ihr Psychiater schlägt einen Tapetenwechsel vor, also fährt sie mit ihrem Mann Montgomery mit dem VW Golf in das abgelegen in einem Kiefernforst stehende Ferienhaus des befreundeten Paares Dean und Eva, doch auch hier verfolgen Becky düstere Visionen, in denen sie den Tod ihres Schänders Clyde erlebte.
Wenig später erhält sie die Nachricht, dass sich Clyde Edson tatsächlich wie in ihren Träumen im Gefängnis erhängt hat. Doch Becky und Monty kommen auch in dem idyllischen Blockhaus nicht zur Ruhe, denn längst haben sich Brian Blackwood und die anderen an Beckys Vergewaltigung beteiligten Männer in ihrem schwarzen 66er Chevy auf den Weg gemacht, Rache für den Tod ihres Anführers zu nehmen, wobei sie eine Spur von Toten hinter sich herziehen.
„Es ärgerte ihn, dass er diesen Highway-Cop nicht selbst umgelegt hatte – aber das war unvermeidbar gewesen, schließlich hatte Loony Tunes die Flinte gehabt, und das war nur gerecht. Trotzdem hob es kaum seine Laune, einem toten Cop in die Eier zu treten, es stillte nicht seinen Drang zu töten; ständig juckte es ihn (danke, Clyde, für dieses Ekzem, denn es ist ein gutes Gefühl, sich dort zu kratzen).
Schon bald, morgen Nacht, würde er wieder daran kratzen. Er hatte zwei Morde geplant – nun, um genau zu sein: Exekutionen. Doch bevor diese Exekutionen über die Bühne gingen, würden die Opfer spüren, was Todesangst ist.“ (S. 87f.) 
1987 erschien in den USA die Originalausgabe von „Nightrunners“ und avancierte bald zu einem modernen Klassiker der Horror-Literatur, der sogar mit einer eigenen Anthologie-Sammlung gehuldigt worden ist. Im Laufe der Zeit hat Lansdale verschiedene Kurzgeschichten über den „Gott der Klinge“ verfasst, der im Roman eigentlich nur kurz in Erscheinung tritt und für das übernatürliche Element in ihm verantwortlich zeichnet.
Zum 20-jährigen Jubiläum ist dieses Frühwerk des mittlerweile prominenten texanischen Autors, dessen Werk hierzulande bei Heyne, Suhrkamp und Golkonda verlegt wird, nicht nur neu übersetzt, sondern um sechs mehr oder weniger kurze Geschichten aus dem „Gott der Klinge“-Universum ergänzt worden.
Der Roman „Nightrunners“ bedient sich dabei ausgiebig vertrauter Motive des „Rape & Revenge“-Genres und wie schon Lansdales „Drive-in“-Trilogie auch der modernen Filmgeschichte. Dabei zählt „Nightrunners“ mit Sicherheit nicht zu Lansdales besten Werken, auch wenn Dean Koontz in seinem überschwänglichen Vorwort zum Roman betont, dass dieser vor ungezähmter Kraft und Originalität strotzt. Tatsächlich gelingt es Lansdale, seinen Figuren Tiefe zu verleihen, selbst den in der Regel eindimensional gezeichneten Bösewichten, die die Nightrunners darstellen. Zudem sorgt ein großes Maß an brutaler Härte, dass Fans von Richard Laymon und Jack Ketchum sicher auf ihre Kosten kommen. Allerdings mangelt es zumindest dem Roman an erzählerischer Stringenz.
In dieser Hinsicht können die nachfolgenden Kurzgeschichten, denen der Autor jeweils einleitende Worte voranstellt, größtenteils mehr überzeugen, beispielsweise „Der Gott der Klinge“, wo ein Antiquitätenhändler im Keller eines fremden Hauses eine mehr als unerfreuliche Begegnung mit einem jungen Mann und dessen Rasiermesser hat, oder „König der Schatten“, wo sich Leroy mit der Tatsache anfreunden muss, auf einmal den elfjährigen Draighton als kleinen Bruder vorgesetzt zu bekommen, der den gewalttätigen Tod seiner Eltern überraschend gut verkraftet hat …
Auch wenn „Der Gott der Klinge“ noch weit entfernt von Lansdales späterer Klasse als Geschichtenerzähler ist, hat der geradlinige, düstere Horror dieses Frühwerks stellenweise durchaus seinen Reiz.

Gunther Reinhardt – „Twin Peaks. 100 Seiten“

(Reclam, 101 S., Tb.)
In der letzten Episode der zweiten Staffel von „Twin Peaks“, die am 10. Juni 1991 ausgestrahlt wurde, versprach die zu Beginn der Serie ermordete Laura Palmer in einer für ihren Schöpfer David Lynch typischen surrealen Traumsequenz Agent Cooper, dass sie ihn in 25 Jahren wiedersehen würde. Nachdem die zwischen 1990 und 1991 vom renommierten und preisgekrönten Autorenfilmer David Lynch („Blue Velvet“, „Wild at Heart“) in Gemeinschaftsarbeit mit dem routinierten Fernsehautoren Mark Frost („Hill Street Blues“) entwickelte Serie zunächst die Fernsehlandschaft für immer verändern sollte und nach zwei Staffeln vom ausstrahlenden Sender ABC abgesetzt worden ist, dürfen sich „Twin Peaks“-Fans Anfang 2017 – also nur wenig später als Laura Palmer prophezeit hatte – auf ein Wiedersehen mit den meisten Stars des außergewöhnlichen Serienformats freuen.
Vor diesem Hintergrund erscheint der in der bemerkenswerten „100 Seiten“-Reihe des Reclam-Verlags veröffentlichte Band „Twin Peaks“ zur rechten Zeit. Der Kulturjournalist Gunther Reinhardt beschreibt, wie „Twin Peaks“ Qualität ins verruchte Fernsehen brachte und mit seinem Mix aus Drama, Mystery, Krimi und Soap-Opera Vorbild für Serienformate des Qualitätsfernsehens wurde, wie es uns heute in ebenfalls von namhaften Filmemachern wie Martin Scorsese, David Fincher oder Steven Soderbergh produzierten Serien („Boardwalk Empire“, „House of Cards“, „The Knick“) präsentiert wird.
Auf gerade mal 100 Seiten gelingt es Reinhardt, die Entstehungsgeschichte der Serie und ihre so unterschiedlichen Schöpfer vorzustellen, zentrale Handlungsmotive und Figuren nachzuzeichnen, die narrativen Besonderheiten darzustellen und schließlich die außergewöhnliche Ästhetik zu analysieren, die sich aus Elementen der Psychoanalyse, des Surrealismus, aus Musik und Kunst zusammensetzt.
„Lynch entzieht sich konventionellen narrativen Mustern, lässt das Unbewusste Bilder und Szenen erschaffen, surreale Welten entstehen, hat nichts für die Regeln des Handlungskinos und dessen dramaturgische Vorschriften übrig. Seine Arbeiten gleichen – und das gilt ganz besonders für Twin Peaks – Labyrinthen der Imagination.“ (S. 70f.)
Der Autor rekapituliert, wie sich die Frage nach Laura Palmers Mörder zu einem regelrechten Medienhype entwickelt und zum Ende der ersten Staffel mit einer Vielzahl von Cliffhangern bis zur Mitte der zweiten Staffel gedulden muss, beantwortet zu werden.
Doch gerade mit der Bekanntgabe des Mörders verliert die Serie an Qualität und Einschaltquoten. Nichtsdestotrotz realisierte Lynch mit „Twin Peaks – Fire Walk With Me“ 1992 einen Kinofilm, der als Chronik der letzten Tage im Leben von Laura Palmer ein Prequel zur Serie darstellt, das allerdings bei Publikum und Kritikern durchfiel.
Interessant zu lesen sind vor allem die Verweise auf Lynchs Inspirationen, die er aus Hard-boiled- und Film-noir-Filmen bezog, und die Art und Weise, wie er die Figuren als Gegenentwürfe zueinander anlegt, wie sich hinter der Idylle der Kleinstadt lauter dysfunktionale Familien und dunkle Geheimnisse verbergen, deren Enthüllung einen großen Reiz der Serie ausmacht.
Abgerundet wird die Abhandlung mit einem Ausflug an die Drehorte und mit der Zusammenarbeit zwischen Lynch und dem Komponisten Angelo Badalamenti, der mit seiner verträumt-ätherischen Musik maßgeblich mitverantwortlich für die surreale Atmosphäre der Serie ist.
Im Rückblick lässt sich dabei sehr schön nachvollziehen, wie „Twin Peaks“ den Grundstein für hochqualitative Serien wie „Dexter“, „Breaking Bad“, „House of Cards“ und „Homeland“ gelegt hat, die sich mit renommierten Regisseuren, Drehbuchautoren und Oscar-prämierten Darstellern keineswegs vor dem Kinoformat verstecken müssen.
Gunther Reinhardt macht mit seinem kurzweiligen Band „Twin Peaks“ wirklich Lust darauf, sich noch einmal nan diesen geheimnisvollen Ort zu begeben und all die vielschichtigen Kleinigkeiten immer wieder neu zu entdecken, die einem zuvor noch nicht aufgefallen sind.
Leseprobe Gunther Reinhardt - "Twin Peaks"

Dietmar Dath – „Superhelden. 100 Seiten“

(Reclam, 101 S., Tb.)
Die Zeiten, in denen Superhelden wie Superman, Batman, Green Lantern, Spider-Man, Hulk oder die X-Men allein in Comics ihre Abenteuer erlebten und von zumeist kindlichen und jugendlichen Lesern verfolgt wurden, sind längst vorbei. Mittlerweile sind die Comichelden nicht nur erwachsen geworden, mehrfach in Rente gegangen, sind gestorben, haben geheiratet und sind immer wieder reaktiviert worden, sondern sie haben vor allem den kommerziell äußerst lukrativen Filmmarkt für sich erobert, wo sie unerschöpflich in Serie gehen, Spin-offs, Remakes und Reboots produzieren und dabei eben auch von Erwachsenen gefeiert werden.
Was es mit diesem Phänomen der Comic-Begeisterung auf sich hat, die mit der Gründung der beiden führenden Comic-Verlage DC (1934) und Marvel (1939) ihren bis heute ungebrochenen Siegeszug feiert, untersucht Dietmar Dath in dem kleinen Band „Superhelden“, der im Rahmen der neuen „100 Seiten“-Reihe des Stuttgarter Reclam-Verlags erschienen ist.
Ausgehend von seiner ganz persönlichen Geschichte findet der Autor schnell den Weg zu den theoretischen und psychologischen Grundlagen der Comic-Geschichte.
„Was Kindern eine Wahrheit der Hoffnung darauf bedeutet, wer sie einmal werden können, ist für erwachsene Leserinnen und Leser solcher Comics aber zugleich ein großes Gleichnis auf das Subjekt-Selbstempfinden moderner Menschen allgemein: Weil ihr öffentliches Wesen rechtlich und politisch allen anderen gleichgestellt ist, also ‚nichts Besonderes‘ mehr, nicht von Geburt an wichtig wie bei den Adligen der vormodernen Zeit (deren Wappen in den Insignien der Superhelden, dem großen ‚S‘ oder der Fledermaus-Ikone weiterleben), müssen sie umso mehr Wert auf ihr reiches Innenleben legen.“ (S. 3) 
Dath legt keine chronische Comic-Geschichte vor, sondern nutzt den eng gesetzten 100-Seiten-Rahmen für eine von Beginn an tiefgehende strukturelle Analyse. Am Beispiel der von Chris Claremont kreierten „X-Men“ zeigt der Autor auf, dass beim Lesen von Comics „menschliche Kleinigkeiten im Vergrößerungsglas von Heldengeschichten“ (S. 8) Abenteuer erlebt werden, die Menschen von ihren besten und schlimmsten Seiten zeigen, dass darüber hinaus die Fähigkeit vonnöten ist, Figuren und Charaktere schaffen zu können, ihre ebenso einprägsamen Typenzüge wie etwas unverletzlich Eigenes.
Anhand der beiden DC-Flagschiffe Batman und Superman stellt Dath die beiden Extreme des Superhelden-Universums vor, den Self-Made-Hero auf der einen Seite, das Götterkind auf der anderen. Es folgt ein längerer, etwas übertheoretisierter Exkurs über die Entwicklung von der Romantik zur Science-Fiction, dann über die beiden „Zeitalter“ des Superheldenwesens, das Golden Age und das Silver Age, das im Kern von vielen als identisch mit dem von „Spider-Man“-Schöpfer Stan Lee forcierten „Marvel Age“ angesehen wird.
Im Zweiten Teil des Bandes stellt Dath einige Prototypen des Superheld(in)en-Universums vor, Iron Man, Wonder Woman, am Ende folgt ein stippvisitenartiger Streifzug durch die vielen Kino-Adaptionen.
Wie für die „100 Seiten“-Bände über „David Bowie“ und „Twin Peaks“ gilt vor allem für „Superhelden“, dass der Leser zum besseren Verständnis etwas Vorwissen und Erfahrungen mit dem Thema mitbringen sollte, denn sonst liest sich „Superhelden“ als sehr Theorie-lastige Auseinandersetzung mit den Schlüsselelementen verschiedener Superhelden-Schöpfungen und ihrer jeweiligen Charakteristika.
So ist das Büchlein weniger als Einstieg in die Thematik zu empfehlen, sondern als sinnstiftende Ergänzung zu beispielsweise „Superhelden. Das Handbuch“ (Lacombe/Perez), „75 Years of DC Comics“ (Levitz) oder „75 Years of Marvel Comics“ (Thomas).
 Leseprobe Dietmar Dath - "Superhelden"

Frank Kelleter – „David Bowie. 100 Seiten“

Mittwoch, 21. September 2016

(Reclam, 102 S., Tb.)
Als Kind der 80er Jahre fand meine erste Begegnung mit David Bowie anlässlich des Films „Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (1981) statt, wozu David Bowie den Soundtrack beigesteuert hat. Anschließend ließ mich sein Hit-Album „Let’s Dance“ (1983) aufhorchen, aber danach verlor ich Bowie zwar nicht aus den Augen, ich sehnte allerdings nicht jedes neue Album von ihm herbei. Dennoch genügten mir Alben wie „Heroes“, „Earthling“, „Heathen“ und zuletzt „Black Star“, um den Engländer als gesamtkünstlerisch bedeutsames und sich immer wieder neu erfindendes Chamäleon zu bewundern, dessen Tod mich Anfang des Jahres durchaus traurig machte.
Ich bezweifle, dass es nach ihm noch ähnlich produktive wie vielseitige und dabei so tiefgründige Künstler wie ihn in der Musikszene geben wird. In der gerade vom renommierten Reclam-Verlag gestarteten Reihe „100 Seiten“, die kompakt, unterhaltsam und vor allem auch persönlich zu aktuellen Themen aus Geschichte, Kultur, Naturwissenschaft und Gesellschaft informieren möchte, berichtet Frank Kelleter von seinem ganz persönlichen Bezug zu Bowies Leben und Werk. Der am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin lehrende Autor erzählt davon, wie er im Alter von zwölf Jahren Bowies „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“ erstand, und beschreibt ausführlich die einzelnen Songs, die „Zitate und Versatzstücke verschiedener Stilrichtungen in einer erstaunlich stimmigen Pop-Textur“ (S. 10) verweben.
Dabei geht es nicht allein um musiktheoretische Analysen, sondern auch um die Bedeutung der Texte, den Umgang mit den Medien, das Spiel mit der sexuellen Identität. Die ausführliche Auseinandersetzung mit diesem Album steht nur exemplarisch für die Vielfalt der Ansätze, mit denen sich Bowies Werk angenähert werden kann.
In der Folge setzt sich Kelleter mit Bowies Figuren wie Major Tom, Ziggy Stardust und den Thin White Duke im Kontext multimedialer Reflexion über das Verschwinden und Auftauchen im Pop auseinander, skizziert seine vielfältigen Rollenwechsel und Körperinszenierungen in seinen Videos, Filmen und Fotos und wirft einen Blick auf Bowies Produktionsprozesse, wobei die Zusammenarbeit mit Brian Eno und David Lynch besondere Aufmerksamkeit verdient.
„In der Popmusik der 1970er und 1990er Jahre nimmt David Bowie eine einzigartige Stellung ein. Ohne dass sein Publikum sich für eine dieser Rollen entscheiden müsste, kann es ihn gleichzeitig als brillanten Unterhaltungskünstler und als avantgardistischen Experimentator wahrnehmen.“ (S. 50) 
Auf 100 Seiten lässt sich ein popkulturelles Phänomen wie David Bowie natürlich nicht umfassend beleuchten. Dafür stehen diverse andere Biografien zur Verfügung. Doch selbst Bowie-Fans, die bereits einiges an Literatur über ihren Star gelesen haben, dürften in diesem interessant mit einer informativen Chronik und Fotos illustrierten Reclam-Bändchen einiges an Wissenswertem und Hintergründigem erfahren.
Kelleter gelingt es, aus seiner ganz persönlichen Beziehung zu Bowies Schaffen charakteristische Grundzüge in den Werken des Pop-Chamäleons herauszuarbeiten, und bietet so auch für Leser, die noch nicht so vertraut mit Bowies umfangreichen Output sind, Anreize, tiefer in die Materie einzusteigen.
 Leseprobe Frank Kelleter - "David Bowie"

Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 1) „Der Knochenjäger“

Samstag, 17. September 2016

(Blanvalet, 576 S., Tb.)
Die Anfang dreißigjährige Streifenpolizistin Amelia Sachs wird aufgrund eines anonymen Anrufs von der Zentrale zur Siebenunddreißigsten, Nähe Eleventh Avenue, geschickt, wo sie die Suche nach Hinweisen auf das gemeldete Verbrechen schon wieder abbrechen will, als sie an den Bahngleisen eine aus dem Boden ragende Hand entdeckt. Dem Ringfinger wurde sämtliches Fleisch entfernt und dafür ein Damenring aufgesetzt. Sachs sichert weiträumig den Tatort und erweckt dadurch das Interesse des brillanten Forensikers Lincoln Rhyme, der nach einem Unfall im Einsatz vor dreieinhalb Jahren querschnittsgelähmt ist und seither nur noch Kopf, Schultern und ein wenig den Ringfinger seiner linken Hand bewegen kann.
Obwohl er nicht mehr aktiv im Dienst ist, wird er von seinen Kollegen der New Yorker Polizeibehörde immer wieder um Hilfe bei den Ermittlungen gebeten. Als Detective Lon Sellitto und sein junger Kollegen Jerry Banks den Kriminalisten mit den bisherigen Fakten vertraut machen, sträubt sich Rhyme zunächst, da er eher damit beschäftigt ist, mit Dr. Berger einen Termin zur Beendigung seines Lebens zu finden.
Doch nachdem Rhyme sich mit dem Untersuchungsbericht auseinandergesetzt hat, spürt er den intellektuellen Kitzel, den er Zeit seines Lebens bei der Tatortanalyse empfunden hat. Obwohl Sachs gerade dabei ist, ihren Dienst bei der Pressestelle anzutreten, wird sie von Rhyme zur Besichtigung des wohl nächsten Tatorts verpflichtet, wo das nächste Opfer des „Unbekannten Nummer 238“ vermutet wird. Zwar kann Sachs das Leben der entführten Frau nicht mehr retten, aber die von ihr gesicherten Spuren weisen Rhyme darauf hin, dass der Täter sich offensichtlich gut mit dem Buch „Berühmte Kriminalfälle im alten New York“ und Lincoln Rhymes eigenen Werk „Tatorte“ auskennt.
Die erzwungene Zusammenarbeit zwischen Rhyme und Sachs gestaltet sich anfangs schwierig, doch Sachs beginnt sich zunehmend für die Arbeit an Tatorten zu faszinieren.
„Sie dachte an das Locardsche Prinzip: Wenn Menschen miteinander in Berührung kommen, gibt jeder irgend etwas an den anderen weiter. Etwas Großes, oder auch nur eine Kleinigkeit. Höchstwahrscheinlich wussten die meisten nicht einmal, was.
War auch etwas vom Unbekannten Nummer 238 auf dieses Blatt gelangt? Eine Hautzelle? Ein Schweißtropfen? Es war ein faszinierender Gedanke. Atemberaubend, spannend, furchterregend, so als wäre der Mörder hier in diesem winzigen, stickigen Raum.“ (S. 279) 
Es ist ein ungewöhnliches Paar, das der amerikanische Schriftsteller Jeffery Deaver mit seinem 1997 initiierten Startschuss für die bis heute erfolgreiche Reihe um den querschnittsgelähmten Kriminalisten Lincoln Rhyme und seine junge Assistentin Amelia Sachs etabliert hat. Die ungewöhnliche Kombination eines brillanten, aber des Lebens müden Star-Forensikers, der immer wieder von seinen alten Polizeikollegen um Mithilfe bei vertrackten Fällen gebeten wird, und einer wunderschönen Streifenpolizistin, die sich wegen ihrer Arthritis zur Pressestelle hat versetzen lassen und zuvor auf eine Karriere als Mannequin verweisen kann, bietet schon auf persönlicher Ebene starkes Potenzial, das in „Der Knochenjäger“ allerdings erst angedeutet wird.
Im Mittelpunkt steht nämlich vor allem die Tatortanalyse, das systematische Absuchen des Tatorts, das sorgfältige Sammeln der Spuren und ihre Ausweitung anhand von allerlei Datenbanken, mit denen beispielsweise Bodenproben zugeordnet werden können. Die oftmals sehr detailliert beschriebenen Analysen tun der Spannung allerdings überhaupt keinen Abbruch, sondern machen deutlich, wie wichtig diese akribische Arbeit ist, um dem Täter auf die Spur zu kommen.
Die persönlichen Tragödien, die Rhyme und Sachs jeweils durchmachen mussten, werden später auch ausführlicher thematisiert, als sich die beiden ungleichen Ermittler näherkommen, und bieten so den soliden Grundstein für viele weitere Fälle, an denen das charismatische Team bis heute arbeiten darf.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Knochenjäger"

Lee Child – (Jack Reacher: 2) „Ausgeliefert“

Sonntag, 11. September 2016

(Heyne, 510 S., Tb.)
Jack Reacher, ehemaliger Kommandant bei der Militärpolizei und seit dreizehn Monaten ohne festen Job und Plan für seine Zukunft, hält sich am letzten Tag im Juni gerade in Chicago auf, als er vor einer Reinigung einer gehbehinderten Frau zur Hilfe kommt und einen Augenblick darauf eine 9mm-Automatik-Pistole auf seiner alten Narbe spürt. Und schon wird er zusammen mit der ihm unbekannten Frau in eine Limousine gestoßen und in ein über tausendsiebenhundert Meilen entferntes Versteck gefahren.
Wie Reacher während der langen Fahrt herausfindet, handelt es sich bei der Frau um die gut dreißigjährige FBI-Beamtin Holly Johnson, Tochter des Vorsitzendes der Vereinigten Stabschefs. Als Holly nicht wie geplant zur angesetzten Budget-Sitzung erscheint, alarmiert Agent-in-Charge McGrath FBI-Direktor Harland Webster, der sofort ein Team zusammentrommeln lässt, um Holly Johnson aufzufinden.
Tatsächlich gelingt es den beiden Agenten Brogan und Milosevic schnell, eine Spur zur Limousine und zum Lieferwagen zu finden, mit denen die Geiseln offensichtlich nach Montana verschleppt worden sind. Dort hält sich in den Wäldern eine perfekt ausgestattete Miliz auf, die nicht nur einen unabhängigen Staat anstrebt, sondern der jetzigen Regierung einen gehörigen Denkzettel verpassen will. Doch dabei haben sie die Rechnung ohne den hochdekorierten Reacher gemacht …
„Alles hatte sich geändert. Er hatte sich geändert. Er lag da und spürte die kalte Wut in sich, mahlend wie Zahnräder. Kalte, unversöhnliche Wut. Unkontrollierbar. Sie hatten einen Fehler gemacht. Sie hatten ihn vom Zuschauer zu einem Feind verwandelt. Ein schlimmer Fehler. Sie hatten die verbotene Tür aufgestoßen, nicht wissend, was da herausplatzen konnte. Er lag da und fühlte sich wie eine tickende Bombe, die von den Kerlen tief ins Herz ihres Territoriums getragen wurde. Er spürte die Aufwallung von Wut in sich, genoss sie, staute sie in sich auf.“ (S. 158) 
Mit Jack Reacher hat Lee Child, ehemaliger Produzent beim britischen Fernsehen, Mitte der 1990er Jahre einen außergewöhnlichen Helden kreiert, der nach dreizehn erfolgreichen Jahren bei der Militärpolizei den Dienst quittierte und seither eher ziellos sein Heimatland durchstreift.
Wie schon in Lee Childs Debüt „Größenwahn“ gerät Jack Reacher auch in „Ausgeliefert“ per Zufall in eine absolut heikle Situation, die er dank seiner jahrelang geschulten Fähigkeiten gut zu analysieren und schließlich auch zu lösen versteht.
Bis dahin führt der Autor seine Leser durch einen packenden Plot voller Action und akribisch recherchierter Informationen über Waffen und Taktiken. Reacher fühlt sich für die durch eine Knieverletzung gehandicapte Frau verantwortlich und weicht nie freiwillig von ihrer Seite. Sein unbeirrbarer Gerechtigkeitssinn führt dazu, dass Reacher all seine Kräfte und Fähigkeiten einsetzt, um der bestens ausgerüsteten Montana-Miliz das Handwerk zu legen. Dass das FBI ihn zunächst für einen der Entführer hält, macht es Reacher zwar zunächst nicht leichter, aber seinem Durchsetzungswillen haben weder das FBI noch die Soldaten der Miliz viel entgegenzusetzen.  
„Ausgeliefert“ bietet atemlose Spannung in einem dramaturgisch gekonnt inszenierten Thriller, der ebenso von der Action lebt wie von der sympathischen Entschlossenheit seines Helden.
Leseprobe Lee Child - "Ausgeliefert"

Steve Mosby – „Nachtschatten“

Montag, 5. September 2016

(Droemer, 413 S., Pb.)
Detective Inspector Zoe Dolan und ihr Partner Chris Sands haben es gerade mit einem Stalker zu tun, der seinen Opfern - attraktiven Single-Frauen um die Mitte zwanzig – in ihren Wohnungen auflauert und sie vergewaltigt. Gerade als sie sich dem letzten Opfer, Julie Kennedy, befassen, wird Zoe Dolan selbst Opfer eines Einbruchs. Bevor der Täter allerdings fliehen kann, identifiziert ihn Zoe als Drew MacKenzie, den kleinen Bruder eines der Mädchen, mit denen die Polizistin früher in der heruntergekommenen Thornton-Siedlung herumhing. Darum wird sich Zoe allerdings später kümmern müssen, denn noch ist sie fieberhaft damit beschäftigt, dem gefürchteten Stalker auf die Spur zu kommen, der bei seinen Misshandlungen der mittlerweile fünf Frauen immer brutaler vorgegangen ist, sodass es nur eine Frage der Zeit ist, bis er eines seiner Opfer auch tötet.
Währenddessen arbeitet die nach der Trennung von ihrem Freund Peter alleinlebende Jane ehrenamtlich bei der Telefonseelsorge Mayday, wo sie eines Tages den Anruf eines Mannes erhält, der behauptet, verantwortlich für diese Taten gewesen zu sein. Obwohl ihr Chef darauf pocht, auch bei solchen Anrufen Vertraulichkeit wahren zu lassen, sucht Jane DI Zoe Dolan auf und berichtet von dem Mann, der mittlerweile immer wieder sein Gewissen bei Jane zu erleichtern versucht. Zoe glaubt nicht, dass es sich bei diesem Mann um den gesuchten Stalker handelt, der nun auch einen Mord auf zu verantworten hat. Doch Jane weiß von einem Detail zu berichten, das bislang nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist. Nun könnte auch Jane in Lebensgefahr schweben …
„Mörder halten sich oft an bestimmte Muster. Nicht selten nehmen solche Taten an Häufigkeit und Grausamkeit zu, während der Täter den Bezug zur Realität immer mehr verliert und unvorsichtiger wird. Mörder wie er enden in einer Art Supernova. Wenn das auf diesen Fall zutraf, dann würde es bald noch weitere Opfer geben, und zwar in kürzeren Abständen. Wir kämen ihm zwar schneller auf die Spur, aber nicht, bevor noch andere Frauen ihr Leben ließen.“ (S. 323) 
Mit seinem dritten Roman, dem 2007 auch hierzulande als Hardcover veröffentlichten „Der 50/50- Killer“, feierte der britische Autor Steve Mosby seinen internationalen Durchbruch, wurde gleich für den US-amerikanischen Literaturpreis Barry Award in der Kategorie "Best British Crime Novel" nominiert und erhielt 2012 den „Dagger in the Library“-Preis der britischen Crime Writers’ Association. Doch das Niveau dieses Bestsellers konnte Mosby seither kaum noch aufrechterhalten. Mittlerweile erscheinen die deutschen Erstausgaben seiner Bücher über Droemer Knaur als Paperback.
Mit seinem aktuellen Thriller „Nachtschatten“ bewegt sich Mosby leider weiterhin auf eher mittelmäßigem Niveau. Das liegt nicht nur in dem allzu vertrauten Plot begründet, dem Mosby wenig Neues abgewinnen kann, sondern vor allem in seiner drögen Art, Handlungen und Emotionen zu beschreiben. Statt lebendige Dialoge zu verwenden, begnügt sich der Autor mit langweiligen Schilderungen, die dem Spannungsaufbau einfach abträglich sind. Dafür sorgen auch die von Beginn an kreierten Handlungsnebenstränge, mit denen sich der Leser recht lange im spannungsfreien Raum bewegen muss. Am Ende zaubert Mosby immerhin eine feine Facette zum Täterprofil aus dem Hut, aber das reicht leider nicht aus, um einen stellenweise sogar langweiligen Thriller zu retten. Dabei hätte gerade aus den beiden interessanten Hauptfiguren – DI Zoe Dolan und Mayday-Mitarbeiterin Jane – mehr herausgeholt werden können.
 Leseprobe Steve Mosby - "Nachtschatten"

Linwood Barclay – (Promise Falls: 1) "Lügennest“

Donnerstag, 1. September 2016

(Knaur, 503 S., Pb.)
Nach dem Tod seiner Frau Jan vor fünf Jahren kündigte der Reporter David Harwood seinen Job bei dem Promise Falls Standard und zog mit seinem Sohn Ethan nach Boston, wo er allerdings wegen seiner Arbeitszeiten beim Boston Globe kaum Zeit für seinen Sohn aufbringen konnte. Deshalb ist David mit dem nun neunjährigen Ethan in sein Elternhaus zurückgekehrt und hat wieder bei seiner alten Zeitung zu arbeiten begonnen. Allerdings bekommt er schon am ersten Arbeitstag von der Herausgeberin zu hören, dass der Standard eingestellt wird. Doch das ist nur der Anfang einer Reihe von merkwürdigen bis erschreckenden Ereignissen, die die Kleinstadt heimsuchen. Zunächst muss David beim Besuch seiner Cousine Marla Pickens feststellen, dass sie plötzlich zu einem Kind gekommen ist, das ihr – so ihre Aussage – ein Engel in die Arme gelegt hat.
Vor neun Monaten verlor Marla ihr eigenes Kind bei der Geburt, dann ist sie auffällig geworden, als sie aus dem Krankenhaus, das ihre Tante Agnes leitet, ein fremdes Kind mitnehmen wollte. Als David den Jungen zur eigentlichen Familie zurückbringen will, findet er Mrs. Gaynor tot in ihrem Haus vor. Da ihr Mann in Boston bei einer Konferenz gewesen ist und über ein Alibi verfügt, wird Marla verdächtigt, Rosemary Gaynor getötet und Matthew entführt zu haben.
Doch Detective Barry Duckworth stößt bei seinen Ermittlungen bald auf Ungereimtheiten. Zudem hat er mit Überfällen auf Frauen auf dem Campus des Thackaray Campus zu tun, mit 23 auf einer Schnur aufgehängten toten Eichhörnchen und einem Riesenrad auf dem stillgelegten Ferienpark, das von unbekannter Hand in Gang gesetzt worden ist und in dessen Kabine mit der Nummer 23 drei Puppen platziert wurden. David setzt alles daran, Marlas Unschuld zu beweisen, und macht sich auf die Suche nach dem Kindermädchen der Gaynors, das plötzlich spurlos verschwunden ist.
„Der Mörder hätte einfach verschwinden können. Das Baby wäre zu guter Letzt gefunden worden. Aber nein. Der Mörder – oder sonst jemand – will das Baby in die Obhut von jemandem geben. Warum in die von Marla?
In Promise Falls gab es genügend Menschen, bei denen Matthew hätte abgegeben werden können, warum ausgerechnet bei Marla? Die genau am anderen Ende der Stadt wohnt. Und die bereits – wenn auch nur einmal – als Kindesentführerin auffällig geworden war.“ (S. 231) 
Tatsächlich kommen David und der Detective allmählich einem vertrackten Komplott auf die Spur, in die ganz prominente Persönlichkeiten der Stadt verwickelt sind.
Linwood Barclay, der 2007 mit seinem Debütroman „Ohne ein Wort“ gleich einen internationalen Bestseller veröffentlicht hat, gibt mit „Lügennest“ den Startschuss einer vielversprechend startenden Trilogie. Im Mittelpunkt des dramaturgisch geschickt konstruierten Thrillers steht der sympathische Ich-Erzähler David Harwood, der seiner Familie zuliebe in seine Heimatstadt zurückkehrt und sofort mit einer Reihe von Problemen konfrontiert wird, von denen das Fehlen eines Jobs und einer eigenen Wohnung noch die geringsten sind. Nachdem er ausführlich seine eigene Geschichte geschildert hat, werden auch die weiteren Protagonisten eingeführt, ohne allerdings allzu viel von ihnen preiszugeben. Einzig Marlas bedauerliches Schicksal erhält etwas mehr Raum, schließlich ist sie auch die Hauptverdächtige.
Auch wenn der Mord an Rosemary Gaynor und die Frage, wie Marla an deren Sohn gekommen ist, im Zentrum von „Lügennest“ steht, werden auch die Nebenhandlungen immer wieder aufgegriffen, ohne am Ende aufgelöst zu werden. Schließlich stehen mit „Lügennacht“ (Dezember 2016) und „Lügenfalle“ (April 2017) noch zwei Folgebände an.  
Barclay gelingt es sehr überzeugend, einzelne Facetten der geheimnisvollen Vorgänge in Promise Falls zu enthüllen, aber noch sehr viele offene Fragen, gerade um Figuren wie Bürgermeisterkandidat Randall Finley, ungeklärt zu lassen, so dass man mit Spannung die Fortsetzungen erwartet.
Leseprobe Linwood Barclay - "Promise Falls I: Lügennest"

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 1) „Ein letzter Drink“

Sonntag, 28. August 2016

(Diogenes, 354 S., Pb.)
Patrick Kenzie und Angie Gennaro sind seit Kindesbeinen miteinander befreundet und unterhalten gemeinsam die Detektei Kenzie & Gennaro in Bostons Viertel Dorchester. Als Kenzie ins Ritz-Carlton zu einem Gespräch mit dem Abgeordneten Jim Vurnan, Senator Sterling Mulkern und Senator Brian Paulson gebeten wird, bekommt er den Auftrag, die schwarze 41-jährige Jenna Angeline aufzufinden, eine Angestellte des Bundesparlaments, die seit neun Tagen vermisst wird. Mit ihr sind allerdings auch streng vertrauliche Dokumente verschwunden, die offensichtlich in Zusammenhang mit dem Gesetz gegen Straßenterrorismus stehen, das demnächst im Senat verabschiedet werden soll.
Kenzie und Gennaro finden die Frau tatsächlich bei ihrer Schwester und bekommen von ihr ein Foto zu sehen, auf dem Senator Paulson einen schwarzen Jungen missbraucht. Und schon befinden sich die beiden Privatermittler in einem Kreuzfeuer wieder, das die beiden erbittert verfeindeten Gangs entfachen, die von Socia auf der einen Seite und seinem Sohn Roland auf der anderen Seite angeführt werden. Denn auch die beiden Bandenführer sind in diesen Skandal involviert, der nicht nur in Politikerkreisen hohe Wellen schlagen dürfte, sollte er an die Öffentlichkeit kommen …
„Jenna Angeline war ein Wrack. Sie war verängstigt und erschöpft und wütend, und sie heulte die Welt an wie ein Wolf. Aber anders als die meisten Menschen in ihrer Lage war sie gefährlich, weil sie etwas besaß, das ihr ein Stück von dem verschaffen sollte, was ihr diese Welt bislang vorenthalten hatte. Aber so funktioniert die Welt normalerweise nicht, und Menschen wie Jenna sind Zeitbomben. Sie reißen vielleicht ein paar Menschen mit in den Tod, aber bei dem Inferno gehen sie auf jeden Fall selbst mit drauf.“ (S. 97) 
Als der in Dorchester, Boston, geborene Dennis Lehane 1994 seinen Debütroman „A Drink Before the War“ veröffentlichte, wurde er nicht nur gleich mit dem Shamus Award für den besten Erstlings-Roman ausgezeichnet, sondern startete damit auch eine Serie von bislang sechs Romanen um das charismatische Detektiv-Duo Kenzie & Gennaro.
Der Diogenes-Verlag, der bereits Lehanes Bestseller „Shutter Island“ und „Mystic River“ in neuer Übersetzung und dann auch die nach dem Epos „Im Aufruhr jener Tage“ folgenden Werke als deutsche Erstveröffentlichung herausgebracht hat, macht sich nun daran, mit den zuvor bei Ullstein erschienenen Romane um Kenzie & Gennaro nachzulegen.
Lehane begibt sich mit seinem Debüt auf die Spuren der klassischen Schwarzen Serie, wie sie beispielsweise Humphrey Bogart unvergesslich als Sam Spade verkörpert hat. Lehanes Ermittler, die weit mehr als nur eine freundschaftliche Arbeitsbeziehung miteinander unterhalten, geraten gleich in ihrem ersten Abenteuer in eine von Straßengewalt, Rassismus und Korruption geprägte Welt, der sie auch nur mit Gewalt begegnen können, um nicht selbst unter die Räder zu kommen. Dabei versteht es der Autor, in seinem Debüt vor allem das düstere Lokalkolorit seiner Bostoner Heimat einzufangen und sie gleichermaßen auf seine Figuren zu übertragen. Diese hätten durchaus noch etwas mehr Profil erhalten können, aber davon abgesehen bietet „Ein letzter Drink“ packende Krimi-Unterhaltung, auf deren Fortsetzung bei Diogenes sich Lehane-Fans hoffentlich in den nächsten Jahren noch erfreuen dürfen.
 Leseprobe Dennis Lehane - "Ein letzter Drink"

Leon de Winter – „Geronimo“

Samstag, 27. August 2016

(Diogenes, 446 S., HC)
Im September 2010 hält sich Usama bin Laden, Al-Kaida-Füher und weltweit am meisten gesuchter Terrorist, seit fünf Jahren in seinem Versteck im pakistanischen Abbottabad auf und verlässt es nur nachts, um mit dem Moped das Lebensmittelgeschäft oder eine seiner drei Frauen zu besuchen, die er nur mit Hilfe der blauen Pillen zu befriedigen vermag. Sein größter Schatz besteht allerdings in einem USB-Stick, den sein treuer Kämpfer Abu Ahmed al-Kuweiti besorgt hat und dessen Inhalt zwar nur aus sieben Fotos, einem Word-Dokument und einem Video besteht, dafür aber so brisant sind, dass – so bin Ladens Überzeugung – die Amerikaner das Weiße Haus stürmen und eine Revolution anzetteln würden.
Tom Johnson, ehemals Mitglied der Special Activities Division der CIA, erfährt im Februar 2011 bei einem Treffen mit seinen alten Freunden vom ST6, dass die Special Unit mit dem Aufspüren von Usama bin Laden – kurz UBL - beauftragt worden ist. „Kill or capture“ lautet die Anweisung. Doch statt ihn umzubringen, planen sie, seinen als Ben Laden bekannten Doppelgänger als Bin Ladens Leiche zu präsentieren und UBL in Eigenregie zu kidnappen und alles aus ihm an Informationen rauszuholen.
Die Operation gelingt, der in einem Holzschemel versteckte USB-Stick gelangt in die Hände des in der Nachbarschaft von UBLs Versteck lebenden Jungen Jabbar, der davon träumt, als reicher Mann nach Amerika zu gehen, um dort für das afghanische Mädchen Apana zu sorgen, dem man die Ohrmuscheln abgeschnitten und die Hände abgehackt hat, weil es sich von der Musik aus dem Westen verführen ließ.
„Wenn er das Geheimnis fand, war das der Schlüssel zur Greencard. Er würde Spielberg treffen. Und Apana würde neue Hände bekommen, darum würde er Spielberg als Gegenleistung für das Geheimnis bitten. Spielberg war Jude, okay, das war Jesus auch, als Jude geboren, aber das durfte kein Hinderungsgrund sein. Apana musste Hände und Ohren bekommen, und sie würden auf einer Ranch leben.“ (S. 307) 
Tom lernt die beiden Kinder kennen und setzt alles daran, ihr gefährdetes Leben zu retten. Doch dann sorgt ein dramatisches Ereignis für eine spektakuläre Wende in der Geschichte.
In seinem neuen Roman „Geronimo“, dessen Titel übrigens dem Codewort entspricht, das die Seals Team 6 bei der Entdeckung von Osama bin Laden verwenden sollten, spielt der niederländische Autor Leon de Winter mit der (Verschwörungs-)Theorie, dass Osama – im Roman leicht zu Usama abgewandelt – gar nicht getötet, sondern nur gekidnappt worden ist. Doch „Geronimo“ thematisiert nicht nur die tollkühne Aktion des ST6-Teams, sondern auch die innige Verbindung zwischen den beiden Kindern Jabbar und Apana auf der einen Seite und die zwischen Apana und Tom durch die Goldberg-Variationen von Bach auf der anderen.
Und auch Toms eigene schmerzliche Vergangenheit wird in Telefonaten mit seiner Ex-Frau Vera aufgearbeitet, nachdem die beiden ihre gemeinsame Tochter bei dem Bombenattentat in Madrid verloren hatten. So präsentiert sich „Geronimo“ zwar als packender Agenten-Thriller mit einer mehr als nur interessanten Prämisse, aber es stellt Bin Laden auch als Menschen dar, der für seine Frauen Eis und Schokolade einkaufen geht und seine ehelichen Pflichten nur mit chemischer Unterstützung wahrnehmen kann.
Berührend ist vor allem aber die von Mitleid, Güte und Liebe geprägte Geschichte von Jabbar und Apana, die einen wunderbar warmen Kontrast zu dem Tötungsauftrag der US-amerikanischen Spezialeinheit bildet.
 Leseprobe Leon de Winter - "Geronimo"

Ray Bradbury – „Geisterfahrt“

Dienstag, 23. August 2016

(Diogenes, 265 S., HC)
Seit den 1950er Jahren, als er mit „Die Mars-Chroniken“ (1950) und „Fahrenheit 451“ (1953) Klassiker der Literaturgeschichte und Pflichtlektüre in den Schulen veröffentlichte, zählt der 1920 geborene und 2012 verstorbene amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury zu den fantasiebegabtesten und versiertesten Geschichtenerzählern der Welt. Vor allem in unzähligen Story-Sammlungen wie „Der illustrierte Mann“, „Medizin für Melancholie“ und „Die Mechanismen der Freude“ dokumentierte Bradbury seinen schier unerschöpflichen Vorrat an geradezu magischen Geschichten, mit denen er seine Leser ebenso in die Vergangenheit wie in die Zukunft mitnahm.
„Geisterfahrt“ aus dem Jahre 1997 ist leider schon eine der letzten Geschichtensammlungen aus seiner Hand, aber auch im Alter von 77 Jahren sind dem Visionär noch beeindruckende Einfälle aus der Feder gesprudelt. In „Nachtzug nach Babylon“ beobachtet der Zauberlehrling James Cruesoe in einem Zug fasziniert, wie ein Trickspieler die Aufmerksamkeit seines Publikums fesselt, während es in „Wenn es MGM erwischt, wer kriegt dann den Löwen?“ um eine herrlich witzige Spielerei aus dem Zweiten Weltkrieg geht, bei der die fast benachbarten Gelände der MGM-Studios und Howard Hughes‘ Flugzeugfabrik zur Täuschung des Feindes die Beschilderung vertauschten.
„Guten Tag, ich muss fort“ ist die Geschichte des vor vier Jahren verstorbenen Henry Grossbock, der nicht darüber hinwegkommt, dass seine geliebte Frau nicht mehr so oft sein Grab besucht und schon gar keine Tränen mehr verdrückt, weshalb er sich aus seinem Grab heraus auf den Weg zu seinem Freund Steve Ralphs macht, um ihm sein Leid zu klagen. Die vielleicht schönste Geschichte, „Haus zweigeteilt“, dreht sich um das sexuelle Erwachen von Teenagern. Der zwölfjährige Chris kann es kaum fassen, dass sich die drei Jahre ältere Vivian an seiner Hose zu schaffen macht.
„Es war so seltsam. Chris konnte nur daliegen und sich von Vivian alles erklären lassen mit dieser dunklen, unglaublichen Pantomime. Von so etwas wird einem im ganzen Leben nichts gesagt, dachte er. Gar nichts wird einem gesagt. Vielleicht ist es zu gut zum Weitersagen, zu seltsam und wunderbar, um es in Worte zu fassen.“ (S. 45) 
In „Schwerer Diebstahl“ erleben die beiden Schwestern Rose und Emily Wilkes noch einmal den Zauber ihrer ersten Liebe, als eines Nachts die Liebesbriefe an Emily aus den Jahren 1919 bis 1921 gestohlen werden und mit unbekanntem Namen unterschrieben wieder in ihrem Briefkasten landen. „Kennen Sie mich wieder?“ beschreibt das unerwartete Aufeinandertreffen des Fleischers Harry Stadler mit einem seiner Kunden in Florenz, wo sie bei einem gemeinsamen Abendessen feststellen, dass sie gar keine Gemeinsamkeiten haben. Die Titelgeschichte erzählt von einem Jungen, der mit Staunen erlebt, wie ein Fremder mit völlig verdunkelnder Gesichtsmaske in der Stadt auftaucht und versucht, seine Studebakers, die er in Gurney verkauft, an den Mann zu bringen, was ihm durch sein Aufsehen erregendes Auftreten auch gelingt.
Aber im Grunde genommen geht es um die Dinge und Erfahrungen, die Menschen verändern, und vor allem um die Menschen, die andere Menschen verändern. Einen ähnlichen Subtext gibt es in „Es verändert sich nichts“, wo ein Mann in einer Buchhandlung am Meer alte Jahrbücher durchstöbert und dabei erst auf ein Foto seines alten Freundes Charlie Nesbitt stößt, allerdings in einem Jahrbuch von 1912, 26 Jahre vor seinem eigentlichen Schulabschluss und unter anderem Namen. Danach findet er unzählige weitere Beispiele in anderen Jahrbüchern, bis er seinem eigenen, jüngeren Ich im aktuellen Jahrbuch von Roswell High begegnet.
Immer wieder geht es um Erinnerungen, Träume und Identität, um die großen Mysterien des Lebens und des Todes, um Religion, Freundschaft und Liebe. Bradbury gelingt es, diese existentiellen Themenschatz in immer wieder neue, erfrischende, magische und verführerische Geschichten zu weben, dass man immer ein wenig oder meist sogar viel länger bei seinen sympathischen Helden verbleiben möchte.

Jeff Menapace – „Das Spiel (1): Opfer“

Sonntag, 21. August 2016

(Heyne, 400 S., Tb.)
Der 38-jährige Patrick und seine fünf Jahre jüngere Amy Lambert fahren mit ihren beiden Kindern Carrie und Caleb zu einem Wochenendtrip „mitten ins Nirgendwo“ an den Crescent Lake in Pennsylvania, doch schon die Fahrt dahin steht unter keinem guten Stern. An der Tankstelle macht Patrick die Bekanntschaft eines seltsamen Typen, der kurzerhand Patricks Benzinrechnung übernimmt. Kurz vor dem Ziel tauscht Carrie an einem Diner unbemerkt von ihren Eltern ihre Puppe Josie bei einem fremden Mann gegen einen Lolli ein, dann wird Amy im Supermarkt von einem Typen sexuell belästigt. Doch auch am Feriendomizil reißen die merkwürdigen Ereignisse nicht ab.
Als sich Patrick und Amy nachts miteinander vergnügen, schreit Amy entsetzt auf, als sie einen kahlköpfigen Mann am Fenster erblickt. Der Sheriff hält Amy allerdings eher für überspannt, als dass er der Sache auf den Grund geht. Noch ahnen sie nicht, dass sie längst ins Visier der skrupellosen psychopathischen Brüder Arty und Jim Fannelli geraten sind, die bei ihren ausgefallenen Spielen ausgeprägten Spaß an den Qualen ihrer Opfer haben. Bevor sich die Brüder aber an den Lamberts zu schaffen machen, haben sie noch einige andere menschliche Hindernisse aus dem Weg zu räumen.
„Jim stieß sich von der Brust des jungen Mannes ab und sprang auf die Beine. Er hob einen Fuß hoch in die Luft und trat mit aller Gewalt auf das Gesicht des geblendeten Jungen, der daraufhin das Bewusstsein verlor. Ein zweiter und dritter Tritt zerquetschten den Kopf des Jungen und brachten ihn um den Großteil seiner Zähne. Jim schaute auf und grinste Arty an. Mit den wild flackernden Augen und dem Speichel, der von seinen Lippen tropfte, sah er aus wie ein Perverser, der einen Porno betrachtet.“ (S. 240) 
Wenn einer in die Fußstapfen des großen Horror-Meisters Richard Laymon treten kann, ist es der amerikanische Autor Jeff Menapace, dessen 2013 begonnene „Spiel“-Trilogie nun auch passenderweise durch Heyne Hardcore in Deutschland seine Fans finden wird. Auch wenn das Setting von „Opfer“ – Teil 1 der „Spiel“-Trilogie“ – genauso gut einem Laymon-Roman entnommen sein könnte, beweist Menapace, dass er durchaus über eine eigene Stimme verfügt und vor allem ein besseres Gefühl für die Dramaturgie besitzt.
Während Laymon oft nur die Gewalt und den Sex an sich auf voyeuristische Weise in den Vordergrund rückte, inszeniert Menapace das Grauen auf schleichende Weise. Er zeichnet er die Lamberts während ihrer Reise zum Crescent Lake als absolute Durchschnittsfamilie, wobei Patrick und Amy auch nach zwölf Ehejahren noch total verliebt ineinander sind. Davon abgesehen lotet der Autor keine psychologischen Tiefen aus. Während die Lamberts als unauffällige Normalos ohne Ecken und Kanten durchgehen, wird zumindest bei den Fannelli-Brüdern versucht, durch Rückblenden Licht in ihre dunklen Persönlichkeiten zu bringen. Hier bedient Menapace allerdings auch nur die Genre-Konventionen.
Was „Opfer“ mehr als eine stimmige Charakterisierung der Figuren auszeichnet, ist der geschickt konstruierte Plot, in der die Fannellis und Lamberts zwar immer wieder Berührungspunkte haben, doch zur unvermeidlichen Konfrontation kommt es ungewöhnlich spät. Bei den Gewalt- und Sex-Darstellungen hält sich der Autor überraschend stark zurück. Laymon-Fans würden sich definitiv eine gehörige Prise mehr Torture Porn wünschen.
Trotz einiger Schwächen bietet der erste Teil der „Spiel“-Trilogie kurzweilige Horror-Unterhaltung mit bekannten Versatzstücken des Genres, die aber gekonnt in Szene gesetzt worden sind und neugierig auf die Fortsetzungen machen, die für Dezember 2016 („Rache“) und Mai 2017 („Tod“) angekündigt sind.

Leseprobe Jeff Menapace - "Das Spiel: Opfer"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 7) „Dunkler als die Nacht“

Donnerstag, 18. August 2016

(Heyne, 464 S., HC – Knaur eBook, 431 S., eBook)
Drei Jahre nach seiner Herztransplantation steht für den ehemaligen FBI-Ermittler und Experten für Serienmorde Terry McCaleb vor allem die Familie im Vordergrund. Immerhin ist McCaleb seit vier Monaten Vater einer Tochter, die er mit seiner Frau Graciela auf der Insel Catalina vor Los Angeles aufzieht. Doch dann taucht unvermittelt Sheriff’s Detective Jaye Winston bei ihm zuhause auf und bittet ihn, sich nur einmal die Unterlagen zum Mord an Edward Gunn anzusehen, einem trinkfreudigen Nichtsnutz, der immer wieder von dem Cop Harry Bosch im Gefängnis aufgesucht worden ist.
Interessanterweise führen einige Hinweise zu den düsteren Gemälden von Hieronymus Bosch und weiter zu seinem Namensvetter Harry Bosch, der gerade als Ermittler im Strafverfahren gegen den Hollywood-Regisseur David Storey aussagen soll.
Er ist angeklagt, eine junge Schauspielerin nach dem Sex erwürgt zu haben und es wie eine autoerotische Asphyxie aussehen zu lassen. Beide Fälle weisen unübersehbare Parallelen auf, so dass sich McCaleb mehr mit dem Fall zu beschäftigen beginnt, als er eigentlich sollte, selbst als er von Winston offiziell zurückgepfiffen wird. Was McCaleb aber besonders irritiert, ist der Umstand, dass die Indizien darauf hinweisen, dass ausgerechnet Harry Bosch für den Tod von Edward Gunn verantwortlich zu sein scheint.
„McCaleb wusste, viele Verbrecher machten Fehler, die zu ihrer Überführung führten, weil sie im Unterbewusstsein nicht ungestraft davonkommen wollten. Das Gesetz des ewigen Kreislaufs, dachte McCaleb. Vielleicht sorgte Bosch unbewusst dafür, dass sich das große Rad auch für ihn drehte.“ (S. 230) 
Als sich McCaleb und Bosch über diese seltsamen Zusammenhänge unterhalten, bemerkt Bosch zu seiner Verteidigung, dass McCaleb etwas übersehen haben muss, worauf sich dieser noch einmal an die Arbeit macht und tatsächlich auf eine interessante Spur stößt, die dem Verfahren gegen den arroganten Hollywood-Filmemacher eine ganz neue Richtung verleiht …
Der amerikanische Bestseller-Autor Michael Connelly hat mit seiner Reihe um den eigenwilligen Ermittler Harry Bosch nicht nur Krimi-Geschichte geschrieben, sondern auch die Vorlage für die Amazon-Net-TV-Serie „Bosch“ geliefert. In „Dunkler als die Nacht“ führt er seinen beliebten Protagonisten erstmals mit einer Hauptfigur aus einem seiner anderen Romane zusammen, Terry McCaleb aus „Das zweite Herz“. Der Leser erlebt hier zwei außergewöhnliche Ermittler, die zunächst auf unterschiedlichen Seiten stehen, dann aber gemeinsam der Wahrheit auf die Spur kommen und dabei lebensgefährliche Situationen überstehen müssen.
Connelly führt sein Publikum in die düsteren Bilderwelten des niederländischen Malers Hieronymus Bosch ein, wobei sein berühmtes Triptychon „Der Garten der Lüste“ im Zentrum des Mordes an Edward Gunn steht. Darüber hinaus gewährt der Autor Einblicke vor allem in das Privatleben von McCaleb, das sich seit seiner Herzoperation grundlegend verändert hat, ohne dass der Ermittler seine Leidenschaft für die Aufklärung ungewöhnlicher Verbrechen eingebüßt hätte.
Bosch agiert dagegen eher im Hintergrund, doch bezieht der Thriller seine Spannung vor allem aus dem Zusammenspiel der beiden Ermittler. Dabei gelingt es Connelly, sowohl einen klassischen Strafprozess als auch sorgfältige Ermittlungsarbeit dramaturgisch geschickt miteinander zu verbinden und den Leser von der ersten bis zur letzten Seite glänzend zu unterhalten.
 Leseprobe Michael Connelly - "Dunkler als die Nacht"