Linwood Barclay – (Promise Falls: 3) „Lügenfalle“

Montag, 27. März 2017

(Knaur, 493 S., Pb.)
Die kleine US-amerikanische Ostküstenstadt Promise Falls kommt einfach nicht zur Ruhe. Nachdem vor nicht mal einer Woche jemand das Autokino am Stadtrand in die Luft gejagt und dabei vier Menschen getötet hatte, hat Polizeichef Barry Duckworth am langen Memorial-Day-Maiwochenende nicht nur wie üblich mit seinem Übergewicht zu kämpfen, sondern auch den Ursprung einer echten Epidemie herauszufinden. Offensichtlich hat jemand das Trinkwasser der Stadt vergiftet, so dass im völlig überlasteten Stadtkrankenhaus bald über hundert Tote zu beklagen sind.
Nutznießer dieser Katastrophe scheint wieder einmal der frühere Bürgermeister Randy Finley zu sein, der nach wie vor plant, nach seiner skandalösen Affäre mit einer minderjährigen Prostituierten wieder zu kandidieren. Zum Glück hatte Finley die Produktion seiner Trinkwasser-Anlage seit einer Woche hochfahren lassen, so dass er die besorgten Bürger nun medienwirksam mit kostenlosem Wasser aus seinen Quellen versorgen kann.
Doch Duckworth hat sich kaum in den Fall einarbeiten können, da erreicht ihm vom örtlichen Thackeray-College die nächste Hiobsbotschaft: Dort wird die Studentin Lorraine Plummer in ihrem Zimmer ermordet aufgefunden, mit der gleichen Art von tödlicher Verletzung, die auch vor drei Jahren Olivia Fisher und kürzlich Rosemary Gaynor erlitten haben.
Ins Zentrum der Ermittlungen gerät Victor Rooney, der es offenbar nicht verwunden hat, dass vor drei Jahren zwar 22 Menschen den Mord an seiner Freundin Olivia mitbekommen, aber nichts unternommen haben, und sich dafür vielleicht an der ganzen Stadt rächen will.
„Wie wütend war Victor Rooney wirklich auf das Versagen dieser Stadt? Wütend genug, um es ihr heimzuzahlen? Wütend genug, um Botschaften zu senden? Dreiundzwanzig tote Eichhörnchen an einem Zaun, zum Beispiel? Drei rot beschmierte Schaufensterpuppen in Kabine 23 eines stillgelegten Riesenrads? Einen brennenden, außer Kontrolle geratenen Bus mit einer ‚23‘ auf dem Heck?“ (S. 318) 
Und schließlich sucht der ehemalige Journalist David Harwood, der nun die Öffentlichkeitsarbeit für Finley betreibt, nach Sam und ihrem Sohn Carl, die im Trubel der Trinkwasservergiftung ihre Sachen gepackt und spurlos verschwunden sind …
Im großen Finale seiner „Promise Falls“-Trilogie besinnt sich Thriller-Bestseller-Autor Linwood Barclay („Ohne ein Wort“, „Frag die Toten“) wieder auf seine originären Fähigkeiten und präsentiert von Beginn an einen atmosphärisch dichten, atemlosen Pageturner, in dem eine Katastrophe auf die nächste folgt. Zum Glück konzentriert sich der Autor diesmal wieder auf ein überschaubareres Figuren-Ensemble, nachdem es in „Lügennacht“ doch arg durcheinander herging.
Zwar macht sich Barclay auch diesmal wenig Mühe, seinen Figuren Charakter zu verleihen – abgesehen von dem immer mal wieder als Ich-Erzähler fungierenden Polizeichef bleiben die Einwohner und Verantwortlichen von Promise Falls ziemlich blass -, aber die Suche nach dem Trinkwasser-Attentäter einerseits, dem Frauenmörder andererseits und schließlich dem Zusammenhang mit der ominösen Zahl 23 und den früheren merkwürdigen Vorfällen in der Stadt ist absolut packend beschrieben.
Barclay thematisiert dabei nicht nur mangelnde Zivilcourage und die allgegenwärtige Angst vor Terrorismus, sondern auch generell den Zerfall zivilisierter Werte und Moralvorstellungen.
Leseprobe Linwood Barclay - "Promise Falls III: Lügenfalle"
 

Clive Barker – „Spiel des Verderbens“

Sonntag, 26. März 2017

(Knaur, 510 S., Tb.)
Nach sechs Jahren im Wandsworth-Gefängnis bekommt Marty Strauss die Gelegenheit, neu anzufangen. Ein gewisser Mr. Toy unterbreitet dem Häftling das Angebot, als persönlicher Leibwächter für den in die Jahre gekommenen Joseph Whitehead zu arbeiten, der als Selfmade-Mann mit der Whitehead Corporation eine der größten pharmazeutischen Firmen in Europa aufgebaut hat. Marty muss allerdings schnell feststellen, dass er von einem Gefängnis ins nächste gelangt ist. Das als „Asyl“ bezeichnete Anwesen stellt sich als wahre Festung dar, die der Firmenchef – und somit auch sein Leibwächter - nie verlässt.
Cover der späteren Heyne-Wiederveröffentlichung
Da Marty feststellen muss, dass seine Frau Charmaine kein Interesse mehr an einer Beziehung mit ihm hat, ist sein Freiheitsdrang auch nicht mehr besonders ausgeprägt. Außerdem findet er sehr schnell Gefallen an Whiteheads Tochter Carys, die allerdings von ihrem Vater mit Heroin versorgt wird, damit sie einigermaßen zurechtkommt.
Was Marty allerdings wirklich beunruhigt, ist der geheimnisvolle Mamoulian, der sich als einer der letzten „Europäer“ sieht und zusammen mit Breer, ebenfalls Mitglied einer weiteren aussterbenden Rasse, nämlich der Rasierklingenesser, bei Whitehead alte Schulden einzutreiben gedenkt. Marty erfährt, dass die Auseinandersetzung der beiden Kontrahenten vor sechzig Jahren in Warschau ihren Anfang nahm und nun in einer allumfassenden Apokalypse zu enden droht.
„Heiliger Jesus, dachte er, so musste die Welt enden. Eine Zimmerflucht, Autos auf der Straße, die nach Hause fuhren, und die Toten und beinahe Toten lieferten sich bei Kerzenlicht Handgemenge. Der Reverend hatte sich geirrt. Die Sintflut war keine Woge. Sie war blinde Männer mit Äxten; sie war die Großen auf den Knien, wie sie beteten, nicht durch die Hände von Narren sterben zu müssen, sie war das Jucken des Irrationalen, welches zur Epidemie geworden war.“ (S. 487) 
Der 1952 in Liverpool geborene Clive Barker kam über das Theater und den Film zur Schriftstellerei und fasste seine ersten Kurzgeschichten in den zwischen 1984 und 1985 veröffentlichten sechs „Büchern des Blutes“ zusammen, von denen bis heute immer wieder einzelne Geschichten verfilmt werden.
Durch seine drastisch unverblümte Darstellungsweise, seine ungebändigte Phantasie und seine bildgewaltige Sprache avancierte Barker in kürzester Zeit zum Erneuerer des Horror-Genres und lieferte 1986 mit „Spiel des Verderbens“ seinen ersten Roman ab, der beim Knaur Verlag in deutscher Erstausgabe in der kongenialen Übersetzung von Joachim Körber erschienen ist (aber mit einem so schlechten Cover, dass ich mich hier für das stimmungsvollere Cover der späteren Heyne-Wiederveröffentlichung entschied, die allerdings an Körbers Übersetzung herumgepfuscht hat).
Wie in seinen vorstellungskräftigen Kurzgeschichten kreiert Barker auch in seinem Romandebüt ein allumfassendes Grauen, das in diesem Fall aus den Scharmützeln des Krieges entstanden ist und aus der Gier der Protagonisten in weitschweifende Horror-Szenarien mündet.
Was mit dem Verstand schwer zu fassen ist, beschreibt Barker äußerst minutiös und fast schon genussvoll, so dass Schmerz und Tod nahezu eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Alltagsroutinen darstellen. Dazu nimmt sich Barker viel Zeit für die Beschreibung seiner außergewöhnlichen Figuren und der Atmosphäre, in der sich diese bewegen. Dass er sich dabei oft biblischer Motive bedient, hebt die Geschichte in einen mal sakralen, dann wieder ketzerischen Kontext. Wie Whitehead und Mamoulian im Finale für eine letzte Auseinandersetzung zusammentreffen, ist einfach großartig und entschädigt für manche Passagen, in denen die Story nicht so recht vorankommen mag.

Paul Auster – „Die New York-Trilogie“

Sonntag, 19. März 2017

(Rowohlt, 375 S., Tb.)
Unter dem Namen William Wilson hat der New Yorker Schriftsteller Daniel Quinn nahezu im Jahrestakt einen Detektivroman veröffentlicht, nachdem er zuvor unter eigenem Namen noch Gedichte und kritische Essays geschrieben hatte. Das brachte ihm immerhin genügend ein, um nach dem halben Jahr, das er zum Schreiben eines Krimis benötigte, ein weiteres halbes Jahr mit Lesen, Kino und Spazierengehen durch die Stadt verbringen zu können. Doch dieser behagliche Rhythmus gerät aus dem Takt, als er eines Tages einen Anruf erhält, der eigentlich für einen Privatdetektiv namens Paul Auster gedacht gewesen ist. Auch wegen der Dringlichkeit ist Quinns Interesse geweckt.
Er soll einen Mann namens Peter Stillman davor beschützen, dass sein Vater ihn ermordet. Quinn alias Auster nimmt den Auftrag an, stöbert den Gesuchten auf und verfolgt ihn Tag und Nacht. Offensichtlich bewegt sich der Mann in bestimmten Grenzen, die Wege scheinen auf ein Schema hinzudeuten, auf Buchstaben, die mit dem Turmbau zu Babel zu tun haben.
„Er merkte, dass es keineswegs unangenehm war, Paul Auster zu sein. Obwohl er noch denselben Körper, denselben Verstand, dieselben Gedanken hatte wie sonst, war ihm zumute, als wäre er irgendwie aus sich selbst herausgenommen worden, als müsste er nicht mehr die Last seines eigenen Bewusstseins tragen. Durch einen einfachen Gedankentrick, eine geschickte kleine Namensänderung fühlte er sich unvergleichlich leichter und freier. Gleichzeitig wusste er, dass alles nur eine Illusion war.“ (S. 65) 
Und so verliert sich Quinn in „Stadt aus Glas“ bis zur Selbstaufgabe in einem Labyrinth der Identitäten und Illusionen. In der kürzesten der drei Novellen, „Schlagschatten“, wird dieses Thema auf noch abstraktere Weise fortgeführt. Hier werden die Figuren schlicht nach Farben benannt. Der von seinem Chef Brown eingearbeitete Blue bekommt in seinem New Yorker Büro am 3. Februar 1947 von White den Auftrag, einen Mann namens Black zu verfolgen und so lange wie möglich im Auge zu behalten. Auf den wöchentlichen Bericht, den White in genau definierter Form erwartet, folgt jeweils ein Scheck. Die Aufgabe erscheint nicht schwer. Blue bezieht eine Wohnung, die sein Auftraggeber für ihn angemietet hat, und beobachtet Black dabei, wie dieser in seiner Wohnung in Henry David Thoreaus „Walden“ liest und immer wieder in sein rotes Notizbuch schreibt. Irgendwann beginnt Blue, ebenfalls in „Walden“ zu lesen, sucht unter falschem Namen und verkleidet die Begegnung mit Black und wird für immer verändert …
Auch in „Hinter verschlossenen Türen“ wird der Leser mit einer Detektivgeschichte konfrontiert, die konventioneller beginnt als die beiden vorangegangenen. Vor sieben Jahren bekam der Ich-Erzähler einen Brief von einer Frau namens Sophie Fanshawe, die sich als Ehefrau seines besten Freundes entpuppt, mit dem er schon als Baby aufgewachsen ist, den er Zeit seines Lebens bewundert, aber irgendwann aus den Augen verloren hat. Fanshawe sei vor sechs Monaten spurlos verschwunden, schrieb sie. Der Erzähler wurde allerdings nicht damit beauftragt, Fanshawe zu suchen, sondern dessen unveröffentlichte Manuskripte zu sichten und zu entscheiden, was mit ihnen geschehen solle.
Kaum schlägt Fanshawes größtes Werk, der Roman „Niemalsland“, bei Kritik und Publikum ein, erhält der Erzähler einen Brief von Fanshawe. Indem er sich an die Biografie seines alten Freundes macht, begegnet er sich in vielerlei Hinsicht selbst …
Auch wenn die „New York-Trilogie“, deren drei Geschichten im Original zwischen 1985 und 1986 erschienen sind und den New Yorker Schriftsteller Paul Auster weltberühmt machten, zunächst voneinander unabhängig erscheinen, führt sie schon die thematische Ähnlichkeit zusammen. Was jeweils als klassische Detektivgeschichte beginnt, entwickelt sich im Verlauf der Handlung zu einer Auseinandersetzung zu Fragen der Rolle eines Autors und der Namen, unter denen er seine Werke veröffentlicht, es geht um die Biografien von Individuen, deren Sinn im Leben sich erst im Tod offenbart; letztlich geht es um Wahrnehmung und Identität, um Täuschung und Fiktion, um Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Auster erweist sich in diesem komplexen Territorium als stilistischer Meister. Mühelos zieht er den Leser in den Bann – vor allem bei „Stadt aus Glas“ und der hervorragenden letzten Geschichte „Hinter verschlossenen Türen“ -, lässt sich ihn von dem meist überraschten, dann zunehmend interessierten Erzähler/Protagonisten an die Hand nehmen und auf die Suche nach verschwundenen Personen gehen, deren Geschichte sich immer mehr mit der des Autors/Detektivs vermischt.
Am Ende jeder einzelnen Geschichte und vor allem am Ende der Trilogie bleibt der Leser ebenso fasziniert wie verwirrt zurück und beginnt bestenfalls, seine eigene Biografie und Identität zu hinterfragen.

Cormac McCarthy – „Draußen im Dunkel“

Samstag, 18. März 2017

(Rowohlt, 220 S., HC)
Irgendwo im Süden der Vereinigten Staaten bringt die 19-jährige Rynthie Holme in einer heruntergekommenen Hütte einen Jungen zur Welt. Der Vater des Kindes, Ryhnthies Bruder Culla, bringt das Neugeborene in den Wald und erzählt der jungen Mutter, dass das Kind verstorben sei. Tatsächlich wird es von einem umherfahrenden Kesselflicker aufgelesen. Rynthies entlarvt die Lüge ihres Bruders und macht sich auf die Suche nach ihrem Kind. Culla wiederum sucht nach seiner Schwester und nimmt unterwegs immer wieder einfache Jobs für Unterkunft und Essen an. Bei einem Friedensrichter zerlegt er einen Baum, an anderer Stelle soll er ein Grab ausheben.
Ihre ganze Suche nach dem Baby/der Schwester sind die Holmes auf die Gnade und Barmherzigkeit ihrer Mitmenschen angewiesen, auf einen kühlen Schluck Wasser hier, einen Teller voll Bohnen mit knochentrockenem Brot dort. Doch immer wieder begegnen sie auch Menschen, die es nicht so gut mit ihnen und ihren Mitmenschen meinen, Tod, Gewalt und Blut begleiten ihre Wege durch die kärgliche Landschaft ebenso wie Hunger und Durst und der Wunsch nach einem Dach über dem Kopf.
„Er marschierte hangab aus bebautem Land in sonnenloses Gehölz; die kühle Landschaft beschrieb eine dunkle, von riesigen Farnen überhangene Kurve, das graue Moos an den Bäumen wie Hexenhaar, ein grüner triefender Hag voller Vogellaute, wie er sie nie gehört hatte. Keine Spuren im festgetretenen Sand, auch er hinterließ keine.“ (S. 109) 
„Outer Dark“ ist der zweite, im Original 1968 veröffentlichte Roman des 1933 geborenen Schriftstellers Cormac McCarthy, der später durch seine erfolgreich verfilmten Romane „All die schönen Pferde“, „Kein Land für alte Männer“ und „Die Straße“ weltberühmt wurde. In „Draußen im Dunkel“, 1994 endlich durch den Rowohlt Verlag auch der deutschen Leserschaft zugänglich gemacht, beschreibt McCarthy von Beginn an eine düstere, schreckliche Welt, in der ein Geschwisterpaar in ärmlichen Verhältnisse durch die Folgen ihres Inzest auseinandergetrieben wird und sich in den staubigen, unwirtlichen Landstrichen einfach nicht wiederfinden, dafür immer wieder in Situationen geraten, in der sie um Wasser betteln, nach Mitfahrgelegenheiten oder Arbeit suchen, aber auch um ihr Leben kämpfen müssen.
Für ihre Sünde bezahlen Culla und Rynthie einen hohen Preis, ungeschützt irren sie durch von finsteren Gestalten bevölkerte Landschaften, atmen den Geruch von Blut und Tod und verzweifeln selbst an den erbärmlichen Verhältnissen, in die sie hineingezwungen wurden.
„Draußen im Dunkel“ ist ein zutiefst pessimistischer, deprimierender Roman, der keine Hoffnung bereithält, weder für die bemitleidenswerten Figuren noch für die Leser. Faszinierend ist vor allem, mit welch starken Bildern McCarthy die Landschaft und das schreckliche Schicksal seiner Protagonisten beschreibt, für die das Leben nur eine zermürbende Aneinanderreihung von Ärgernissen bereithält. Diese apokalyptische Wucht muss man auch als Leser erst einmal ertragen können.

Wallace Stroby – (Crissa Stone: 2) „Geld ist nicht genug“

Sonntag, 12. März 2017

(Pendragon, 336 S., Pb.)
1978 machten sechs Mafiosi richtig Kasse, als sie in das Lufthansa Cargo-Terminal am JFK-Flughafen marschierten und mit mindestens acht Millionen, nicht nachzuverfolgenden Dollar und Juwelen wieder herauskamen. Offensichtlich wurde einiges von dem Geld an die Bosse abgegeben, aber eine Menge blieb für die Mannschaft übrig. Allerdings wurden die Leute gierig. Jimmy „der Gent“ Burke, der das Ding durchzog, hatte immer einen Anteil an seinen Boss, Joey Dio, abdrücken müssen. Schon wenige Tage nach dem Job legten Jimmy und Joey die Beteiligten um, allein Benny Roth konnte rechtzeitig im Zeugenschutzprogramm untertauchen.
Nachdem nun aber auch Joey gestorben und das Geld von damals immer noch nicht aufgetaucht ist, macht sich nun Danny Taliferro mit ein paar Handlangern auf die Suche nach den verschwundenen Millionen und hat wenig Mühe, Benny ausfindig zu machen.
Zwar kann der mittlerweile 62-Jährige mit seiner viel jüngeren Freundin Marta gerade noch so fliehen, aber die nächste, sicherlich tödliche Konfrontation wird nicht lange auf sich warten lassen. Durch seinen alten Kumpel Jimmy lernt er die taffe Bankräuberin Crissa Stone kennen, Benny führt sie zum Anwesen von Joey Dios Geliebte, bei der er die Millionen im Safe vermutet, den Joey eigens im Keller einbauen ließ, doch bevor Benny und Crissa die Lage sondiert haben, sitzen ihnen schon wieder Taliferro und seine Jungs im Nacken …
„Sie war irritiert, wütend. Wieder etwas, das ihr weggenommen wurde. Zuerst der Schlamassel in South Carolina, dann Cavanaugh, jetzt das. Eine lange Kette von Pech. Ereignisse, die sie vorwärtstrieben, als wenn sie keine Kontrolle über sie hätte, keine Wahl, ihr Schicksal schon entschieden. Alles rutschte ihr weg, bevor sie es in Ordnung bringen konnte. Alles war auf dem Weg zur Hölle.“ (S. 172) 
Nach „Kalter Schuss ins Herz“ veröffentlicht der Bielefelder Pendragon-Verlag mit „Geld ist nicht genug“ den zweiten Roman um die charismatische Bankräuberin Crissa Stone, mit der der ehemalige Polizeireporter Wallace Stroby eine außergewöhnliche Figur geschaffen hat.
Stroby führt seine Protagonistin bei einem ihrer ganz speziellen Fähigkeiten ein, und das daraus resultierende Desaster macht deutlich, dass in Crissas Leben einiges im Argen liegt, ihr Lover Wayne sitzt noch im Gefängnis, ihre Tochter Maddie lebt bei einer Verwandten. Um mit Wayne und Maddie ein neues Leben anzufangen, braucht sie das gewisse Startkapital. Der Deal, den ihr Benny anbietet, klingt allzu verlockend, doch wenn die Mafia im Spiel ist, sind oft tödliche Komplikationen vorprogrammiert.  
Stroby beweist ein feines Händchen bei der Charakterisierung seiner Figuren, die er in einem äußerst realen Setting agieren lässt. Doch während Martin Scorsese aus dem spektakulären Lufthansa-Raub in seinem grandiosen Gangster-Epos „GoodFellas“ thematisierte, formt Stroby aus dem wahren Fall einen temporeichen Hardboiled-Thriller, der ohne Umschweife und unnötige Nebenhandlungen eine fesselnde Jagd nach den verschwundenen Millionen inszeniert.
Leseprobe Wallace Stroby - "Geld ist nicht genug"

Cynan Jones – „Alles, was ich am Strand gefunden habe“

Samstag, 11. März 2017

(Liebeskind, 237 S., HC)
Der polnische Emigrant Grzegorz hat in einer walisischen Küstenstadt auf ein besseres Leben für sich und seine Familie gehofft, kommt mit seiner Arbeit in einem Schlachthof aber mehr schlecht als recht gerade so über die Runden. Da kommt ihm das Angebot, als Fahrer eines Bootes für eine Kurierfahrt etwas hinzuzuverdienen, mehr als gelegen.
Auch der einheimische Garnelen-Fischer Hold träumt von einem glücklicheren Leben, trauert aber auch seinem besten Freund Danny nach, der vor drei Jahren gestorben ist und Hold das Versprechen abnahm, sich um seinen Sohn Jake zu kümmern, aber er kann nicht verhindern, dass das Haus, in dem der Junge mit seiner Mutter Cara lebte, wahrscheinlich verkauft werden muss.
Ebenso wie Grzegorz wartet Hold auf die einmalige Chance, aus seinem Leben etwas zu machen, genug Geld zu verdienen, um für Cara und Jake sorgen zu können. Als er am Strand ein Boot mit einer Männerleiche entdeckt, fallen ihm drei Drogen-Päckchen in die Hände.
„Er hatte dieses Bild von Cara vor sich gehabt, wie sie mit dem Hals in einem Netz steckte und sich bis zur Erschöpfung abkämpfte. Von seiner Mutter. Greif zu, dachte er. Greif zu und versuch, etwas daraus zu machen. Sonst stehst du wieder nur da und schaust zu.“ (S. 100) 
Doch als Hold die Drogen zu Geld machen will, läuft die Sache aus dem Ruder …
Aus der Perspektive zweier Männer, die nichts anderes vom Leben kennen, als zu arbeiten und mit ihrem kümmerlichen Lohn weit davon entfernt sind, ihre Träume verwirklichen zu können, beschreibt der walisische Schriftsteller Cynan Jones („Graben“) den harten Überlebenskampf und von den Träumen, irgendwie an so viel Geld zu kommen, dass das Elend hinter sich gelassen werden kann.
Die Handlung gerät dabei fast in den Hintergrund und wird auch nicht mit Tempo vorangetrieben. Der verpatzte Drogendeal dient nur als Aufhänger für das vermeintliche Glück, das Grzegorz und dann Hold unerwartet in die Hände fällt, aber letztlich nicht erfüllt wird. Jones fokussiert seine Erzählung eher auf die nachdenklich-melancholische Stimmung, in der die beiden Arbeiter verzweifelt nach einer Möglichkeit suchen, ihre Familien ordentlich versorgen zu können.
Indem Jones sein Figuren-Ensemble auf ein Minimum beschränkt und sehr tief in ihre emotionalen Gefilde eintaucht, entsteht ein Roman von fesselnder Eindringlichkeit, die vor allem durch die wunderbare Sprache evoziert wird.
Leseprobe Cynan Jones - "Alles, was ich am Strand gefunden habe"

Paul Auster – „4 3 2 1“

Montag, 6. März 2017

(Rowohlt, 1259 S., HC)
Als Enkel des aus Minsk stammenden Großvaters Isaac Reznikoff, der über Warschau, Berlin und Hamburg am Neujahrstag 1900 nach New York kam und sich fortan nach einem Missverständnis bei der Immigration Ichabod Ferguson nannte, wächst Archibald „Archie“ Ferguson im Newark der fünfziger Jahre auf.
Sein Vater Stanley, der tüchtigste von insgesamt drei Ferguson-Jungen, lernte 1943 seine damals 21-jährige Frau Rose Adler kennen, die bei dem Portraitfotografen Emanuel Schneiderman arbeitete, während er das lange Zeit erfolgreiche Geschäft Three Brothers Home World führte, bis es sich durch die kriminelle Energie seines Bruders Lew buchstäblich in Rauch aufgelöst hat, wobei er selbst in den Flammen umkam. Doch was wäre geschehen, wenn Stanley Ferguson nicht im Lagerhaus seines Geschäfts verbrannt wäre?
Dies ist nur eine der möglichen Weggabelungen im Leben von Archie Ferguson, der sich in den fünfziger Jahren für Baseball und Basketball begeistert, nach dem tragischen Autounfall mit seiner Tante Mildred aber an zwei Fingern verstümmelt wurde und seitdem eine Karriere als Journalist bzw. Autor einschlägt, sich in seine Cousine Amy verliebt (oder in die Schwester eines Freundes), aber seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Jungen macht und auch später keine eindeutigen Präferenzen bei der Partnerwahl hegt.
Die Sommerferien verbringt er mit anderen jüdischen Jugendlichen im Camp Paradise, wo er seinen guten Freund Artie Federman durch ein Hirnaneurysma verliert. Archie beginnt sich für klassische Musik, große Literatur oder grandiose Filme zu interessieren – je nachdem, wie sich die Wege seines Lebens ausgestalten. Ferguson erlebt die Wahl John F. Kennedys, die Kuba-Krise, die Attentate auf Kennedy und Martin Luther King, reist nach Paris und wird Walt-Whitman-Stipendiat an der Universität von Princeton.
„Er war nicht mehr der Junge, der mit vierzehn als schwachköpfiger Niemand Sohlenverwandte geschrieben hatte, doch er trug diesen Jungen noch immer in sich und spürte, dass sie beide einen langen gemeinsamen Weg vor sich hatten. Das Fremde mit dem Vertrauten verbinden: Das war es, was Ferguson anstrebte, die Welt so genau beobachten wie der hingebungsvollste Realist und sie trotzdem durch eine andere, leicht verzerrte Linse sehen, denn wer Bücher las, die nur auf Vertrautes eingingen, erfuhr zwangsläufig, was er schon wusste …“ (S. 659) 
Auch wenn Paul Austers neuer Roman „4 3 2 1“ weit umfangreicher ist als viele seiner bisherigen Bücher zusammen, bleibt er seinen bevorzugten Themen doch treu und verknüpft sie auf atemberaubend virtuose Weise. Es ist vor allem ein grandioser Coming-of-Age-Roman, der nicht nur eine Entwicklungsgeschichte beschreibt, sondern derer gleich vier. Der bei Auster so beliebt eingesetzte Zufall und seine Auswirkungen auf das weitere Geschehen und die Geschichte werden in „4 3 2 1“ zu gleich vier Lebensentwürfen ausgestaltet, die nebeneinandergestellt werden und stets interessante Züge annehmen.
Vor dem Hintergrund großer politischer Ereignisse wie dem Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegungen, Rassenkonflikten und Studentenunruhen, politischen Skandalen und Hiroshima entdeckt Archie Ferguson seine zügellose sexuelle Begierde, seine Liebe zu den großen kulturellen Errungenschaften, bewertet seine Beziehungen zu seinen Eltern, Freunden und Verwandten immer wieder neu und versucht letztlich nur, unter stets schwierigen Umständen und nach schweren emotionalen Rückschlägen seinen Weg und sein Glück zu finden.
Zwar verliert der Roman im letzten Viertel doch etwas an Schwung, aber die Idee, einen jungen Menschen über zwanzig Jahre lang auf vier verschiedenen Wege zu begleiten, ihn an der Columbia oder in Princeton studieren, ihn als Journalist oder Schriftsteller arbeiten und diese oder jene Menschen lieben zu lassen, ist in seiner Detailverliebtheit, in der sprachlichen Ausgestaltung und unter ausführlicher Einbeziehung all der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Begleiterscheinungen einfach großartig.
 Leseprobe Paul Auster - "4 3 2 1"

Anthony McCarten – „Licht“

Mittwoch, 22. Februar 2017

(Diogenes, 364 S., HC)
New York im Jahr 1878. Der schwerhörige Erfinder Thomas Alva Edison arbeitet im Alter von 32 Jahren an der Erfindung der Glühbirne. Als der berühmte Bankier John Pierpont Morgan – der von der Times sogar als „Napoleon der Wall Street“ bezeichnet wird - im Dezember in der New York Times vom Triumph des großen Erfinders liest, sieht er bereits das große Geschäft vor Augen, das die Elektrifizierung der Stadt verspricht.
Doch das Projekt ist noch weit davon entfernt, in die Praxis umgesetzt zu werden, denn bislang hält die Leuchtkraft einer Birne nur für zwei Stunden an. Edison schickt einen Mann auf der Suche nach dem idealen Glühfaden durch die ganze Welt, hat aber auch mit dem hartnäckigen Konkurrenten Nikola Tesla zu kämpfen, der bei jeder Gelegenheit öffentlich proklamiert, dass sein Wechselstrom viel besser sei als der von Edison bevorzugte Gleichstrom.
Was Edison aber wirklich entsetzt, ist die Tatsache, dass sein Stromkonzept auch zur humaneren Hinrichtung von Menschen eingesetzt werden soll …
„Er dachte an die Ketzer der Wissenschaft im Laufe der Geschichte, verurteilt für Ansichten oder Entdeckungen, die als Verbrechen galten, Leute, die sich weigerten, zu widerrufen oder zu leugnen. Jetzt spürte er deutlich, was für einen Preis solche Leute für ihre Tapferkeit und Aufrichtigkeit bezahlt hatten. Und wie stand er im Vergleich zu solchen Männern da? Wer war er im Vergleich zu einem Galileo oder Giordano Bruno?“ (S. 272) 
Der neuseeländische Autor Anthony McCarten, der durch das Theaterstück bzw. das Drehbuch zum (unautorisierten) Film „The Full Monty – Ganz oder gar nicht“ und international bekannt geworden ist, hat auch mit seinen Romanen „Englischer Harem“, „funny girl“ oder „Liebe am anderen Ende der Welt“ weltweit Publikum und Kritiker begeistern können.
Auch der 2012 erschienene Roman „Brilliance“ ist 2010 zunächst als Theaterstück konzipiert gewesen, bevor er jetzt bei Diogenes unter dem Titel „Licht“ in deutscher Übersetzung erscheint. Auf den Ausführungen von Edisons Biografen und Historikern basierend schildert der Roman das beschwerliche Leben eines großen Mannes, der mit seinen Erfindungen stets das Leben der Menschen erleichtern wollte, aber nicht zuletzt durch den teuflischen Pakt mit dem Finanzier J. P. Morgan mit zunehmenden Alter erkennen musste, dass seine Erfindungen ein Eigenleben entwickelten, dem er nichts entgegenzusetzen hatte.
Wie in seinen vorangegangenen Werken erweist sich McCarten in „Licht“ einmal mehr als sehr Erzähler außergewöhnlicher Schicksale. Zwar könnte er bei der Charakterisierung seiner Figuren, die sich bei „Licht“ nahezu auf Edison und Morgan beschränkt, noch mehr in die Tiefe gehen und auch den Interessenkonflikt zwischen den beiden Männern deutlicher herausarbeiten, aber bei aller knackiger Dramaturgie wird doch deutlich, wie sehr Edisons Herzensangelegenheiten (vor allem seine beiden Ehen) und vor allem sein Gewissen unter der gnadenlosen Kommerzialisierung seiner Erfindungen leiden.
Auf der anderen Seite wird gerade im Finale sehr pointiert herausgestellt, wie die skrupellosen Geschäftsinteressen mächtiger Bankiers die Geschicke der Welt leiten.
McCarten präsentiert mit „Licht“ die etwas andere, leicht zu konsumierende Biografie eines außergewöhnlichen Mannes, der unter dem Druck der übermächtigen Geschäftswelt zusammenbricht.
Leseprobe Anthony McCarten - "Licht"

Gerhard Henschel - (Martin Schlosser: 7) „Arbeiterroman“

Sonntag, 19. Februar 2017

(Hoffmann und Campe, 527 S., HC)
Nach dem Abbruch seines Studiums beginnt für den 25-jährigen Martin Schlosser 1988 der Ernst des Lebens. Um die Miete seiner Wohnung in Oldenburg bezahlen zu können, jobbt er als Hilfsarbeiter in der Spedition für neun Mark die Stunde, während seine Freundin Andrea immerhin eine Mark mehr bekommt, wenn sie putzen geht. Eigentlich will Schlosser sein Prosadebüt mit dem Arbeitstitel „Die Weißheit der Indianer“ bei einem Verlag unterbringen, doch trotz etlicher Absagen lässt er sich nicht unterkriegen und bekommt mit seinen Kurzgeschichten und Reportagen immerhin beim „Alltag“ einen Fuß in die Tür.
Zwischen der Plackerei in der Spedition und dem Schreiben von Reportagen über das Leben im friesischen Jever und Kaffeefahrten verbringt Schlosser seine Zeit mit dem Lesen von „Der Spiegel“, „Frankfurter Rundschau“, „taz“, „Kowalski“, „Titanic“, „konkret“ und Karheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ sowie Romanen von Eckhard Henscheid, John Le Carré und Walter Jens. Vor allem hält ihn aber seine Familie auf Trab.
Seine Mutter möchte aus Meppen wegziehen, was der Vater überhaupt nicht versteht, dann bringt sich sein Cousin Gustav um, und der Mutter geht es mit ihrem Lymphdrüsenkrebs immer schlechter. Schließlich zieht Schlosser mit seiner Andrea nach Heidmühle, wo Schlosser nun in einer Kneipe jobbt und die Folgen der Wiedervereinigung am eigenen Leib zu spüren bekommt.
 „Die DDR-Menschen, die sich im Fernsehen äußerten, sahen fast alle so aus, als ob sie sich um eine Nebenrolle in einer Parodie auf die TV-Serie Miami Vice bewerben wollten. Sie trugen sonderbare Formfleischfrisuren und hatten sich gruselige Oberlippenbärte wachsen lassen, die in mir den Verdacht erweckten, daß die realsozialistische Mangelwirtschaft auch dem Bartwuchs hinderlich gewesen sei.“ (S. 410)
Aufmerksam verfolgt Schlosser das Zeitgeschehen und steht auch einer spirituellen Weiterentwicklung offen gegenüber, während seine Freundin Andrea vielleicht doch nicht mehr mit Kindern arbeiten, sondern als Bauchtänzerin Karriere machen möchte …
Nach „Kindheitsroman“, „Jugendroman“, „Liebesroman“, „Abenteuerroman“, „Bildungsroman“ und „Künstlerroman“ legt der bei Hamburg lebende Schriftsteller Gerhard Henschel mit „Arbeiterroman“ bereits den siebten Band der großartigen Chronik seines Ich-Erzählers und Alter Egos Martin Schlosser vor.
Wie gewohnt gehen in kurzen Absätzen Alltagsbeschreibungen und -bewältigung, Familien- und Liebesprobleme, Lese- und Hörgewohnheiten sowie geistvolle Kommentare zum Zeitgeschehen fast nahtlos ineinander über und bilden so über einen Zeitraum von über einem Jahr umfassend sowohl Schlossers (alias Henschels) Kampf um die Anerkennung als Autor (inklusive Aufnahme bei der Künstlersozialkasse) als auch familiäre Auseinandersetzungen ab.
Besonders amüsant fallen aber vor allem seine Beobachtungen und Kommentare zu politischen Entwicklungen wie der Auflösung der DDR und kulturgeschichtlichen Anekdoten wie den Themen, die in der NDR Talk Show oder im Feuilleton der Tages- und Wochenzeitungen abgehandelt werden. Das ist so lebendig geschrieben, als würde der Leser die Jahre 1988 bis 1990 noch einmal live miterleben und dazu die humorvoll-bissigen, aber durchaus treffenden Analysen zum Zeitgeschehen gleich mitgeliefert bekommen.

Philippe Djian – „Blau wie die Hölle“

Sonntag, 12. Februar 2017

(Diogenes, 394 S., Tb.)
Auf dem Weg zu seiner Freundin Lucie wird Henri an einer Autobahnraststätte abgesetzt, wo er Zeuge wird, wie der Fahrer eines Buick den Laden betritt, die Toilette in Brand setzt und den Moment, als der Barkeeper das Feuer löschen will, zum Ausräumen der Kasse nutzt. Henri begleitet den Typen namens Ned kurzerhand auf seiner Flucht, aber die beiden haben unverzüglich den wirklich fiesen Bullen Franck in seinem Mercedes im Nacken.
Seit ihm seine geliebte Frau Lili vor sechs Tagen den Laufpass gab, kennt der ohnehin cholerische Cop keine Gnade mehr. Nachdem er mit seinem Kollegen Willy den Buick von der Straße gedrängt und die beiden flüchtigen Männer in Gewahrsam genommen hat, schleppt er seine Gefangenen direkt nach Hause, kettet sie im Badezimmer an und wartet darauf, dass Lili zu ihm zurückkommt.
Doch als sie mit Carol, seiner Tochter aus erster Ehe, aufkreuzt, fliehen die beiden Frauen mit Ned und Henri, worauf eine wilde Verfolgungsjagd über Landesgrenzen hinweg ihren Lauf nimmt …
In der Zwischenzeit tröstet sich Franck mit allen Frauen, die ihm während der Verfolgung von Ned und Henri über den Weg laufen.
„Er zuckte mit den Schultern, jetzt, wo sie ihre Spalte verbarg, blieb nichts mehr, für den Bruchteil einer Sekunden hatte er sich von ihr angezogen gefühlt, er hätte sie aufgespießt, doch gleichzeitig hätte er sich um ihre Tränen gekümmert, er hätte es versucht, aber es war vorbei, er tigerte mit seinem Glas durch das Zimmer, und als er zum Sofa zurückkam, hatte er sie völlig vergessen, sie war still, er streckte sich aus und legte einen Arm über seine Stirn, die Gedanken kamen zuhauf, die Bilder prasselten auf ihn ein, ohne jeden Bezug, sie überlappten sich, betäubten ihn.“ (S. 274) 
1986 war ein extrem gutes Jahr für den französischen Schriftsteller Philippe Djian, da wurden nämlich sowohl sein 1982 veröffentlichter Debütroman „Blau wie die Hölle“ durch Yves Boisset als auch sein dritter Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) durch Jean-Jacques Beineix verfilmt. Tatsächlich präsentiert sich „Blau wie die Hölle“ wie ein atemberaubender Trip zwischen Godards Kultfilm „Atemlos“, Sam Peckinpahs „Getaway“ und David Lynchs „Wild at Heart“.
Der Roman stellt einen wilden Mix aus Sex und Gewalt dar, wobei der klassische Road-Movie-Plot nur das Gerüst darstellt, an dem sich die kaputten Typen, Männer wie Frauen, entlanghangeln, vielmehr hetzen, denn echte Verschnaufpausen sind weder den Flüchtenden noch den Cops vergönnt.
Das wahnwitzige Tempo der Handlung findet seine Entsprechung in Djians flotter Schreiber und einem coolen Stil, der sich in Sätzen voller Kommata oder auch ohne Satzzeichen konzentriert. Es bleibt bei dieser Hatz durch ein unbekanntes, aber an die USA erinnerndes Land, wobei eine Grenze in die Wüste überquert wird, auch dem Leser kaum Zeit, sich mit den Figuren auseinanderzusetzen, denen nichts wirklich heilig oder auch nur wichtig scheint. Was man begehrt, nimmt man sich einfach. Dieser Nihilismus wirkt dabei ebenso erfrischend wie anstrengend, auf der Suche nach Bedeutung wird der Leser schier verzweifeln. Aber wer das Tempo von „Blau wie die Hölle“ mitgehen kann, wird mit grober Action und ebenso grobem Sex belohnt.

Clive Barker – „Gyre“

Samstag, 11. Februar 2017

(Heyne, 599 S., Jumbo)
Als der 26-jährige Versicherungsangestellte Calhoun Mooney die ausgebüchste Nummer 33 der etwa vierzig Tauben seines Vaters wieder einfangen will, stürzt er bei einem waghalsigen Einfangmanöver vom Fenstersims eines Hauses in der Rue Street und einem außergewöhnlichen Teppich entgegen, der gerade vom Grundstück getragen wird. In ihm erkennt Cal eine fantastische Welt, die ein immerwährendes Abenteuer verheißt. Doch hinter diesem gewebten Kunstwerk sind auch der 52-jährige zwielichtige Händler Shadwell und die Zauberin Immacolata her, die die verkommene Welt der Menschen wie ihre bösartigen Schwestern als Königreich der Cuckoo bezeichnet. Immaculata hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Volk der Seher zu vernichten, aus dem sie einst verbannt worden ist, die Fuge zu finden und ihr lichtes Herz zu brechen. Sie will mit Shadwell zusammen die Fuge zur Auktion anbieten und die vier in der Fuge lebenden Familien des Volkes der Seher in die Sklaverei verkaufen oder zu einem trostlosen Dasein verdammen.
Die als Seherin begabte Mimi Laschenski hat bis zu ihrem Todestag über die Fuge gewacht, die in dem geheimnisvollen Teppich gewebt ist, und Legenden nach sich zog, in denen Dichtung und Wahrheit nicht mehr auseinandergehalten werden konnten. Nun ist es an ihrer Enkelin Suzanna, die vor der mutwilligen Zerstörung bedrohte Webwelt zu retten.
Zunächst steht ihr dabei Cal zur Seite, der einen wahnsinnigen Dichter als Großvater hatte und deshalb für die Welt der Fuge empfänglich ist. In einem gemeinsamen Traum erscheinen Suzanna und Cal die fünf märchenhaften, verschiedenen Familien der Seher entstammende Gestalten Lilia Pellicia, Frederick Cammell, Apolline Dubois, Jerichau St. Louis und das Baby Nimrod, die dem kleinen Stück des Teppichs entstiegen sind, das sich bei seinem Transport gelöst hat. Nach einem fürchterlichen Tumult, der sich bei der geplanten Auktion des Teppichs entfacht hat, kann Suzanna mit Jerichau und dem Teppich fliehen, doch nun haben sie nicht nur Shadwell und Immacolata im Nacken, sondern auch den bösartig-gierigen Inspektor Hobart.
Shadwell verkleidet sich als Prophet und zettelt mit seinen Gefolgsleuten einen Heiligen Krieg an, um die Fuge unter den Händen derjenigen sterben zu lassen, die ausgezogen sind, um sie zu retten …
„Es war, als hätte seine Maskerade ihm tatsächlich prophetische Gaben verliehen. Er hatte die Webarbeit gefunden, wie er gesagt hatte, und er hatte sie ihren Bewahrern abgenommen; er hatte seine Anhänger ins Herz der Fuge geführt und alle, die sich ihm widersetzt hatten, mit fast übernatürlicher Geschwindigkeit zum Schweigen gebracht. Bei seinem derzeitigen hohen Status gab es keinen anderen Weg nach oben mehr als den zur Göttlichkeit, und das Mittel dazu war von dort sichtbar, wo er stand.“ (S. 359) 
Mitte der 1980er Jahre sorgte der aus Liverpool stammende und in vielerlei künstlerischen Disziplinen beheimatete Clive Barker mit den sechs „Büchern des Blutes“ für eine nachhaltige Revitalisierung des Horror-Genres. Auch wenn viele der – meist leider unterirdischen - Verfilmungen vor allem seiner Kurzgeschichten wie „Underworld“, „Rawhead Rex“ und „Hellraiser“ Barkers hervorragenden Ruf in diesem Genre zementierten, entwickelte sich Barker vor allem als Autor phantastischer Werke weiter und präsentierte nach seinem Debütroman „Spiel des Verderbens“ 1987 sein erstes Epos „Weaveworld“, das hierzulande 1992 unter dem mysteriösen Titel „Gyre“ veröffentlicht worden ist.
Barker erweist sich mit diesem Werk als der wahrscheinlich visionärste Autor seiner Zunft. Scheinbar mühelos entwirft er ganze Welten, die inner- und unterhalb unserer wahrgenommenen Welt existieren und nur eine Fuge von ihr entfernt sind. „Gyre“ ist dabei Schöpfungsgeschichte und Apokalypse in einem, ein von entfesselten Imaginationen geprägtes Fantasy-Werk, das Bezug auf die Evangelien der Bibel aber auch auf die mystischen Traditionen der Welt nimmt und die Kraft von Liebe, Hoffnung und Träumen beschwört. Sein von höchst originellen, kaum mit dem Verstand fassbaren Ideen überquellender Stil regt auf nahezu jeder Seite die Fantasie des Lesers an, dass der Geschichte selbst oft schwer zu folgen ist.
Zwar bleibt das Figuren-Ensemble übersichtlich, doch machen die Charaktere so viele Transformationen durch, dass in jeder Kreatur unzählige weitere zu schlummern scheinen, jede davon so vielgestaltig, dass sie das Vorstellungsvermögen zu sprengen droht. Clive Barker hat in „Gyre“ fraglos seiner eigenen Vorstellungskraft keine Grenzen gesetzt, aber bei aller brillanter Fabulierkunst verliert er doch immer wieder die Dramaturgie seines komplexen Plots aus den Augen, so dass sich der Leser eher in den ausschweifenden Visionen verliert, als von der eigentlichen Geschichte gefesselt zu bleiben.
In späteren Epen wie der „Abarat“-Reihe, „Imagica“ und „Jenseits des Bösen“ ist es Barker besser gelungen, dieses Ungleichgewicht befriedigend zu lösen. Nichtsdestotrotz bietet „Gyre“ einfach eine grandiose Fülle an sprachlichen Zaubereien und fantasievollen Figuren und Settings, dass es eine Wonne ist, Barkers Visionen zu folgen.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 13) „Straße der Gewalt“

Montag, 6. Februar 2017

(Pendragon, 520 S., Pb.)
In der Woche nach Labor Day versucht Dave Robicheaux, Detective der Mordkommission beim Iberia Parish Sheriff’s Department, den Mann zu finden, der vor drei Monaten seinen langjährigen Freund, den nicht ganz unbescholtenen Priester Jimmie Dolan, brutal zusammengeschlagen hat. Die erste Spur führt zu Gunner Ardoin, einem Crystal vertickenden Kleinganoven und Darsteller in einigen Pornos von Fat Sammy Figorelli, doch eine Bundesbeamte namens Clotile Arceneaux macht Robicheaux auf den Blues-Musiker Junior Crudup aufmerksam, der in den 1950er Jahren im Angola-Staatsgefängnis verschwunden ist. Doch bis er durch einen Mitgefangenen über Crudups unrühmlicher Geschichte in Kenntnis gesetzt wird, macht sich weiterhin Gewalt in den Straßen des ansonsten so ruhigen New Iberia breit.
Zunächst wird die minderjährige Tochter von Dr. Parks bei einem Autounfall getötet, nachdem ihr verbotenerweise in einem Daiquiri-Laden von Castille LeJeune Alkohol verkauft worden war. Dann wird der Pächter des besagten Ladens erschossen, die schlampig entsorgte Tatwaffe führt zu einem von LeJeunes Angestellten, Will Guillot.
Und schließlich wird ein Mafioso namens Frank Dellacroce ermordet, für den der Clan Robicheaux verantwortlich macht und der zwei skrupellose Killer auf ihn ansetzt. Unklar ist, wie Merchie und seine Frau Theo Flannigan ins Bild passen, ebenso der berüchtigte IRA-Killer Max Coll.
„Ich hatte meinen Arbeitsplatz mit der Bereitschaft verlassen, Merchie den Tag zu versauen, und nun hatte ich es geschafft, ihn in meinem Kopf mit seinem Schwiegervater in Verbindung zu bringen und den Grausamkeiten der Rassendiskriminierung von Louisianas Vergangenheit. Wo lag meine Motivation? Einfache Antwort: Ich musste nicht darüber nachdenken, dass ich Frank Dellacroce absichtlich in Max Colls Visier bugsiert hatte.“ (S. 211) 
Auch wenn Robicheaux immer wieder von seiner Chefin Helen zur Vorsicht angehalten wird, bringt er sich mit seinem alten Kumpel, dem mittlerweile in New Orleans als Privatermittler tätigen Clete Purcel, immer wieder in teils lebensbedrohliche Schwierigkeiten und bringt einmal die Reichen und Mächtigen so gegen sich auf, dass er das Ziel seiner Ermittlungen aus den Augen zu verlieren droht … Nachdem Robicheaux seine letzte Frau Bootsie beim Brand seines Hauses verloren hat und seine Adoptivtochter Alafair aufs College geht, ist er in seinem 13. Fall ziemlich auf sich allein gestellt, doch Frauen spielen nach wie vor eine nicht unbedeutende Rolle in „Straße der Gewalt“.
Als ehemalige Geliebte, wütend-trauernde Witwen oder taffe Cops sorgen sie immer wieder für dramaturgisch auflockernde Akzente. Charakteristisch ist aber vor allem die Gewalt, die wie zäher Schleim an Robicheaux und seinem Kumpel Clete zu kleben scheint und deren Spur die beiden durch die ganze Handlung ziehen.
Mit Rückblicken auf die Zeit in Vietnam und die Beziehung zwischen dem schwarzen Musiker Crudup und seiner weißen Gönnerin Andrea LeJeune wird der Plot ebenso aufgelockert wie durch die diversen Killer, deren Auftraggeber lange im Dunklen bleiben.
James Lee Burke gelingt es einmal mehr, den charismatischen Vietnam-Veteran, Anonymen Alkoholiker und Detective Dave Robicheaux durch eine undurchsichtige Handlung zu bugsieren und dabei jede Menge Prügel und deftige Sprüche einzuflechten. Das ist zwar alles allzu vertraut, aber da auch die Nebenfiguren interessant gezeichnet sind, die Story kaum Zeit zum Durchatmen lässt und die Landschaft wieder sehr eindringlich geschildert ist, vermag auch „Straße der Gewalt“ von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln.

Martin Suter – „Die Zeit, die Zeit“

Samstag, 4. Februar 2017

(Diogenes, 297 S., Tb.)
Seit dem Mord an seiner Frau Laura, die vor gut einem Jahr ihren Schlüssel vergessen hatte und während sie darauf wartete, dass ihr Mann die Tür öffnet, von einem Unbekannten erschossen worden ist, hat der 42-jährige Finanzbuchhalter Peter Taler jeden Antrieb verloren, weshalb er in der Baufirma, für die er arbeitet, bereits kritisch angesprochen wurde. Nach Feierabend setzt er sich in der Regel mit seinem ersten Feierabend-Bier ans Fenster seiner im zweiten Stock gelegenen Wohnung im Gustav-Rautner-Weg 40, kocht Spaghetti Pomodoro, spielt „Back to Black“ von Amy Winehouse und versucht auch sonst, in seinem Leben das Bild jenes Abends zu konservieren, als Laura starb.
In ihrem unverändert belassenen Zimmer zündet er sogar ihre Zigaretten an und lässt sie im Aschenbecher langsam runterbrennen. In dem etwas skurrilen Nachbarn Knupp findet Taler nahezu einen Gleichgesinnten. Auch er verlor seine Frau Martha, nachdem sie aus dem Urlaub in Nigeria zurückgekehrt waren und sie nach kurzer, aber schwerer Krankheit starb. Knupp hofft allerdings, die Geschicke ändern zu können, wenn er noch einmal genau die Zustände des schicksalhaften 11. Oktober 1991 herstellen und so den Tod seiner Frau abwenden kann.
Denn nach der Theorie des 1988 verstorbenen Walter W. Kerbeler wird Zeit allein durch Veränderung definiert. Wenn aber keine Veränderung stattgefunden hat, ist auch keine Zeit vergangen. Dass auch seine Frau Kerbelers Hauptwerk „Der Irrtum Zeit“ bei einem Antiquariat in Auftrag gegeben hat, macht Taler neugierig.
Er unterstützt den alten Witwer bei seinem umfangreichen Unterfangen, die von seinem Haus erkennbare nähere Umgebung in den Zustand vor zwanzig Jahren zurückzuversetzen, beauftragt ein Gartenbauunternehmen und jemanden, der die Automodelle auftreibt, die damals auf den Parkplätzen standen, und sie entsprechend umlackiert, tauscht Pflanzen und Müllcontainer aus und überprüft anhand unzähliger Fotografien von damals die Übereinstimmungen und Abweichungen. Im Gegenzug erwartet Taler Hilfe bei der Aufklärung des Mordes an Laura, denn auf einem von Knupps Fotos ist ein verdächtiges Moped zu sehen, dessen Halter Taler unbedingt ausfindig machen will. Doch als Taler in Lauras Privatleben beginnt herumzuschnüffeln, entdeckt er eine geheime Seite an ihr, die ihn zutiefst verunsichert.
„An diesem Nachmittag hatte sich das Gefühl, mit dem er an Laura zurückdachte, verändert. Er spürte nicht mehr das Bedürfnis, ihre Leibspeisen zu kochen, ihr Parfum zu versprühen, ihre Zigaretten abzubrennen, ihre Musik zu spielen. Er wollte die Illusion, sie wäre noch da, nicht beschwören, solange ihre Beziehung zu dem Mopedmann nicht geklärt war. Und damit die zu ihm.“ (S. 180) 
Mit „Die Zeit, die Zeit“ hat der aus Zürich stammende Martin Suter einen Zeitreiseroman der besonderen Art geschrieben. Statt jedoch in die Zeit zurückzureisen, um von bestimmten Schlüsselmomenten in der Vergangenheit aus so zu handeln, dass unerwünschte Ereignisse in der Zukunft nicht eintreten – wie in Robert Zemeckis fantastischer „Zurück in die Zukunft“-Trilogie -, strebt mit Knupp zumindest einer der Protagonisten in Suters Roman danach, die Zeit einfach nicht vergehen zu lassen, so dass er von dem letztlich durch eigenes Tun bewirkte Wiederherstellung einer Situation vor zwanzig Jahren die Zukunft in andere Bahnen lenken und seine Frau am Leben lassen kann, indem sie wie von ihr gewünscht nach Nepal und nicht Afrika reisen.
Bei aller minutiösen Planung wirkt das Experiment allerdings wenig schlüssig, das Wetter und verschiedene andere Aspekte können einfach nicht wie vor zwanzig Jahren rekonstruiert werden. Doch davon abgesehen gelingt es Suter auch nicht, die beiden Witwer mit überzeugendem Leben zu füllen. In ihrem gemeinsamen Bemühen, die Erinnerung an ihre geliebten Frauen wachzuhalten, wirken sowohl Taler, vor allem aber Knupp seltsam schablonenhaft. Einzig durch die eingeflochtene Kriminalgeschichte, in der nicht nur Lauras Ermordung, sondern auch ein vor kurzer Zeit verübter ähnlicher Mord aufgeklärt werden soll, wird die Spannung hochgehalten, während das große Experiment, das eigentlich im Zentrum des Romans steht, einfach nur zum Scheitern verurteilt scheint.
So interessant das Überlistung-der-Zeit-Thema auch ist, vermag Suter dem Sujet doch keine wirklich neuen Aspekte hinzuzufügen. Seine Figuren sind dabei ebenso trocken geraten wie seine schnörkellose Sprache, die nüchtern die Handlung beschreibt, ohne emotionale Tiefen auszuloten.
Leseprobe Martin Suter - "Die Zeit, die Zeit"

Andrea De Carlo – „Wir drei“

Freitag, 3. Februar 2017

(Diogenes, 662 S., HC)
Am 12. Februar 1978 hat Livio gerade so sein Examen in Geschichte des Mittelalters bestanden. Im Gegensatz zu seinem besten Freund und Kommilitonen Marco Traversi, der keine Veranlassung gesehen hat, den Unmut der Prüfungskommission etwas abzufedern, und konsequenterweise auf das Diplom verzichtete, gab Livio klein bei und machte mit seinem Diplom zumindest seine Mutter und Großmutter zufrieden. Am Abend lernt er nach einer Feier Misia Mistrani kennen, als er die junge Frau aus einer unerfreulichen Situation mit einem jungen Mann befreit, doch bis er Misia wiedersieht, vergeht die Zeit, in der Livio teils chaotisch, teils verschlafen und unbestimmt in seinem Mailänder 42-Quadratmeter-Apartment darüber nachsinnt, was er mit seinem Diplom und seiner Zukunft anfangen soll.
Erst als sein Freund Marco beginnt, auf seine ihm eigene ungestüme, impulsive Art und Weise einen Film zu machen, in dem Misia aus einer zufälligen Besucherin zur Hauptdarstellerin avanciert, entwickelt sich eine über alle Maße dynamische Freundschaft zwischen den drei Künstlern. Marcos Film wird dank der Schützenhilfe seines Freundes Settimio zu einem Independent-Festival-Erfolg, Misia zu einer begehrten Person des öffentlichen Lebens, die jedoch kein Interesse daran hat, weitere Filme zu machen, und Livio entwickelt sich – nach entsprechender Ermutigung durch Misia – zu einem respektablen Maler.
Doch über die Jahre verlieren sich Livio, Marco und Misia immer wieder aus den Augen, verraten ihre alten Ideale und gehen bürgerliche und andere Beziehungen ein, werden Großgrundbesitzer, selbstversorgende Kommunenmitglieder und kommerzieller Filmemacher, verstreuen sich auf die Balearen, nach London und Paris und Südamerika, doch immer wieder kreuzen sich hier und da die Wege von Livio und Marco auf der einen, von Livio und Misia auf der anderen Seite.
„Ich fragte mich, woran es lag, dass ich in ihr so lange mein Frauenideal gesehen und dieses Ideal, immer wenn ich eine neue Seite ihres komplexen Wesens entdeckte, um weitere Elemente bereichert hatte; ob ihr jemals bewusst geworden war, was sie mir wirklich bedeutete, ob sie es ausgenutzt hatte; ob sie wusste, dass ich alle anderen Frauen in meinem Leben ständig mit ihr verglichen hatte, nur um jedesmal festzustellen, wie schlecht sie dabei abschnitten; ob sie sich vorstellen konnte, welch schreckliches Gefühl des Mangels sie immer wieder in mir verursacht hatte.“ (S. 562) 
Livio, der Ich-Erzähler in De Carlos 1997 bzw. 1999 in deutscher Sprache veröffentlichten Roman „Wir drei“, wirkt ähnlich Philippe Djians Protagonisten wie ein Alter Ego des Mailänder Schriftstellers, der in einem Interview verkündete, er könne nur über die Gefühle schreiben, die er selbst empfunden habe. Ähnlich wie De Carlo, der sich in Mailand nie so recht heimisch gefühlt hat und sich stets dem gönnerhaften Literatur- und Kulturmarkt zu entziehen versuchte, der ihn vereinnahmen wollte, fühlen sich auch die drei Künstler in „Wir drei“ nirgends heimisch und wandeln eher orientierungslos zwischen eigenem hehren Anspruch und den gesellschaftlichen Konventionen und Gesetzen des Kulturmarkts umher, legen sich nie fest, lösen Verträge und persönliche Bindungen, wie es ihnen gerade in den Kram passt.
So spannend und interessant es ist, De Carlos lebendig gezeichnete Figuren durch ihre schillernden und abwechslungsreichen Leben zu verfolgen, so gelingt es dem Autor doch zu selten, echtes Mitgefühl für die jeweiligen Nöte und Leiden seiner Helden aufzubringen; zu rastlos und beliebig lassen sie sich durch die Jahrzehnte und vollkommen unterschiedliche Lebensentwürfe treiben. Nichtsdestotrotz bekommt der geduldige Leser im Rahmen des 660 Seiten dicken Epos Einblicke in die fundamentalsten Existenzfragen von Künstler-Persönlichkeiten und die Mechanismen und Fundamente von Freundschaften, die jenseits amouröser Verquickungen Jahrzehnte, Kontinente und unterschiedliche Ansichten überdauern.

Irvine Welsh – „Porno“

Montag, 30. Januar 2017

(Heyne, 576 S., Tb.)
Zehn Jahre nach dem tragischen Auseinanderbrechen der Trainspotting-Gang schlagen sich Sick Boy und seine alten Kumpels Begbie, Renton und Spud noch immer meist eher schlecht als recht durch ihr armseliges Leben. Allein Renton hat den Absprung nach Amsterdam geschafft und sich mit einem angesagten Club ein bürgerliches Leben aufgebaut. Als Simon David Williamson alias Sick Boy nach einer trostlosen Episode in London nach Edinburgh in das schäbige Viertel Leith zurückkehrt, übernimmt er nicht nur den heruntergekommenen Pub seiner Tante, sondern strebt weiterhin nach der ganz großen Kohle. Er tarnt den Pub als gemütliches Café, das sich abends in ein Thai-Restaurant verwandelt, um in bislang unbenutzten Räumen im Obergeschoss Pornos zu drehen, die er über seinen alten Kumpel Rents in Amsterdam vertreiben lassen will.
Doch vorher gibt es noch die eine oder andere Rechnung zu begleichen. Vor allem Begbie hat es bis heute nicht verwunden, dass Renton seine Truppe bei dem fetten Drogendeal vor zehn Jahren abgezogen und das Weite gesucht hat, während Begbie für die Aktion einsitzen musste. Als Rents nach Edinburgh zurückkehrt, ahnt er nicht, dass Begbie wieder auf freiem Fuß ist. Währenddessen berauschen sich die Jungs nicht mehr am Heroin, sondern stehen auf Koks und willige Frauen, denen sie nahelegen, auch vor der Kamera zu ficken. Mit „Die sieben Säulen der Geilheit“ ist der Titel ebenso schnell gefunden wie die Hauptdarsteller.
Doch als sich Terry bei einer Nummer mit Simons Freundin Nikki eine Penisfraktur zuzieht, steht das Projekt unter einem ungünstigen Stern. Und es mehren sich nicht nur von den Frauen, die sich als Wichsvorlage degradiert fühlen, durchaus kritische Stimmen …
„Das ist unsere Tragödie: Niemand, abgesehen von destruktiven Ausbeutern wie Sick Boy oder farblosen Opportunisten wie Carolyn, bringt echte Leidenschaft auf. Alle sind von dem Müll und der Mittelmäßigkeit um sie herum wie erschlagen. Wenn das bezeichnende Wort der Achtziger ‚ich‘ und das der Neunziger ‚es‘ war, dann ist es im neuen Millennium ‚irgendwie‘. Alles muss vage und relativierbar sein. Erst war mal Inhalt wichtig, dann war Stil alles. Und jetzt wird nur noch gefaked.“ (S. 448) 
1996 verfilmte der spätere Oscar-Preisträger Danny Boyle („Slumdog Millionär“) Irvine Welshs Kultroman „Trainspotting“ (1993) und landete mit dem berauschenden Portrait einer sinnentleerten Spaßgesellschaft einen internationalen Erfolg, der auch Hauptdarsteller Ewan McGregor zum Star machte. Zum Filmstart von „T2 Trainspotting“ erscheint bei Heyne Hardcore, wo auch Welshs letzten Romane – das „Trainspotting“-Prequel - „Skagboys“ und „Das Sexleben siamesischer Zwillinge“ veröffentlicht wurden, mit der Neuauflage von „Porno“ (2002) der Roman zum Film.
Der aus Edinburghs Viertel Leith stammende, mittlerweile in Chicago lebende Irvine Welsh versteht es auch in „Porno“, seine abgefuckten Antihelden in einer Gossensprache reden zu lassen, die ebenso authentisch wie abstoßend wirkt, die aber auch genau das hoffnungslose Lebensgefühl widerspiegelt, in dem sich die Figuren gefangen sehen.
Einzig das Aufputschen durch Alkohol, Koks und hemmungslosen Sex scheint kurzfristig gegen die Sinnlosigkeit des Lebens ein Zeichen der Linderung setzen zu können. Wie sehr Welsh an seinen Figuren hängt, zeigt sich nicht nur an der Tatsache, dass er nach „Trainspotting“ sowohl ein Prequel als auch ein Sequel geschrieben hat, sondern beispielsweise auch Juice-Terry und die Birrell-Brüder aus dem Roman „Klebstoff“ in das „Trainspotting“-Universum eingeführt hat.
Wie Sick Boy letztlich erfolgreich versucht, seinen Porno-Film zu produzieren und in schließlich in einem Parallelwettbewerb in Cannes zu präsentieren, braucht sicher keine knapp 600 Seiten, auch nicht die zwangsläufige, Spannung erzeugende Konfrontation zwischen den Erzfeinden Begbie und Renton, so dass „Porno“ auch einige Längen aufweist, doch die absolut lebendige, mitreißende Art, in der Welsh das Lebensgefühl seiner Figuren in der jeweiligen Ich-Perspektive wiedergibt, resultiert in einem ebenso humorvollen wie tiefgründigen Roman, der sich auf einer Meta-Ebene auch mit dem Schönheitsideal und den durchaus fragwürdigen Werten und Lebensentwürfen im 21. Jahrhundert auseinandersetzt.
Leseprobe Irvine Welsh - "Porno"

China Miéville – „Dieser Volkszähler“

Freitag, 27. Januar 2017

(Liebeskind, 173 S., HC)
Ein Junge lebt mit seiner im Garten arbeitenden Mutter und seinem großen, blassen und besonnen wirkenden Vater abgeschieden auf dem Berg in einem dreistöckigen, irgendwie unfertig wirkenden Haus, gerade noch so in den Grenzen des dazugehörigen Dorfes. Der Vater fertigt magische Schlüssel für seine Kunden an, damit sie Liebe, Geld oder Einblick in die Zukunft bekamen, Dinge öffnen, Sachen reparieren oder Tiere heilen konnten. Nie kommen sie ein zweites Mal. Doch die Idylle trügt. Eines Tages rennt der Junge schreiend den Bergpfad herunter und berichtet den Leuten im Dorf, dass seine Mutter seinen Vater umgebracht habe. Als er berichten soll, was genau passiert sei, muss er feststellen, dass seine Erinnerungen ungenau sind. Hat nicht vielleicht andersherum der Vater die Mutter getötet?
Um dem geschilderten Vorfall auf den Grund zu gehen, suchen die Beamten das Haus des Jungen auf und finden den Vater vor, die Mutter sei – so ist auch einem handgeschriebenen Abschiedsbrief zu entnehmen – offensichtlich einfach weggegangen. Der Junge ist indes fest davon überzeugt, dass der Vater die Mutter ebenso ins unergründlich tiefe Loch im Berg geschmissen habe, wie er es sonst immer wieder mit verschiedenen Tieren getan hat. Da dafür allerdings kein Beweis gefunden werden kann, muss der Junge nun allein mit dem Vater auf dem Berg leben.
„Ich kann Ihnen nicht sagen, was mein Vater von mir wollte; vielleicht wollte er nur mich. Er liebte mich, aber er hatte ja auch meine Mutter geliebt, und diese Liebe hinderte mich nicht daran, ihn zu beobachten und darauf zu warten, dass sein Mienenspiel sich änderte. Sie hinderte mich nicht daran, mir darüber Gedanken zu machen.“ (S. 113) 
Der Vater schwört den Jungen auf die neue Lebenssituation ein und zwingt ihn dazu, in seiner Nähe zu bleiben, doch in dieser Atmosphäre von Angst und Zwang sucht er immer wieder die Gesellschaft seiner Freunde Samma und Drobe. Dann verschwindet auch Drobe …
Bereits mit seinem 1998 erschienenen Debütroman „King Rat“ wurde der in Norwich geborene China Miéville gleich für die renommierten Preise der International Horror Guild und für den Bram Stoker Award nominiert, seine weiteren Romane „Perdido Street Station“ und „The Scar“ (die hierzulande in jeweils zwei Romanen veröffentlich wurden) räumten ebenso wie „Die Stadt & Die Stadt“ oder „Der Eiserne Rat“ namhafte Auszeichnungen ab.
Mittlerweile darf Miéville zweifellos als einer der wichtigsten Erneuerer und Vertreter der Science-Fiction-Literatur betrachtet werden, der mit seinen Büchern stets die Konventionen des Genres durchbricht. Dafür ist auch seine Novelle „Dieser Volkszähler“ ein vorzügliches Beispiel.
Der titelgebende Volkszähler spielt hier eher eine Nebenrolle und taucht auch erst in den letzten dreißig Seiten des schmalen Bandes auf. Im Mittelpunkt steht der namenlose Junge in einem ebenso namenlosen Dorf, das nach einer nicht näher beschriebenen Apokalypse ganz auf Handel und Selbstversorgung angewiesen ist. Die einzige Maschine, die noch existiert, in eine Art Kraftwerk, mit dem die Straßenlaternen betrieben werden. Darüber hinaus wird einfach vieles der Imagination des Lesers überlassen.
Die Dorfbewohner werden eher unbestimmt als Fensterputzer, Offizielle und Fledermausangler beschrieben, ihre Tätigkeiten und ihre Art zu leben werden kaum näher definiert. Interessant ist vor allem die Erzählperspektive des Jungen, der seinen eigenen Erinnerungen kaum trauen kann, also wird auch der Leser stets im Ungewissen bleiben, wie die dargestellten Ereignisse und Schlussfolgerungen überhaupt zu bewerten sind.
Darüber hinaus gelingt es Miéville hervorragend, durch seinen einzigartigen Stil eine ausgeprägt unheimliche, unbestimmte und hypnotische Atmosphäre zu kreieren, die sich bis zum Schluss nicht auflöst und den Leser auch nach dem Umblättern der letzten Seite mit Unbehagen zurücklässt. Das vermag indes nur große Literatur.
Leseprobe China Miéville - "Dieser Volkszähler"

Peter Straub – „Schattenstimmen“

Donnerstag, 26. Januar 2017

(Heyne, 400 S., Tb.)
Während sich der Bestseller-Autor Timothy Underhill seit einiger Zeit über kryptisch anmutende Emails von verkürzt dargestellten Absendern ohne Betreffzeile wundert, versucht seine gerade mit dem Newbery-Preis ausgezeichnete Schriftstellerkollegin Willy Bryce Patrick herauszufinden, wie sie mit ihrem Mercedes zu einem Gebäude gelangt ist, das mit rostigen Blechbuchstaben verkündet, dass es einer Firma namens „Michigan Produce“ zu gehören scheint.
Sie fragt sich, ob dieser Vorfall auf das Trauma zurückzuführen ist, das der Mord an ihrem Mann Jim und ihrer Tochter Holly vor mehr als zwei Jahren bei ihr ausgelöst hat.
Auch Tim trägt schwer an seinen persönlichen Verlusten. Nachdem er als Siebenjähriger beobachten musste, wie seine geliebte Schwester April ermordet worden war, ist Mark, der Sohn seines Bruders Philip vor einem Jahr spurlos verschwunden. Als er mit Hilfe eines alten Schulfreundes die Absender der mysteriösen Emails zu identifizieren versucht, muss Underhill feststellen, dass es sich offensichtlich um die Adressen allesamt Verstorbener Ehemaliger handelt – allein der geheimnisvolle Cyrax meldet sich immer wieder und macht deutlich, dass Underhill in seinem letzten Buch „Haus der blinden Fenster“ einen gravierenden Fehler begangen habe, den er unbedingt ausmerzen müsse.
Nachdem Willy Zeugin des Mordes an ihrem Freund Tom Hartman gewesen ist, flüchtet sie in eine Buchhandlung, in der gerade eine Lesung mit Timothy Underhill stattfindet. Sofort herrscht eine besondere Anziehungskraft zwischen den beiden Kollegen, die schicksalhaft miteinander verbunden sind.
„Der Anblick dieses Mannes mittleren Alters überraschte sie, gelinde gesagt. Augenblicklich stellte sich bei ihr das Gefühl ein, dass alles, was an diesem schrecklichen Tag geschehen war, nur dazu gedient hatte, sie exakt an diesen Punkt zu bringen, und dass sie genau an dem Ort gelandet war, der ihr schon seit langem vorherbestimmt war. Dieser Ort – und die Verrücktheit dieses Umstands kann kaum in Worte gefasst werden – befand sich in nächster Nähe von Timothy Underhill, einem Schriftsteller, den sie sehr mochte und dessen Ansichten ihr besonders tröstlich erschienen, wenn sie sich mies fühlte.“ (S. 216) 
Während sich nach wie vor die Häscher ihres fast zukünftigen Mannes Mitchell Farber auf der Jagd nach Willy befinden, machen sich Willy und Tim auf eine gefährliche Reise in ein Reich, in dem zunehmend die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen.
Mit seinen Romanen „Geisterstunde“, „Schattenland“, „Der Hauch des Drachen“ und dem zusammen mit Stephen King entstandenen „Der Talisman“ ist Peter Straub Anfang der 1980er Jahre zu einem der bedeutendsten Fantasy- und Mystery-Schriftsteller avanciert, doch im 21. Jahrhundert ist es leider sehr ruhig um ihn geworden.
Mit „Schattenstimmen“ (2004 im Original unter dem Titel „In the Night Room“ veröffentlicht) ist 2008 der bislang vorletzte Roman des mehrfach mit dem Bram Stoker Award ausgezeichneten Autors erschienen. Er knüpft nahtlos an das vorangegangene Werk „Haus der blinden Fenster“ und bezieht sich explizit nicht nur auf diesen Roman, sondern erwähnt auch immer wieder Straubs andere Romane „Schattenland“, „Geisterstunde“ oder die Romane, die er mit seinem Co-Autor (dem nicht explizit erwähnten Stephen King) verfasst hat.
„Schattenstimmen“ erweist sich wie ein Film-im-Film als ein Roman, in dem sich der kreative Schöpfer auf einmal mit einer seiner erdachten Figuren in der wirklichen Welt auseinandersetzen muss. Die manchmal etwas sprunghafte Handlung und die komplexe Verwebung zwischen Dichtung und Wirklichkeit machen das Lesen nicht immer einfach und erschweren auch die Identifizierung mit den Hauptakteuren, aber Peter Straub versteht es dank seiner geschliffenen Sprache und einer dramaturgisch geschickt aufgebauten Spannung, das Interesse seines Publikums bis zum Finale wachzuhalten. „Schattenstimmen“ zählt sicher nicht zu Straubs ganz großen Werken, macht aber deutlich, worauf er in den 1980er Jahren seinen guten Ruf begründen konnte.

Philippe Djian – „Rückgrat“

Dienstag, 24. Januar 2017

(Diogenes, 418 S., Tb.)
Nachdem der einst erfolgreiche Schriftsteller Dan vor fünf Jahren von seiner Frau Franck verlassen worden ist, fehlt dem nun auf die Mitte Vierzig Zurasenden jegliche Inspiration. Allenfalls für Drehbücher, mit denen ihn in schöner, aber auch enervierender Regelmäßigkeit sein Agent Paul Sheller beglückt, reicht sein Esprit noch. Als dieser ihn allerdings geradezu anfleht, mit der dreißigjährigen Tochter des prominenten C.V. Bergen an ihrem Drehbuch zusammenzuarbeiten, platzt Danny der Kragen. Nichtsdestotrotz lässt er sich auf den Deal ein, schließlich ist er auf die regelmäßigen Schecks seines Agenten noch immer angewiesen, doch damit werden seine Probleme nicht weniger.
Sarah, die nach dem Selbstmord ihres Mannes Mat vor gut zwei Jahren, ebenso wie Dan sich durch allerlei kurzlebige Affären treiben lässt und Mutter von Gladys und Richard ist, ist Dannys beste Freundin, aber eigentlich besteht darüber hinaus auch eine erotische Anziehungskraft, die den Schriftsteller immer wieder verzweifeln lässt.
Auch seine Beziehung zu seiner aktuellen, extrem attraktiven Geliebten Eloïse Santa Rose gestaltet sich schwierig, immerhin ist sie als Sängerin viel unterwegs und kommt so zwangsläufig immer auch mit anderen Männern in Kontakt. Und als wäre das Leben nicht kompliziert genug, muss Dan auch zwischen seinem Sohn Hermann, der heimlich mit Gladys liiert ist, und seinem besten Freund Richard vermitteln, der als eifersüchtiger Bruder nicht ahnt, was sein bester Freund hinter seinem Rücken treibt.
Doch vor allem Sarah bereitet ihm immer wieder Kopfschmerzen, zumal sie sich gerade mit einem besonders unausstehlichen Typen zusammengetan hat …
„Ich habe ihr jahrelang zu Füßen gelegen, ich hätte alles Mögliche für sie getan … Aber das Oberste Gebot, Bumse nicht mit deiner besten Freundin, stand zwischen uns wie ein unheilvolles Schwert. Ich muss gestehen, dass das Resultat meinen Hoffnungen nicht gerecht wird … Kannst du mir verraten, was von dieser schönen Freundschaft bleibt, die wir auf meiner mühsamen Enthaltsamkeit und meinem so schmerzlichen Verzicht aufgebaut haben …?“ (S. 321) 
Auch mit seinem fünften Roman (nach „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“) bleibt sich der französische Autor Philippe Djian treu. Wie in seinen vorangegangenen Werken steht auch in „Rückgrat“ ein Schriftsteller in Djians Alter im Mittelpunkt des Geschehens. Als Ich-Erzähler berichtet Dan von den Fehlschlägen in seinem Leben -der gescheiterten Ehe, der daraus resultierenden Flucht seiner Inspiration – und von den schwierigen Herausforderungen des Alltags, es seinem Agenten ebenso rechtzumachen wie seinem Sohn, seinen Freunden und Geliebten.
Dabei ist es gar nicht mal so spannend, wie die an sich übersichtliche Handlung vorangetrieben wird, sondern wie Djians Alter Ego seine inneren Kämpfe bestreitet, sein Gefühlschaos beschreibt, seine Beziehungen zu den Frauen in seinem Leben, zu seiner Arbeit und den Menschen um ihn herum, die ihm so viel Energie zu rauben scheinen. All das hat Djian wie gewohnt meisterhaft in eine glasklare Sprache gegossen und mit faszinierenden Beobachtungen über das Leben, die Liebe und die Kunst angereichtert.

Andrea De Carlo – „Wenn der Wind dreht“

Sonntag, 22. Januar 2017

(Diogenes, 427 S., HC)
Der erfolgreiche Immobilienmakler Alessio Cingaro wohnt zwar noch bei seiner Mutter, verfügt aber sonst über alle Annehmlichkeiten, die für Geld zu haben sind. Den nächsten großen Deal wähnt er bereits in der Tasche. An diesem Freitag fährt er nämlich mit vier miteinander befreundeten Klienten von Mailand ins umbrische Turigi, wo in absoluter Abgeschiedenheit ein traumhaftes Anwesen zum Verkauf steht. Doch wirklich entspannt gehen der Architekt Enrico Guardi, seine als Lektorin in einem renommierten Mailänder Verlag arbeitende Frau Luisa, die bekannte Fernsehshow-Moderatorin Margherita Novelli und der frisch geschiedene Arturo Vannucci, Vater zweier Kinder, die ihm seine Ex-Frau übers Wochenende kurzfristig aufs Auge drücken will, den Wochenendtrip nicht an.
Tatsächlich verfährt sich Alessio auf dem Weg zu den Häusern und gerät zu allem Überfluss mit dem Wagen in einen Graben, so dass der weitere Weg zu Fuß zurückgelegt werden muss. Als das Quintett sein Ziel endlich erreicht, muss die Reisegruppe erfahren, dass sich ihr Makler das Anwesen vorher gar nicht persönlich angesehen hat, dass er sich auch nicht der Tatsache bewusst gewesen ist, dass das Haupthaus noch immer bewohnt ist, und zwar von sehr ursprünglich lebenden Menschen, die den Tauschhandel längst aufgegeben haben und von dem leben, was sie selbst herstellen und sammeln.
Zunächst richten sich die Ressentiments der Kaufinteressenten gegen den Immobilienmakler, doch je mehr Zeit die vier vermeintlichen Freunde zwangsläufig miteinander in der Einöde ohne Funknetz und sonstiger Verbindung zur Außenwelt verbringen müssen, kommt ihre wahre Natur zum Vorschein.
„Margherita denkt, nur vor wenigen Jahren noch wäre das eine fantastische Gelegenheit gewesen, ihrer aller Kritikvermögen und Sinn für Ironie über sich und die Welt unter Beweis zu stellen, sie hätten spitzzüngige Bemerkungen und Witze gemacht und die ganze Nacht bis zum Morgengrauen wie verrückt gelacht. Jetzt hingegen sind sie vier Erfolgsmenschen, die infolge eines zeitweiligen Kontrollverlusts unter Schock stehen: Sie sind nur noch imstande, negative Daten zu registrieren und ihre restlichen Gedanken auf den morgigen Tag zu projizieren, an dem es ihnen auf die eine oder andere Weise gelingen wird, diesen Ort zu verlassen.“ (S. 117) 
Der italienische Bestseller-Autor Andrea De Carlo („Vögel in Käfigen und Volieren“, „Creamtrain“) beschreibt in seinem 2004 veröffentlichten und drei Jahre später auf Deutsch erschienenen Roman „Wenn der Wind dreht“ auf faszinierend eindringliche Weise das Zusammentreffen zweier ganz unterschiedlicher Lebensentwürfe.
Während die vier großstädtischen, mit allen Annehmlichkeiten der zivilisierten Konsumgesellschaft versorgten Erfolgsmenschen in den umbrischen Wäldern eine Oase der Ruhe und Entspannung suchen, streben Lauro, Mirta, Icaro, Gaia, Arup und Aria in ihrer selbstgewählten Kommune nach einem natürlicheren, komplett selbstbestimmten Leben. Jede Partei versucht der anderen die Vorzüge des eigenen Lebensstils schmackhaft zu machen, doch müssen alle Beteiligten im Verlauf ihrer erzwungenen Gesellschaft feststellen, dass sich jeder auch ordentlich in die Tasche lügt, um den Sinn und die Ausgestaltung seines Lebens zu rechtfertigen.
De Carlo entzieht sich dabei einer Bewertung, sondern macht in den lebendigen und pointierten Dialogen und inneren Einsichten seiner Protagonisten deutlich, dass das Leben nicht nur von selbstbestimmten Gewissheiten und Sicherheiten geprägt wird, sondern auch von Zweifeln und unerfüllten Sehnsüchten, die jedoch schwer einzugestehen sind. Das trifft in „Wenn der Wind dreht“ ebenso auf die in ihrem hektischen Alltag gefangenen Großstädter zu wie auf die ganz auf sich bezogenen Naturmenschen.
Faszinierend ist dabei vor allem zu verfolgen, wie jeder Einzelne nach dieser Reise eine persönliche Veränderung durchmacht, in der zumindest tief verwurzelte Gewissheiten zumindest angezweifelt werden.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Wenn der Wind dreht"