Peter Vignold – „Das Marvel Cinematic Universe“

Mittwoch, 31. Mai 2017

(Schüren, 173 S., Pb.)
Comic-Adaptionen für die große Leinwand sind seit den Erfolgen von „Superman“, „Batman“ und „Spider-Man“ zunehmend ein Garant für Kassenschlager. So kann es kaum verwundern, dass das Major Independent Filmstudio Marvel Studios mittlerweile das international erfolgreichste Filmfranchise ist und das Franchise um „Harry Potter“ im Jahr 2015 um rund eine Milliarde US-Dollar hinter gelassen hat.
Glücklicherweise kann Marvel auf ein umfangreiches Figurenensemble des in den 1960er Jahren gegründeten Comic-Verlags zurückgreifen und hat für sein daraus resultierendes Marvel Cinematic Universe (MCU) darauf ausgerichtet, in den nächsten Jahren eine Reihe von weiteren Filmen, Fernsehserien und Videospielen zu produzieren, die äußerst raffiniert miteinander verknüpft sind.
Wie dieses MCU strukturiert ist, zeigt der an Ruhr-Universität Bochum arbeitende und u.a. für das Filmmagazin „Deadline“ schreibende Peter Vignold in seiner Arbeit „Das Marvel Cinematic Universe – Anatomie einer Hyperserie“ auf, die auf seiner mit dem „Preis an Studierende 2016“ ausgezeichnete Examensarbeit über Cinematic Universes basiert.
Entsprechend wissenschaftlich liest sich die recht kurze Abhandlung über das MCU, die sich zunächst um Definitionen der Begriffe Cinematic Universe und Hyperserie bemüht. Dabei wird am Beispiel von „Matrix“ das transmediale Erzählen über verschiedene Medienkanäle hinweg beschrieben, dann das transmediale Franchising bei „Der Herr der Ringe“ und „Harry Potter“, bevor der Autor mit „X-Men“ die Ausformung einer multilinearen Hyperserie aufzeigt.
Den Hauptteil des schmalen, aber höchst informativen und fundiert geschriebenen Bandes nimmt die Darstellung der momentan drei Phasen ein, in denen sich das MCU ausgebildet hat, beginnend mit den Filmen „Iron Man“, „Incredible Hulk“, „Captain America: First Avenger“ und „Thor“ über deren Sequels und die als Knotenpunkte fungierenden Filme „The Avengers“ und „Avengers: Age Of Ultron“, in denen verschiedene Superhelden zusammengeführt werden.
Dabei sorgen intertextuelle Verlinkungen wie beispielsweise durch den Tesseract in „Thor“, „Captain America: The First Avenger“ und „The Avenger“ oder S.H.I.E.L.D.-Agent Phil Coulson in „Iron Man“ und der Serie „Agents Of S.H.I.E.L.D.“ sowie die speziellen „Post-Credits-Scenes“, die narrativ auf nachfolgende Filme hinweisen, für entsprechende Verweise auf andere Filme des MCU.
 „Die Mittel, mit denen die Binnenserien der Hyperserie MCU interserielle Kohärenz ausbilden, sind simpel, aber effektiv. Dies geschieht durch Überschneidungen des Figurenpersonals, das sich mitunter quer durch mehrere Binnenserien bewegt und deren diegetischen Zusammenhalt bewirkt. ‚Post-Credits-Scenes‘ am Ende der Filme signalisieren die Weitergabe von Handlungssträngen von einem Film zum folgenden und legen dem Publikum nah, unterschiedlich betitelte Binnenserien als Teile eines größeren Zusammenhangs zu betrachten.“ (S. 117) 
Vignold stellt die Zusammenhänge zwischen den Binnenserien – auch mit grafischen Abbildungen - ebenso anschaulich dar wie die Einzelteile des MCU, wobei allerdings weniger auf die Comics, Videospiele und das Merchandising eingegangen wird als auf die eigentlichen Film-Franchises. Abgesehen vom übermäßigen Gebrauch von Fremdwörtern wie „diegetisch“ (etwa: erzählend, erörternd) lässt sich die wissenschaftliche Abhandlung auch für Nicht-Wissenschaftler überwiegend gut lesen und wartet mit einer Fülle von interessanten Bezügen und versteckten Details zwischen den einzelnen Filmen und TV-Serien auf.
Im Anhang werden tabellarisch nicht nur die Einspielergebnisse des „X-Men“-Franchise, des MCU und der US-Filmfranchises aufgeführt, sondern auch die Inhalte der einzelnen MCU-Filme skizziert.
Leseprobe Peter Vignold - "Das Marvel Cinematic Universe"

Andrea De Carlo – „Vögel in Käfigen und Volieren“

Samstag, 27. Mai 2017

(Diogenes, 291 S., HC)
Ein Telegramm von seinem Vater bringt den Stein ins Rollen. Nachdem Fjodor Barna in Kalifornien mit seinem MG einen Autounfall verursacht hat, bei dem es zum Glück nur einen – wenn auch erheblichen – Sachschaden zu beklagen gibt, nimmt er eher ungerührt zur Kenntnis, dass er fünfzig Jahre brauchen würde bei dem, was er als Musiker verdient, um die Kosten bezahlen zu können. Als er seinen reichen Vater in Peru besucht, wo dieser seltene Vögel züchtet, wird der 21-Jährige nach New York geschickt, wo sein erfolgreicher Bruder ihn in dessen Unternehmen MultiCo eingliedern soll.
Fjodor lässt sich gleich nach Mailand versetzen, an den Ort seiner Kindheit, an die er nur noch verschwommene Erinnerungen besitzt. Fjodor wird mit einer ebenso uninteressanten wie gutbezahlten Arbeit betraut, die ihm nicht im Geringsten interessiert. Das ändert sich erst, als er den Maler Mario Oltena und seine geheimnisvolle Schwester Malaidina kennenlernt, der Fjodor sofort verfällt. Allerdings lebt sie mit einem Mann zusammen, ihr Wohnsitz ist aber selbst ihrem Bruder unbekannt. Für Fjodor beginnt eine Zeit voller Ungeduld und Ungewissheit, denn Malaidina scheint zwar auch an Fjodor interessiert, begibt sich aber immer wieder auf die Flucht, bis nach Korinth und Athen, wohin der junge Mann ihr atemlos nachreist …
„Ich habe Hunger, aber keine Lust zu essen; ich habe keine Lust zu denken, dass ich Hunger habe. Ich gehe, ohne die Füße sehr weit vom Boden zu heben, folge mit den Augen der Bordsteinkante. Ich gehe mechanisch, und meine Gedanken sind eingeschlossen in eine Art Käfig aus kondensierter Unruhe und Erregung, der mich hindert, weite Gesten oder Gesichtsausdrücke zu machen, auch wenn ich es wollte.“ (S. 287) 
Gleich mit seinem ersten, 1981 erschienenen Roman „Creamtrain“ ließ der Mailander Schriftsteller Andrea De Carlo aufhorchen. Sein ein Jahr darauf veröffentlichtes Werk „Vögel in Käfigen und Volieren“ folgt dem gerade erwachsen gewordenen Ich-Erzähler Fjodor, wie er aus der sonnigen Unbekümmertheit in Kalifornien, in der er dank seines wohlhabenden Vaters leben darf, in Europa endlich sein Leben in die Hand, etwas aus ihm machen soll.
Doch der bisher in den Tag hineinlebende Fjodor fühlt sich von Beginn an fremd in der Arbeitswelt, in der er keinen Sinn entdecken kann. Ihm ist das Künstlerleben, das die Geschwister Mario und Malaidina führen, weitaus sympathischer. De Carlo gelingt es bereits mit den ersten Seiten, seinen Protagonisten als orientierungslosen wie unbekümmerten Bohemien zu charakterisieren, der erst aus Liebe zu einer geheimnisvollen und undurchdringlichen Frau ein Ziel findet, das seinem bis dato sinnleeren Leben einen Ausweg bietet. Dass er sich dabei in durchaus lebensbedrohliche Situationen begibt, scheint seinem Antrieb nur noch mehr Feuer zu verleihen und seinen Willen zu stärken.
Die immer wieder thematisierten Vögel und Käfige stehen dabei offensichtlich für die Freiheit und ihre Einschränkungen, und Fjodor setzt alles daran, seinen eigenen Käfig zu verlassen und das Leben und die Liebe mit jeder Faser seines Körpers, seines Geistes zu spüren. Das Erzähltempo fängt gemächlich an und steigert sich bis zu einem atemlosen Finale, das bei allen Liebesdingen auch einen Hauch von Hitchcock-Spannung bereithält.

Jack Ketchum & Lucky McKee – „Scar“

Donnerstag, 25. Mai 2017

(Heyne, 319 S., Pb.)
Im Leben der Familie Cross dreht sich alles um die elfjährige Delia Cross. Sie ist als Darstellerin in Werbeclips die einzige, aber gute Einnahmequelle der Familie. Während ihre Mutter Pat sich um die Vermarktung kümmert und eine Affäre mit Delias Agenten Roman unterhält, soll sich ihr Vater Bart eigentlich um die Finanzen kümmern, vergnügt sich aber lieber mit seinen Spielzeugen wie dem mächtig aufgemotzten Firebird oder dem neuen Riesenflachbildschirm-Fernseher. Dass er darüber vergisst, eine Anschluss-Krankenversicherung für Delia abzuschließen, nachdem er die alte gekündigt hat, kommt der Familie allerdings teuer zu stehen. Gerade als Delia eine Rolle in einer Sitcom mit dem Star Veronica Smalls erhält, sorgt ein tragischer Unfall für das abrupte Ende eines Bilderbuch-Märchens.
Während Pat aus jeder Notlage noch Profit zu schlagen versucht und das Schicksal ihrer Tochter in einem Buch und in verschiedenen Fernsehshows ausschlachtet, lehnt sich die nach dem Unfall missgestaltete Delia zunehmend gegen die Pläne ihrer herrschsüchtigen, von Ehrgeiz getriebenen Mutter auf.
„Pat bezweifelt, dass das hier jemals ausgestrahlt werden wird, und sie fragt sich, ob überhaupt irgendwas davon ins Fernsehen kommt. Mit einem Mal ist sie stocksauer auf Delia. Sie hat die Schnauze voll von ihren Überraschungen, ihren egoistischen Spielchen. Warum zum Teufel folgt sie nicht dem beschissenen Drehbuch wie alle anderen auch? Für wen hält sie sich?“ (S. 224) 
Allmählich geraten vor allem Delias treue Gefährtin, die Australian-Cattle-Hündin Caity, und Delias eifersüchtiger Bruder Robbie ebenso in emotionale Schieflagen wie der an sich gutmütige, aber kaum mannhafte Bart. Der steigende Alkoholkonsum von Delias Eltern führt schließlich zur Katastrophe …
Dass Jack Ketchum auf bislang fünf Bram Stoker Awards und eine wachsende Anzahl von Verfilmungen seiner Werke („Red“, „Beutegier“) zurückblicken kann, kommt nicht von ungefähr, denn mit seiner klaren Sprache und einem ausgeprägten Sinn für knackige Plots und detailliertes Grauen entwirft der ehemalige Literaturagent von Henry Miller und Babysitter von Lady Gaga regelmäßig Drehbücher für das blutige Kino im Kopf.
Die erneute Zusammenarbeit mit Lucky McKee nach der Verfilmung von „Beuterausch“ kann an diese Qualitäten leider nur bedingt anknüpfen. Im Vordergrund von „Scar“ steht die ungewöhnlich innige Beziehung zwischen der hübschen und talentierten Delia und ihrer Hündin Caity, die bis zum blutigen Finale eine Schlüsselrolle in der Geschichte einnimmt. An die inneren Monologe gerade des Hundes muss sich der Leser dabei ebenso gewöhnen wie an die grob und oberflächlich gezeichneten Figuren. Bei dem mehr als überschaubaren Ensemble wäre an dieser Stelle durchaus mehr Sorgfalt angebracht gewesen. So gerieren sich vor allem Delias Eltern als ganz und gar unsympathische Nutznießer des Ruhms, den Delia der Familie beschert.
Wie sehr Pat dabei den Bogen überspannt und für die katastrophale Entwicklung der Ereignisse sorgt, macht die Geschichte aber nicht glaubwürdiger. Selbst die offensichtliche Kritik an der Rolle der Medien bei der Ausschlachtung von persönlichen Tragödien und an der Raffgier ehrgeiziger Eltern, die die Fürsorge ihren Zöglingen gegenüber aus den Augen verlieren, bleibt allzu oberflächlich.
Zwar bietet „Scar“ ein rasantes Leseerlebnis, wartet mit leicht übernatürlich inszenierten Elementen auf und einem straff inszenierten Plot, doch bleibt das Buch in Sachen Spannung und Horror weit hinter den bisherigen Ketchum-Werken zurück. 
Leseprobe Jack Ketchum & Lucky McKee - "Scar"

Kat Kaufmann – „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“

Dienstag, 23. Mai 2017

(Tempo, 271 S., HC)
Von seinem Opa Ernst erbt Jonas einen Umschlag mit 5000 Euro und einer in zittriger, kaum leserlicher Schrift verfasster Botschaft: „Moskau, Finde diesen Mann! Finde ihn und …“ Ob es diesen Valeri Butzukin überhaupt gibt, fragt sich Jonas, denn bei Google scheint er nicht zu existieren. Dennoch wagt er sich auf eine abenteuerliche Odyssee, als er feststellt, dass die seit fünf Monaten laufende Beziehung mit Sina nicht das Wahre ist, seine Mutter ihm in fünfundzwanzig Jahren vorenthalten hat, wer sein Vater ist, und sie davon ausgeht, dass er kurz vor Abschluss seines Examens steht, für das er sich aber gar nicht angemeldet hat.
In dem russischen Club Lavka erkundigt sich Jonas nach einem Pass und lernt die beiden Chaoten Juri und Stas kennen. Zusammen machen sie Nägel mit Köpfen: Jonas fackelt seine eigene Bude ab und reist mit den beiden jungen Männern nach Moskau, wo er sich in einem Club in Yulia verliebt. Doch das ist erst der Anfang eines wahnwitzigen Trips, bei dem Jonas nicht nur mit der Möglichkeit eines neuen Kalten Krieges, sondern auch mit seiner Einsamkeit konfrontiert wird.
„Du weißt nichts von deinem Opa, außer dass er ein Spitzenopa war, dein einziger wirklicher Freund, und den Faustkampf mochte. Du weißt gar nichts von deiner Familie. Weder von deinem Urgroßvater noch von sonst wem. Weil dein ganzes Leben schon immer nur aus Anne und Ernst bestanden hat, und, irgendwie dazwischen, halt Peter. Die anderen wurden nur namentlich erwähnt. Es gab sie nicht.“ (S. 156) 
Für ihren ersten Roman „Superposition“ wurde die aus Sankt Petersburg stammende und in Berlin lebende Autorin, Fotografin und Komponistin Kat Kaufmann 2015 mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Entsprechend ambitioniert präsentiert sich die Tochter eines Regisseurs und einer Balletttänzerin auch in ihrem neuen Roman mit dem programmatischen Titel „Die Nacht ist laut, der Tag ist finster“.
Schon der Prolog fordert dem Leser einiges an Aufmerksamkeit, Konzentration und Geduld ab. Statt klar strukturierter Sätze in einfacher Sprache wird der Leser mit den in zweiter Person verfassten Monologen des Protagonisten konfrontiert, der scheinbar dem Wahnsinn nah zu sein scheint. Dabei hat die Geschichte durchaus das Potenzial, anhaltendes Interesse zu wecken, denn der wieder stärkere Konflikt zwischen Russland und dem Westen nimmt in Kaufmanns Buch sehr konkrete Formen an, wie die gelegentlich platzierten Nachrichten vor Augen führen, die als Lauftext in den Fußzeilen über mehrere Seiten eingefügt sind. Auch die Dialoge wirken stellenweise authentisch und amüsant, können aber keine Konstanz in der sehr wechselhaften Erzählstruktur erzeugen.
So interessant die Figuren und ihre Schicksale auch sein mögen, werden sie doch nicht tiefergehend gezeichnet. Indem die durchaus talentierte und auf unorthodoxen Pfaden wandernde Autorin ihre Geschichte immer wieder ihren Sprachkapriolen opfert, entwickeln Jonas und seine Gefährten keine Identifikationspotenziale, noch vermag der holprig inszenierte Plot eine dramaturgische Spannung erzeugen.

Jason Starr – „Top Job“

Sonntag, 21. Mai 2017

(Diogenes, 316 S., HC)
Eigentlich hatte alles ganz gut angefangen. Nach seinem Studium der Geschichte und Betriebswirtschaft arbeitete Bill Moss erfolgreich als Vizepräsident der Abteilung Marketing von Smythe & O‘Greeley, kommt nach seiner Kündigung vor zwei Jahren aber nicht so recht wieder auf die Beine. Mittlerweile lebt der knapp über 30-Jährige mit seiner jüdischen Freundin Julie in New York, erhält auf seine Bewerbungen nur Absagen und schlägt sich als Telefonverkäufer in Teilzeit im Call Center A.C.A. durch, das ihre Mitarbeiter gnadenlos schikaniert und vor allem den schwarzen Angestellten die verdienten Prämien vorenthält.
Obwohl Bill zu den besseren Verkäufern zählt, droht er bei der bevorstehenden Entlassungswelle ebenfalls seinen Job zu verlieren. Für Julie, die heiraten und Kinder haben und vor allem wie ihre Freunde in eine bessere Gegend ziehen will, wäre das ebenso wie für Bill selbst eine Katastrophe. Als er aber seinen Kumpel Greg davon abhält, ihren gemeinsamen Chef Ed zu verprügeln, wird Bill unversehens befördert. Doch dann wird Bill von seiner Vergangenheit eingeholt und muss befürchten, die Früchte seines Erfolgs wieder zu verlieren. Er verstrickt sich zusehends in einer Spirale aus Lügen und Gewalt. Und auch sein Faible für Prostituierte scheint ihm zum Verhängnis zu werden.
„Wenn Julie davon erführe, war es mit unserer Beziehung vorbei. Ich versuchte, einfach nicht mehr daran zu denken, mir einzureden, dass Prostituierte vulgär und schmutzig waren, aber das machte es nur noch schlimmer. Prostituierte zogen mich an, gerade weil sie vulgär und schmutzig waren.“ (S. 102) 
In seinem 1997 veröffentlichten Debütroman beschreibt der New Yorker Autor Jason Starr zunächst die ganz normalen Existenzängste eines ehemals erfolgreichen Angestellten, der nach dem Verlust seiner gut bezahlten und der damit einhergehenden sozialen Stellung immer wieder mit dem eigenen Versagen konfrontiert wird, nicht zuletzt durch seine besser verdienende Freundin und deren gut situierten Freunde.
Als Ich-Erzähler macht Bill Moss allerdings auch keinen sympathischen Eindruck. Zwar verwehrt er sich gegen die rassistischen Praktiken seiner Vorgesetzten, hat aber selbst überhaupt keine Probleme, seine Arbeitgeber über seinen beruflichen Werdegang und Julie über seine sexuellen Vorlieben zu belügen. Interessant und spannend ist der Roman vor allem durch die Spirale von Lügen, Gewalt und Mord, in die Bill nur deshalb hineingezogen wird und die er – zugegebenermaßen – auch selbst mitgestaltet, weil er Angst vor der Abschiebung auf das gesellschaftliche Abstellgleis hat, das ihm durch den Jobverlust droht.
Die Aussicht, durch die Beförderung endlich dahinzukommen, wo Julie und er sich selbst sehen, lässt bei Bill alle Hemmungen fallen und das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Während die Verzweiflung über den Job- und Gesichtsverlust sehr nachvollziehbar in „Top Job“ herausgearbeitet ist, sind die Figuren auf der anderen Seite etwas sperrig charakterisiert und der Plot nicht immer schlüssig. Die Auseinandersetzungen zwischen Bill und Julie wirken wie die Zustände bei A.C.A. gelegentlich sehr konstruiert. Von diesen Schwächen abgesehen bietet „Top Job“ allerdings ein sehr kurzweiliges, flüssig geschriebenes Krimi-Drama in bester Tradition von Meistern wie James M. Cain und Jim Thompson.

Joe Hill – „Fireman“

Samstag, 20. Mai 2017

(Heyne, 958 S., Pb.)
Während sich weltweit eine Seuche über Sporen ausbreitet, die als Dragonscale bezeichnet wird, weil es die Haut der Infizierten mit fein gemusterten Mustern verziert, bevor die Opfer Rauch spucken und unversehens in Flammen aufgehen, versorgt die Schulkrankenschwester Harper Grayson in New Hampshire weiterhin die Wunden ihrer Schützlinge. Ein paar Monate später hat die Seuche so viele Menschen dahingerafft, dass Grayson mittlerweile achtzehn Stunden am Tag im Ganzkörperschutzanzug im örtlichen Krankenhaus aushilft, wo sie John Rookwood kennenlernt, der als Fireman offenbar über die Fähigkeit verfügt, das Feuer in seinem Körper zu kontrollieren und die Flammen gezielt wie eine Waffe einzusetzen.
Als Harper selbst mit Dragonscale infiziert wird, setzt ihr Mann Jakob alles daran, ihren Plan umzusetzen, gemeinsam friedlich aus dem Leben zu scheiden, doch mit dem ungeborenen Kind in ihrem Leib kämpft Harper mit allen Mitteln um ihr Überleben. Offenbar scheint es auf Free Wolf Island, einer siebzehn Meilen vor der Küste von Maine liegenden Insel, eine Kolonie von Überlebenden zu geben, die von der ehemaligen MTV-Moderatorin Martha Quinn angeführt wird, deren Stimme als eine der ganz wenigen noch immer aus dem Radio klingt.
Doch zunächst müssen Harper, der Fireman und ihre Leidgenossen einen Weg finden, aus dem von Carol Storey diktatorisch geführten Camp zu fliehen. Durch gemeinsame Gesänge und religiöse Durchhalteparolen war es Carol und ihrem in der Kirche predigenden Vater scheinbar gelungen, das Feuer in ihren Körpern zu kontrollieren und zum Leuchten zu bringen.
„Sie hatte sich nie für einen religiösen Menschen gehalten, aber hier in dieser Kirche in Camp Wyndham war ihr aufgegangen, dass alle Menschen religiös waren. Wer das Bedürfnis zu singen in sich trägt, hat auch das Bedürfnis nach Glauben und Erlösung.“ (S. 272) 
Bereits mit seinem letzten Roman „Christmasland“ hat Stephen Kings Sohn Joe Hill eindrucksvoll bewiesen, dass er längst dabei ist, aus den übermächtigen Fußstapfen des „King of Horror“ zu treten und als eigenständige Stimme in der Welt der dunklen Fantasy wahrgenommen zu werden. Dabei ist das jeweils geschilderte Grauen tief in der heutigen Welt verankert, entwickelt sich aus dem gewöhnlichen Alltag zu monströsen Schrecken.
In seinem neuen Roman „Fireman“ nimmt dieses Grauen erstmals apokalyptische Züge an und erinnert dabei zwangsläufig an Stephen Kings Endzeit-Epos „The Stand – Das letzte Gefecht“. Dabei geht es Hill weniger darum, das Ausmaß und die Verbreitung der Seuche in aller Welt zu schildern, sondern beschränkt sich auf ein sehr überschaubares Figuren-Ensemble ganz unterschiedlicher Charaktere. Vor allem die außergewöhnliche Beziehung zwischen der aufopferungsvoll fürsorglichen Harper und dem geheimnisvollen Fireman sorgt dafür, dem Plot eine emotional berührende Konstante zu verleihen, die sich durch die stringente Dramaturgie bis zum aufwühlenden Finale zieht.
Natürlich kommen im Verlauf des kräftezehrenden Road Trips die besten und schlechtesten Eigenschaften der menschlichen Spezies zum Vorschein, neben der vor allem durch Harper personifizierten Hilfsbereitschaft und Güte auch Missgunst und Mordlust. Hill gelingt es dabei, seine Figuren sehr lebendig und einfühlsam zu charakterisieren, sie durch eine packende Geschichte zu führen und die Apokalypse mit all ihren Schrecken auch sehr detailliert zu beschreiben. Dass Autoren wie J. K. Rowling, Ray Bradbury und nicht zuletzt sein Vater Pate für dieses Epos standen, wie Hill eingangs erwähnt, hat sich durchweg positiv auf „Fireman“ ausgewirkt, das Hill auf dem Höhepunkt seiner bis dato noch sehr jungen Karriere präsentiert.
Leseprobe Joe Hill - "Fireman"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 3) „Schmierige Geschäfte (Black Cherry Blues)“

Mittwoch, 10. Mai 2017

(Pendragon, 480 S., Pb.)
Dave Robicheaux hat gerade eine Nacht in Baton Rouge und Träume von seiner ermordeten Frau Annie hinter sich, als er in einem Café seinen alten Kumpel Dixie Lee Pugh wiedertrifft, mit dem er 1956 an der Southwestern University of Louisiana das Zimmer geteilt hatte und der später Karriere als weißer Bluessänger machen sollte.
Nach einem Gefängnisaufenthalt hat Dixie auf Verpachtungen umgesattelt. Kaum ist Dave nach Hause in New Iberia zurückgekehrt, bittet Dixie um ein Treffen. Dabei erzählt er Dave von seinem Klienten Star Drilling, die ein Problem mit einem Landschaftsschutzgebiet und dem Reservat der Schwarzfußindianer haben. Dass Star Drilling auch die Firma ist, in deren Auftrag Daves Vater auf einer Bohrinsel zu Tode gekommen ist, lässt Dave etwas weiter nachforschen.
Als ehemaliger Lieutenant bei der Mordkommission in New Orleans lässt er alte Verbindungen spielen und stößt auf den Drogenfahnder Nygurski, der es auf Sally Dio abgesehen hat, für den nicht nur Dixie arbeitet, sondern auch Daves alter Kumpel Cletus.
Besonders Dios Handlanger Daltron Vidrine und Harry Mapes gelangen ins Visier von Daves Ermittlungen, der sich mit dem Tod eines Mädchens und zwei verschwundenen Indianers konfrontiert sieht. Doch dann wird seine Ziehtochter Alafair bedroht, und als Dave Vidrine und Mapes auf den Zahn zu fühlen beginnt, ist er der erste Tatverdächtige, der sich für den Mord an Vidrine verantworten muss. Dave Robicheaux lässt sich allerdings so schnell nicht einschüchtern und fordert Sally Dio heraus und sinnt dabei immer wieder über das Leben, das Leid und den Tod nach.
„Manchmal, wenn ich allein bin, besonders nachts, wenn es dunkel ist und ich anfange, über das unerträgliche Leid zu grübeln, das die meisten Menschen vor dem Tod erdulden müssen, bitte ich Gott, ihre Schmerzen rückwirkend zu lindern, ihnen seelischen und körperlichen Beistand zu leisten, ihre Sinne zu betäuben und die flammende Angst zu besänftigen, die ihnen im letzten Moment in den Augen steht.“ (S. 299)
In seinem dritten Abenteuer gerät der ehemalige Cop und Ex-Alkoholiker Dave Robicheaux wieder eher durch Zufall in eine schwierige Situation. Weil er sich seinen Problemen stellt und sie nicht einfach wie früher im Alkohol ersäuft, hat er es erneut mit skrupellosen Gangstern zu tun – mit dem Unterschied, dass sein Kumpel Cletus diesmal in den Diensten der Bösen steht.
James Lee Burke hat mit Dave Robicheaux einfach einen starken Charakter geschaffen, der nicht nur die Schrecken des Vietnamkrieges überwunden hat, sondern auch seine Alkoholsucht und den gewaltsamen Tod seiner Frau Annie. Auch wenn sie anfangs auf gegenüberliegenden Seiten stehen, ist es interessant zu sehen, wie sich Dave und Cletus, deren Wege sich nach ihrer gemeinsamen Zeit beim Morddezernat in New Orleans getrennt haben, wieder annähern, auch wenn der Weg bis dahin ebenso holprig wie blutig ist.
„Schmierige Geschäfte“ wartet mit einer Vielzahl interessanter Figuren, brutaler Action und coolen Dialogen auf, die dem raffinierten Plot die richtige Würze verleihen. Dazu beschreibt Burke das Leben in Louisiana wie kein Zweiter.
Leseprobe James Lee Burke -"Black Cherry Blues" (eBook-Ausgabe von Edel: eBooks)

John Grisham – (Theo Boone: 6) „Theo Boone und der große Betrug“

(Heyne, 252 S., HC)
Mit nervöser Anspannung sieht der dreizehnjährige Anwaltssohn Theo Boone den Aufnahmeprüfungen für die Highschool entgegen. Schließlich ging es bei den zentral abgestimmten Prüfungen bei allen Achtklässlern im Bundesstaat nicht nur darum, das Abschneiden der Schüler und die Qualität der Ausbildung an den Schulen zu bewerten: In Strattenburg dienten die Prüfungsergebnisse auch dazu, die Achtklässler in drei Gruppen einzuteilen. Die Durchschnittsschüler durften einfach die Highschool besuchen. Während die besten Schüler im anspruchsvollen Honors-Programm unterkamen, mussten die schwächeren Schüler in Klassen, die den Lehrstoff etwas langsamer vermittelten.
Mit 91 Prozentpunkten würde man in die begehrten Honors-Kurse kommen, was nicht nur für Theo als angehender Jurist angestrebt wurde, sondern auch von seiner Freundin April, die es auf die besonderen Kunstkurse dort abgesehen hatte.
Doch dann erfährt Theo, dass an der weniger privilegierten East Middleschool die eindrucksvolle Verbesserung der Ergebnisse gegenüber den Vorjahren darauf zurückzuführen sein soll, dass fünf Lehrer auffällig viele Korrekturen zugunsten ihrer Schüler vorgenommen haben sollen. Neben ihrer Suspendierung vom Schuldienst droht ihnen beim Nachweis einer Verabredung zu einer Straftat sogar eine Gefängnisstrafe. Dies versucht Theos Mutter als Anwältin der fünf beschuldigten Lehrer zu verhindern.
„Ein Eklat werde die gesamte Schule treffen. Dabei habe die East Middleschool ohnehin schon zu kämpfen. Diese Affäre würde ihren Ruf wahrscheinlich schwer schädigen und könne sogar dazu führen, dass sie geschlossen wurde.“ (S. 112) 
Theo und April sind von den Vorgängen mehr betroffen, als es zunächst den Anschein hat. Aber davon abgesehen hat der engagierte Jung-Jurist auch an anderen Fronten zu kämpfen: So muss er nicht nur seinen geliebten Onkel Ike aus dem Gefängnis holen, nachdem dieser im betrunkenen Zustand Auto gefahren war, sondern auch seinem Kumpel Pete Holland beistehen, dessen betrunkener Vater sowohl ihn selbst als auch seine Mutter verprügelt hat, und vor dem Tiergericht Mr. Kerr verteidigen, auf dessen Grundstück ein Otter lebt, der offensichtlich mehrere Kois aus dem Teich seines Nachbarn Mr. Murray verspeist hat.
Dass John Grisham, Großmeister des Justiz-Thrillers („Die Akte“, „Die Firma“), in seiner erfolgreichen Jugendbuch-Reihe seinem bestens vertrauten Genre treu bleibt, darf kaum verwundern. Mit dem mittlerweile dreizehnjährigen Theo Boone hat er eine durchweg sympathische Figur kreiert, der als Sohn zweier Anwälte ebenfalls auf bestem Wege ist, eine juristische Laufbahn einzuschlagen, sozial bei den Pfadfindern und bei der Essensausgabe für die Armen aktiv ist und auch in der Schule Bestleistungen präsentiert.
In seinem sechsten Fall hat er gleich mit mehreren Fällen zu tun. Während die Episoden von häuslicher Gewalt und am Tiergericht eher kurzweilige Lückenfüller sind, geht es bei der Untersuchung der gefälschten Ergebnisse zu den Aufnahmeprüfungen für die Highschool auch in die Tiefe, nämlich um die unterschiedlichen Bedingungen, die Schülern aus sozial benachteiligten Familien und von Eltern mit Hochschulabschluss zur Verfügung stehen.
Für die Reihe um Theo Boone gilt ansonsten ebenso für Grishams Erwachsenenliteratur, dass die Figuren überwiegend sehr oberflächlich gezeichnet sind, die Geschichten aber auf kurzweilige Weise zu unterhalten wissen. 
Leseprobe John Grisham - "Theo Boone und der große Betrug"

John Grisham – „Bestechung“

Dienstag, 9. Mai 2017

(Heyne, 448 S., HC)
Lacy Stoltz und Hugo Hatch sind als Ermittler beim BJC (Board on Judicial Conduct) tätig, wo sie vor allem Beschwerden gegen standeswidriges Verhalten von Richtern in Florida nachgehen. In St. Augustine sollen sie im Auftrag ihres Vorgesetzten Michael Geismar einen Whistleblower treffen, der sich den beiden Kollegen und Freunden am Jachthafen der Stadt als Ramsey Mix alias Greg Myers vorstellt und dreißig Jahre als Anwalt praktiziert hat, bis er im Rahmen von RICO (Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Act) für sechzehn Monate ins Bundesgefängnis musste, nachdem er einen Deal mit der Staatsanwaltschaft eingegangen war.
Mittlerweile hat er seine Lizenz zurück und nur einen Mandanten, dessen Namen er allerdings nicht kennt. Myers macht Lacy und Hugo mit einem Fall vertraut, in dem es um organisierte Kriminalität, indianische Kasinobesitzer in Brunswick County und die korrupte Richterin Claudia McDover geht, die mit dem Unternehmer Vonn Dubose gemeinsame Sache macht. Doch kaum wird die offizielle Beschwerde der Richterin zugestellt, verschwindet Myers völlig von der Bildfläche. Das hält vor allem Lacy überhaupt nicht davon ab, der Beschwerde weiterhin nachzugehen.
„Was auch immer die Richterin dachte, sie ließ sich nichts anmerken. Ihr Gesicht war völlig emotionslos, so unangenehm diese Angelegenheit auch sein mochte.
Das Schöne an Lacys Strategie war, dass McDover in diesem Moment keine Ahnung hatte, was der Maulwurf ihnen bereits gesagt hatte. Sie hatte keine Ahnung, dass das BJC von dem Bargeld, den Privatjets, den Immobilien, den vielen Annehmlichkeiten wusste.“ (S. 217) 
Doch vor allem Dubose kennt keine Skrupel, seine Interessen zu schützen, und schreckt auch vor Mord nicht zurück. Lacy muss unbedingt an den Maulwurf herankommen, um an die Infos aus erster Hand zu kommen, kann sich dabei aber auch auf ihren exzentrischen Bruder Gunter verlassen …
Mit seinem neuen Thriller „Bestechung“ hat es der Justiz-Thriller-Bestseller-Autor John Grisham einmal mehr auf schwarze Schafe in der sogenannten „besseren Gesellschaft“ abgesehen. Der Fall wird wie bei Grisham üblich sehr detailliert und schnörkellos dargelegt, wobei die Abwicklung der Geschäfte über diverse Offshore-Konten etwas arg minutiös geschildert wird. Bei der Figurenzeichnung gefällt vor allem die sympathische Protagonistin, die nicht nur einen schweren Unfall und Verlust zu verarbeiten hat, sondern sich auch mit einem ehrgeizigen FBI-Agenten privat zu treffen beginnt. Dagegen wird die beschuldigte Richterin sehr eindimensional als hemmungs- und skrupellos gierige Person charakterisiert, was ebenso auf Dubose zutrifft.
Was Grisham bei der Charakterisierung seiner Figuren vermissen lässt, gleicht er bei der Konstruktion des Plots locker wieder aus, so dass „Bestechung“ sicher nicht zu seinen besten Werken zählt, aber doch für grundsolide Spannung sorgt.
 Leseprobe John Grisham - "Bestechung"

Steve Hamilton – (Nick Mason: 1) „Das zweite Leben des Nick Mason“

Freitag, 5. Mai 2017

(Droemer, 335 S., Pb.)
Nach fünf Jahren und achtundzwanzig Tagen kommt Nick Mason überraschend aus dem Gefängnis frei. Dass er nicht die kompletten fünfundzwanzig Jahre für einen misslungenen Coup absitzen muss, bei dem nicht nur sein Kumpel Finn O’Malley, sondern auch ein verdeckter Ermittler ums Leben kam, hat er vor allem dem einflussreichen Gangster Darius Cole zu verdanken, der mit Mason im selben Zellenblock von Terre Haute untergebracht war und von dort weiterhin seine Geschäfte in Chicago abwickelt.
Doch Nick Mason ist alles andere als frei. Zwar hat er endlich die Möglichkeit, seine nun neunjährige Tochter Adriana wiederzusehen, aber seine Ex-Frau Gina lebt nun mit Adrianas Football-Trainer zusammen, während er selbst auf Abruf für Coles Handlanger Quintero steht, der Mason ständig im Blick hat.
Bis dahin lebt er in einem schicken Townhouse in Lincoln Park West, verdient seine zehntausend Dollar im Monat als stellvertretender Geschäftsführer eines Restaurants und findet für seinen ersten Auftrag gleich eine Pistole in der Nachttischschublade eines heruntergekommenen Motels. Nachdem er bereits so viele seiner eisernen Regeln gebrochen hat, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Mason wieder hinter Gitter wandert, denn nicht nur der lästige Quintero hat sich an Masons Fersen geheftet, sondern auch Detective Sandoval, der sich sehr darüber wundert, dass sein alter Partner Gary Higgins dafür gesorgt hat, dass Mason so vorzeitig aus dem Knast gekommen ist. Zu guter Letzt ruft Mason nach seinem ersten Job in Freiheit auch noch die mit allerlei Sonderrechten ausgestattete Sondereinheit S.I.S. auf den Plan.
Mason muss noch einige seiner früheren Regeln brechen, um sich seinen Weg in die Freiheit zu erkämpfen. Dazu muss er allerdings auch herausfinden, was damals im Hafen, als Finn und der Cop umgekommen sind, wirklich geschehen ist.
„Alles, was danach passiert ist, sagte Mason sich, dass ich ins Gefängnis gegangen bin und meine Familie verloren habe, dass ich Darius Cole getroffen und diesen Pakt mit ihm geschlossen habe – auch all das, was ich bisher tun musste, diesen Mann töten, planen, den nächsten zu töten …
Das alles ist auf diese eine Nacht zurückzuführen.
Die Nacht, in der wir verraten wurden.“ (S. 209) 
Mit Nick Mason hat der internationale erfolgreiche, hierzulande aber noch nicht allzu bekannte amerikanische Krimi-Autor Steve Hamilton („Der Mann aus dem Safe“) einen charismatischen Helden kreiert, der in „Das zweite Leben des Nick Mason“ sein vielversprechendes Debüt gibt. Hamilton spielt geschickt immer wieder Rückblicke und Erinnerungen aus Masons Vergangenheit ein, den Beginn seiner kriminellen Laufbahn, seine wechselhafte Beziehung zu Gina und die Liebe zu seiner Tochter, der missglückte Coup, mit dem Mason seiner Familie eigentlich ein besseres Leben ermöglichen wollte, aber mit einer 25-jährigen Haftstrafe endete, von der er wiederum nur einen Bruchteil absitzen musste. Wie sich Mason dann als Auftragskiller durchschlägt, zwischen die Fronten einer neuen Liebe, seiner Mitbewohnerin Diana, Detective Sandoval, dem S.I.S. und letztendlich auch Darius Cole gerät, ist packend und schnörkellos geschrieben, lässt den Leser mit dem charismatischen Mason bis zu Schluss mitfiebern und auf die angekündigten Fortsetzungen hoffen.
Leseprobe Steve Hamilton - "Das zweite Leben des Nick Mason"

Heinz Strunk – „Jürgen“

Donnerstag, 4. Mai 2017

(Rowohlt, 256 S., HC)
Eigentlich ist Jürgen Dose ganz zufrieden mit seinem Leben. Dass seine Mutter seit ihrem schweren Unfall, der sie ans Bett fesselt, bei ihm lebt, stört ihn kaum. Er hat ja Schwester Petra vom Pflegedienst Stadtkäfer und seinen verantwortungsvollen Job als Pförtner in einem Harburger Parkhaus mit 1400 Stellplätzen und – nicht zu vergessen – seinen Kumpel Bernd „Bernie“ Würmer, der allerdings im Rollstuhl sitzt, bei Westsaat in der Kaltakquise arbeitet und seine Lebensaufgabe darin sieht, sich fortlaufend mit Jürgen zu zanken.
Ihre Freizeit verbringen sie vor allem damit, in ihrer Lieblingskneipe „Kamin 21“ abzuhängen. Was zu ihrem Glück noch fehlt, sind Frauen. Dabei haben sie gar keine so hohen Ansprüche an das schöne Geschlecht. Für Bernie ist die Haarfarbe ebenso unwichtig wie das Alter, nur zu dick und zu groß sollte sie nicht sein, während Jürgen von seiner Traumfrau erwartet, keine Amalgamzähne zu haben, Insekten wegmachen zu können und Kniffel spielen zu wollen.
Theoretisch weiß Jürgen ganz genau, wie Frauenherzen zu gewinnen sind und dass vielerorts geradezu Männermangel herrscht (Chöre, Laientheater, Tanzkurse, Volkshochschulkurse). Er weiß, dass lächelnde Menschen auch innerlich hübscher sind, dass grinsen aber schnell dazu führt, in die Kategorie „nett, aber irre“ eingestuft zu werden. Hände sind wie Musikinstrumente der Seele und sollten bewusst eingesetzt werden, und bei Unterhaltungen sind Körpersprache und Klang der Stimme wichtiger als der Inhalt. Und schließlich gibt es diverse bewährte Strategien, um einen Flirt zu beginnen.
„Wenn man registriert, dass die Frau einen heimlich mustert, denkt man sich ‚Haha, erwischt‘ und setzt dazu den entsprechenden Gesichtsausdruck auf. Die Frau fühlt sich ertappt, und schon ist der schönste Flirt am Laufen. So wird aus einem Teufelskreis ein Gotteskreis. Immer dranbleiben, immer bohren, immer sägen, bis die Kiste fliegt. Aber man darf nicht zu lange zögern, sondern muss einfach machen.“ (S. 52) 
Und so melden sich Bernie und Jürgen zunächst zu einem Speed-Dating an, wo sie für 19 Euro nicht nur Mineralwasser, gelbe und weiße Brause gestellt bekommen (aber keine Zeit haben, davon auch zu kosten), sondern wahre „Augenpralinen“, von denen allerdings niemand Interesse an Jürgen und Bernd findet. Doch bevor die beiden liebeshungrigen Singles die Flinte ins Korn werfen, eröffnet sich schon die nächste großartige Chance: Die Partnervermittlung Eurolove verweist auf ihre 100%ige Erfolgsquote und fährt mit einer Busladung anderer Schicksalsgenossen nach Breslau, wo unzählige heiratswillige Polinnen auf sie warten.
Als Jürgen die schwerbusige Dominika, die eigentlich für Bernd gedacht war, auf das Zimmer nimmt und ihr bei Schaumwein näherkommt, scheint er am Ziel seiner Träume angelangt zu sein, doch die Rechnung hat er mal wieder ohne Bernd gemacht …
Seit seinem Debütroman „Fleisch ist mein Gemüse“ hat sich der Hamburger Schauspieler, Autor und Musiker Heinz Strunk in seinen Büchern den ganz normalen Menschen gewidmet, die der Volksmund durchaus als Loser und arme Willis bezeichnen würde.
Mit Jürgen Dose hat Strunk einmal mehr einen an sich sehr netten, freundlichen und genügsamen Protagonisten erdacht, der sich durch etliche Tiefschläge und Enttäuschungen gerade im Liebesleben nicht aus dem Konzept bringen lässt und unbeirrt weiter nach einer Frau in seinem Leben sucht, die weder seine Mutter noch Schwester Petra ist. Dabei versteht es Strunk wie immer, mit viel Sympathie für seine Figuren ihren biederen Alltag und ganz normalen Sehnsüchte mit einer Mischung aus Humor und Melancholie zu beschreiben, so dass man Jürgen wirklich von Herzen wünscht, endlich ans Ziel seiner einfachen Träume zu gelangen. 
Leseprobe Heinz Strunk - "Jürgen"

Robert B. Parker – (Spenser: 39) „Spenser und der Cree-Indianer“

Dienstag, 2. Mai 2017

(Pendragon, 206 S., Tb.)
Der schwergewichtige Schauspieler Jeremy Franklin „Jumbo“ Nelson ist ein Kotzbrocken, wie er im Buche steht. Als er verdächtigt wird, die zwanzigjährige Dawn Lapota in seinem Bostoner Hotelzimmer bei experimentellen Sexspielchen erwürgt zu haben, setzt Polizeichef Martin Quirk den Privatdetektiv Spenser auf den Fall an, der wiederum von der Anwältin des Filmstudios bezahlt wird.
Laut Jumbos Aussage hat sich das Mädchen selbst erwürgt, als er selbst – voll mit Koks und Alkohol - die Toilette aufsuchen musste. Da sich außer ihm nur sein Bodyguard, der Cree-Indianer Zebulon „Z.“ Sixkill, zur Tatzeit in der Nähe befand, erhofft sich Spenser, von ihm den Tathergang geschildert zu bekommen. Er trainiert mit dem kräftig gebauten, aber untrainierten Indianer und gewinnt allmählich sein Vertrauen.
Wenig später machen Spenser und Sixkill die Bekanntschaft von zwei Männern, die die Investitionen, die die Mafia offensichtlich in Jumbos Filmgeschäfte getätigt hat, zu schützen. Um ihrem Ansinnen Nachdruck zu verleihen, schicken sie einen kompromisslosen Killer nach Boston. Davon sind weder Spenser noch seine Freundin Susan besonders begeistert, aber beide wissen, dass Spenser nicht der wäre, der er ist, wenn er vor drohender Gefahr kuschen würde …
Der 2010 verstorbene Robert B. Parker, der ganz offiziell in die Fußstapfen des großen Raymond Chandler treten durfte, hat 1973 mit „Die Schnauze voll Gerechtigkeit“ (aka „Das gestohlene Manuskript“) die Bühne für einen charismatischen Protagonisten namens Spenser geschaffen, der nicht nur auf eine Karriere als ehemaliger Schwergewichts-Profiboxer zurückblicken kann, sondern auch kurz bei der Polizei tätig gewesen ist. Mit „Spenser und der Cree-Indianer“ erscheint nun posthum der bereits 39. Band der erfolgreichen Reihe, die sogar als Vorlage für die beiden Fernsehserien „Spenser“ und „Hawk“ diente.
Wie üblich hält sich Parker nicht lang mit einer Einführung auf, sondern konfrontiert seinen Helden gleich mit dem prominenten Fall eines unter Mordverdacht stehenden Schauspielers, auf den die Mafia ein besonderes Auge hat. An seiner Seite entwickelt sich Jumbos ehemaliger Bodyguard Sixkill zu einem interessanten Sparringspartner nicht nur beim Training, sondern auch in den spritzigen Dialogen, die auch das Verhältnis zwischen Spenser und seiner langjährigen Freundin Susan Silverman prägen. Dazu gibt es kleine Einblicke in das Filmgeschäft und kursive Abschnitte, in denen mit vereinzelten Flashbacks der persönliche Hintergrund des Indianers aufgearbeitet wird.
Alles in allem bietet „Spenser und der Cree-Indianer“ einen rasanten Plot, bei dem weder handfeste Action noch packende Spannung und knackige Dialoge zu kurz kommen, faszinierende Figuren und auch ein wenig Gefühl:
„Ich saß da und dachte an Susan und mich und an unsere gemeinsame Zeit, was ich gerne tat. Ich hatte immer das Gefühl, es wäre völlig ausreichend, einfach mit ihr zusammen zu sein, und dass alles andere, gut oder schlecht, nur Hintergrundrauschen war.“ (S. 33)

Gareth Murphy – „Cowboys & Indies“

Montag, 1. Mai 2017

(Heyne Hardcore, 480 S., Tb.)
Mehr als 150 Jahre liegen zwischen der Erfindung des „Phonautographen“ oder Klangschreibers und der heute zu beobachtenden weitreichenden Digitalisierung der Musikwelt, die auf der anderen Seite die erfolgreiche Renaissance der Langspielplatte aus Vinyl feiert.
Der aus Irland stammende und in Paris lebende Autor Gareth Murphy hat sich der Herkules-Aufgabe gewidmet, die Entstehung der Musikindustrie, wie wir sie seit den 1960er Jahren mit der Beatlemania, dem Siegeszug von Elvis, den Rolling Stones und Bob Dylan kennengelernt haben, aus ungewohnter Perspektive aufzurollen, nämlich aus der Sicht sogenannter record men, die mit ihrem einzigartigen Gespür für neue Entwicklungen, Stars und Hits stets die treibenden Kräfte hinter dem zuweilen gigantisch aufgeblasenen Musikzirkus gewesen sind.
Murphy geht bei seiner „abenteuerlichen Reise ins Herz der Musikindustrie“ – so der Untertitel seiner umfassenden Geschichtslektion – streng chronologisch vor, beginnt etwas sehr ausufernd mit den Erfindungen von Klangaufzeichnungsgeräten und -schreibern, Patentstreitigkeiten und der Notwendigkeit, zu der entwickelten Hardware auch den entsprechenden Musikkatalog voranzubringen. Wir erleben mit der Geburt von His Master’s Voice und Columbia die Gründung der heute bekannten Musikindustrie, die Ende der 1920er Jahre mit der Verbreitung des Radios ihre erste große Krise bewältigen musste, mit John Hammond aber auch einen engagierten record man hervorbrachte, der zunächst für den britischen Melody Maker über die amerikanische Jazz-Szene schrieb und sich dann einen Namen als Produzenten von Stars wie Billie Holiday, Benny Goodman, Aretha Franklin, Count Basie und Bob Dylan machte, dem der Autor etwas mehr Aufmerksamkeit und Raum in seinem Buch schenkt.
Die weiteren Stationen decken Phil Spector und sein „Wall of Sound“ und die dem Baby-Boom zu verdankenden „Sixties“ ab, wobei die Karriere der Beatles und ihr Manager Brian Epstein wiederum ausführlicher beleuchtet werden. Je mehr sich die Majors wie EMI, Columbia, Capitol, CBS, Warner, Island, Atlantic bei Mega-Acts wie Led Zeppelin und Pink Floyd überboten, desto mehr kamen den Indies die Rolle zu, wirklich neue musikalische Strömungen zu entdecken, die über Plattenläden wie Rough Trade und Labels wie Factory, Mute, 4AD einem neugierigen Publikum zugänglich gemacht wurden.
„Praktisch hinter jedem stilbildenden Label versteckt sich eine sehr spezifische Geschichte, die gewöhnlich tief im Charakter des jugendlichen Gründers verankert ist. Dies sind die Schirmherren der musikalischen Gegenwart, dies sind die Propheten, die die Geschichte des Musikgeschäfts verinnerlicht haben und sich gleichzeitig in der Rolle des Richters und Schutzengels sehen.“ (S. 10f.) 
Gareth Murphy gelingt mit „Cowboys & Indies“ das seltene Kunststück, die eher unbekannte Seite des Musikgeschäfts, nämlich aus der Sicht der Manager, Talentscouts, Produzenten und Labelgründer zu rekapitulieren – und zwar chronologisch in ihrem soziokulturellen Kontext.
Natürlich kommt bei einer so turbulenten und umfassenden Geschichte einiges zu kurz, aber anhand von einigen wegweisenden record men und den Grabenkämpfen, die Majors wie Indies um ihr Überleben ausfechten mussten, entsteht ein umfassendes wie buntes Werk, das zuletzt auch die Herausforderungen durch die Digitalisierung thematisiert, auch wenn diese – wie viele andere Impulse – nur angerissen werden. Vor allem die exzentrischen Eigenheiten vieler record men und ihr schon geschäftsschädigendes Gebaren wird eindrücklich beschrieben.
Die vielen eingestreuten Zitate und Dialoge verleihen dem Buch fast schon den Charakter eines Augenzeugenberichts, machen es auf jeden Fall zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, das durch eine weiterführende Bibliographie abgerundet wird. 
Leseprobe Gareth Murphy - "Cowboys & Indies"

John Katzenbach – „Die Grausamen“

Sonntag, 30. April 2017

(Droemer, 570 S., Pb.)
Seit Gabriel „Gabe“ Dickinson bei einem Segelausflug unverschuldet seinen Schwager verloren hat, weil dieser gegen jede Vernunft schwimmend das scheinbar rettende Ufer erreichen wollte, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst und dem Alkohol verfallen, als er auch noch von seiner Frau verlassen worden ist. Von seinem Chef wird er kurzerhand in die eigens für ihn eingerichtete Abteilung „Cold Cases“ abgeschoben. Im sogenannten „Verlies“ wühlt er sich zusammen mit seiner neuen und ebenfalls traumatisierten Kollegin Marta Rodriguez-Johnson durch nicht abgeschlossene Fälle aus der Vergangenheit, wobei das angeschlagene Duo Weisung erhalten hat, bei Hinweisen die entsprechenden Akten in die Hände der Kollegen von der Mordkommission zu übergeben.
Überraschenderweise stoßen Gabe und Marta nach kurzer Zeit tatsächlich auf einen Fall, der sie nicht zur Ruhe kommen lässt. Vor zwanzig Jahren ist die dreizehnjährige Tessa Gibson auf dem kurzen Heimweg von ihrer Freundin nicht zuhause angekommen. Ausgedehnte Suchaktionen in dem noblen Viertel fördern nur ihren blutbefleckten Rucksack zutage, von Tessa selbst fehlt bis heute jede Spur.
Besonders merkwürdig ist allerdings der Umstand, dass kurze Zeit nach Tessas Verschwinden vier brutale Morde an jungen Männern verübt worden sind, die ebenfalls nicht aufgeklärt worden sind – obwohl die damaligen Top-Detectives O’Hara und Martin die Ermittlungen geleitet haben.
Als Gabe und Marta die beiden pensionierten Detectives aufsuchen, wecken sie schlafende Hunde und werden immer wieder von ihren aufgebrachten Vorgesetzten zurückgepfiffen. Doch gerade der einstige Bürohengst Gabe mutiert zu einem forschen Ermittler, der kein Blatt mehr vor den Mund nimmt.
„Wenn er zusammen mit Marta unterwegs war und mit den Leuten über Tessa oder die toten Vier sprach, wenn er den Ermittler spielte, der er eigentlich nicht war, schlüpfte er in eine andere Haut. Er war wie ein unbeschriebenes Blatt und konnte für ein paar Stunden seine quälende Vergangenheit hinter sich zu lassen. Auch wenn ich mich nicht gerade wie ein Profi dabei anstelle, Leute zu befragen, gibt es mir wenigstens das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.“ (S. 281)
Mit Psycho-Thrillern wie „Der Patient“, „Die Anstalt“ und „Der Psychiater“ hat sich der ehemalige Polizeireporter John Katzenbach einen Stammplatz auf internationalen Bestseller-Listen gesichert. Mit seinem neuen Roman „Die Grausamen“ liefert er nun seinen ersten Krimi ab und folgt dabei den erfolgreichen Spuren von Jussi Adler-Olsens Reihe um das Kopenhagener „Sonderdezernat Q“, das sich wie Gabe Dickinson und Marta Rodriguez-Johnson um alte ungeklärte Fälle kümmert.
Dabei sind ihm mit den psychisch labilen Protagonisten ganz starke Figuren gelungen, die ihre tragischen menschlichen Verluste einfach nicht verwinden können, hier der auf See umgekommene Schwager, dort der versehentlich in Ausübung des Dienstes im dunklen Keller erschossene Partner. Wie sich das „Cold Cases“-Duo aber schnell zusammenrauft und Gefallen an der zunächst unliebsamen neuen Aufgabe findet, ist ebenso stark von Katzenbach in Szene gesetzt wie das Erwachen des Ermittler-Instinktes, mit dem Gabe und Marta ordentlich Staub aufwirbeln.
Die kalten Fälle sind dazu packend geschrieben und erhalten durch gelegentliche Rückblenden immer wieder eine neue Perspektive. „Die Grausamen“ bietet so fesselnde Spannung, dass man nur hoffen kann, dass Katzenbach Gabe und Marta eine ganze Reihe widmet, denn selten hat die Kriminalliteratur so eindringlich gezeichnete Ermittler gesehen.
Leseprobe John Katzenbach - "Die Grausamen"

Gay Talese – „Der Voyeur“

Dienstag, 25. April 2017

(Tempo, 224 S., HC)
Als Gerald Foos erfährt, dass der renommierte Autor Gay Talese („Ehre deinen Vater“) in seinem nächsten Buch „Du sollst begehren“ eine landesweite Studie zum Sexualleben der Amerikaner thematisiert, schreibt er ihm im Januar 1980 einen Brief, in dem er wichtige Informationen zum Thema anbietet. Seit fünfzehn Jahren sei Foos nämlich mit seiner Frau Donna Besitzer eines kleinen Motels in Aurora, Colorado, dessen Kundenstamm als repräsentativer Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung gelten darf. Das Besondere an den einundzwanzig Zimmern des mittelständischen Hauses sind die speziell angefertigten Lüftungsgitter in der Decke, die es Foos erlauben, seine voyeuristischen Neigungen zu befriedigen und dabei die Frage zu beantworten, wie sich Menschen in ihrem ganz privaten Umfeld sexuell verhalten.
Foos hat seit den späten 1960er Jahren präzise Aufzeichnungen über seine Beobachtungen angestellt und diese analysiert. Foos ist fest davon überzeugt, dass seine Notizen von großem Interesse sowohl für die Menschheit im Allgemeinen als auch für Sexualforscher im Besonderen sein könnten.
Talese selbst ist allerdings skeptisch. Ihm ist klar, dass er, wenn er Foos‘ Story veröffentlichen würde wollen, auch dessen tatsächlichen Namen nennen müsste, aber dadurch würde Foos in den Fokus der Strafverfolgung rücken. Tatsächlich trifft sich Talese mit dem Voyeur und lässt sich Foos‘ Aufzeichnungen in kleinen Teilen zukommen. Darin beschreibt Foos ausführlich die Sexualpraktiken seiner von ihm ausspionierten Gäste, konventionellen Sex zwischen Ehepartnern oder Geliebten, gleichgeschlechtlichen Sex, Gruppensex, Masturbation, einen signifikanten Anstieg von Oralsex nach dem Kinoerfolg des Pornofilms „Deep Throat“ (1972).
Bei der Durchsicht von Foos‘ Aufzeichnungen stellt sich Talese aber auch einige Fragen:
„Wieso hat er all das schriftlich festgehalten? Genügt es einem Voyeur nicht, Lust zu verspüren und ein Gefühl der Macht zu empfinden? Wozu der Akt der Niederschrift? War das eine Form der Kontaktaufnahme, indem Voyeure sich anderen offenbarten, wie es Foos zuerst mit seiner Frau und dann mit mir getan hatte, um sich schließlich als anonymer Chronist an ein größeres Publikum zu wenden?“ (S. 91) 
Talese, der in den frühen 1960er Jahren für die The New York Times geschrieben hatte, für seine im Esquire veröffentlichten Portraits über Joe DiMaggio, Dean Martin und Frank Sinatra berühmt geworden ist und als Mitbegründer des literarischen Journalismus zählt, zitiert in seinem Buch „Der Voyeur“ nicht nur ausführlich aus Foos‘ Briefen und Aufzeichnungen, sondern rekapituliert auch den persönlichen Hintergrund von Gerald Foos und muss immer wieder feststellen, dass er seiner Quelle nicht unbedingt glauben kann.
Immer wieder stößt er auf Ungereimtheiten in Foos‘ Darstellungen. Das betrifft vor allem einen Vorfall, der sich 1977 ereignet haben soll, bei dem Foos den Mord an einem seiner weiblichen Gäste beobachtet haben will. Zunächst dachte er, dass die Frau noch lebt, am nächsten Morgen wurde sie allerdings tot aufgefunden. Merkwürdig ist nur, dass Talese bei seinen Recherchen später keine Aufzeichnungen weder in den Medien noch bei den zuständigen Polizeistellen fand. Talese selbst wird, nachdem er in einem „New Yorker“-Artikel über sein geplantes Buch berichtet, vorgeworfen, durch sein Schweigen zu einem Mitverschwörer geworden zu sein.
Das Thema ist bei aller Unsicherheit über die Echtheit aller geschilderten Daten dennoch so interessant, dass Steven Spielberg sich sogleich die Filmrechte sicherte. Man mag von der voyeuristischen Praxis, die hier ausführlich geschildert wird, halten, was man will, aber „Der Voyeur“ bietet tatsächlich einen interessanten, gut geschriebenen Einblick in das Sexualverhalten der Amerikaner und den Wandel, den der Sex durch die Erfindung der Pille, Pornofilme und die Hippie-Bewegung erfahren hat.

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck 7) „Selfies“

Sonntag, 23. April 2017

(dtv, 576 S., HC)
Die Sozialarbeiterin Anne-Line Svendsen hat schon so einige schlechte Entscheidungen in ihrem Leben getroffen, auch in beruflicher Hinsicht. Da sie bei Männern stets die falsche Wahl getroffen hat, lebt sie als übergewichtiger Single in Kopenhagen und übt ihren Job zunehmend mit Widerwillen aus. Bei Sozial-Schmarotzern wie Michelle Hansen, Denise F. Zimmermann und Jazmine Jørgensen, die nicht bereit sind, für ihren Lebensunterhalt etwas zu tun und sich immer dreistere Tricks einfallen lassen, um das System zu hintergehen, dreht sich ihr der Magen um.
Nachdem ihr bei einer Routineuntersuchung Brustkrebs diagnostiziert wurde, scheint Anneli, wie sich selbst gern nennt, nichts mehr zu verlieren zu haben, und schmiedet einen perfiden Plan, die drei durch gemeinsames Schicksal geschmiedete Freundinnen, mit geklauten Autos zu überfahren. Auf der anderen Seite beschließen die drei jungen Frau, sich ebenfalls ihrer ätzenden Sachbearbeiterin zu entledigen …
Währenddessen steht Vizepolizeikommissar Carl Mørck unter besonderem Druck. Scheinbar sind unerklärlich niedrige Aufklärungsquoten des Sonderdezernats Q zum Polizeipräsidenten gelangt, so dass das im Keller untergebrachte Dezernat für ungelöste alte Fälle davorsteht, aufgelöst oder zumindest personell reduziert zu werden. Da erhält Mørck einen Anruf seines ehemaligen, mittlerweile pensionierten Kollegen Marcus Jacobsen, der einen Zusammenhang zwischen dem jüngsten Mord an der 67-jährigen Rigmor Zimmermann und einem ganz ähnlichen Fall erkennt, als vor zwölf Jahren die Lehrerin Stephanie Gundersen unter ähnlichen Umständen ums Leben kam. Interessanterweise war die Zimmermann die direkte Nachbarin von Rose Knudsen, der psychisch angeschlagenen, aber sehr geschätzten Kollegin in Mørcks kleinen Team. Als der vermeintliche Unfalltod ihres herrschsüchtigen und sadistischen Vaters wieder aufgerollt wird, geht es Rose so schlecht, dass sie sich das Leben nehmen will …
„Er seufzte. Ein unerträglicher Gedanke, dass diese Frau, die sie alle so gut zu kennen glaubten, mit so zerstörerischen, alles überschatteten Gefühlen zu kämpfen hatte. Gefühlen, die sie nur durch harsches Auftreten in den Griff zu bekommen glaubte.
Und trotz all der Düsternis in ihrem Innern hatte sie immer noch die Kraft gefunden, ihn, Carl, zu trösten, wenn er selbst niedergeschlagen war.“ (S. 191f.) 
Seit 2007 begeistert der dänische Schriftsteller Jussi Adler-Olsen die internationale Krimileserschaft mit seiner Reihe um Carl Mørck und dem von ihm geleiteten Sonderdezernat Q – allerdings in unterschiedlicher Qualität. Dass der siebte Band „Selfies“ leider der bislang unausgereifteste ist, liegt nicht nur an dem ambitionierten, aber missglückten Unterfangen, gleich fünf Mordfälle auf unterschiedlichen Ebenen aufzuklären, sondern gleich zu Anfang an der wenig überzeugenden und sehr klischeehaften Einführung der drei Unterschicht-Schlampen mit den dafür typischen Namen Michelle, Denise und Jazmine.
Wie die drei jungen Frauen zu Freundinnen werden und ebenso wie ihre Sachbearbeiterin gegenseitig Mordgelüste entwickeln, hat Adler-Olsen sehr oberflächlich inszeniert. Der Fokus auf diese unglaubwürdige Konstellation führt leider dazu, dass die anderen vom Sonderdezernat Q – teilweise in Zusammenarbeit mit der regulären Mordkommission aus dem zweiten Stock – bearbeiteten Fälle nur angerissen werden.
Vor allem das plötzliche Verschwinden von Rose und die Beschäftigung mit ihrem im Stahlwerk umgekommenen Vater erhält so nicht die Aufmerksamkeit, die die sympathische Rose mit ihren massiven psychischen Problemen verdient hätte. Zu allem Überfluss müssen sich Carl Mørck und Co. auch noch mit dem übereifrigen Fernsehteam von Station 3 herumplagen.
So bleiben nicht nur die übrigen Mitstreiter des Dezernats Q eher blass, sondern finden die einzelnen Fälle eher im Galopp ihre Auflösung.
Adler-Olsen würde sich in Zukunft sich selbst und seinen Lesern wie Kritikern sicher einen Gefallen tun, wenn er sich mehr auf seine sympathischen Ermittler des Sonderdezernats und auf weniger als eine Handvoll Fälle konzentrieren würde, um so mehr erzählerische Tiefe und Spannung zu erzeugen.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Selfies"

Carlos Ruiz Zafón – „Das Labyrinth der Lichter“

Freitag, 21. April 2017

(S. Fischer, 944 S., HC)
Als im Dezember 1959 der Bildungsminister Don Mauricio Valls y Echevarría mit seiner Frau Doña Elena Sarmiento de Fontalva in ihrer Villa einen Maskenball veranstaltet und in derselben Nacht spurlos verschwindet, beauftragt der Leiter des Nationalen Polizeikorps, Don Manuel Gil de Partera, den routinierten Leondro Montalvo mit der Suche nach dem Minister, der von 1939 bis 1944 als Gefängnisdirektor im Castell de Montjuïc in Barcelona gedient hatte.
Montalvo wiederum setzt seine mit außergewöhnlichen Talenten gesegnete Ermittlerin Alicia Gris auf den Fall an, die er aus Madrid nach Barcelona schickt und entgegen ihrer Gewohnheit diesmal nicht im Alleingang agieren lässt, sondern ihr den Offizier Vargas an die Seite stellt.
In Valls‘ Schreibtisch findet Alicia das Buch „Das Labyrinth der Lichter VII. Ariadna und der Scharlachprinz“ von Victor Mataix, das zu einer achtbändigen Reihe gehört, die der Autor 1931 begonnen hatte und unter Sammlern mittlerweile horrende Preise erzielt.
Über den Buchhändler Gustavo Barceló und den Rechtsanwalt Fernando Brians erhält Alicia schließlich Kontakt zum Journalisten Sergio Vilajuana, der Mataix im Herbst 1938 kennengelernt hatte. Schließlich führen ihre Ermittlungen zur Buchhandlung Sempere & Söhne und den Autor Daniel Martin.
„Sie erinnerte sich an die vielen Nächte, die sie schlaflos verbracht hatte im Glauben, der Organist Maese Pérez streiche um Mitternacht vor ihrer Zimmertür herum, und mit dem Wunsch, wieder zu dem verzauberten Buchladen zurückzukehren, wo tausendundeine zu erlebende Geschichten auf sie warteten.“ (S. 369) 
Alicia kommt einem raffinierten Komplott auf die Spur, das bis in die höchsten Kreise des Franco-Regimes reicht. Ehe sie die Zusammenhänge zwischen Valls‘ mysteriösen Verschwinden und ihrem eigenen Schicksal erkennt, müssen etliche Beteiligte noch sterben und um ihr Leben bangen …
Nachdem der aus Barcelona stammende Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón zwischen 1993 und 1995 eine Fantasy-Trilogie und 1999 den alleinstehenden Roman „Marina“ veröffentlicht hatte, gelang ihm mit dem 2001 erschienenen und zwei Jahre später auch ins Deutsche übersetzten Roman „Der Schatten des Windes“ der internationale Durchbruch. Mit dem Auftakt einer Reihe, die sich um den „Friedhof der Vergessenen Bücher“ in Barcelona dreht, verknüpfte er auf fesselnde Weise die düstere Epoche der Franco-Herrschaft mit der Magie der Literatur und einer vielschichtigen Kriminalgeschichte.
Nach den Folgebänden „Das Spiel des Engels“ und „Der Gefangene des Himmels“ schließt Zafón seinen eindrucksvollen Zyklus mit dem epischen „Das Labyrinth der Lichter“ auf komplexe, aber doch nach wie vor fesselnde Weise ab. Der Leser begegnet vertrauten Figuren aus den vorangegangenen Bänden, mit der geheimnisvollen Alicia Gris aber eine seit ihrer Kindheit grausam gezeichnete, unnahbare wie verführerische Femme fatale, die in Montalvo einen Mentor gefunden hatte und unter ihm ihre unorthodoxen Fähigkeiten als Ermittlerin entwickeln konnte.
Ähnlich wie in den drei vorangegangenen Bänden gibt es in „Das Labyrinth der Lichter“ viel zu entdecken und zu entwirren, stellenweise sicher auch mehr, als zum vollen Genuss der geistreichen Lektüre vonnöten gewesen wäre.  
Zafón erweist sich nach wie vor als Meister der atmosphärisch dichten Schilderung sowohl der düsteren Milieubefindlichkeiten in den vierzig Jahren der Franco-Diktatur als auch den Straßen und Vierteln seiner geliebten Heimatstadt sowie den meist sehr sympathischen Charakteren, die oft über eine besondere Beziehung zur Literatur verfügen.
Zwar betont der Autor im Vorwort, dass jeder der vier Bände unabhängig von den anderen gelesen werden könne, doch für den Gesamteindruck macht die chronologische Lesefolge schon Sinn. An die Klasse des Weltbestsellers „Der Schatten des Windes“ kommt „Das Labyrinth der Lichter“ nicht heran. Allzu sehr verliert sich Zafón immer wieder in Nebenhandlungen und sprachlich zu verspielten Sequenzen und Dialogen, aber am Ende wird auch noch mal eine Linie zwischen den vier Bänden gezogen, die in ihrer Gesamtheit ein profundes Stück moderner spanischer Literatur darstellen. 
Leseprobe Carlos Ruiz Zafón - "Das Labyrinth der Lichter"

Richard Laymon – „Die Tür“

Mittwoch, 12. April 2017

(Heyne, 256 S., Tb.)
Bevor Richard Laymon in den 1990er Jahren mit Schockern wie „Das Treffen“, „Die Jagd“, „Das Spiel“ und „Rache“ zumindest in seiner Heimat zum Horror-Star avancierte, erschien 1980 mit „Haus der Schrecken“ nicht nur sein Debütroman, sondern gleichzeitig auch der Auftakt der „Keller“-Trilogie, die Heyne 2008 mit den dazugehörigen Romanen „Das Horrorhaus“ und „Mitternachtstour“ veröffentlicht hat. In Laymons Todesjahr 2001 erblickte schließlich mit „Friday Night in the Beast House“ ein abschließender vierter Band das Licht der Öffentlichkeit. Allerdings umfasst diese Story gerade mal gute 120 Seiten und wurde für die Heyne-Veröffentlichung unter dem Titel „Die Tür“ noch um die ebenso kurze Story „Die Wildnis“ (1998) ergänzt.
Der 16-jährige Mark Matthews überwindet endlich seine Schüchternheit und bittet seinen Schwarm Alison um ein Rendezvous. Die sagt überraschenderweise zu – allerdings nur unter der Bedingung, dass er ihr nachts Zugang zum legendären Horrorhaus in Malcasa Point verschafft. In diesem legendären Haus wurde 1903 nicht nur Ethel Hughes brutal ermordet, sondern über die Jahre hinweg viele weitere Menschen, deren schreckliches Ableben nun naturgetreu nachempfunden und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Tatsächlich gelingt es Mark, sich außerhalb der Öffnungszeiten in dem Haus zu verstecken und Alison später einzulassen. Doch sehr bald müssen die beiden Teenager bei ihrem Abenteuer feststellen, dass sie nicht allein sind. Offensichtlich treibt sich die legendäre Bestie, die für die brutalen Morde verantwortlich gemacht worden ist, noch immer in den Räumen des Horrorhauses herum.
„Bevor er einen Warnruf ausstoßen konnte, bevor er sich überhaupt bewegen konnte, hatte das Ding die Windjacke vor Alisons Brust gepackt und sie von den Knien gerissen. Sie schrie. Die Kerze fiel ihr aus ihrer Hand. Sie verschwand mit dem Kopf voraus im Loch, als würde sie hineingesogen. Im Nu steckte sie bis zur Hüfte in der Öffnung.“ (S. 111) 
Der Plot von „Die Tür“ gestaltet sich dabei ebenso konventionell wie die beschriebenen Horrorszenen. Die Figuren sind erschreckend eindimensional, die Spannung vorhersehbar gestaltet. Im Finale wird es sogar so absurd unglaubwürdig, dass man Laymon vorwerfen muss, dass er seiner voyeuristischen Fantasie etwas zu viel Auslauf gelassen hat.  
Jack Ketchum weist in seinem Vorwort zu „Die Tür“ zwar darauf hin, dass Laymon nie ein großer Stilist gewesen sei, aber von der sonst so lebendigen und authentisch wirkenden Sprache der besten Laymon-Titel ist „Die Tür“ ganz weit entfernt.
Das trifft leider auch auf „Die Wildnis“ zu, in der Ned Champion seinen Reisebericht von seinem Ausflug nach Lost River vorlegt. Der war eigentlich als Campingabenteuer mit seiner geliebten Cora geplant, doch nach dem Ende der Beziehung macht sich Ned allein auf den Weg durch die Wildnis. Nach anfänglicher Todesangst in der Nacht beginnt Ned schließlich sogar Gefallen an dem Alleinsein zu finden und beobachtet ahnungslose Wanderer. Vor allem die beiden Mädchen Gloria und Susie haben es ihm angetan. Als Ned allmählich der Proviant ausgeht, wird er mutiger und sucht die Schlafstätten seiner ausgekundschafteten „Opfer“ auf und kidnappt eines der Mädchen …
„Die Wildnis“ ist stilistisch ähnlich einfach gehalten, mit einem nicht sehr glaubwürdigen Plot versehen, der allenfalls als dünnes Gerüst für abartige Brutalitäten und Fantasien herhalten darf. Hier macht der Horror auch vor Hässlichen und Dicken nicht Halt! Um das ohnehin schmale Bändchen noch aufzublähen, liefert „Die Tür“ nicht nur das bereits erwähnte, aber wenig aussagekräftige Vorwort von Laymons Kollegen Jack Ketchum („Evil“, „The Lost“), sondern auch eine immerhin 25-seitige Leseprobe aus „Der Keller“ und das obligatorische kommentierte Werkverzeichnis der bei Heyne erschienenen Laymon-Titel.
Für die nächsten beiden Romane „Das Auge“ (1992) und „Das Ende“ (1999), die Heyne noch dieses Jahr veröffentlichen will, dürfen Laymon-Fans hoffentlich wieder bessere Geschichten erwarten …

Marlon James – „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“

Dienstag, 11. April 2017

(Heyne, 858 S., HC)
Am 3. Dezember 1976 stürmen sieben bewaffnete Männer in der Hope Road das Haus des jamaikanischen Reggae-Stars Bob Marley, das im noblen Viertel von Kingston liegt, und eröffnen das Feuer. Während Marleys Manager und Frau jeweils schwer verwundet werden, erleidet der Musiker selbst nur leichte Wunden an Arm und Brust. Scheinbar völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen nimmt er wenige Tage später an einem Friedenskonzert der PNP (People’s National Party) teil.
Die Attentäter selbst und die Hintergründe der Tat konnten bis heute nicht aufgeklärt werden.
Mit seinem dritten, 1985 sogar mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ hat der aus Jamaika stammende und von Schriftstellern wie William Faulkner und James Ellroy beeinflusste Marlon James einen epischen Krimi inszeniert, der aufgehängt an dem Attentat auf Bob Marley vor allem über mehrere Jahrzehnte die komplexen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf der karibischen Insel vor Augen führt.
Allerdings bedient er sich dabei nicht der chronologischen Schilderung eines allwissenden Erzählers, sondern der sehr subjektiven Ich-Perspektive von gut siebzig fiktiven Zeitzeugen, die jeweils verschiedene Puzzlestücke zum Gesamtbild beitragen.
Interessanterweise wird Bob Marley stets nur als „der Sänger“ bezeichnet, auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld, das Jamaika in den 1970er Jahren und danach geprägt hat, wird nicht eingehend beschrieben, sondern erschließt sich nur im Gesamtkontext durch hier und da eingestreute Bemerkungen, in denen es um den Konflikt zwischen der kommunistisch orientierten PNP und der pro-westlichen, ultrakonservativen rechten und von US-Präsident Ronald Reagan unterstützten Jamaican Labor Party (JLP).
Es geht aber auch um Drogen und den Einfluss der CIA, so dass Drogenkuriere, Gangsterbosse, Ghetto-Kids, Prostituierte, Agenten, ein Journalist vom „Rolling Stone“ und Auftragsmörder zu Wort kommen.
Bob Marley wird in diesem Kontext einerseits mythisch als Volksheld überhöht, andererseits als Mischling diffamiert, der sein Volk verraten, an gefälschten Pferdewetten beteiligt gewesen und nur nach Reichtum und Ruhm gestrebt haben soll.
„Da haben wir also den Sänger und zwei Gangster von einer politischen Partei, die er angeblich nicht unterstützt, und sie scheinen so dick befreundet zu sein wie alte Schulkumpel. In den nächsten Tagen wird er gesehen, wie er mit Shotta Sherrif herumhängt, dem Paten der Eight Lanes, der für die andere Partei arbeitet, die andere Seite. Die beiden Oberbosse in einer Woche, zwei Männer, die mehr oder weniger die sich bekämpfenden Hälften von Downtown-Kingston kontrollieren. Vielleicht gibt er ja einfach den Friedensstifter, schließlich ist er bloß ein Sänger. Aber so langsam versteh ich, dass in Jamaika niemand einfach nur irgendwas ist. Da ist was im Busch, ich kann’s schon riechen. Hab ich bereits erwähnt, dass in zwei Wochen gewählt wird?“, lässt beispielsweise der „Rolling Stone“-Journalist Alex Pierce verlauten, der vor allem im 1991 angesiedelten abschließenden Kapitel „Sound Boy Killing“ die Zusammenhänge etwas deutlicher werden lässt. (S. 92)
Bis dahin erlebt der Leser eine wahre Tour de Force an Grausamkeiten jeder Art, an derben Sprüchen und deftigem Humor, an (homo)sexuellen Fantasien und Praktiken, den unterschiedlichsten Sprechweisen und Slang-Ausdrücken wie Bombocloth, Battyman, Brethren, Busha, Naigger, Jamdown und Hataclaps.
Erst in der Gesamtschau entsteht ein ebenso thematisch wie gesellschaftlich vielschichtiges Jamaika-Portrait, dem einige grundlegende Hintergrunderläuterungen für das Verständnis sicher gutgetan hätten, aber durch die unmittelbare, ungeschminkte und facettenreiche Weise, die Hintergründe des Attentats aus unzähligen sehr persönlichen Perspektiven eher unzusammenhängend darzustellen, wirkt „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ sehr authentisch, verwirrend, bewegend, brutal, komisch und lässt damit Jamaika damit in einem Licht erscheinen, das mit bisherigen Vorstellungen über den karibischen Staat gründlich abrechnet. 
Leseprobe Marlon James - "Eine kurze Geschichte von sieben Morden"