John Grisham – „Forderung“

Montag, 16. April 2018

(Heyne, 431 S., HC)
Als Mark Frazier seine Mutter und seinen unter Hausarrest stehenden Bruder Louie besucht, um Ferien von seinem Jurastudium an der Foggy Bottom Law School in Washington, D.C., zu machen, das er im Mai abschließen würde, bereiten ihm vor allem die horrenden Schulden aus dem Studienkredit Sorgen. Seine Aufnahmeprüfung bestand er gerade eben, aber die Zentralbank ging sehr freizügig mit ihren Darlehen an Studenten um, und wenn er wie geplant einen guten Job nach dem Studium bekommt, wird er das Darlehen innerhalb weniger zurückzahlen können.
Doch wie sich während des Studiums herausstellen sollte, ist die Ausbildung an der Foggy Bottom so schlecht, dass deren Absolventen erschreckend oft bei der Zulassungsprüfung der Anwaltskammer durchfallen. Die Jobaussichten für Mark und seine Freunde Todd, Zola und Gordy sind alles andere als rosig. Der bipolare Gordy macht seine Freunde auf die faulen Machenschaften der Swift Bank aufmerksam, die einen Haufen Geld ins Marketing steckt, um sich nach außen hin als Vertrauensbank des kleinen Mannes zu präsentieren, dem sie dann versteckte Gebühren abrechnet. Als den verzweifelten Jura-Studenten klar wird, dass sie ihre jeweils um die zweihunderttausend Dollar Schulden nie werden zurückzahlen können, hängen sie ihr Studium an den Nagel, geben sich unter falschen Namen als Rechtsanwälte aus und machen sich in den Gerichten auf die Jagd nach Mandanten, von denen sie sich bar bezahlen lassen.
„Dass Zola lügen musste, bereitete ihr immer noch Probleme, aber inzwischen gehörte es fast zu ihrem Leben dazu. So gut wie alles, was sie tat, war eine Lüge: der falsche Name, die falsche Kanzlei, die falschen Visitenkarten und die falsche Persönlichkeit einer mitfühlenden Anwältin, die Jagd auf bedauernswerte Unfallopfer machte. So konnte sie nicht weitermachen. Wäre ihr Leben schlimmer, wenn sie jetzt immer noch studieren und versuchen würde, einen richtigen Job zu finden, und sich Sorgen wegen der Zulassungsprüfung und ihres Kredits machen müsste?
Ja, wäre es.“ (S. 232f.) 
Doch natürlich dauert es nicht lange, bis der Schwindel auffliegt und die Freunde untertauchen müssen. Sie setzen schließlich alles auf eine Karte und initiieren einen noch riskanteren Plan …
In seiner langjährigen Karriere als Bestseller-Autor von Justizthrillern hat sich John Grisham immer wieder des kleinen Mannes und außergewöhnlicher juristischer Themen angenommen. Für seinen neuen Roman wurde er durch Paul Campos‘ Artikel „The Law-School Scam“ in der „The Atlantic“-September-Ausgabe 2014 inspiriert. Mit „Forderung“ ist Grisham einmal mehr ein überaus flotter Pageturner gelungen, der gerade mal einen Zeitraum von etwas mehr als einer Woche abdeckt, mit einem sehr überschaubaren Figurenarsenal auskommt, dafür aber viel Raum für die Beschreibung der nicht illegalen, aber durchaus unlauteren Machenschaften der privaten Jura-Hochschulen einräumt, die sich durch die leicht erhältlichen Studienkredite eine goldene Nase verdienen.
Der Plot weist aber ein so unglaublich hohes Tempo auf, dass einmal mehr die Charakterisierung der Figuren auf der Strecke bleibt und die Glaubwürdigkeit der Täuschungsmanöver leidet. Davon abgesehen bietet „Forderung“ aber einfach rasante Thriller-Unterhaltung mit recht erfrischenden humoristischen Einlagen.
Leseprobe John Grisham - "Forderung"

„Lexikon des internationalen Films 2017“

Sonntag, 15. April 2018

(Schüren, 560 S., Pb.)
Auch wenn die Digitalisierung in immer weitere gesellschaftliche Bereiche vordringt und auch – man denke nur an die wachsenden Streaming-Angebote von Netflix, Amazon & Co. - die Art der Filmrezeption verändert, hat sich die Situation des Kinos nachhaltig stabilisiert, was sowohl die Zahl der Kinos (mit dem höchsten Stand seit zehn Jahren und die Anzahl der Besucher (bei über 122 Millionen mit einem leichten Plus gegenüber dem Vorjahr) betrifft.
Erfreulich bleibt für lesefreundliche Cineasten die Tatsache, dass das „Lexikon des internationalen Films“ weiterhin als Printausgabe erhältlich ist, während der Herausgeber des Jahrbuchs, die Katholische Filmkommission, den Filmdienst Ende des Jahres 2017 als Printpublikation eingestellt hat und nun als Online-Magazin filmdienst.de weiterführt.
Wie gewohnt vereint das „Lexikon des internationalen Films“ auch in diesem Jahr nicht nur in Kurzkritiken alle Filme, die 2017 im Kino, Fernsehen oder auf DVD/Blu-ray zu sehen waren – immerhin mehr als 2000 Titel -, sondern blickt in einer monatlich eingeteilten Chronik auf das vergangene Filmjahr zurück, in dem vor allem die durch die sexuellen Übergriffe von Harvey Weinstein in Gang gesetzte #MeeToo-Bewegung ein Umdenken in Hollywood initiiert hat. Darüber hinaus werden verstorbene Filmschaffende und besondere europäische Filme gewürdigt.
Überhaupt bildet der europäische Film den thematischen Schwerpunkt in diesem Jahr: Während der „Brexit“ die EU erschüttert und gerade in Osteuropa der Nationalismus auf dem Vormarsch ist, kommt gerade dem europäischen Kino die bedeutende Rolle zu, Geschichten von der Gemeinsamkeit der Völker zu erzählen, ohne ihre spezifischen Eigenheiten und Mentalitäten zu nivellieren.
„Kein touristischer oder folkloristischer Blick im Spiel- und Dokumentarfilm bringt uns Europa näher, sondern nur ein wahrhaftiger und authentischer. Ein solcher Blick darf auch die negativen Seiten nicht aussparen und soll vermitteln, wie die Menschen vor Ort mit Krisen und Konflikten umgehen, wie sie auf ihre Umwelt reagieren. Der Vielfalt der europäischen Kultur lässt sich dann am besten gerecht werden, wenn sie durch die Vielfalt an Meinungen und Perspektiven ergänzt wird.“ (S. 63) 
Die Redaktion des Filmdienstes hat in diesem Zusammenhang nicht nur 60 herausragende europäische Filme zusammengestellt, sondern würdigt in Hommagen den Filmemachern François Ozon („Frantz“), Pedro Almodóvar („Alles über meine Mutter“, „Fliegende Liebende“), Jean-Pierre und Luc Dardenne („Das Versprechen“, „Rosetta“), Lars von Trier („Dogville“, „Melancholia“) und Michael Haneke („Das weiße Band“, „Liebe“).
Das nach wie vor einzigartige, von Horst Peter Knoll und Jörg Gerle redaktionell bearbeitete Nachschlagewerk wird durch den Kinotipp der katholischen Filmkritik, die besten Kinofilme des Jahres 2017, die herausragenden DVD- und Blu-ray-Editionen und eine Übersicht über die wichtigsten Filmpreise abgerundet. Filmfreunde werden so mit Sicherheit noch auf etliche sehenswerte Filme stoßen, die in dem dem spannenden Kinojahr 2017 bislang an ihnen vorbeigegangen sind.

Katrine Engberg – „Krokodilwächter“

Freitag, 13. April 2018

(Diogenes, 506 S., HC)
Als sich Gregers Hermansen über die geöffnete Wohnungstür der beiden Studentinnen im 1. Stock des Miethauses der pensionierten Lehrerin Esther de Laurenti bemerkt, will er nach dem Rechten sehen und entdeckt eine schrecklich zugerichtete weibliche Leiche, die später als eine der Studentinnen, Julie Stender, identifiziert wird.
Während Gregers mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert wird, übernimmt das Ermittlerduo Jeppe Kørner und Anette Werner von der Mordkommission in Kopenhagen den Fall und stößt bald auf eine interessante Tatsache: Die Vermieterin Esther de Laurenti hat den Mord nahezu identisch in einem Krimi-Manuskript beschrieben, das sie in einer Online-Schreibgruppe mit Anna Harlov und dem bekannten Künstler Erik Kingo geteilt hat.
Bei ihren Ermittlungen stoßen der unter der Trennung von seiner Frau leidende Jeppe und seine besonnene Kollegin auf ein reges Sexualleben der Toten, die von ihrem Vater abgöttisch geliebt wurde und bereits eine Schwangerschaft hinter sich hatte, die offenbar aus einer Affäre mit ihrem damaligen Lehrer hervorgegangen war. Als dann auch noch Julies jugendlicher Freund Kristoffer tot aufgefunden wird, haben die Ermittler alle Mühe, Verbindungen zwischen den beiden Morden herzustellen und ein Motiv für die Taten zu entdecken.
Die alkoholsüchtige Esther beschließt, über Google Docs Kontakt mit dem Mörder aufzunehmen, der offensichtlich Zugriff auf ihr Manuskript hat.
„Worum ging es hier? Könnte jemand auf die Idee kommen, Menschen zu ermorden, weil er der Ansicht war, dass sie ein schlechtes Buch geschrieben hatte? Es war ja nicht einmal fertig, geschweige denn veröffentlicht!
Was willst du, schrieb sie und löschte es sofort wieder. Mitten in einem Mordfall kann man einem Verrückten nicht so einfach schreiben. Wenn aber der Verrückte als Erster schreibt? Wäre es dann nicht dumm, nicht zu antworten?“ (S. 292f.) 
Mit ihrem Krimidebüt „Krokodilwächter“ stürmte die aus Kopenhagen stammende Autorin, Tänzerin, Choreographin und Regisseurin Katrine Engberg gleich an die Spitze der dänischen Bestseller-Liste. Dabei wirkt der Mord nach einer literarischen Vorlage zunächst nicht besonders originell. Der Täterkreis scheint durch die begrenzte Bekanntheit des dem Mord zugrundeliegenden Manuskripts zwar sehr beschränkt zu sein, aber Engberg legt immer weitere Spuren, die vor allem auf das rege Sexualleben und die Verwicklungen zwischen ihren Liebhabern zurückgehen. Die Autorin geht mit Charakterisierungen eher sparsam um. Den beiden Ermittlern wird dabei die gleiche Aufmerksamkeit zuteil wie den Opfern, Zeugen und Verdächtigen.
Während Jeppe Kørner wegen der Trennung von seiner Frau Therese, die mit ihrem neuen Lebensgefährten Niels ihr Glück gefunden zu haben scheint, unter psychosomatischen Rückenschmerzen leidet und sich freut, durch eine Affäre mit einer verheirateten Frau wieder etwas Pepp in sein Sexleben zu bringen, wird Anette Werner nur als ausgeglichene Ehefrau und Ermittlerin beschrieben, die vielleicht ein paar Pfunde zu viel mit sich herumträgt.
Es bleibt abzuwarten, inwieweit dieses Duo in den Folgebänden an Konturen gewinnt. Engberg konzentriert sich stattdessen ganz auf die schnörkellos geschilderte Ermittlungsarbeit und dabei vor allem auf die etwas verworrenen Beziehungen, die erst nach und nach das Mordmotiv offenbaren. Bis dahin bekommt es der Leser mit einem eher durchschnittlich spannenden, arg konstruierten Plot zu tun, der wenig Originelles zu bieten hat. Bei dem verwöhnten deutschen Krimi-Publikum wird es „Krokodilwächter“ nicht leicht haben, sich durchzusetzen. 
Leseprobe Katrine Engberg - "Krokodilwächter"

Donal Ryan – „Die Lieben der Melody Shee“

Sonntag, 8. April 2018

(Diogenes, 296 S., HC)
Die dreiunddreißigjährige Melody Shee trägt sich mit dem Gedanken, sich und ihr noch ungeborenes Kind umzubringen. Die Ehe mit ihrem Highschool-Schwarm Pat liegt in Trümmern, nachdem sich ihr Mann nach zwei Fehlgeburten heimlich sterilisieren lassen und seine Bedürfnisse nicht mehr im Ehebett, sondern bei Prostituierten befriedigt hat.
Melody, die ihren Traum von einer Karriere als Journalistin an den Nagel hängen musste und stattdessen als Nachhilfelehrerin arbeitet, rächt sich, indem sie einen ihrer Schüler, den siebzehnjährigen Traveller Martin Toppy, verführt und schwanger wird.
Sie hadert mit ihrem Schicksal, will wieder in ihr Elternhaus zu ihrem Vater ziehen, der sie beschwichtigt, dass alles gut wird. Tatsächlich freundet sich Melody allmählich mit dem Gedanken an, ihr Baby zur Welt zu bringen. Und dann lernt sie die neunzehnjährige Mary Crothery kennen, die sich selbst als eine „Schande für die Familie“ bezeichnet, die ihrem Mann keine Kinder schenken konnte und ihre einst beste Freundin Breedie in den Selbstmord getrieben hat.
Melody ist hin- und hergerissen, wie sie mit ihren Sünden, die sie in ihrer erzkatholischen Heimat begangen hat, umgehen soll, wie sie sich ihrem eigenen Kind und vor allem Pat gegenüber verhalten soll, und trifft eine außergewöhnliche Entscheidung.
„Pat hatte Sex mit Prostituierten: Das ist Fakt. Ich hatte Sex mit einem Jugendlichen, einem Schutzbefohlenen: Auch das ist Fakt. Welche Worte hätten etwas an der Tatsache ändern sollen, dass wir zu solchen Dingen fähig wären? Menschen tun einander Schlimmeres an, aber viel schlimmer wird es nicht. Wir haben Greueltaten begangen. In unserem Einfamilienhaus hat ein Holocaust stattgefunden, eine Auslöschung der Liebe.“ (S. 125) 
Der irische Schriftsteller Donal Ryan wurde für seinen Roman „Die Gesichter der Wahrheit“ mit dem Irish Book Award, dem Guardian First Book Award und dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet. Wie in seinem Debüt „Die Sache mit dem Dezember“ und seinem preisgekrönten Zweitwerk erweist sich Ryan auch in „Die Lieben der Melody Shee“ als feinfühliger Beobachter menschlicher Befindlichkeiten. Im Gegensatz zu „Die Gesichter der Wahrheit“, wo der Autor eine ganze Reihe von Ich-Erzählern aufgefahren hat, die von ihren durch die Finanzkrise geprägten Schicksalen berichten, konzentriert sich Ryan in seinem neuen Roman auf zwei Frauengestalten, die ihre Vorstellung vom Liebesglück nicht realisieren konnten und als Konsequenz für ihr moralisch verwerfliches Verhalten von der Gesellschaft ausgestoßen worden sind.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht zwar die titelgebende Melodie Shee, aber das Schicksal ihrer Schülerin Mary wird immer enger mit ihrem eigenen verbunden. Ryan bedient sich der einfachen Sprache seiner Protagonisten und entwirft so ein stimmiges Portrait verzweifelter Frauen, die an den gesellschaftlichen Normen zugrunde zu gehen drohen, aber am Ende stark genug sind, mit den Entscheidungen, die sie treffen mussten, leben zu können.
Geschickt verwebt der Autor dabei ebenso Vergangenheit und Gegenwart wie die Schicksale seiner Figuren, die er weder verurteilt noch mit Mitleid überhäuft. Stattdessen bewegt er sich sehr subtil und einfühlsam zwischen all den verwirrenden Gefühlsregungen von Liebe, Trauer, Leidenschaft, Verrat, Verlust und Enttäuschung. 
Leseprobe Donal Ryan - "Die Lieben der Melody Shee"

Steve Hamilton – (Nick Mason: 2) „Drei Zeugen zu viel“

Montag, 2. April 2018

(Droemer, 334 S., Pb.)
Seit sein Zellenblock-Gefährte, der einflussreiche Chicagoer Gangster Darius Cole, seine Beziehungen hat spielen lassen, dass der für 25 Jahre verknackten Nick Mason nach bereits fünf Jahren wieder auf freien Fuß kommt, muss Nick ihm für die geschenkten 20 Jahre als Auftragskiller dienen. Als Cole alles daransetzt, ein Wiederaufnahmeverfahren in Gang zu setzen, setzt er Nick darauf an, zunächst die beiden im Zeugenschutzprogramm untergebrachten Kronzeugen, Coles ehemaligen Buchhalter Ken McLaren und Isaiah Wallace, auszuschalten.
Doch damit ist Nicks Auftrag noch längst nicht beendet, denn die schwierigste Aufgabe wartet noch auf ihn: Nicks Vorgänger Sean Burke räumt sich nämlich den Weg aus der Schutzhaft frei und macht Jagd auf Mason. Der macht sich weniger Sorgen um sein eigenes Leben oder Detective Sandoval, der ihm seit seiner vorzeitigen Entlassung an den Fersen klebt, sondern vor allem um das seiner Ex-Frau Gina und ihrer gemeinsamen Tochter Adriana, die Cole zu töten droht, sollte Nick die geforderten Gefälligkeiten nicht erledigen.
Aber auch Nicks Mitbewohnerin im schicken Townhouse in Lincoln Park West, Coles Geliebte Diana Rivelli, der Nick näherkommt, fürchtet um ihr Leben, als Coles Plan aufzugehen scheint, wegen einer juristischen Spitzfindigkeit aus dem Gefängnis zu kommen, was auch die resolute Staatsanwältin Rachel Greenwood nicht zu verhindern vermag.
Um die Menschen zu schützen, die ihm am Herzen liegen, entwickelt Nick zwei äußerst riskante Pläne, bei der ausgerechnet sein Kontrahent Burke eine wichtige Rolle spielt.
„Und auch wenn er mit Burke eine Abmachung getroffen hatte, konnte er nicht anders, als sich den Kopf seiner Tochter im Fadenkreuz eines Snipergewehrs irgendwo unten auf der Straße vorzustellen. Du hast einen Handel mit einem Irren geschlossen, dachte er. Du setzt alles aufs Spiel, was du hast, alles, was dir je etwas bedeutet hat.“ (S. 276f.) 
Während Steve Hamilton sich in der englischsprachigen Krimiwelt bereits als erfolgreicher Autor der Alex-McKnight-Reihe etabliert und u.a. mit dem renommierten Edgar Award ausgezeichnet worden ist, wird er hierzulande erst langsam durch die bei Droemer erscheinende Nick-Mason-Reihe bekannt. „Drei Zeugen zu viel“ setzt nahtlos an den kurzweiligen Spannungs-Trip des Debüts „Das zweite Leben des Nick Mason“ an und konfrontiert den Auftragskiller wider Willen erneut mit kniffligen Herausforderungen, denn bekanntermaßen hat das Zeugenschutzprogramm WITSEC bislang noch keinen seiner Mandanten verloren, die sich an die Regeln gehalten haben.
Dass Nick das Herz am rechten Fleck hat, beweist er schon dadurch, dass er niemanden tötet, den er nicht kaltstellen muss, aber auch seine Fürsorge für seine Familie, Freunde und nicht zuletzt Diana wird überzeugend dargestellt. Steve Hamilton konzentriert sich allerdings weniger auf die psychischen Befindlichkeiten seiner Figuren, sondern ganz auf den vertrackten, extrem spannend konstruierten Plot. Wie sein Nick Mason nicht nur seine komplexen Aufträge erledigt, sondern sich selbst immer wieder aus der Schusslinie bringen und Fluchtpläne schmieden muss, ist dramaturgisch so geschickt gestrickt, dass „Drei Zeugen zu viel“ atemloses Lesevergnügen verspricht und dazu mit einem Paukenschlag endet, der neugierig auf die weiteren Bände einer außergewöhnlichen Reihe macht.

Gay Talese – „High Notes“

Samstag, 31. März 2018

(Tempo, 368 S., HC)
Warum der 1932 in Ocean City geborene Gay Talese zu den Mitbegründern des literarischen Journalismus zählt, haben die deutschen Leser im vergangenen Jahr durch die bei Tempo/Hoffmann und Campe erschienene Reportage „Der Voyeur“ eindrucksvoll nachvollziehen können. Auch wenn sich der Autor mittlerweile wegen Zweifel an seiner Quelle von seinem eigenen Buch distanziert, gelang Talese nicht nur das aufschlussreiche Portrait eines Mannes, der in seinem Motel Vorkehrungen getroffen hat, unbemerkt das Sexualleben seiner Kunden zu beobachten, sondern gewährte auch einen faszinierenden Einblick in das Sexualverhalten der Amerikaner, das sich durch die Pille, Pornofilme und die Hippie-Bewegung nachhaltig gewandelt hat.
In dem nun veröffentlichten Sammelband „High Notes“ sind nun einige von Gay Talese wichtigsten Reportagen zusammengefasst, darunter die berühmteste, im Esquire veröffentlichte „Frank Sinatra ist erkältet“, die deshalb so beeindruckend ist, weil Taleses Story entstanden ist, ohne dass der Autor den berühmten Sänger und Schauspieler getroffen hat, und trotzdem ein sehr intimes Portrait des Stars zeichnet, weil Talese sich die Mühe gemacht hat, nahezu alle wichtigen Leute aus Sinatras Umfeld zu interviewen.
Seit Talese in den frühen 1960er Jahren für die New York Times zu schreiben begonnen hat, hat er seine berühmtesten Reportagen für den Esquire verfasst, dazu Bücher wie „Ehre deinen Vater“ (über einen Mafia-Clan) und „Du sollst begehren“ (über die sexuelle Revolution) veröffentlicht.
Nach einem Vorwort von Lee Gutkind, der anhand einiger Beispiele Taleses außergewöhnliche Qualitäten als Reporter verdeutlicht, erzählt Talese in „Ein Sonntag zu Kriegszeiten“ zunächst von seinen eigenen Kindheitserinnerungen und Erlebnissen als ungeschickter Messdiener und einer ungewöhnlichen Begegnung mit dem berühmten New Yorker Baseball-Schlagmann Joe DiMaggio. Tiefe Einblicke in die Geschichte einer Mafia-Familie gewährt „Das Verschwinden Joe Bonannos“, während „Charlie Mansons Ranch im Westen“ von der Erinnerungen eines gewissen George Spahn erzählt, der auf seiner Ranch immer wieder Hippies zu Besuch hatte, darunter auch zeitweise Charlie Manson mit seinen AnhängerInnen.
Mit der 80-seitigen Reportage „Das Reich, die Macht und die Herrlichkeit der New York Times bringt uns Talese nicht nur die internen Strukturen der einflussreichen Tageszeitung nahe, sondern vor allem die charismatischen Figuren, die die Zeitung geprägt haben und Zeugnis davon ablegen, mit welchem Anspruch sie Journalismus betrieben haben. Besonders aufschlussreich ist der recht kurze Artikel „Über die Arbeit an ‚Frank Sinatra ist erkältet‘“, in der Talese die näheren Umstände seiner Arbeit an der Reportage beschreibt, aber auch verdeutlicht, dass die besten Autoren damals oft Wochen und Monate mit Recherchen, Gliederung, Schreiben und Überarbeiten verbracht haben. Über seine eigene Arbeitsweise schreibt Talese:
 „Was mich seit meinen Anfängen als Journalist schon immer interessierte, sind weniger die genauen Worte, die jemand äußert, als deren tiefere Bedeutung. Wichtiger als das, was Leute sagen, ist das, was sie denken, selbst wenn sie es zunächst kaum auszudrücken vermögen und es dem Interviewten eine Menge Grübelei und Selbstbefragung abverlangen mag – ein Prozess, den ich mit meiner Art zu fragen, ihnen näherzukommen und mich in sie hineinzuversetzen, behutsam anzustoßen versuche.“ (S. 217f.) 
Nicht alle hier versammelten kurzen wie langen Artikel und Reportagen mögen für das deutsche Publikum von Interesse sein, aber sie machen deutlich, wie gut sich Talese in die Menschen einfühlen kann, über die er schreibt. In der abschließenden Titelstory „High Notes“ lässt die Reporterlegende beispielsweise die besondere Atmosphäre in dem Studio spüren, in dem der fast 85-jährige Tony Bennett für sein Album mit Duetten, „Duets II“, mit Lady Gaga den Song „The Lady Is a Tramp“ einsingt.
Wer also den New Journalism von Truman Capote, Hunter S. Thompson und Tom Wolfe schätzt, kommt auch an Gay Talese nicht vorbei.

Katherine Heiny – „Gemischte Gefühle“

(Tempo, 350 S., HC)
Fast zwölf Jahre schon sind Graham und Audra miteinander verheiratet, und Graham wundert sich noch immer, wie seine 41-jährige Frau immer und überall mit jedem über alles Mögliche plaudern und auch aus dem Stehgreif die irrwitzigsten Lügengeschichten aus dem Hut zaubern kann, wobei sie die kleinsten Informationen abspeichert. Wenn er seine Frau so im Alltag beobachtet, denkt Graham oft, dass sich Audra und er in Paralleluniversen befinden, denn oft genug verblüfft Audra ihn mit irrwitzig anmutenden Äußerungen, Beobachtungen und vor allem Handlungen.
So hat sie vor drei Wochen in einem Restaurant in Midtown den Mann der ungefähr fünfzigjährigen Bitsy (die sie nur von ein paar Treffen im Buchclub kennt) mit einem Mädchen im Minirock entdeckt, worauf sich der Mann (den Audra ebenfalls nur von einem Buchclub-Treffen her kennt, das bei Bitsy zuhause stattfand, und der als Banker arbeitet) für eine einmonatige Kreativpause nach Ithaca zurückgezogen hat. Aus ihrem Mitgefühl heraus hat Audra kurzerhand Bitsy vor drei Wochen bei sich zuhause aufgenommen. Immerhin kümmert sich Bitsy rührend um Grahams und Audras Sohn Matthew, der unter dem Asperger-Syndrom leidet und nur schwer Freunde findet. Doch dann entdeckt Graham Hinweise, dass Audra eine Affäre haben könnte, und spioniert ihr nach.
„Ach ja, Handys. Manchmal wünschte sich Graham, er hätte eine Affäre, nur damit er von den Annehmlichkeiten seines Handys profitieren konnte. (In etwa so, wie er manchmal mit dem Skifahren anfangen wollte, jetzt, wo es Fleece-Mützen gab, die nicht so juckten wie Wollmützen.) Aber was, wenn die eigene Frau schon immer an ihrem Handy gehangen hatte? Sie hatte auch immer am Festnetz gehangen! Audra vorzuwerfen, sie habe eine Affäre, weil sie zu viel telefoniere, wäre wie Tiger Woods vorzuwerfen, er habe eine Affäre, weil er zu viel Golf spielte. (Obwohl Tiger Woods hier vielleicht nicht der beste Vergleich war.)“ (S. 145) 
Er selbst baut unterdessen wieder eine Beziehung zu seiner eigentlich eher spröden, sehr auf Ordnung und Sauberkeit bedachten Ex-Frau Espeth auf, die er zufällig wiedertrifft und der er eine neue Wohnung besorgt. Aus den anfänglichen Vierer-Dates mit ihrem neuen Freund entwickelt sich schließlich eine ungewöhnliche Dynamik. Aber Graham und Audra haben nicht nur mit weiteren Mitbewohnern (wie dem Nachmittagsportier Julio) zu tun, die Audra immer so freigiebig einlädt, sondern auch mit angestrengten Bemühungen, Matthew wieder glücklich zu machen, nachdem sich sein einziger Freund Derek von ihm abgewendet hat.
Die Aufnahme von Matthew in den ambitionierten Origami-Club von Clayton und Manny scheint da nicht die Lösung zu sein …
Nachdem die in Washington, D.C., lebende Katherine Heiny mit „Glücklich, vielleicht“ ihr Debüt als Geschichtenerzählerin feierte, legt sie nun mit „Gemischte Gefühle“ ihren ersten Roman vor. Darin beschreibt sie mit viel Humor die vielschichtigen Gefühle, die sich im Laufe einer langjährigen Ehe entwickeln. Auch wenn er nicht als Ich-Erzähler auftritt, wird die Geschichte aus Grahams Perspektive erzählt, wobei Graham ebenso einfühlsam wie mit bissigem Humor die besonderen Eigenheiten seiner Frau ebenso beschreibt wie seine eigenen, eben sehr gemischten Gefühle bei dem, was er im Zusammenleben mit ihr beobachtet.
Heiny deckt dabei alle emotionalen Tiefen und Wirrungen ab, die das menschliche Herz im Beziehungsmodus zu empfinden vermag, zieht diese aber bei aller lakonischer Leichtigkeit nie ins Lächerliche, sondern bewegt sich einfach weiter unbeschwert zur nächsten Irritation.
Der erfrischende Humor macht das Lesen zu einer kurzweiligen, erfrischenden Angelegenheit, täuscht aber nicht darüber hinweg, dass Heiny mit ihrem Roman durchaus profunde Wahrheiten über das Beziehungsleben moderner Menschen offenbart.

Paul Theroux – „Mutterland“

Sonntag, 25. März 2018

(Hoffmann und Campe, 653 S., HC)
Als der geizige Vater stirbt, versammelt sich die Familie bei der neunzigjährigen Mutter, die von dem sechzigjährigen Ich-Erzähler Jay Justus als „undurchschaubar und rätselhaft, manchmal uneinsichtig, wie eine zornige Gottheit“ beschrieben wird. Doch damit sind nur einige der vielen Eigenschaften umrissen, mit der die Matriarchin in ihrem Domizil auf Cape Cod über ihre sieben Kinder (die eine Stunde nach ihrer Geburt verstorbene, von Mutter wie eine Heilige verehrte Angela nicht mitgezählt) herrscht. Die mehr oder weniger gut kaschierte Verachtung für ihre Brut schlägt sich im Neid und Hass unter den Geschwistern nieder.
Der Ich-Erzähler Jay hat sich durch Reiseromane, halbbiografische Romane und Zeitschriftenartikel einen Namen gemacht und es sich nun zur Aufgabe gemacht, über die Gesetzmäßigkeiten im gefürchteten „Mutterland“ zu berichten. Kurz werden Jays Geschwister skizziert, vor allem der erfolgreiche, in aller Welt arbeitende Anwalt Fred, der zu Mutters Berater, Verteidiger und Welterklärer avancierte, und der Universitätsprofessor und erfolgreiche Lyriker Floyd, der nicht müde wird, sein geballtes Wissen in scharfzüngigen Kommentaren zu demonstrieren.
Außerdem gehören noch die beiden korpulenten Lehrerinnen Franny und Rose, der grüblerische Krankenpfleger Hubby und der von Mutter besonders geliebte Diplomat Gilbert zur Familie. Geschickt sorgt Mutter mit ihren intriganten Winkelzügen dafür, dass die Kinder sie regelmäßig mit Geschenken besuchen, ihr die vertraulichsten Dinge erzählen, damit sie diese an ihre übrigen Kinder weitertragen kann, natürlich so verzerrt, dass das entblößte Opfer möglichst gierig, hartherzig und unsensibel dasteht. Dieses sorgsam von Mutter aufbereitete Misstrauen zwischen den Kindern wahrt die Macht der Matriarchin, die stolz verfolgt, wie andere alte Leute unter Medikamenteneinfluss stehen, bis sie sterben, während sie selbst nicht müde wird zu betonen, nichts zu nehmen. Selbst als Hundertjährige im Seniorenheim hat Mutter noch alles im Griff, während sich die Kinder darum streiten, wer gerade besonders hoch in Mutters Gunst steht und wer nicht.
„Für Mutter war Loyalität gefährlich, wie eine obskure Form des Betrugs. Liebe unter den Geschwistern hätte sie nie geduldet. Liebe hätte uns unzuverlässig gemacht, denn sie stand unserer ersten, allerwichtigsten Pflicht im Weg: Gehorsam gegenüber ihr, Mutter.“ (S. 248) 
Der 1941 in Medford, Massachusetts, geborene, heute mit seiner Familie auf Hawaii und Cape Cod lebende Paul Theroux hat sich vor allem als Reiseschriftsteller einen Namen gemacht und fügt nicht nur diese Erfahrungen immer wieder in seinen epischen Familienroman ein: der Leser darf durchaus davon ausgehen, dass die so detailliert entblätterte Familienchronik einige weitere biografische Züge aufweist. Interessant ist dabei vor allem, dass Theroux‘ „Mutterland“ gerade mal das letzte Jahrzehnt von Mutters tyrannischer Herrschaft über die Familie umfasst, beginnend mit Vaters Begräbnis. Zwar werden einzelne Episoden aus der früheren Familiengeschichte wie im Zeitraffer skizziert, aber Theroux lässt seinen ebenfalls schriftstellerischen Ich-Erzähler geradezu genüsslich die Einzelheiten der innerfamiliären Zerwürfnisse rekapitulieren, wobei die Entdeckung von Mutters verräterischen Scheckheft durch Floyd und Jay einen dramatischen Höhepunkt darstellt, denn nun haben die beiden Brüder den schriftlichen Beweis, dass vor allem Franny und Rose erhebliche finanzielle Zuwendungen durch ihre sonst eher knauserig auftretende Mutter erhalten haben.
Ansonsten geschieht nicht viel auf den über 600 Seiten, außer dass Jay minutiös die irreführenden Telefonate und Gespräche, die Mutter mit einzelnen Kindern führt, und deren verfälschten Wiedergabe an die anderen Geschwister beschreibt und so sehr genau sowohl die von Mutter indoktrinierten Kinder als auch Mutter selbst charakterisiert.
Das ist zuweilen etwas eintönig, weil dieses Konzept von Mutters Herrschaft sehr starr durchgezogen wird und wenig Raum für die persönliche Entwicklung ihrer Kinder bereithält, die aber durchaus teilweise beachtliche Karrieren aufweisen. Theroux gelingt es allerdings durch sein feines Sprachgefühl und viel Witz, die familiären Fehden und Sticheleien äußerst kurzweilig zu gestalten und keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass sich der Ich-Erzähler auch im hohen Alter noch immer wie ein Kind fühlt. 
Leseprobe Paul Theroux - "Mutterland"

Cormac McCarthy – „Der Feldhüter“

Mittwoch, 21. März 2018

(Rowohlt, 287 S., Pb.)
Ende der Dreißigerjahre ist Kenneth Rattner als Anhalter nach Knoxville unterwegs. Als er an einer Tankstelle kurz vor Atlanta von dem Schnapsschmuggler Marion Sylder mitgenommen wird, endet die Zusammenkunft tödlich. Eine Reifenpanne will Rattner nutzen, seinen vermeintlichen Wohltäter mit dem Wagenheber zu erschlagen, doch Sylder kann den Mann in letzter Sekunde überwältigen, bringt ihn um und verscharrt die Leiche in der Mischgrube eines Gartens, ohne zu wissen, dass er dabei von Arthur Ownby, dem Hüter eines verwilderten Apfelhains beobachtet wird.
Als Sylder später ein Autounfall hat, rettet ihn ausgerechnet Rattners Sohn John Wesley aus der misslichen Lage, worauf die beiden eine Art Vater-Sohn-Beziehung eingehen, ohne zu ahnen, mit wem sie es eigentlich jeweils zu tun haben. Selbst als Sylder schließlich in den Knast wandert, bleibt ihm der Junge treu.
„Du willst so was wie ein verdammter Held sein. Tja, eins kann ich dir sagen, es gibt keine Helden mehr. Der Junge schien zu schrumpfen, lieg rot an. Verstehst du das?, sagte Sylder. Ich hab nie behauptet, dass ich ein Held sein will, sagte der Junge mürrisch. Niemand hat das je behauptet, sagte Sylder. Jedenfalls, ich hab nie was wegen dir gemacht, wie du sagst. Ich mach nichts, was ich nicht machen will.“ (S. 249) 
Der aus Knoxville, Tennessee, stammende Schriftsteller Cormac McCarthy hat sich nie um die Gesetze und Mechanismen des Buchmarktes gekümmert. In seinen alle paar Jahre veröffentlichten Romanen sucht der Leser vergeblich nach Anführungszeichen bei wörtlicher Rede, von der McCarthy so häufig und lebendig Gebrauch macht, dass sich seine Romane wie Filmdrehbücher lesen.
Über die Jahrzehnte wurde McCarthy mit dem Faulkner Award, dem American Academy Award, dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award und 2007 für seinen Roman „Die Straße“ mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Seither ist es leider sehr still um den großen amerikanischen Autor geworden, der sich in der Tradition von William Faulkner sieht, dessen legendärer Lektor Albert R. Erskine McCarthys Manuskript zu „The Orchard Keeper“ 1965 bei Random House veröffentlichte. Über fünfzig Jahre später erschien McCarthys Debüt mit dem Titel „Der Feldhüter“ erstmals auch in deutscher Sprache. Es ist eher ein zähes Vergnügen, das der damals 32-jährige McCarthy mit seinem literarischen Einstand dem Publikum bereitet. Denn trotz des Totschlags zu Beginn des Romans entwickelt sich kein ernstzunehmender Plot, der auf eine klassische Auflösung und Bestrafung des Täters hinausläuft. Stattdessen beschreibt der Autor wie in späteren Werken das (Über-)Leben am Rande der Gesellschaft.
Hier herrscht nicht nur Armut, Verzweiflung und Gewalt vor, sondern auch eine derbe Sprache, die McCarthy wie kaum ein anderer Autor authentisch wiederzugeben vermag. Daneben sind es vor allem seine charakteristischen, atmosphärisch dichten Naturbeschreibungen, die das Setting, in dem seine Romane angesiedelt sind, so lebendig werden lassen. Die (männlichen) Figuren in „Der Feldhüter“ sind äußerst lebendig beschrieben und gewinnen Gestalt durch die Verflechtungen von Erinnerungen und Erzählungen, die sich über verschiedene Zeitebenen miteinander verflechten, ebenso wie die Schicksale von Sylder, den beiden Rattner-Männern und Ownby unausweichlich aufeinander zusteuern.
Bei aller Dunkelheit und Trostlosigkeit bleiben McCarthys Figuren aber zutiefst menschlich. Besonders eindrucksvoll ist dem Autor dabei die Schilderung von Ownbys Verhaftung gelungen, der beim Abtransport in der Kutsche seinen geliebten alten Hund zurücklassen muss.
„Der Feldhüter“ ist sicherlich noch kein Meisterwerk, wie es McCarthy später mit „Verlorene“, „Ein Kind Gottes“ oder „Kein Land für alte Männer“ abliefern sollte, aber es führt den geneigten Leser ein in die Welt eines wahrhaftigen Sprachvirtuosen, der sein erzählerisches Talent noch entwickeln muss. 
Leseprobe CormacMcCarthy - "Der Feldhüter"

Alessio Torino – „Über mir die Sonne“

Dienstag, 20. März 2018

(Hoffmann und Campe, 157 S., HC)
Auf der süditalienischen Insel Pantelleria verbringen die beiden achtjährigen Zwillingsschwestern Tina und Bea mit ihrer Mutter erstmals den Urlaub ohne ihren Vater, der sich – so ihre Mutter – in ein zwanzigjähriges „Nichts“ namens Laura verliebt hat. Während sich die Mutter mit dem schwermütigen und alkoholsüchtigen Kanadier Charles zu trösten versucht, der wiederum den Tod seiner Frau Angela nicht verwinden kann, vertreiben sich Tina und Bea die Zeit in der kleinen Bucht Cala, wo sie Quallen fangen und auf Felsen austrocknen lassen.
Der Schürzenjäger und Restaurantbetreiber Andre und sein halbitalienischer Freund Stefano mit seiner französischen Freundin, der Profischwimmerin Parì, sowie der aufmerksame Supermarktbesitzer Pagliaro aus Khamma komplettieren das überschaubare Ensemble, das den heißen Sommer am Meer mit gutem Essen, Weißwein, Cocktails und meist lockeren Gesprächen verbringt. Allein der Verdacht, dass sich Charles‘ Unfall als Selbstmordversuch entpuppt haben könnte, und der Umgang mit der Tatsache, dass die Mädchen ihren Vater vermissen, liegt wie eine dunkle Wolke über der unbeschwerten Leichtigkeit des Sommers.
„Andre war immer noch hinter der Cocktailtheke, er wollte sich mit dem Shaker nicht geschlagen geben. Er wird sich nie verlieben, in keine, hatte ihre Mutter gesagt. Und sie hatte es gesagt, als wäre es ein Todesurteil. Wie das wohl werden soll, hatte sie gesagt, wenn er alt ist.“ (S. 153) 
Der 1975 in Urbino geborene Alessio Torino veröffentlichte 2010 mit „Undici Dedici“ sein Romandebüt und wurde seither mit etlichen italienischen Literaturpreisen geehrt. Mit „Über die Sonne“ erscheint erstmals eines seiner Bücher in deutscher Übersetzung, aber es bleibt abzuwarten, ob ihm hierzulande eine ähnliche Popularität zuteilwird wie seinen Kollegen Umberto Eco, Andrea De Carlo, Giuseppe Fava, Italo Calvino, Andrea Camilleri oder Luciano de Crescenzo, denn so richtig fesselnd ist das schmale Bändchen nicht gelungen.
Torino hält sich nicht lange mit einer Einführung in sein kleines Figuren-Arsenal auf, sondern konfrontiert den Leser gleich mit den Urlaubsaktivitäten der beiden Zwillingsschwestern. Erst nach und nach werden beiläufig Einzelheiten zum Hintergrund der verschiedenen Figuren enthüllt, eine Charakterisierung bleibt Torino schuldig. Stattdessen konzentriert sich der Autor auf die fast schon nüchterne Beschreibung der Landschaft und des Gefühls, den Sommer dort zu verbringen, während die ungewöhnliche Konstellation, dass sich die Mutter mit ihren beiden Töchtern erstmals ohne das Familienoberhaupt im Urlaub befindet, auch nur am Rande thematisiert wird.
Die eigentliche Krise spielt sich eher bei dem schwerreichen Charles ab, der seine geliebte Angela an den Krebs verloren hat. Tina und ihre Mutter bemühen sich um den trinkfreudigen, hin und wieder verschwundenen Mann, doch eine wirkliche Entwicklung ist in diesen Beziehungen nicht auszumachen. So bleibt es dem Leser überlassen, in den kurzen Episoden und losen Urlaubsbekanntschaften, die Torino hier aneinanderreiht, seine eigenen Geschichten zu spinnen, wie die Menschen wohl auf Pantelleria gelandet sind und wie es mit ihnen weitergeht, wenn sie die Insel wieder verlassen haben. Einen bleibenden Eindruck hat das sprachlich gefällige Bändchen bei mir allerdings nicht hinterlassen.

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 2) „Oxen - Der dunkle Mann“

Montag, 19. März 2018

(dtv, 509 S., Pb.)
Niels Oxen darf sich als einziger dänischer Elite-Soldat damit rühmen, nicht nur diverse Tapferkeitsmedaillen, sondern auch das Tapferkeitskreuz erworben zu haben, bevor er am 01.01.2010 aus der Armee ausgeschieden ist. Seither leidet Oxen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und versucht, den Rest seines Lebens möglichst unbemerkt zu verbringen. Als allerdings sein Hund ermordet wurde, führte ihn die Suche nach dem Täter zum Schloss Nyborg, wo seit dem Mittelalter der einflussreiche Danehof die Geschicke des Landes leitete.
Im Zusammenhang mit den Ermittlungen im Mord an dem einflussreichen Vorsitzenden eines dänischen Thinktanks stieß er mit Margrethe Franck, Agentin des dänischen Geheimdienstes PET, auf die Tatsache, dass der allseits beliebte dänische Justizminister Ulrik Rosborg doch nicht der liebende Familienvater und Saubermann ist, für den ihn alle halten, sondern dabei gefilmt worden ist, wie er ein litauisches Mädchen bei Sex erwürgt.
Oxen hat sich anschließend in eine jütländische Waldhütte zurückgezogen, wo er dem alten Johannes bei der Fischzucht und Waldarbeit aushilft. Als der Museumsdirektor Malte Bulbjerg durch Schüsse in die Stirn und ein Auge getötet im Schloss aufgefunden wird, erwacht bei PET-Chef Axel Mossman erneut das Interesse an Oxen, doch so sehr Margrethe Franck noch einmal Oxens persönliches Umfeld durchleuchtet, bleibt der introvertierte Ex-Elitesoldat wie vom Erdboden verschluckt.
Währenddessen versucht der stellvertretende Polizeidirektor und Leiter des Morddezernats, H. P. Andersen, den Mord an Bulbjerg aufzuklären, der in letzter Zeit wohl immer mehr dem Glücksspiel verfallen war und bei dessen Leiche ein Tütchen Kokain gefunden wurde. Leider sickern interne Erkenntnisse an die Medien, außerdem bieten die verdeckt agierenden, vom elitären Danehof-Zirkel engagierten Söldner 30.000 Kronen für sachdienliche Hinweise. Schließlich gelingt es Franck und dann auch Mossman, Oxen doch noch aufzufinden, aber da der Danehof plant, Rosborg zu eliminieren, droht Oxens Überlebens-Police mit dem kompromittierenden Video wertlos zu werden. Oxen muss sich entscheiden, ob er nicht nur Franck, sondern auch Mossman vertrauen kann, um dem Danehof endgültig das Handwerk zu legen.
„Das Material bot einen kleinen Einblick in ein einzigartiges Machtgefüge, das die Jahrhunderte überdauert hatte. Es hatte manchmal Unterbrechungen gegeben, und die Struktur hatte sich verändert. Aber der Danehof war immer noch da und bedeutete eine latente Gefahr für jeden, der ihm in die Quere kam. Der Danehof war ein schlummernder Virus, intakt und nach all den Jahren immer noch tödlich.“ (S. 196f.) 
Mit dem hochdekorierten, aber traumatisierten und zurückgezogen lebenden Ex-Elitesoldaten Niels Oxen hat der dänische Schriftsteller Jens Henrik Jensen eine faszinierende Figur geschaffen, dessen ausgeprägten Talente nach wie vor wertvoll für den Geheimdienst sind. „Das erste Opfer“, Band 1 der „Oxen“-Trilogie, bezog seine Spannung weitgehend aus der Frage, inwieweit Oxen dem PET-Chef Mossman trauen kann oder nur als Spielball der Geheimdienstinteressen benutzt wird. Diese Frage schwebt auch über der Handlung des Nachfolgebandes „Der dunkle Mann“, wobei Jensen zunächst etliche geheimnisvolle Handlungsstränge mit anonymisierten Figuren entwirft, die erst nach und nach aufgelöst und zusammengeführt werden. Der Autor beschränkt sich dabei zunächst mehr auf ausgiebige Beschreibungen der jeweiligen Settings als seinen Figuren Charakter zu verleihen. Wieder sind es vor allem Niels Oxen und Margrethe Franck, die überhaupt etwas an Profil gewinnen. Aber sobald die Jagd durch den Danehof auf Oxen eröffnet wird, zieht die Spannung deutlich an, gewinnt die Handlung an Tempo und Struktur, werden Motivationen deutlicher herausgearbeitet.
Im furiosen Finale werden einige interessante Weichen für den Abschluss der Trilogie gestellt, der unter dem Titel „Gefrorene Flammen“ für September angekündigt ist.  
Leseprobe Jens Henrik Jensen - "Der dunkle Mann"

Max Scharnigg – „Der restliche Sommer“

Samstag, 17. März 2018

(Hoffmann und Campe, 239 S., HC)
Mit seiner Kolumne über gute Manieren, die er unter dem Pseudonym August Sternberg seit zwölf Jahren für den Stil-Teil eines Wochenmagazins schreibt, hat es der 45-jährige Journalist Paul Neulich zu einigem Ansehen geschafft. Kaum hat er die Trennung von der Paartherapeutin Sonja Wilms verwunden, ist er mit seiner neuen Lebensgefährtin Sara vor zehn Monaten zu einer Reise in die Algarve aufgebrochen, wo beide erst einmal verarbeiten, was sie in ihrem alten Leben zurückgelassen haben und ob sie überhaupt zueinander passen.
Paul träumt davon, das Lokal von Kiko für die Zeit zu übernehmen, in der sich die alte Dame einer Operation unterziehen muss, doch fühlt er sich der Aufgabe und der Konfrontation mit den vielen Menschen in der Bar nicht gewachsen, so dass an Sara die Arbeit hängenbleibt. Sie hatte einst davon geträumt, Schauspielerin oder Künstlerin zu werden, fühlt sich in dem gutbürgerlichen Leben mit Paul aber erst richtig im Leben angekommen.
Pauls Ex-Frau Sonja sorgt mit einem Interview für Aufsehen, wird auf einmal von den Medien als neues Vorbild für die Frauen umgarnt und erfährt so die Aufmerksamkeit, die sonst Paul beschieden war, dem sie irgendwie immer noch hinterhertrauert. Und dann ist da noch Saras Ex-Freund Tin Hasenglock, der seiner großen Liebe Sara hinterherfliegen will, am Flughafen aber Opfer eines Terroranschlags wird. Im Krankenhaus erfährt er allerdings, dass er nicht wegen des Attentats operiert worden ist, sondern dass ihm ein Stück krebsverseuchter Darm entnommen wurde.
Der Erfinder der Kontaktbörse harpf.com lernt mit der temperamentvollen und gesellschaftskritischen Bio-Brotverkäuferin Tove eine ganz andere Seite vom Leben kennen.
„Nach ihrem ersten Treffen im Aufenthaltsraum war sie jedenfalls zweimal täglich bei ihm vorbeigeschlendert und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm die Welt zu erklären, obwohl sie so viel jünger war. Tatsächlich fühlte sich Tin neben ihr wie ein Schlaganfallpatient, der das Sprechen neu lernen musste. Im gleichen schmerzhaften Prozess, in dem sich die Zellen rund um seine Narbe und in seinem zerstückelten Darm erneuerten, erneuerte sich dank Tove sozusagen auch die Welt vor seinem Fenster.“ (S. 172) 
Der 1980 in München geborene Autor Max Scharnigg schreibt nicht nur als Redakteur für die Süddeutsche Zeitung, sondern hat mit seinen Romanen „Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe“ und „Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau“ auch als Schriftsteller auf sich aufmerksam gemacht, dazu mit „Herrn Knigge gefällt das!“ über gute Manieren im Netz philosophiert.
Mit seinem neuen, schlicht „Der restliche Sommer“ betitelten Roman beschreibt Scharnigg die ineinander verflochtenen Biografien von vier eigentlich erfolgreich mitten im Leben stehenden Menschen, die aber nicht so recht zu wissen scheinen, was sie denn genau vom Leben und vor allem der Liebe erwarten sollen. So suchen Paul und Sara erst einmal Abstand von ihrem alten Leben und den Sommer in Portugal zu verlängern, wo ihnen der Alltag nichts anhaben kann, wohl aber das mit giftigem Stachel bewehrte Petermännchen. Scharnigg widmet seinen vier gleichberechtigt nebeneinander angelegten Figuren jeweils eigene Kapitel im losen Wechsel, wobei vor allem deutlich wird, wie sich die ehemaligen Eheleute Paul und Sonja beruflich konträr entwickeln, wie der bislang vor allem in virtuellen Welten bewanderte Tin durch eine viel jüngere Frau das Leben von einer ganz anderen Seite kennenlernt und wie die eher ziellos im Leben dahingetriebene Sara in Portugal eine handfeste Arbeit zu schätzen lernt.
Der Autor entwickelt dazu keinen besonders kniffligen Plot, sondern treibt die Handlung – sofern es eine nennenswerte zu erzählen gibt – eher gemächlich voran. Vielmehr interessiert ihn die persönliche Entwicklung seiner Figuren, die ganz in ihren Gedanken und Erinnerungen portraitiert werden. Dabei legt Scharnigg eine sprachliche Gewandtheit und einen feinsinnigen Humor an den Tag, dass es eine Freude ist, den vier Typen und dann auch Tove durch das kurzweilige Buch zu folgen.

Harald Schodl – „Sommerfrische“

Donnerstag, 15. März 2018

(Text/Rahmen, 368 S., HC/eBook)
Der Journalist Carl Sandtner versucht seinen verschollenen Freund und Kollegen Benny Kappel zu finden. Nachdem sie seit drei Jahren nichts voneinander gesehen und gehört hatten, erhielt Carl vor einigen Wochen einen kryptischen Anruf von Benny, der aber dann zum vereinbarten Treffen nicht erschienen war und seitdem wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Von Bennys Ex-Frau Sylvia, die auf seine Unterhaltszahlungen wartet, erfährt er, dass Benny zuletzt als Kaufhausdetektiv tätig gewesen ist. Auch wenn die Polizei im weniger schicken Wiener Stadtteil Ottakring nicht gewillt ist, intensiver nach Benny zu suchen, erhält Carl von Abteilungsinspektor Lafa immerhin einen ersten Anhaltspunkt geliefert, der ihn zum Sicherheitsverantwortlichen beim Wiener Kaufhaus Heimwert, Manfred Racz, führt.
Carl heuert dort ebenfalls als Detektiv an, installiert eine Wanze in Racz‘ Büro und kommt so einer kriminellen Vereinigung auf die Spur, in der Racz und sein Kollege Stefan Kalhammer eher die zweite Geige spielen, dafür aber der Unterwelt-Boss Johannes Hoffmann mit seinen wenig zimperlichen Handlangern Zucker-Pauli und Satin-Schorsch umso kräftiger mitmischen.
„Dass in dem Kaufhaus etwas mindestens genauso faul war wie die Zähne altersschwacher südosteuropäischer Straßenhunde war mittlerweile auch für Carl klarer als Wiener Hochquellwasser. Könnte also Heimwert der Schlüssel sein, um die Hieroglyphen zu entziffern, die Bennys rätselhaftes Verschwinden hinterlassen hatte?“ (Pos. 2004) 
Mit seinem Debütroman „Sommerfrische“ taucht der Wiener Autor Harald Schodl tief in die dunklen Abgründe der österreichischen Hauptstadt ein und schafft bereits in dem stimmungsvollen Prolog eine drückend-schwüle Atmosphäre, die sich mit ihrer Mischung aus Schweiß und Blut, Dreck und Gestank nachdrücklich im Gehirn des Lesers festsetzt.
Unter der unerträglichen Hitze leidet vor allem der Journalist Carl Sandtner, dessen von Dämonen und Fürsorge getriebene Persönlichkeit eher an skandinavische als amerikanische Vorbilder erinnert und definitiv die vielschichtigste und sympathischste Figur des Romans darstellt. Dagegen orientieren sich Hoffmann, Racz und Kalhammer an den Genrekonventionen für Bösewichter, wobei Schodl hier durch seine derbe, schwarzhumorige Sprache zumindest in den Dialogen für den entsprechenden Biss sorgt.
Positiv fällt auch die ungewöhnlich vielfältige Charakterisierung von Racz‘ schöner Schwester Annette auf, die nicht nur mit dem Handicap einer Beinprothese leben muss, sondern auch nicht so recht von Hoffmann loskommt. Dagegen wirken die immer wieder mal kurz thematisierten Morde an prominenten SPÖ-Politikern wie ein MacGuffin, der den Spannungsfluss eher stört als vorantreibt. Allerdings ist Schodl auch nicht an einem eindimensionalen Krimi-Plot gelegen. Stattdessen zeigt der ehemalige Student der Publizistik, Politikwissenschaften und Geschichte, dann als zehn Jahre als Journalist arbeitende Autor, wie sich am Beispiel des „Wiener Boten“ die politische Gesinnung im Land nachhaltig verändert hat.
„Sommerfrische“ ist ein überaus gelungenes Debüt, das durch seine atmosphärische Milieubeschreibung, eine starke Hauptfigur und eine sehr bildhafte Sprache überzeugt und das Potenzial besitzt, den Auftakt einer längeren Reihe um den charismatischen Carl Sandtner zu bilden.
Leseprobe Harald Schodl - "Sommerfrische"

John Katzenbach – „Der Reporter“

Dienstag, 6. März 2018

(Knaur, 427 S., Tb.)
Ein Jahr nach Richard Nixons Abdankung erschüttert der brutale Mord an der allseits beliebten 16-jährigen Cheerleaderin Amy ausgerechnet am Unabhängigkeitstag Miami. Malcolm Anderson, der als Polizeireporter beim „Journal“ gute Beziehungen zum Morddezernat unterhält, ist mit dem Fotografen Andrew Porter als erster Pressevertreter am Tatort und sorgt mit seiner exklusiven Titelstory für Angst und Unbehagen in der Bevölkerung. Denn als sich der Killer telefonisch bei Anderson meldet, gibt er zu, ein völlig unschuldiges Opfer ausgewählt zu haben, dem weitere ebenso beliebige folgen werden. Wenig später wird ein altes Ehepaar ebenfalls tot in seiner Wohnung aufgefunden, wie das Mädchen an den Händen gefesselt und mit einer großkalibrigen Waffe erschossen.
Die Angst, die die Stadt großflächig erfasst, macht auch vor dem Reporter und seiner Freundin, der Krankenschwester Christine, nicht halt, schließlich ruft der offensichtlich psychotische Killer Anderson auch zuhause an und erzählt ihm ausführlich von seinen traumatischen Kriegserlebnissen in Vietnam und der Beziehung zu seiner verführerischen Mutter und dem strengen Vater. Auf einmal machte sich der erschütternde Gedanke breit, dass der Täter nicht nur seinen perversen Sexualtrieb befriedigen will, sondern es auf jeden beliebigen Menschen absehen könnte.
Trotz der vielen Hinweise, die der redegewandte Mörder Anderson auf seine Identität gibt, gelingt es der Polizei nicht, eine Spur zu finden. Das mörderische Treiben sichert dem „Journal“ prächtige Auflagen, während die Detectives Wilson und Martinez weiterhin im Dunkeln tappen.
„Je mehr ich mir die Stimme und den Tonfall des Killers vergegenwärtigte, seine Erinnerungen, seine Ichbezogenheit, seine Arroganz, desto mehr verlagerte sich meine Loyalität vom Mörder zur Polizei. Doch statt darüber erleichtert zu sein, hatte ich ein mulmiges Gefühl, ohne dass ich sagen konnte, warum.“ (S. 219) 
Bereits mit seinem Roman-Debüt „In the Heat of the Summer“ aus dem Jahre 1982 avancierte der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach zum Thriller-Star. Schließlich wurde sein Debüt 1985 mit Kurt Russell in der Hauptrolle als „Das mörderische Paradies“ erfolgreich verfilmt, drei Jahre später erschien bei Bastei Lübbe die gleichnamige deutsche Erstausgabe, die nun als „Der Reporter“ in völlig neu bearbeiteter Ausgabe bei Knaur wiederveröffentlicht worden ist.
Dabei beweist der Sohn einer Psychoanalytikerin und des früheren US-Justizministers Nicholas Katzenbach viel Gespür für die Materie. Sowohl die Abläufe der polizeilichen Ermittlungsarbeit als auch die psychologischen Profilanalysen des Killers wirken absolut plausibel, zumindest die Haupt-Charaktere sind dazu gut gezeichnet.  
Katzenbach beschreibt nicht nur, was die erschreckend beliebigen Tötungsdelikte im Mikrokosmos der Beziehung von Ich-Erzähler Malcolm Anderson und seiner attraktiven und empathischen Freundin Christine anrichten, sondern wie verunsichert sowohl die Medien als auch die Bevölkerung mit dem Umstand umgehen, dass da draußen ein anonymer Killer herumläuft, der seine Geschichte in den Medien präsent haben will. Dabei thematisiert der Autor sowohl das Recht des Amerikaners auf den Besitz einer Waffe als auch die Verantwortung der Medien, die offenbar keine andere Möglichkeit sehen, als an der Story dranzubleiben. All dies verwebt Katzenbach zu einem gnadenlos packenden Thriller, der den Leser bis zum wendungsreichen Finale in Atem hält.
Leseprobe John Katzenbach - "Der Reporter"

Jason Starr – „Ein wirklich netter Typ“

Freitag, 2. März 2018

(Diogenes, 265 S., HC)
Der zweiunddreißigjährige Tommy Russo wartet in New York noch immer auf den Durchbruch als Schauspieler, doch in den letzten neun Jahren schaffte er es nur zu zwei Rollen – als Zweitbesetzung in einem Off-Broadway-Stück, das nach sechs Vorstellungen abgesetzt wurde, und als kleine Nebenrolle in einem Direct-to-Video-Kung-Fu-Streifen. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich als Rausschmeißer in einer Bar in Manhattan, sein Mini-Apartment kann er sich nur leisten, weil er für seinen Vermieter auch den Hausmeister-Job übernimmt. Immer wieder versucht er, beim Glücksspiel und auf der Pferderennbahn das große Geld zu machen, doch überwiegen die Verluste bei weitem die sporadischen Gewinne. Als er zufällig seinen alten Kumpel Pete Logan wiedertrifft, der zwar stinkt wie ein Scheißhaufen, aber immerhin zwei Schuhgeschäfte besitzt, sieht er seine große Chance kommen: Denn Pete lädt ihn ein, einer von fünf gleichberechtigten Besitzern eines Rennpferds zu werden.
Allerdings muss er dafür einen Anteil von zehntausend Dollar einbringen, den er natürlich nicht hat. Der Versuch, mit geliehenem Geld beim Glücksspiel die erforderliche Summe aufzutreiben, schlägt natürlich fehl, aber dann bietet sich für Tommy die Möglichkeit, den Safe seines Chefs Frank O’Reilly auszuräumen, wo die Einlagen für den Super-Bowl-Toto deponiert sind.
Als der Diebstahl entdeckt wird, gerät Franks Stiefsohn Gary in Verdacht, aber Tommy verstrickt sich zunehmend in ein Geflecht aus Lügen, Diebstahl, Betrug und sogar Mord, um seinen Traum vom Besitz eines gewinnbringenden Galoppers zu verwirklichen.
„Mir gefiel, dass die vielen Kameras und Scheinwerfer auf mich gerichtet waren. Ich fühlte mich wieder als Schauspieler. Ich trat in einem Kinofilm oder einer Fernsehsendung auf und wusste, dass das erst der Anfang war. Als berühmter Pferdebesitzer würde ich andauernd Pressekonferenzen abhalten.“ (S. 209) 
Auch mit seinem dritten Roman nach „Top Job“ (1997) und „Die letzte Wette“ (1998) präsentiert Jason Starr seinem Publikum einen Protagonisten, der alles andere als sympathisch ist. Zwar verfügt der Ich-Erzähler Tommy Russo über das – wie er selbst findet – attraktive Aussehen und natürlich auch Talent eines Filmschauspielers, doch da er im Show Business nicht über eine angesehene formale Ausbildung und die nötigen Kontakte verfügt, bleibt ihm diese Karriere nun mal wie so vielen anderen Möchtegern-Stars verschlossen.
In der Bar seines Chefs und Freundes Frank, dessen Frau Debbie nicht nur an der Flasche hängt, sondern auch vor Franks Augen mit anderen Männern schläft, gibt er sich oberflächlich mit ein paar Frauen ab, von denen er letztlich nur Geld leihen will oder sogar den Schmuck stiehlt. Den ihm gegenüber geäußerten Verdacht kann er stets geschickt auf andere Personen lenken, so dass Tommy einfach weiter seinen kleinkriminellen Aktivitäten nachgehen und vom kommenden Ruhm als Pferdebesitzer träumen kann. All dies beschreibt der Autor in gewohnt einfacher, leichtflüssiger Sprache, wobei vor allem der schwarze Humor, der hinter Tommys perfiden Plänen und Aktionen hervorblitzt, für die unterhaltsamen Elemente sorgt, doch bleiben die Figuren allesamt sehr flach.

Richard Bachman – „Amok“

Donnerstag, 1. März 2018

(Heyne, 220 S., Tb.)
Mitten im Algebraunterricht bei Mrs. Jean Underwood an der Placerville High School wird Charles Decker in das Büro von Direktor Thomas Denver gerufen, um mit ihm über den Vorfall mit Charlies Mitschüler John Carlson zu sprechen, den er krankenhausreif geschlagen hatte. Doch Charlie lässt sich auf keine Diskussion ein, verlässt das Büro mit dem kompromittierenden Vorwurf, vom Direktor sexuell belästigt worden zu sein, holt aus seinem Spind die Pistole seines Vaters und schießt seiner Algebra-Lehrerin in den Kopf.
Als der Geschichtslehrer Mr. Vance nach dem Rechten sehen will, erschießt Charlie auch ihn und hält seine 24 Klassenkameraden als Geiseln. Auf Verhandlungen mit der Polizei oder dem Schulpsychologen Mr. Grace lässt sich Charlie nicht ein.
Stattdessen lässt er seine Mitschüler von ihren ersten sexuellen Erfahrungen und anderen einschneidenden persönlichen Erlebnissen berichten, gibt auch von sich selbst einiges preis.
„Ich warf einen schnellen Blick zum Publikum. Sie waren gebannt, wie hypnotisiert. Sie dachten nicht an Mr. Grace oder Tom Denver oder Charles Everett Decker. Sie beobachteten angespannt, und was sie sahen, war vielleicht ein kleiner Einblick in ihre eigenen Seelen, der ihnen aus einem zersprungenen Spiegel entgegenblitzte. Es war prächtig. Es war wie frisches Gras im Frühjahr.“ (S. 101) 
Nachdem der stets äußerst produktive Schriftsteller Stephen King mit seinen ersten Romanen „Carrie“ (1974), „Brennen muss Salem“ (1975) und „The Shining“ (1977) die Bestsellerlisten gestürmt hatte, wollte er austesten, ob sich seine Bücher auch ohne den großen Namen dahinter verkaufen würden, und veröffentlichte zwischen 1977 und 1984 die fünf Romane „Amok“ (1977), „Todesmarsch“ (1979), „Sprengstoff“ (1981), „Menschenjagd“ (1982) und „Der Fluch“ (1984) unter dem Pseudonym Richard Bachman, die später, als dessen Geheimnis gelüftet war, auf dem deutschen Markt mit dem Zusatz „Bachman ist King – Stephen King ist Bachman“ veröffentlicht wurden.
Das Bachman-Debüt „Amok“ ist auch nach vierzig Jahren erschreckend aktuell, betrachtet man die zunehmenden Massaker von Amokläufern an amerikanischen High Schools. Während die aktuellen Diskussionen allerdings eher um die Frage nach dem Waffenbesitz thematisieren, nutzt Stephen King alias Richard Bachman das extreme Szenario einer Geiselnahme mit dem Mord an zwei Lehrkräften eher als Coming-of-Age-Drama, bei dem die jungen Erwachsenen sich gezwungen sehen, Geheimnisse ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen zu offenbaren und sich dadurch bei anderen Mitschülern teils unbeliebt machen, teils aber einfach überraschende Erkenntnisse liefern.
Charles Decker, der die Geschichte aus seiner Perspektive erzählt, taugt dabei nicht zwingend als sympathische Identifikationsfigur, aber um die Chuzpe, mit der dieser junge Mann jedwede Autoritätsperson beleidigt und vorführt, beneiden ihn sicher so einige Leser in Charlies Alter.
So kurzweilig sich die 220 Seiten lesen lassen und Einblicke in die Psyche nicht nur des soziopathisch veranlagten Protagonisten, sondern auch in die ganz normaler Teenager gewähren, so ist dieses Frühwerk doch noch weit von der atmosphärischen Dichte und psychologischen Raffinesse entfernt, die wir aus späteren Meisterwerken des „King of Horror“ kennen.

Anthony McCarten – „Jack“

Montag, 26. Februar 2018

(Diogenes, 255 S., HC)
Die Berkeley-Literaturstudentin Jan Weintraub hat sich im Frühjahr 1968 vorgenommen, die offizielle Biographie über ihr Idol Jack Kerouac zu schreiben, doch ihn aufzufinden erweist sich als gar nicht so leicht. Nach zehn veröffentlichten Romanen hat Kerouac zwei Jahre zuvor beschlossen, sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Als sie ihn schließlich in Florida bei seiner Mutter aufspürt, bleibt ihr nicht viel Zeit, die Erlaubnis von dem Kultautor einzuholen, dessen Roman „Unterwegs“ in den 1950er Jahren zur Bibel der Beatniks geworden war, denn der 47-Jährige hat sich vorgenommen, sich totzusaufen. Doch mit einer dreisten Lüge gelingt es Jan, nicht nur eine Einladung in Jacks Haus zu bekommen, sondern mit ihrem Idol auch über seine Vergangenheit zu sprechen, über die Reihenfolge in der Entstehung seiner Werke, über seine erste Frau Edie Parker, über die Freundschaft mit Allen Ginsberg, William W. Burroughs und vor allem mit Neal Cassady, der das Vorbild für Jacks berühmteste Figur, Dean Moriarty, werden sollte.
Doch vor allem will die ambitionierte Studentin an die Briefe kommen, die Jack verschiedenen Quellen zufolge sorgsam archiviert hatte, aber nun verbrannt sein sollen. Als sie von Jack dabei erwischt wird, wie sie seine Schubladen nach den Briefen durchsucht, erfährt die Beziehung zwischen Autor und Biographin eine ganz neue Dynamik. Nicht nur Jans Mutter gerät mehr in den Fokus ihrer Ambitionen, sondern auch Jacks einst bester Freund Neal.
„Bei alldem, in dem ganzen Bericht, den ich auf Band aufgenommen hatte, zeigte er nicht einen Hauch von Bedauern über sein Verhalten, wie ich es eigentlich von ihm erwartet hätte. Kein Hinweis, dass etwas daran nicht richtig gewesen sei, kein Gefühl der Mitschuld an Neals Niedergang, (…) nicht ein Fünkchen Mitgefühl. Wer war dieser Mann bloß, fragte ich mich, dieser riesige weiße Wal, der so selten aus der Tiefe auftauchte?“ (S. 92) 
Anthony McCarten hat bereits mit seinen Drehbüchern zu den verfilmten Biographien von Stephen Hawking („Die Entdeckung der Unendlichkeit“) und Winston Churchill („Die dunkelste Stunde“) eindrucksvoll bewiesen, dass er einen ganz besonderen Blick auf die Lebensgeschichten ungewöhnlicher Persönlichkeiten besitzt. Zum Beatnik-Star Jack Kerouac hat der in Neuseeland geborene und in London lebende Bestseller-Autor („Englischer Harem“, „Superhero“) insofern eine ganz besondere Beziehung, weil dieser ihn zum Schreiben gebracht habe und er sich sehr gut mit den Dämonen auskenne, die auch Kerouac verfolgt haben.
Der erste Teil des ebenso kurzen wie kurzweiligen und wendungsreichen Buches liest sich zunächst wie die eher konventionelle Annäherung einer Möchtegern-Biographin an ihr Idol. Von ihrem eingangs geschilderten Besuch seiner Beerdigung richtet die Berkeley-Studentin als Ich-Erzählerin den Blick zurück auf die Suche nach Jack Kerouac und den nicht immer leichten Zugang zu ihrem Idol, der sich aber doch auf Tonbandaufnahmen der Gespräche zwischen ihnen einlässt. Hier werden im Schnelldurchlauf die wichtigsten Stationen in Kerouacs Leben skizziert, etwas ausführlicher wird dabei auf Neal Cassady eingegangen, an dem die Biographin ein besonderes Interesse zeigt.
Warum das so ist, wird im zweiten Teil nach Jans Kompromittierung durch Kerouac deutlich, als einige unbequeme Wahrheiten aufgedeckt werden und ein munteres Spiel um Identitäten seinen Lauf nimmt. Hier verlässt McCarten das vertraute Terrain konventioneller Künstler-Biographien und richtet den Blick nicht nur verstärkt auf die Ich-Erzählerin, sondern widmet sich dabei ganz allgemein auch der Frage, wer wir eigentlich sind und woran die Identität eines Menschen eigentlich festgemacht wird. Der philosophische Diskurs ist dabei aber ganz unterhaltsam in die Verstrickungen eingebunden, in die sich die junge Frau manövriert hat und für die sie sich nicht nur Kerouac gegenüber rechtfertigen muss.
McCarten gelingt dabei das Kunststück, eine literarische Kultfigur wieder lebendig werden zu lassen und dabei den Leser zum Nachdenken über seine eigene Persönlichkeit anzuregen.
Leseprobe Anthony McCarten - "Jack"

James Carlos Blake – „Red Grass River“

Sonntag, 25. Februar 2018

(Liebeskind, 528 S., HC)
Die Everglades werden von den Einheimischen wegen der mörderischen Mischung aus Treibsand, Zypressensümpfen, Zwergpalmetto-Gestrüpp, Alligatoren, Panther, Schlangen und Mücken als Devil’s Garden bezeichnet. Hier hilft im Dezember 1911 der achtzehnjährige John Ashley seinem Vater dabei, Alkohol an die Indianer zu verkaufen. Als er bei einer Auseinandersetzung den Indianer DeSoto Tiger erschießt, kommt er erstmals mit dem Gesetz und Sheriff Bobby Baker in Konflikt, dem er nicht nur das Mädchen wegnimmt, sondern der ihn und seine Familie von Gesetzesvertretern immer wieder herausfordert, zunächst mit Banküberfällen, zur Prohibition mit flächendeckendem Alkoholschmuggel und Morden.
Bei einem der Raubüberfälle schießt ihm der Chicagoer Gangster Kid Lowe versehentlich ein Auge aus. Zusammen mit seiner Geliebten, der blinden Loretta May, die er im Freudenhaus von Miss Lillian kennen- und lieben gelernt hat, lebt John Ashley mit seinen Brüdern und seinem Neffen Hanford Mobley in den Sümpfen, die er wie kein Zweiter in- und auswendig kennt. Kurz bevor Ashley eine Haftstrafe im Staatsgefängnis von Raiford antritt, lernt er die schöne Laura Upthegrove kennen und führt sie in seine Familie ein, die mit ein paar Freunden von John Vater Old Joe Ashley dafür sorgt, dass Ashley aus dem Gefängnis fliehen kann, worüber Bobby Baker alles andere als erfreut ist.
„Es schien, als warte er auf etwas, von dem er nicht genau wusste, was es war. Und viele Menschen teilten dieses Gefühl. Sie sagten, es fühle sich an wie ein schlimmer Sturm, der sich am Horizont zusammenbraute, auch wenn man die Anzeichen noch nicht benennen könne. Als braue er sich ohne Geräusch oder Geruch und ohne Windhauch zusammen, und doch wisse doch jeder, dass er da draußen lauere und unweigerlich heranziehen werde.“ (S. 398) 
Zwischen dem schnell zur Legende gewordenen Outlaw und dem liebevollen Familienvater und Gesetzeshüter Bobby Baker entwickelt sich ein tiefverwurzelter Hass, ein Krieg, der erst am 1. November 1924 beendet wird, als die Ashley-Gang auf dem Weg nach Jacksonville zu einem weiteren Bankraub ist und in eine Straßensperre auf dem Dixie Highway gerät.
Der in Mexiko geborene, in Texas aufgewachsene und heute in Arizona lebende Schriftsteller James Carlos Blake wurde hierzulande durch die mit dem Los Angeles Times Book Prize prämierte deutsche Erstveröffentlichung „Das Böse im Blut“ bekannt und hat schon in seinem Debütroman „Pistolero“ einer amerikanischen Gangster-Legende nachgespürt, dem Revolverhelden John Wesley Hardin (1853-1895).
Mit seinem im Original 1998, nun endlich in deutscher Übersetzung veröffentlichten Roman „Red Grass River“ rekapituliert er das Leben und Wirken des Outlaws John Ashley aus der Sicht des Liars Club, einer Gruppe von alten Männern, die als sogenannte „Cracker“, Viehtreiber, aus dem Süden nach Florida kamen und sich allerlei Geschichten über John Ashleys Gang und die Verbrechen, die sie begingen, erzählten.
Bereits aus dieser Erzählperspektive wird deutlich, wie sehr sich Fakt und Fiktion bei dem vorliegenden Werk vermischen. Blake bedient sich dabei einer ebenso rauen wie farbenprächtigen Sprache, die den harschen Umgangston unter den Männern ebenso pointiert wiedergibt wie die Schrecken der unbarmherzigen Natur, die allerdings zunehmend zurückgedrängt wird. Der Autor nutzt die epische Gangster-Ballade nicht nur für die Darstellung der über ein Jahrzehnt andauernden Fehde zwischen den Ashleys und Bakers, sondern auch zur Beschreibung von gewaltigen Veränderungen, von der Bezähmung der Natur, der Ausbreitung von wirtschaftlichen Interessen und Verbrechen, aber auch von der Leidenschaft, mit der Menschen sich lieben und zerstören.
Ähnlich wie Cormac McCarthy („Die Abendröte im Westen“) - wenn auch nicht ganz so düster - beleuchtet James Carlos Blake die dunklen Kapitel in der amerikanischen Geschichte. Detailliert beschreibt er, welche Wunden Messer, Pistolen, Gewehre und Fußtritte und Faustschläge anrichten, wie Rippen und Kiefer brechen, Haarbüschel von der Kopfhaut geschossen werden und Blut gespuckt wird. Auch bei der Schilderung der vielen Sexszenen fühlt sich der Leser eher an Raufereien als an liebevolle Zusammenkünfte erinnert.
Zwar stehen die Ashleys im Mittelpunkt der Geschichte, aber James Carlos Blake kommt auch immer wieder auf die Baker-Familie zurück, um so einen bürgerlichen Gegenentwurf zu dem Verbrecherdasein der Ashleys zu zeichnen, auch wenn dieser weitaus weniger interessant erscheint. Nachdem jetzt erst drei Romane des vielfach ausgezeichneten Autors auf Deutsch erhältlich sind, bleibt zu hoffen, dass auch die nach „Red Grass River“ veröffentlichten Romane und dabei vor allem die bereits vier Bände umfassende Wolfe-Reihe bald nachfolgen werden. 
Leseprobe James Carlos Blake - "Red Grass River"

Nils Daniel Peiler – „201 x 2001 – Fragen und Antworten mit allem Wissenswerten zu Stanley Kubricks Odyssee im Weltraum“

Montag, 19. Februar 2018

(Schüren, 108 S., Tb.)
Nach seinem Meisterwerk „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ (1964) war der gefeierte Filmemacher Stanley Kubrick so sehr von der Idee außerirdischen Lebens fasziniert, dass er einen wirklich guten Science-Fiction-Film realisieren wollte, was ihm 1968 in Zusammenarbeit mit dem Science-Fiction-Darsteller Arthur C. Clarke mit „2001: Odyssee im Weltraum“ auch gelang. Immerhin kürte das American Film Institute Kubricks Film 2008 zum besten Science-Fiction-Film aller Zeiten. Seither ist auch viel Literatur zum 1999 verstorbenen Regisseur und natürlich auch zu „2001: Odyssee im Weltraum“ veröffentlicht worden.
Der Filmwissenschaftler Nils Daniel Peiler hat sich bereits als Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung am Institut für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg zur künstlerischen Rezeption des Films geforscht, dazu sowohl den Nachlass des Regisseurs an der University of the Arts in London ausgewertet als auch Kontakt zur Familie gehalten. Schließlich ist er Kokurator der „2001“-Jubiläumsausstellung im Deutschen Filmmuseum Frankfurt, die bis September 2018 Originalrequisiten, Zeichnungen und Dokumente präsentiert.
Peilers gerade mal gut 100-seitiges Büchlein nähert sich dem vieldiskutierten Meisterwerk auf ungewohnte Weise, nämlich in Form von 201 Fragen, die alphabetisch zu Themen wie „Arbeitstitel“ und „Auszeichnung“ bis zu „Zeilen“ des Filmdialogs und zum „Zeitgeist“ abhandeln. Einige Antworten wie zur Affengrube und den dort eingesetzten Special Effects sind sicher interessanter als beispielsweise Fragen, wessen Atem bei den Astronauten zu hören ist, in welchen Ländern der Film in die Kinos kam oder wer die deutschen Synchronsprecher waren. Und manche Fragen wiederholen sich, wenn es beispielsweise um die Zusammenarbeit zwischen Kubrick und Clarke oder die Fortsetzungen und ihre dazugehörigen Marketing-Slogans geht. Aber für den interessierten Leser ergibt sich so wirklich häppchenweise ein informatives Gesamtbild aus faszinierenden Facetten, die Verschwörungstheorien genauso umfassen wie Erklärungen zu den damals bahnbrechenden Special Effects, für die Kubrick übrigens seinen einzigen Oscar zu Lebzeiten erhielt.
Wer tiefer in die Materie zu Stanley Kubricks außergewöhnlichen Werk eintauchen möchte, sollte aber beispielsweise auf das von Alison Castle herausgegebene „Stanley Kubrick Archiv“ (Taschen), „Stanley Kubrick und seine Filme“ von Fernand Jung und Georg Seesslen (Schüren) oder „Stanley Kubrick“ von Andreas Kilb und Rainer Rother (Beltz) zurückgreifen.