Gerhard Henschel – (Martin Schlosser: 1) „Kindheitsroman“

Mittwoch, 3. April 2019

(Atlantik, 496 S., Tb.)
Martin Schlosser verbringt die ersten Jahre seiner Kindheit Mitte der 1960er Jahre mit seinen Eltern und seinen beiden älteren Geschwistern Volker und Renate zunächst in einer kleinen Wohnung im Koblenzer Vorort Lützel. Im Doppelstockbett schläft er unten, seine Schwester unternimmt mit ihren Freundinnen eine Puppenmuttiparade vom Hof bis zum Rheinufer, Wörter wie Scheiße, Kacke, Arsch und Sau durften daheim nicht ausgesprochen werden. Zu den Vergnügungen im Sommer zählen Wannen zum Planschen im Hof, der Urlaub in Dänemark, wo Papa vor dem Zelt Pfeife raucht und Martin Fanta trinken darf. Auf einmal gab es Adventskalender mit Schokolade hinter den Türchen und zu Weihnachten Geschenke wie eine Eisenbahn, eine Bommelmütze, eine G.I.-Joe-Puppe, ein Quartett, eine Pistole und einen Pullover mit Vau-Ausschnitt.
Dann folgt der Umzug auf die andere Rheinseite, in ein Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe, wo die Kinder einen Kletterbaum vor der Tür haben und der Wald auch nicht weit ist. In der Schule zählt Martin nicht gerade zu den hellsten Kerzen auf der Torte, bei den Kopfrechnen-Wettbewerben zählt er regelmäßig zu den Letzten, die sich setzen dürfen. Es werden Comics gelesen und in Knaurs lachende Welt geblättert. Oma bringt den Kindern Zungenbrecher bei, im Fernsehen laufen Sendungen wie „Bezaubernde Jeannie“, „Lassie“, „Familie Feuerstein“ und „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“, verpönt ist aber das Neujahrs-Skispringen.
Unvergessen bleiben die Werbesprüche von Bauknecht, Allianz, Verpoorten Eierlikör, Afri-Cola, Bärenmarke, Kellergeister und HB-Zigaretten.
„Schlechter als das HB-Männchen hatte es aber Klementine, die immer mit einer Arieltrommel bewaffnet in Waschküchen rumlaufen und sich da mit Hausfrauen über synthetische Wäsche und eingetrockneten Schmutz unterhalten musste. Oder der Reporter von Omo, der als Beruf hatte, Hausfrauen zu fragen, was für sie das besondere an Omo sei. Oder Meister Proper. Der musste jedesmal, wenn eine Hausfrau nach ihm rief, angeflitzt kommen und alles so sauber putzen, dass man sich drin spiegeln konnte.“ (S. 135) 
Mit seiner bislang acht Bände umfassenden Martin-Schlosser-Chronik hat der „Kowalski“-, „Titanic“- und „konkret“-Satiriker Gerhard Henschel ein Stück deutsche Zeitgeschichte niedergeschrieben, die aus der Perspektive seines Alter Egos Martin Schlosser genau die Stationen rekapituliert, wie er sie selbst durchlebt hat. Dabei erweist sich Henschel als akkurater Beobachter nicht nur seines eigenen Lebensumfelds, sondern – vor allem in den späteren Bänden - auch als witziger Kommentator der gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Entwicklungen.
Davon ist in seinem „Kindheitsroman“, der 2004 bei Hoffmann und Campe – wie alle späteren Bände auch – als Hardcover erschienen ist, naturgemäß noch wenig zu spüren. Die lose aneinandergereihten Anekdoten sind nämlich nah am Erleben des Ich-Erzählers erzählt, wirken wie das bunte Potpourri aus gar nicht so lange zurückliegenden Kindheitserinnerungen, zu denen die abschätzige Meinungen über bußwillige Katholiken und das Aufzählen von Kinderreimen und Werbesprüchen ebenso zählt wie die traurige Erkenntnis, dass die Schlager-Stars in der „Hitparade“ nur zum Playback auftreten und Quasselstrippe Dieter Thomas Heck der einzige in der Show ist, der live zu hören ist.
Gerade wer sich altersmäßig auch in der Nähe von Henschels Jahrgang (1962) befindet, dürfte einen Riesenspaß an all den vertrauten Werbeslogans, Kinderreimen, Gebetssprüchen, Beobachtungen zu Comic-Helden wie Donald Duck, Micky Maus und Mecki und den Fernsehshows haben, die die 1960er und 1970er Jahre geprägt haben. Dazu gesellen sich die ersten zarten Liebesromanzen, Tagebucheinträge, regionale Ausdrucksweisen und Kindersünden wie das Abfackeln einer Scheune und Diebstahl im Krämerladen.
Der dokumentarische, doch amüsant unterhaltsame Stil begeistert bis heute die treue Martin-Schlosser-Gefolgschaft. Mit der erstmaligen Taschenbuch-Ausgabe durch den Hoffmann-und-Campe-Imprint Atlantik ist dieses Vergnügen nun auch kostengünstiger zu genießen.

Andrea De Carlo – „Das wilde Herz“

Montag, 1. April 2019

(Diogenes, 456 S., Pb.)
Nach einem Gewitter begutachtet der prominente britische Anthropologe Craig Nolan das Dach des in die Jahre gekommenen Ferienhauses im ligurischen Dorf Canciale, an dem vor allem seine Frau, die italienische Bildhauerin Mara Abbiati, so sehr hängt, um die Stelle zu finden, an der es in das Schlafzimmer regnet, und stürzt durch das morsche Gebälk. Neben einigen Prellungen und einem Schleudertrauma wird dabei vor allem das rechte Bein verletzt. Während die Genesung seines Beins allmählich voranschreitet, gestaltet sich die Suche nach einem geeigneten Handwerker für die Reparatur des Daches schwierig.
Doch dann taucht ein muskulöser Typ mit sonnenverbranntem Gesicht, grauschwarzen, langen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haare auf einem schwarzen Motorrad auf, stellt sich als Ivo Zanovelli vor und bietet Mara an, das Dach innerhalb einer Woche für neuntausend Euro zu reparieren, die bar zu entrichten wären, die Hälfte sofort, der Rest nach Erledigung des Auftrags.
Während Mara sofort völlig begeistert einwilligt, sieht sich Craig durch den verwegenen Rivalen in seinem Revier bedroht. Da er selbst einst eine Affäre mit einer Studentin unterhielt, scheint nun von Maras Seite aus die Beziehung aus dem Gleichgewicht zu geraten. Während Craig sich in das Haus von Signora Launa zurückziehen kann, um in Ruhe an seinem längst überfälligen Artikel und seiner nächsten Fernsehsendung zu arbeiten, kommen sich Mara und Ivo über die Arbeit mit Tuffstein und Marmor schnell näher. Ein gemeinsamer Ausflug zu einem Steinbruch endet schließlich im Gästezimmer einer nahegelegenen Wirtschaft. Aber was folgt danach? So sehr Mara und Ivo voneinander fasziniert sind, sind sie sich jeweils sehr unschlüssig, was aus dieser Beziehung denn werden soll …
„Wann hat er so etwas zuletzt erlebt? Mit siebzehn, in einem anderen Jahrhundert? Ihn packt eine Mischung aus Angst und Wut. Ist sie denn tatsächlich so anders als alle anderen? Ist sie wirklich so viel interessanter? Intelligenter? Natürlicher? Authentischer? Hat sie wirklich ein größeres Herz?“ (S. 317) 
Einmal widmet sich der italienische Bestseller-Autor Andrea De Carlo („Creamtrain“, „Zwei von zwei“) einem seiner Lieblingssujets, der zwischenmenschlichen Beziehungen mit ihren oft amourösen Verwicklungen. In diesem Fall seziert er das Trio Infernale, in dessen Zentrum die attraktive Bildhauerin Mara steht, die nach über sieben Jahre Ehe nicht mehr nur von ihrem Mann begehrt wird, der sich längst von seiner Feldforschung als Anthropologe verabschiedet und sich ganz auf die akademische Laufbahn als Autor und Fernsehmoderator verlegt hat, sondern auch von dem zupackenden Handwerker Ivo, der mit seinem Trupp von Schwarzarbeiten aus dem Balkan von Baustelle zu Baustelle reist und sich dabei auch auf krumme Geschäfte einlässt, die ihm nun zum Verhängnis zu werden drohen.
Indem De Carlo die drei Figuren jeweils abwechselnd zu Wort kommen lässt, nutzt er den akademischen Hintergrund von Craig Nolan immer wieder dazu, wissenschaftliche Studien und Erkenntnisse in seine Beobachtungen und Gedanken einfließen zu lassen, während sich Maras und Ivos Perspektive ganz auf die emotionale Komponente fokussiert. Die Handlung gerät dabei fast zur Nebensache und verläuft auf geradezu vorhersehbaren Bahnen. Auf die leidenschaftliche Affäre folgt auch noch die unangenehme Begegnung mit einem von Ivos früheren Auftraggebern.
Vielmehr interessiert De Carlo das reichhaltige Spektrum an Leidenschaften, Beobachtungen, Deutungen, Fragen, Ängsten und Unsicherheiten, die Mara, Ivo und Craig jeweils in ihren inneren Monologen ausbreiten, womit der Autor seine ohnehin schon interessanten Figuren viel eindringlicher charakterisiert, als es ihm durch einen flott inszenierten Plot gelingen könnte. Dennoch schleichen sich gerade in der zweiten Hälfte so einige Längen ein, drehen sich die geäußerten Gedanken zunehmend im Kreis.
„Das wilde Herz“ zählt sicher nicht zu De Carlos besten Werken, demonstriert aber erneut, wie tief er in die Seele seiner Figuren einzutauchen und ihre Empfindungen in einer äußerst lebendigen Sprache auszudrücken versteht.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Das wilde Herz"

Jilliane Hoffman – (C.J. Townsend: 4) „Nemesis“

Dienstag, 26. März 2019

(Wunderlich, 524 S., HC)
Als die New Yorker Studentin Lana mit drei weiteren Mädchen aus ihrem Wohnheim in Miami Urlaub macht und sich schon zu langweilen beginnt, freut sie sich über einen Tinder-Match mit dem 30-jährigen Business-Manager Reid. Er lädt sie in seiner Mercedes-Benz-Stretch-Limo zu einer exklusiven Party ein, die sich für Lana allerdings zu einer Todesfalle erweisen soll. Als ihre kopflose Leiche auf einer Mülldeponie in Südflorida gefunden wird, erfährt die Staatsanwältin C.J. Townsend durch einen früheren Kollegen ihres Mannes Dominick Falconetti bei der Cupido-Taskforce von dem Vorfall, der böse Erinnerungen an William „Cupido“ Bantling bei ihr wachruft.
Bantling hat nicht nur Townsend als 25-Jährige vergewaltigt und ihr Leben in den vergangenen zwanzig Jahren zur Hölle gemacht, sondern noch elf Frauen sexuell misshandelt und getötet. Nach einer zehnjährigen Auszeit ist sie vor zwei Jahren dem Ruf ihres alten Freundes Lou Todd zurück nach Miami gefolgt, wo sie als Chief Assistant State Attorney rund 250 Anwälte zu managen und ihre eigenen Fälle zu verhandeln hat. Cupido wurde 2015 für seine grausamen Taten zum Tode verurteilt, konnte aber bei seiner Überstellung vom Florida State Prison nach Miami, wo er als Zeuge in einem Prozess aussagen sollte, während eines Hurrikans fliehen. Offiziell ist Bantling weiterhin auf der Flucht, nur C.J. Townsend weiß es besser, denn sie hat ihn getötet.
Doch der sadistische Club, dem Bantling damals angehörte, treibt noch immer sein Unwesen, wie das Brandzeichen auf der Schulter des jüngsten Opfers beweist. Vor seinem Tod hatte Bantling Townsend noch die Zugangsdaten und eine Liste der Namen übergeben, die dem elitären Club angehören, dessen prominente Mitglieder vor laufenden Kameras beobachten, wie junge Mädchen gefoltert, vergewaltigt und getötet werden. Townsend, die mit ihrem Mann Dominick auch ihre Beziehung und noch eine Adoption auf die Reihe bekommen will, macht sich auf eigene Faust auf die Jagd nach den Bestien und schert sich dabei nicht um eine gesetzeskonforme Vorgehensweise …
„Manche Rollen waren die Nietenjobs, die sonst keiner wollte. Aber sie mussten trotzdem übernommen werden, damit die Gesellschaft funktionierte. Irgendwer musste den Dreck wegräumen, den Tatort reinigen, den Giftmüll entsorgen. C.J.s Rolle war es, für Recht und Ordnung zu sorgen. Niemand wollte tun, was sie tat, aber es musste getan werden.
Denn sonst, wenn niemand Vergeltung übte, würde die Welt im Chaos versinken.“ (S. 159) 
Nachdem C.J. Townsend ihrem Peiniger Bill Bantling vor mehr als zwanzig Jahren entkommen konnte, hat sich die taffe Staatsanwältin selbst zum Killer in eigener Sache entwickelt und sowohl den psychopathischen Psychiater Dr. Gregory Chambers als auch Bill Bantling getötet. Nun macht sie Jagd auf die weiteren gesellschaftlich hochgeschätzten Club-Mitglieder aus Politik, Sport, Justiz, Wirtschaft und Showgeschäft. Ihre eigene Geschichte macht dieses fragwürdige Selbstjustiz-Szenario zwar plausibel, doch die Ausführung des Rachefeldzugs beschreibt die ehemalige Staatsanwältin Hoffman schon nicht mehr so glaubwürdig. Nichtsdestotrotz ist dieses Katz-und-Maus-Spiel höchst spannend inszeniert, denn mittlerweile befindet sich ein weiteres Mädchen in der Gewalt des elitären Clubs, den Townsend von innen heraus zerstören will. Townsends private Angelegenheiten kommen dabei etwas kurz, und die Adoption des noch ungeborenen Kindes einer Meth-Süchtigen wirkt nicht besonders überzeugend. Hoffman versteht es allerdings, in ihrer schnörkellosen Sprache den Leser mitzureißen und ihn bei ihrer Jagd nach den Peinigern junger Frauen bis zum Schluss mitfiebern zu lassen.
  Leseprobe Jilliane Hoffman - "Nemesis"

Alan Hollinghurst – „Die Sparsholt-Affäre“

Freitag, 22. März 2019

(Blessing, 542 S., HC)
Die Oxford-Studenten Freddie Green, Charlie Farmonger, Evert Dax und der Maler Peter Coyle betreiben einen Club, in dem sie berühmte Schriftsteller dazu bewegen, aus ihren jüngsten Werken vorzutragen und vor den Studenten zu sprechen, wobei im Oktober 1940 der Name von Everts Vater, den gefeierten Romancier A.V. Dax, fällt. Doch dann lenkt Coyle die Aufmerksamkeit seiner Kommilitonen auf einen der neuen Studenten, den gutaussehenden Ruderer David Sparsholt, den er unbedingt portraitieren möchte.
Aber auch Evert findet besonderen Gefallen an dem athletischen Mann, der Oxford schon bald für eine militärische Karriere verlassen würde. Doch auch wenn der junge Sparsholt mit Connie liiert ist, freundet sich Evert mit ihm auf eine Weise an, die damals für einen Skandal gesorgt hätte.
„Evert hatte keinen anderen Mitwisser, davon konnte ich ausgehen, und dass Sparsholt von sich aus mit einem Freund darüber reden würde, war undenkbar. Die Affäre hatte bereits ihr ganzes Ausmaß erreicht, etwas Flüchtiges und ganz und gar Privates, allzu verborgen, um als Fußnote in die Geschichte dieser Zeit einzugehen.“ (S. 108) 
Tatsächlich hinterlässt die sogenannte Sparsholt-Affäre auch Generationen später noch ihre Spuren, als sein Sohn Johnny seine homosexuellen Neigungen nicht mehr ganz so zu verstecken braucht wie noch sein Vater, und eine weitere Generation später wird die Liebe zwischen Männern noch offener ausgelebt …
Der britische Schriftsteller Alan Hollinghurst ist auch hierzulande durch den 2004 mit dem Man Booker ausgezeichneten und ebenfalls bei Blessing erschienenen Roman „Die Schönheitslinie“ bekannt geworden, und auch in seinem neuen Werk widmet sich Hollinghurst den Herausforderungen, denen sich Homosexuelle in der Gesellschaft stellen müssen.
Dabei zeichnet der Brite ein Sittenportrait, das in den Kriegswirren des Jahres 1940 beginnt und sich in großen Sprüngen über die Jahre 1966, 1975 und 1995 bis (fast) in die Gegenwart des Jahres 2012 erstreckt. Vor allem der erste Teil, in dem die befreundeten Kunst- und Literaturliebhaber den attraktiven David Sparsholt kennenlernen und begehren, zeigt der Autor mit seinem wunderbar ausgefeilten Schreibstil differenziert auf, wie sich das Begehren der Männer untereinander noch in heimlichen Gefilden abspielt und die eigene sexuelle Ausrichtung hinter einer gesellschaftlich anerkannten Beziehung zwischen Mann und Frau verborgen werden muss, aus der schließlich auch Kinder hervorgehen.
Die titelgebende Affäre, die sich in einer Bombennacht zwischen David Sparsholt und Evert Dax abspielt, zieht sich ebenso wie Sparsholt selbst zwar wie ein roter Faden durch die Handlung, doch im Zentrum der Geschichte stehen die anderen, Evert Dax zum Beispiel, aber auch Sparsholts Sohn Johnny. So gut es Hollinghurst gelingt, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu beschreiben, unter denen sich homosexuelle Liebe verstecken bzw. zunehmend öffentlich entfalten kann, bringt er doch unnötig viele Personen ins Spiel, denen man schwer über die meist zehn- bis zwanzigjährigen Zeitsprünge folgen kann, zumal sich die Charakterisierung der handlungsrelevanten Figuren eher auf ihre Begierden reduziert. Wurde dem Autor bei „Die Schönheitslinie“ immer mal wieder noch Pornographie vorgeworfen, hält sich Hollinghurst bei der Beschreibung sexueller Begegnungen zwar nicht zurück, doch bleibt dem Leser dabei so viel der Phantasie überlassen, dass sich die Szenen ganz harmonisch in den Kontext aus gesellschaftlichen Umgangsformen und der Auseinandersetzung mit Portraitmalerei und Literatur einfügt. Bei aller Brillanz im Stil und der guten Beobachtungsgabe gesellschaftlichen Wandels weist „Die Sparsholt-Affäre“ aber gerade nach dem ersten Teil immer wieder Längen auf, die nicht immer durch die komplexe Sprachkomposition aufgefangen werden.
Leseprobe Alan Hollinghurst - "Die Sparsholt-Affäre"

Antoine Laurain – „Ein Tropfen vom Glück“

Montag, 18. März 2019

(Atlantik, 254 S., HC)
Als der Amerikaner Bob Brown vor dreißig Jahren noch einfacher Mechaniker war und die damals dreiundzwanzigjährige Goldie Delphy in einer Bar kennenlernte, war es ihr gemeinsamer Traum, einmal in ihrem Leben nach Paris zu reisen, doch dann machte Bob Karriere bei Harley Davidson, zwei Kinder kamen zur Welt, und ihre Reisen führten sie nie über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus. Und nun war Goldie unheilbar an Leukämie erkrankt und seit zwei Monaten in einem tiefen Koma, aus dem sie wahrscheinlich nicht wieder aufwachen würde.
Also unternimmt Bob die längst geplante Reise allein und landet in der Ferienwohnung einer kleinen Hausgemeinschaft am Montmartre. Dort überrascht der kleinkarierte Hausvorsteher Hubert zwei jugendliche Einbrecher, worauf die aufgeregte Gemeinschaft zur Beruhigung erst einmal ein edles Tröpfchen zu sich nehmen muss. Das sind neben Hubert und Bob die Restauratorin Magalie (die wegen ihres Gothic-Looks wie die bekannte Darstellerin aus „Navy CIS“ aussieht und deshalb nur Abby genannt wird) und der unsterblich in sie verliebte Barmann Julien, der sich gerade erst eine Eigentumswohnung dort gekauft hat. Interessanterweise handelt es sich bei dem Wein um eine Flasche vom Weinberg Saint-Antoine stammende Cuvée aus dem Jahr 1954, jenem Jahr, an dem ein UFO über den Weinbergen gesichtet wurde.
Und so landet die situationsbedingt zusammengewürfelte Trinkgemeinschaft plötzlich im Jahr 1954, wo sie sich völlig neu orientieren müssen, aber auch hier, in einer anderen Zeit, tiefe Gefühle für sich entdecken …
„Sie standen einander in der Stille der Nacht gegenüber, mit diesem Schwindelgefühl, das dem ersten Kuss vorangeht. Man weiß, dass er stattfinden und die Liebe, die keine Worte braucht, besiegeln wird. Es ist unausweichlich, nur noch eine Frage von Sekunden. Etwas kaum Merkliches wird das Signal geben – eine Bewegung, ein Wimpernschlag, ein plötzliches Aufleuchten der Pupillen.“ (S. 194) 
Der in Paris lebende Drehbuchautor und Buchhändler Antoine Laurain („Liebe mit zwei Unbekannten“, „Der Hut des Präsidenten“) versteht es auch mit seinem neuen Roman, einem wieder recht schmalen Bändchen von gerade mal 250 Seiten, seinen Lesern die Stadt der Liebe in ebenso poetischer wie fantasievoller Weise nahezubringen. In „Ein Tropfen vom Glück“ bringt er vier ganz unterschiedliche Charaktere zu einem geselligen Abend zusammen, der außergewöhnliche Folgen nach sich zieht, nämlich eine Zeitreise ins Jahr 1954, wohin auch übrigens Juliens Urgroßvater reist, der 1978 von dem 54er Jahrgang getrunken hatte. Das bringt natürlich einige Komplikationen mit sich, aber auch wunderbare, unverhoffte Begegnungen mit Prominenten wie Jean Gabin, Édith Piaf und Audrey Hepburn, vor allem aber berauschende Gefühle, die sich vor den charmanten Kulissen der französischen Metropole ganz besonders entfalten können. Bei all den Herausforderungen, die so eine Zeitreise mit sich bringt, und den zwischenmenschlichen Leidenschaften, kommen die Charakterisierungen der einzelnen Figuren etwas kurz, so dass sich der Leser vor allem an den poetischen Schilderungen der nostalgischen Eindrücke und der emotionalen Turbulenzen erfreut.

John Grisham – „Das Bekenntnis“

Samstag, 16. März 2019

(Heyne, 592 S., HC)
Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg setzt der in Clanton, Mississippi, lebende Baumwollfarmer Pete Banning eines Morgens im Oktober 1946 einen folgenschweren Plan um, der ihm selbst eine traurige Berühmtheit einbringen und seiner alteingesessenen Familie eine schwere Bürde auferlegen würde. Doch nachdem der 43-Jährige lange an die Zimmerdecke gestarrt und wie viele Male zuvor überlegt hatte, ob er den Mut aufbringen würde, zieht er sich langsam an, brüht Kaffee auf und macht seine Kniebeugen, die seine im Krieg zerschossenen Beine mit Schmerzen durchziehen.
Mit dem Kaffee in der Hand blickt er von der Veranda seines Hauses über die Ländereien, die seit Jahrhunderten im Besitz der Bannings sind. Er denkt an seinen Sohn Joel, der in diesem Semester noch seinen Abschluss in Jura an der Vanderbilt University in Nashville machen würde, und an seine Tochter Stella, die seit einem Jahr das Hollins College in Virginia besucht und Lehrerin werden will. Er besucht seine fünf Jahre ältere Schwester Florry, die als geschiedene Frau in der benachbarten Parzelle der Besitztümer lebt und ihre Farm durch Pete bewirtschaften lässt. Dann steigt er in seinen brandneuen Ford Pick-up und fährt nach Clanton zur Methodistenkirche, wo er das Arbeitszimmer von Reverend Dexter Bell betritt und ihn mit seinem langläufigen Revolver erschießt.
Der schwarze Angestellte Hop benachrichtigt Sheriff Nix Gridley, der Pete auf seiner Farm festnimmt und nach Clanton ins Gefängnis überfährt. Doch weder gegenüber dem Sheriff noch seinem Anwalt erzählt Pete etwas über seine Beweggründe. Der Prozess vor dem Geschworenengericht scheint nur eine Formsache zu sein, und Pete Banning, der auf den Philippinen gegen die Japaner jeden Tag um sein Leben gekämpft hatte, gibt seinem Verteidiger nicht die geringste Möglichkeit, die von Staatsanwalt Dunlap geforderte Todesstrafe in eine lebenslange Haftstrafe runterzuhandeln …
„Die Geschworenen, die alle bestenfalls aus der Mittelschicht stammten, wussten schon, was Sache war. Reicher Farmer ermordet armen Prediger. Das Thema war von Anfang der Verhandlung an vorgegeben und würde den Geschworenen bis zu deren Ende nicht aus dem Kopf gehen.“ (S. 464) 
Mit seinem neuen Roman „Das Bekenntnis“ scheint Bestseller-Autor John Grisham („Die Firma“, „Die Akte“) auf für den Leser sehr vertrautem Terrain zu wandeln. Doch der Prozess, bei dem der Angeklagte einfach nicht mit der Sprache über seine Beweggründe herausrückt und auch keine Entlastungszeugen aussagen, nimmt nicht mal die Hälfte des Romans ein. Auf gewohnt souveräne Art beschreibt Grisham einen Gerichtsprozess, der im ländlichen Mississippi seinen gewohnten Gang geht und der bis zum Ende ohne jede Überraschung auskommt.
Doch dann schlägt Grisham ein ganz neues Kapitel auf, nämlich wie Pete Banning im Jahr 1925 im Peabody Hotel in Memphis bei einer Abendveranstaltung Liza Sweeney kennenlernte, die er wenig später heiraten sollte, als sie mit Joel schwanger wurde. Doch dann wurde Banning mit dem 26. Kavallerieregiment auf die philippinische Halbinsel Bataan beordert, wo er in japanische Gefangenschaft geriet und nicht mehr nach Hause schreiben konnte, so dass Liza ihren Mann irgendwann für tot halten musste.
Doch so interessant die eindringlichen Schilderungen der Kämpfe, Folterungen, Entbehrungen, Verletzungen und Krankheiten auch sind, tragen sie nicht im Geringsten dazu bei, Bannings kaltblütig geplanten und ausgeführten Mord an dem Methodistenprediger zu erklären. Erst im letzten Viertel, als vor allem Joel als angehender Jurist zusammen mit seiner Schwester darum kämpfen muss, dass die Witwe des Predigers mit ihrem neuen Lebensgefährten im Zivilprozess nicht das gesamte Familienvermögen verliert, wird der eingangs nur kurz thematisierte Verdacht, dass der Ermordete während Bannings Abwesenheit eine Affäre mit seiner Frau unterhielt, etwas aufgearbeitet, aber im Zentrum dieses Kapitels stehen eher die Auswirkungen, die Pete Bannings Tat auf die zurückgebliebene Familie nach sich zieht.
Dabei kommen auch die Rassenunterschiede zur Sprache, die ihren Teil zu dem gesellschaftlichen Umgang mit Tätern und Opfern beitragen, aber auch wenn Grisham am Ende noch die obligatorische Überraschung bei der Auflösung des Mordfalls präsentiert und sich als glänzender Erzähler präsentiert, der mit seiner geradlinigen, ungekünstelten Sprache den Leser wie magisch in den Bann zu schlagen versteht, wird die ungewöhnliche Struktur dem Roman letztlich zum Verhängnis, da der sehr lang geratene Teil über Bannings Erlebnisse im Krieg überhaupt keine Verbindung zum übrigen Geschehen herstellen kann.
Leseprobe John Grisham - "Das Bekenntnis"

Don Winslow – (Art Keller: 3) „Jahre des Jägers“

Sonntag, 10. März 2019

(Droemer, 992 S., HC)
Seit Art(uro) Keller Mitte der 1970er Jahre als junger DEA-Agent in einer Außenstelle im mexikanischen Sinaloa eingesetzt wurde und beobachten musste, wie Miguel Ángel Barrera mit der Federación das erste echte Drogenkartell gründete, hat er sich ganz dem mexikanisch-amerikanischen Drogenkrieg verschrieben. Bislang hat der Kampf gegen das Krebsgeschwür aber nur dafür gesorgt, dass es Metastasen bildete. In den vergangenen vierzig Jahren musste Keller nicht nur miterleben, wie sein Partner Ernesto Hidalgo von den Barreras, Rafael Caro und weiteren Beteiligten zu Tode gefoltert wurde, sondern viele weitere Verluste hinnehmen. Keller setzte alles daran, die Verantwortlichen der Gerechtigkeit zuzuführen.
Nachdem er sowohl Barrera als auch die Zetas zu Fall gebracht hat, wird er zum Direktor der DEA ernannt und kann doch nicht verhindern, dass immer neue Allianzen unter den mexikanischen Kartellen entstehen, neue Drogen über die Grenze in die USA geschmuggelt werden und sich die Zahl der Drogentoten vervielfacht hat. Doch schon bei seiner Amtsübernahme wackelt Kellers Stuhl, denn Obamas Tage als Präsident sind gezählt, mit dem republikanischen Immobilienmagnaten und Reality-TV-Star John Dennison bekommt Keller kräftigen Gegenwind.
Durch den Undercover-Einsatz von NYPD-Detective Bobby Cirello versucht Keller, dem Geldfluss in Mexiko nachzuspüren und stößt auf einen Immobiliendeal, in den auch Dennisons Schwiegersohn Jason Lerner verwickelt ist, der keine Hemmungen hat, das millionenschwere Park-Tower-Projekt mit Drogengeldern zu finanzieren. Während in Mexiko das von Tito Ascención geführte Nuevo-Jalisco-Kartell und das Sinaloa-Kartell von Ricardo Nuñez um die Vorherrschaft auf dem Drogenmarkt kämpfen, proklamiert Präsidentschaftskandidat Dennison, mit dem Bau einer Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko den Strom der Drogen und illegalen Einwanderer in die USA eindämmen zu wollen. Und Sean Callan, ehemaliger Auftragskiller im Dienst von Adán Berrara, geht wieder auf die Jagd.
„Aber es nicht so einfach, einen Kartellboss zu ermorden. Callan weiß, dass er zum Kopf des Unternehmens nur vordringt, wenn er sich zunächst dem Unterbau nähert. Du musst ackern, dich hocharbeiten, die Basis aushöhlen, schwächen, die Profite schmälern, die Mitarbeiter überzeugen, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt haben, und die Verlierer ihre Wettschulden nicht mit Geld, sondern mit Blut begleichen.“ (S. 739) 
Nach „Tage der Toten“ und „Das Kartell“ präsentiert Bestseller-Autor mit dem knapp 1000-seitigen Epos „Jahre des Jägers“ den fulminanten Abschluss seiner Trilogie um den DEA-Agenten Art Keller, der nun an die Spitze seiner Behörde gerückt ist und mit Hugo Hidalgo selbst den engagierten Sohn seines ermordeten Partners in den Krieg gegen Drogen und Korruption hineinzieht. Winslow führt unzählige Personen (die er einem umfangreichen Verzeichnis im Anhang vorstellt) in diesen komplex ineinander verwobenen Plot ein, um die Dimensionen des Krieges aus der Perspektive von Kartellbossen, Drogenkurieren, Auftragskillern, Bandenmitgliedern und Konsumenten aufzuzeigen. Die ständigen Orts- und Perspektivenwechsel machen die Lektüre zwar nicht gerade leicht, unterstreichen aber Winslows ehrenwerten Anspruch, die vielfältigen Tragödien des Drogenkrieges in ihren ganzen bedrohlichen, gewalttätigen Facetten aufzuzeigen.
Besonders brutal wirken dabei vor allem die Schilderungen all der Folterungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen zwischen den einzelnen Kartellen in Mexiko, aber beispielsweise auch die Erlebnisse des zehnjährigen Nico Ramirez, der der Müllhalde in Guatemala City entkommen will und mit seiner Freundin Delmy mit dem Zug „La Bestia“ zu seinen Verwandten nach New York zu gelangen versucht.
Doch Winslow blickt mit „Jahre des Jägers“ auch hinter die politischen Kulissen und zerpflückt nicht nur genüsslich die Argumentation von US-Präsident Donald Trump (der unschwer das Vorbild für die Figur von John Dennison abgibt) für den Bau der Grenzmauer, sondern bringt auch noch eine Korruptionsaffäre ins Spiel, bei der Drogengelder eines von Dennisons Immobilienprojekten finanzieren sollen. Auch wenn „Jahre des Jägers“ teilweise etwas sehr weitschweifig ausgefallen ist, ist Art Kellers letzter und wichtigster Kampf im Krieg gegen die Drogen und Korruption packend geschrieben und geht in der Beschreibung und Analyse der Ereignisse tiefer als beispielsweise so populäre Fernsehserien wie „Narcos“ und „El Chapo“.
Leseprobe Don Winslow - "Jahre des Jägers"

Joey Goebel – „Irgendwann wird es gut“

(Diogenes, 314 S., HC)
Der fünfundzwanzigjährige Anthony Dent arbeitet im Lager eines Baumarkts in Moberly, Kentucky, und hat bislang – auch wegen seines Stotterns - noch kein Glück bei den Frauen gehabt, aber das Objekt seiner Begierde in der attraktiven Fernsehmoderatorin Olivia Abbott von Channel Seven gefunden. Jeden Abend „verabredet“ er sich um Punkt 18 Uhr mit ihr am Fernsehbildschirm, schenkt zwei Whiskeys für sie beide ein und „unterhält“ sich mit ihr nach seinem eigenen Drehbuch. Eines Abends wagt er es, seine Angebetete nach den Zehn-Uhr-Nachrichten, auf dem Parkplatz des Studios abzupassen – und stößt dort mit Carlisle auf einen erbitterten Konkurrenten um die Olivia Abbotts Gunst. Doch die beiden Olivia-Verehrer legen ihren Konkurrenzkampf bei und tauschen sich über Olivias Gewohnheiten und Leben aus, wobei Anthony auch erfährt, dass seine Traumfrau regelmäßig zur Entspannung in eine Karaoke-Bar geht, wo er sie vor den Toiletten anspricht. Erstaunlicherweise lässt sich Olivia von Anthony zu einem Drink einladen …
Mit „Unsere Olivia“ beginnt der in Henderson, Kentucky, geborene und immer noch lebende Schriftsteller Joey Goebel eine Sammlung von Geschichten, die allesamt im fiktiven, aber seiner Heimatstadt Henderson nachempfundenen Kleinstadt Moberly im Fly-over-Staat Kentucky angesiedelt sind und einzelne Figuren – wie die Fernsehmoderatorin Olivia Abbott, der Radio-DJ Tug oder der Videoverleih-Angestellte Matt – gelegentlich auch in anderen Storys auftauchen, die sich als Ganzes wie ein Episoden-Roman lesen.
In „Es wird alles schlecht werden“ wird die Lebensgeschichte der verwitweten Elena Bockelmann und ihres mit im Haus lebenden Sohnes Paul erzählt, der nach seinem Abschluss an der Uni von Kentucky seinen Lebensunterhalt als Jazzpianist verdienen wollte, durch den Tod seines Vaters bei einem Autounfall aber seine Mutter nicht verlassen konnte. Während Elena in Rente ging, bekam Paul nur einen Job als Hotelrezeptionist in der Nachtschicht des Ramada Inn am Highway 71, wo er aber immerhin die Sängerin Pam kennenlernte, mit der er vier Jahre verheiratet war. Doch sein nächstes Date mit Jillian entwickelt sich im Beisein von Pauls Mutter zum Desaster.
In „Sei nicht dumm“ bietet Stephanie, Englisch-Dozentin am College, in einem ihrer Kurse ihren Schülern an, dass sie sie jederzeit anrufen können, wenn sie auf einer Party gewesen sind und Alkohol getrunken haben, damit sie sie nach Hause fährt. Der achtzehnjährige Nick Clines nimmt dieses Angebot an und bekommt wegen ihres Mannes Dan zunehmend ein schlechtes Gewissen, je besser sie sich mit Nick versteht.
Dan wiederum ist der Protagonist in „Die Moral von Nerds“. Als Angestellter in einem Secondhand-Laden der Heilsarmee ist er irgendwann so von der musikalischen Berieselung und dem selbstgefälligen Gequatsche von Radio-DJ Tug genervt, dass er im Büro seiner Chefin ätzende Mails an den Moderator versendet. In „Antikmarktmädchen“ trifft sich die zehnjährige Außenseiterin Carly mit Mr. Baynham, der in Hollywood Farbberater bei Filmen mit Doris Day, James Stewart, Henry Fonda und James Dean gewesen war und dem ungewöhnlichen Mädchen regelmäßig in einem Restaurant von seinen Erfahrungen in Hollywood erzählt.
Goebel erweist sich einmal mehr als stilsicherer Chronist des gewöhnlichen Kleinstadtlebens und beschreibt in den zehn Geschichten die oft nicht verwirklichten Träume und ganz gewöhnliche Sehnsüchte nach Liebe und Anerkennung seiner Figuren.
„Wenn ich es recht bedenke, verkörpern diese Figuren entweder Aspekte von mir, die ich gern verbergen möchte, oder Aspekte von mir, die mir im Laufe der Jahre abhandengekommen sind und die ich gern zurückhaben würde“, erzählt Goebel im abschließenden exklusiven Interview, das der deutsche Diogenes-Autor Benedict Wells („Die Wahrheit über das Lügen“) mit dem Amerikaner geführt hat.
Weil die Figuren aus dem Inneren des Autors zu kommen scheinen, wirken die zerbrechlichen, von verschiedenen Tragödien und Rückschlägen gezeichneten Protagonisten in Goebels Moberly so authentisch und lassen bei aller Melancholie doch noch Hoffnung aufkeimen, dass am Ende doch, wenn nicht alles, so doch einiges gut wird.
Leseprobe Joey Goebel - "Irgendwann wird es gut"

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 3) „Alles, was heilig ist“

Dienstag, 5. März 2019

(Diogenes, 425 S., Pb.)
Nach ihrem letzten Fall, bei dem unter anderem Angies Ex-Mann Phil ums Leben kam, haben Patrick Kenzie und seine Partnerin Angie Gennaro ihre Detektei geschlossen und würden bald auf dem Trockenen sitzen. Doch gerade als ihr Handyman Bubba Rogowski eine einjährige Haftstrafe antreten muss, werden sie durch den schwerkranken Milliardär Trevor Stone entführt und mit einem Startkapital von 50.000 Dollar ausgestattet, um sich auf die Suche nach seiner Tochter Desiree zu machen.
Seit ihrer Mutter bei einem missglückten Carjacking-Manöver ums Leben kam, das Trevor knapp überlebt hat, ist sie spurlos verschwunden. Selbst Patricks alter Mentor bei Hamlyn & Kohl, Jay Becker, hat Desiree nicht finden können und wird nun selbst vermisst. Mittlerweile hat Hamlyn & Kohl ihren Mandanten fallengelassen, weshalb Kenzie & Gennaro auf einmal wieder im Geschäft sind. Als sie sich Jays Berichte zu seiner Suche vornehmen, stoßen sie auf die mysteriöse Organisation „Trauer & Trost“, bei der jedoch nicht nur Hilfestellung zur Trauerbewältigung geleistet wird, sondern auch Rekrutierungsarbeit für die sektenähnliche Kirche der Wahrheit und Offenbarung.
Als sich Patrick in diese Organisation als Hilfesuchender einschleust, werden ihm und Angie zunehmend bewusst, dass ihr Auftraggeber mit falschen Karten spielt. Und je tiefer sich die beiden Detektive in den Fall hineinarbeiten, umso mehr werden sie mit Lügen, Mord und raffinierten Täuschungsmanövern konfrontiert, bis sie überhaupt niemanden mehr glauben können …
„Vielleicht hatte Everett Hamlyn recht gehabt. Vielleicht war die Ehre kurz davor auszusterben. Vielleicht war es mit ihr schon immer bergab gegangen. Oder, noch schlimmer, sie war sowieso nur eine Illusion.
Alle sind verdächtig. Alle sind verdächtig. So langsam wurde das zu meinem Mantra.“ (S. 248) 
Bevor Dennis Lehane mit seinen verfilmten Romanen „Mystic River“ und „Shutter Island“ zu einem internationalen Bestseller-Autor avancierte und noch die Vorlagen zu den Filmen „Live by Night“ und „The Drop – Bargeld“ und Drehbücher zu den preisgekrönten Fernsehserien „The Wire“, „Boardwalk Empire“ und „Mr. Mercedes“ schrieb, hatte er Mitte der 1990er Jahre mit einer Reihe um die beiden Detektive Kenzie & Gennaro seine ersten Erfolge feiern können. Nachdem Diogenes bereits die ersten beiden Bände mit neuen Titeln („Ein letzter Drink“ und „Dunkelheit, nimm meine Hand“) und in neuer Übersetzung veröffentlichte, erscheint nun in ebenfalls überarbeiteter Fassung mit „Alles, was heilig ist“ der dritte von insgesamt sechs Bänden.
Es ist eine wunderschön verschachtelte, komplexe Detektivgeschichte, bei der sich die beiden sympathischen Protagonisten in einer geschickt konstruierten Lügenwelt zurechtfinden und letztlich abwägen müssen, wem sie überhaupt noch Glauben schenken können. Der Plot ist raffiniert konstruiert, die Ermittlungsarbeit von Kenzie & Gennaro mit humorvollen Dialogen und nicht zuletzt amourösen Episoden garniert, denn nach siebzehn Jahren finden die beiden Detektive auch im Bett wieder zueinander. Wortwitz, Tempo und Spannung halten sich in „Alles, was heilig ist“ auf gleichbleibend hohem Niveau, so dass sich das Warten auf die drei noch verbleibenden Abenteuer von Kenzie & Gennaro auf jeden Fall lohnt.
Leseprobe Dennis Lehane - "Alles, was heilig ist"

Ray Bradbury – „Der Tod ist ein einsames Geschäft“

Freitag, 1. März 2019

(Diogenes, 320 S., Tb.)
Während im Jahr 1949 in der kalifornischen Kleinstadt Venice das große Vergnügungsviertel abgerissen wird, findet ein siebenundzwanzigjähriger Schriftsteller im Kanal die Leiche eines Mannes. Später erinnert sich der Autor, der mit seinen gelegentlich verkauften Kurzgeschichten gerade so über die Runden kommt, dass der Tote zu den netten alten Männern gehörte, die immer in dem Fahrkartenladen am Bahnhof für die Vorortzüge sitzen.
Der Kriminalkommissar Elmo Crumley übernimmt die Ermittlungen und hat es bald mit weiteren mysteriösen Todesfällen zu tun, hier eine alte Dame, die einst Kanarienvögel zu verkaufen hatte, dort die umfangreiche Diva Fannie Florianna. Der Schriftsteller fühlt sich nun inspiriert, seinen vor drei Monaten begonnenen Roman in Angriff zu nehmen. Er nennt ihn nach einem flüsternden Stöhnen, das er im Zug in der Nacht gehört hatte, als er die Leiche fand, „Der Tod ist ein einsames Geschäft“. Der Schriftsteller beginnt ein Muster bei der Auswahl der Opfer beim Täter zu erkennen und erstellt eine Liste mit weiteren potentiellen Opfern. Der Kommissar, in dem auch ein verhinderter Schriftsteller steckt, mag den Ahnungen des jungen Mannes nicht so recht trauen, doch dann werden weitere Namen auf der Liste tot aufgefunden …
„Manche Menschen werden fünfunddreißig, vierzig Jahre alt, aber weil niemand je von ihnen Notiz nimmt, brennt ihr Leben so schnell ab wie eine Kerze, ist es winzig, praktisch unsichtbar.
Dieses Mietshaus beherbergte eine ganze Reihe solcher überhaupt nicht oder kaum sichtbarer Menschen, Menschen, die hier lebten, und die eigentlich doch nicht lebten.“ (S. 143) 
Mit seinem 1985 (und zwei Jahre später auch hierzulande) veröffentlichten Roman „Der Tod ist ein einsames Geschäft“ verbeugt sich der amerikanische Autor Ray Bradbury (1920-2012) vor den „Hardboiled“-Krimiautoren Raymond Chandler, Dashiell Hammett, James M. Cain und Ross McDonald, mischt seine eigenwillige Kriminalgeschichte aber mit der Nostalgie der goldenen Jahre in Hollywood und den düsteren Stimmungen von Edgar Allan Poe, den der Ich-Erzähler immer wieder auch namentlich erwähnt.
Die Jagd nach dem Mörder gerät hier allerdings fast zur Nebensache. Weitaus lesenswerter sind die beeindruckend poetischen, einfühlsamen und irgendwie sonderbar melancholischen Stimmungen, die der Schriftsteller nicht nur wegen der räumlichen Trennung von seiner geliebten Peg empfindet, die in beruflicher Mission gerade in Mexiko unterwegs ist, sondern auch angesichts der beunruhigenden Serie von Todesfällen, bei dessen Opfern keine äußerliche Gewalt anzusehen ist.
Zwar wird das „Whodunit“-Rätsel am Ende wie in den klassischen Hardboiled-Krimis ebenfalls gelöst, doch Bradbury sind die emotionalen Auswirkungen der Ereignisse auf die Protagonisten viel wichtiger als die Kriminalfälle und deren Auflösung. Bradbury geht es eher um die Beschreibung von Verfall und Zerrüttung, beginnend mit dem Abriss des Vergnügungsviertels, dann der Thematisierung von Hollywoods Niedergang und der pessimistischen Lebenseinstellung der Figuren, die Crumley und seinem Hobby-Detektiv-Gefährten so über den Weg laufen. Liebhaber klassischer Hardboiled-Detektivromane werden hier nicht unbedingt auf ihre Kosten kommen, weil Bradbury einer eher gefühlsmäßigen Logik folgt und ihm ohnehin mehr an der Schilderung von Seelenlandschaften und feinsinnigen Empfindungen gelegen ist. Das ist ihm so gut gelungen, dass er fünf Jahre später mit „Friedhof für Verrückte“ noch eine Fortsetzung folgen ließ.

Wallace Stroby – (Crissa Stone: 4) „Der Teufel will mehr“

Samstag, 23. Februar 2019

(Pendragon, 316 S., Pb.)
Nach einem Jahr Pause juckt es der Berufsverbrecherin Crissa Stone in den Fingern. Durch ihren Vermittler Sladden in Kansas City erhält sie das Angebot, für den Kunstsammler Emile Cota einen LKW voll geplündeter Skulpturen aus dem Irak zu entführen, damit er diese an einen Interessenten verkaufen kann, bevor sie von Long Beach aus die längst organisierte Rückführung in den Irak antreten. Während Cotas rechte Hand Randall Hicks mit einigen seiner ehemaligen Kameraden bei den Marines für die Beschaffung der Waffen zuständig sind, soll sich Crissa um die Logistik kümmern.
Bevor Crissa sich entscheidet, besucht sie ihren 18 Jahre älteren Freund Wayne, der sie einst aus dem Kleinkriminellen-Milieu herausgeholt und in die richtige Richtung gebracht hat und nun in Texas eine 15-jährige Gefängnisstrafe wegen bewaffneten Raubs und krimineller Vereinigung absitzt. Bevor sie einen Job annimmt, holt sie sich regelmäßig das Okay von ihm, aber diesmal ist die Entscheidung schon vorher gefallen, was ihm Sorgen bereitet.
Crissa heuert sie ihren alten Kumpel Chance als Fahrer sowie die beiden Iren McBride und Keegan an, die Planung des Überfalls nimmt immer konkretere Formen an. Doch vor Ort ziehen Hicks und vor allem sein hitzköpfiger Kumpel Sandoval auf einmal ihr eigenes Ding durch und wollen möglichst wenige Zeugen und Teilhaber an der Beute zurücklassen …
„Sie sah zu Hicks, fragte sich, wie viel er ihm erzählt hatte. Er schaute geradeaus. Sie wollte hier raus, weit weg von den beiden. Und ihr wurde jetzt klar, wie dumm sie gewesen war. Sie hatte geglaubt, alles im Griff zu haben, jedes Detail, alles unter Kontrolle. Dann war alles vor ihren Augen aus den Fugen geraten.“ (S. 190) 
Bereits zum vierten (und vielleicht letzten?) Mal lässt der ehemalige Polizeireporter, Buch- und Filmkritiker Wallace Stroby seine ungewöhnliche Heldin Crissa Stone einen abenteuerlichen Coup aushecken. Nachdem sie schon eine illegale Pokerrunde geplündert, eine Lufthansa-Maschine ausgeräumt und einen Drogenboss um seine Beute gebracht hatte, lässt sie sich in „Der Teufel will mehr“ auf einen dubiosen Kunstsammler und seinen habgierigen Handlanger Hicks ein, mit dem sie sogar ihr Bett für eine Nacht teilt. Dass er und Sandoval aber auf eigene Rechnung den Coup abschließen wollen, überrascht die sonst übervorsichtige Crissa dann doch.
Stroby gelingt es wie in seinen drei vorangegangenen Crissa-Stone-Thrillern einmal mehr, ohne große Einführung schnell zur Sache zu kommen, Crissa und ihren Auftraggeber an einen Tisch zu bringen und die Einzelheiten akribisch zu planen. Dabei hält sich der Autor nicht mit feinen Charakterisierungen auf, sondern treibt den Plot vor allem durch authentisch wirkende, knackige Dialoge und entsprechende Action voran. Dass der Überfall auf den LKW nicht so läuft wie geplant, leitet die obligatorische Wende ein und damit den eigentlichen spannenden Teil, denn natürlich steuert das Drama auf ein Duell zwischen Hicks und Stone zu.
Alles in allem bietet „Der Teufel will mehr“ rasante Thriller-Kost mit einer sympathischen Protagonistin, die man trotz ihrer verbrecherischen Ader ins Herz schließt, weil sie sich um ihre Leute kümmert, um den inhaftierten Lover Wayne ebenso wie um ihre Mitstreiter, die sie ebenso wie sich selbst in den Schlamassel hineinmanövriert hat. Die Handlung verläuft bis zum Schluss in absolut vorhersehbaren Bahnen, dafür entschädigen die pointierten Dialoge und die lebendig geschilderte Action.

Stewart O’Nan – „Stadt der Geheimnisse“

Donnerstag, 21. Februar 2019

(Rowohlt, 220 S., HC)
Nicht nur seine Frau Katja und seine kleine Schwester Giggi, die gesamte Familie des lettischen Juden Brand ist im Holocaust umgekommen. Er selbst hatte Glück, war jung und konnte Motoren reparieren, hat die Internierung durch die Deutschen und Russen überlebt und landete Mitte der 1940er Jahre mit einem maltesischen Frachter in Palästina, wo er vom Untergrund aufgenommen, mit einem Taxi und neuen Papieren ausgestattet worden ist. In Jerusalem kutschiert er Touristen und führt sie zu den Sehenswürdigkeiten, dient aber auch der zionistischen Gruppe Hagana mit ihrer Untergrund-Armee Irgun im Kampf gegen die britische Mandatsregierung von Palästina für einen unabhängigen jüdischen Staat Israel.
Da die Tommys den meisten Holocaust-Überlebenden die Zuflucht verweigert, wehrt sich der zionistische Untergrund mit Sprengstoffanschlägen, für die Jossi in seinem Peugeot mit doppelbödigem Kofferraum die Waffen und Sprengstoffe schmuggelt. Dabei wird Jossi immer mehr gegen seinen Willen in einen neuen Krieg hineingezogen. Während er von Asher seine Instruktionen erhält, um einen Zug zu überfallen und dabei die Löhne der britischen Soldaten zu erbeuten, spioniert seine als Prostituierte arbeitende Freundin Eva im King David Hotel die Gäste aus. Dort findet Jossis Leben eine entscheidende Wendung.
„Die Lager hatten einen egoistischen, argwöhnischen Menschen aus ihm gemacht. Dass jetzt jemand Gutes über ihn dachte, war ihm unangenehm, weil er die Wahrheit kannte. Er war nach Jerusalem gekommen, um sich zu ändern, sich zu bessern. Als sei es ein Grund zur Hoffnung, dass Eva ihm ihr Kopftuch gab, dass Asher seinen Arm drückte. Nachdem er so lange ein Tier gewesen war, glaubte er nicht, je wieder ein Mensch sein zu können, doch wenn sie an ihn glaubten, war es vielleicht möglich.“ (S. 114) 
Es ist immer wieder erstaunlich, was für eine breite Palette an Sujets der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan in seinen Romanen entwickelt. Während er in „Der Zirkusbrand“ das historische Feuer thematisierte, bei dem 1944 in O’Nans Heimatstadt Pittsburgh 167 Menschen ums Leben kamen, wandelte er in der Geistergeschichte „Halloween“ und in dem Roman „Speed Queen“ auf den Pfaden seines Freundes Stephen King, erzählte in „Die letzte Nacht“ von der Schließung eines kleinen Restaurants und in „Eine gute Ehefrau“ von einer schwangeren jungen Frau, die sich an ein neues Leben gewöhnen muss, als ihr Mann wegen eines Einbruchs mit Todesfolge ins Gefängnis muss. Nach dem epischen Generationenportrait „Der Abschied von Chautauqua“ und der Liebesgeschichten von F. Scott und Zelda Fitzgerald in „Westlich des Sunset“ arbeitet O’Nan in „Stadt der Geheimnisse“ den Bombenanschlag auf das King David Hotel vom 22. Juli 1946 in Jerusalem auf. Im Mittelpunkt des kurzen Romans steht der lettische Holocaust-Überlebende Jossi Brand, der auch in seiner neuen Wahlheimat nicht zur Ruhe kommt.
Immer wieder wird er von den Erinnerungen an seine getötete Frau Katja und den Verrat an seinen Mithäftlingen heimgesucht. Seine Mission, ein besserer Mensch zu werden, droht in den Attentaten, an denen er in dem zionistischen Untergrund mitwirkt, kläglich zu scheitern.
O’Nan überzeugt vor allem in der Schilderung der gesellschaftspolitischen Lage im Jerusalem der Nachkriegszeit und in der Charakterisierung seines Protagonisten. Die Qual der Erinnerungen, die verzweifelte Suche nach moralischer Integrität, die unerfüllte Sehnsucht nach Liebe werden so einfühlsam geschildert, dass Brand dem Leser durchaus ans Herz wächst. Auf der anderen Seite bleiben Brands Weggefährten, selbst seine Freundin Eva ungewöhnlich blass und konturlos. „Stadt der Geheimnisse“ gefällt als politischer Thriller, dem allerdings mehr an atmosphärischer Stimmigkeit als an Spannung gelegen ist, weshalb der Roman einen recht zwiespältigen Eindruck hinterlässt.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Stadt der Geheimnisse"

James Sallis – „Willnot“

Montag, 18. Februar 2019

(Liebeskind, 224 S., HC)
In der amerikanischen Kleinstadt Willnot stößt der Jäger Tom Bale mit seinem Hund Mattie eines frühen Morgens auf eine Grube voller Leichen. Der örtliche Sheriff Hobbes und seine Leute werden ebenso zum Tatort gerufen wie die State Police und Lamar Hale, ein ortsansässiger Arzt, der nicht nur seine eigene Praxis hat, sondern auch im Krankenhaus arbeitet. Auffällig ist der Kalkgeruch, aber die Identität der Opfer ist ebenso unklar wie das Motiv für die grausame Tat.
Zurück in seiner Praxis erhält Hale Besuch von Brandon „Bobby“ Lowndes, der im Alter von sechzehn Jahren als Folge eines Jungenstreichs ins Koma gefallen und von Hale ein Jahr lang wieder aufgepeppelt worden war, bevor er der Stadt den Rücken kehrte und jetzt unangekündigt zurückgekehrt ist. Auch hier liegen die Gründe für den Arzt im Dunkeln, denn Freunde und Familie besitzt Bobby in der Stadt nicht, der sich nach eigener Auskunft auch nur auf der Durchreise befindet und Hallo sagen wollte.
Als sich aber die FBI-Agentin Theodora Odgen nach ihm erkundigt, überschlagen sich die Ereignisse in dem sonst so beschaulichen Ort. Bobby, der nach FBI-Informationen ein Elitekiller der Marines sei, der sich unerlaubt von der Truppe entfernt haben soll, wird selbst angeschossen, kann aber aus dem Krankenhaus fliehen, bevor er zu dem Vorfall befragt werden kann, doch scheint er immer wieder wie ein Gespenst mal hier, mal dort in der Stadt aufzutauchen und ebenso schnell wieder unterzutauchen.
„Menschen in Willnot neigen dazu, auf dem schmalen Rand von Landkarten zu verweilen, mehr als nur ein paar von ihnen starren dem Tiger ins Auge. Liegt etwas in ihrer Natur, das sie dorthin zieht, sie dort hält? Oder sickert das im Laufe der Zeit durch den Kontakt, die Beziehungen ein? Lass sie sich in einer geraden Linie aufstellen, und sie stehen schief da.“ (S. 77) 
James Sallis, der durch seine Romanreihe um den schwarzen Privatdetektiv Lew Griffin bekannt geworden ist und 2008 für seinen Roman „Driver“ mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet wurde, beginnt „Willnot“ zwar mit der Entdeckung eines Verbrechens, aber die darauf folgenden Ermittlungen nehmen dann nur noch einen rudimentären Teil des Plots ein. Vielmehr lässt der amerikanische Autor seinen Ich-Erzähler Lamar Hale, der mit dem zum Schulleiter beförderten Lehrer Richard liiert ist und zusammenlebt, über die Lebensumstände in Willnot philosophieren, wobei die Erinnerungen an seinen Vater eine wesentliche Rolle spielen, der als Schriftsteller vor allem im Science-Fiction-Genre erfolgreich gewesen ist.
Aus den erinnerten Zusammenkünften mit anderen Schriftstellern auf Kongressen und den phantastischen Geschichten, die Hale in all den Jahren gelesen hat, dringen immer wieder Erkenntnisse über die menschliche Natur, über Leben und Tod, über die Wege, die ein Leben einschlagen kann, durch. So erinnert sich Hale an einer Stelle an die Geschichte „Der Biograf“ über einen Mann, der Menschen aus ihrem Leben herausnimmt, ihren Platz einnimmt, Dinge tut, die sie selbst nie tun würden, um sie dann wieder in ihr Leben zurückzubringen, wo sie mit den neuen Erfahrungen, die sie geerbt haben, ihrem Leben eine ganz neue Richtung geben.
So geht es dem Leser bei „Willnot“ immer wieder. Durch die Querweise auf reale oder fiktive andere Romane aus dem Umfeld von Lamar Hales Vater durchziehen regelmäßig philosophische Betrachtungen die Handlung, die nur als Katalysator für weitere Gedankengänge zu dienen scheint. Sallis gelingt es, vor allem Lamar und Richard sorgfältig und einfühlsam zu charakterisieren und sie als Mittelpunkt der Geschichte zu etablieren. Dazu sorgen die lebendigen Dialoge, Hales tiefsinnige Betrachtungen und der ungewöhnliche Plot für ein Lesevergnügen der besonderen Art.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 9) „Nacht über dem Bayou“

Samstag, 16. Februar 2019

(Pendragon, 464 S., Pb.)
Nach dem Mord an dem berühmten schwarzen Bürgerrechtler Ely Dixon dauerte es ganze 28 Jahre, bis Aaron Crown von einem Geschworenengericht schuldig gesprochen wurde und im Angola seine 40-jährige Haftstrafe verbüßt, nachdem er die Tat nicht geleugnet hatte. Doch nun verlangt er über seinen Anwalt, Detective Dave „Streak“ Robicheaux zu sprechen, nachdem ein Filmteam die Geschichte aufgegriffen hat und ein Justizirrtum aufzudecken versucht.
Gouverneurs-Anwärter Buford LaRose und seine Frau Karyn, mit der der Detective mal eine kurze Affäre unterhielt, weist Robicheaux darauf hin, dass er sich nicht allzu sehr für Crowns Geschichte erwärmen sollte, aber eine frühere Begebenheit, die er in Zusammenhang mit Crown und dessen Tochter erlebt hatte, lässt den Cop tatsächlich daran zweifeln, dass Crown ein kaltblütiger Mörder sein soll. Es sieht so aus, als bekäme Robicheaux dafür einen Posten bei der State Police angeboten, so wie er das Gespräch mit dem Mafia-Killer Mingo Bloomberg deutet.
Tatsächlich interessiert sich nicht nur das Filmteam für die Geschichte. Zunächst wird der Dokumentarfilmer Dwayne Parsons im French Quarter im Beisein einer Prostituierten im French Quarter ermordet, dann bekommt Robicheaux gezwitschert, dass zwei Klanmitglieder für den Mord an Dixon verantwortlich gewesen sein könnten, wobei einer womöglich bei der Highway Patrol gewesen war. Als auch der Filmregisseur Lonnie Felton und Jerry Joe brutal getötet werden, steckt Dave Robicheaux schon mitten im Sumpf aus politischer Korruption und Mafia-Machenschaften. Nachdem Crown aus dem Gefängnis fliehen konnte, treiben sich mit ihm und Mookie Zerrang gleich zwei unberechenbare Killer im Iberia Parish herum, die mit ihren Aktivitäten immer mehr in Robicheaux‘ familiäres Umfeld vordringen. Doch davon lassen sich der Cop und sein alter Kumpel Clete Purcel nicht beeindrucken und setzen vor allem Buford LaRose immer stärker zu.
„Als Polizist findet man sich damit ab, dass man aller Wahrscheinlichkeit nach eines Tages in eine Situation gerät, in der man einer bestimmten Sorte Mensch nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügt. Sicher, sie sind für ihr Schicksal selbst verantwortlich, unbelehrbar trotz aller Vorhaltungen, Menschen, die im biblischen Sinn die Natter an ihrer Brust nähren. Dennoch führt kein Weg daran vorbei, dass man das ausführende Organ ist, dass man irgendwann in ihr Leben tritt wie einst der Scharfrichter auf dem Schafott und ihnen ein Los bereitet, das nicht gnädiger ist als jenes, für das im Mittelalter der Mann mit der Maske und dem Beil zuständig war.“ (S. 396) 
Wie in den meisten Romanen um den Vietnam-Veteranen, ehemaligen Cop beim New Orleans Police Department und trockenen Alkoholiker Dave Robicheaux taucht der zweifach mit dem Edgar Allan Poe Award ausgezeichnete James Lee Burke in „Nacht über dem Bayou“ wieder tief in das komplexe Geflecht aus mit Verbrechen überschatteten politischen Ambitionen und durchgeknallten Killern, die im Auftrag des Mobs auch im Iberia Parish ihren Geschäften nachgehen.
Von Beginn an macht der Ich-Erzähler Dave Robicheaux keinen Hehl daraus, was er von Buford LaRoses Vorgehen hält, der nächste Gouverneur von Louisiana zu werden, kann ihm aber nicht nachweisen, was LaRose konkret für Dreck am Stecken hat. Aber auch das Verhalten von Aaron Crown und dem schwarzen Riesen Mookie Zerrang, der eine Spur aus Toten hinterlässt, gibt Robicheaux Rätsel auf.
Burke erweist sich wieder als Meister der atmosphärisch dichten Beschreibung des Lebens, wie es sich im Frühherbst am Bayou zeigt, mit all dem Nebel über den Sümpfen, aus dem Wasser springenden Barschen und den überfluteten Zypressen, aber auch die lebendigen Dialoge und die familiären Szenen mit Robicheaux‘ Frau Bootsie, seiner fast erwachsenen Adoptivtochter Alafair und seinem Angestellten Batist unterstreichen die menschlichen Dimensionen in einem Roman, in dem es vor allem um die Aufklärung eines alten Verbrechens und das skrupellose Ausräumen von Hindernissen auf dem Weg zur Macht geht. Die Umstände, mit denen es Robicheaux hier zu tun hat, sind vertrackt genug, um die Spannung gleichbleibend hoch zu halten. Es ist zwar nicht der beste unter all den hochklassigen Romanen der Reihe, sorgt aber wie immer für ein kurzweiliges, sprachlich geschliffenes Krimivergnügen mit gut charakterisierten Figuren und einem gut durchdachten Plot.

Simon Beckett – (David Hunter: 6) „Die ewigen Toten“

Dienstag, 12. Februar 2019

(Wunderlich, 478 S., HC)
Seit der forensische Anthropologe David Hunter vor einigen Jahren von einer psychotischen Frau namens Grace Strachan mit einem Messer angegriffen worden war und fast vor seiner eigenen Haustür verblutet wäre, plagen ihn immer noch Albträume. Mittlerweile lebt er ungemeldet auf Ballard Court, dem luxuriösen Zweitwohnsitz eines Arztkollegen seines Freundes Jason, mit seiner Freundin Rachel zusammen. Bevor Rachel für einen Forschungsauftrag für drei Monate nach Griechenland reist, wird Hunter von Detective Chief Inspector Sharon Ward zum Londoner Stadtteil Blakenheath gerufen, wo in dem seit über zehn Jahren stillgelegten und bereits zum Abriss vorgesehenen Krankenhaus St. Jude eine in Plastikfolie eingewickelte, teilweise mumifizierte Leiche auf dem Dachboden gefunden wurde.
Doch bei dem Versuch, die Leiche zu bergen, stürzt der forensische Rechtsmediziner Professor Conrad durch den Boden, worauf die Polizeibeamten auf ein fensterloses Krankenzimmer stoßen, das auf keinen Bauplänen verzeichnet ist und in dem weitere Leichen geborgen werden. Bei der Obduktion der ersten Leiche bestätigt sich der fürchterliche Verdacht, dass es sich um eine schwangere Frau handelt. Bei den weiteren Ermittlungen hat es Hunter nicht nur mit dem überheblichen David Mears von BioGen zu tun, einer privaten Firma, die verschiedene forensische Experten beschäftigt, sondern auch mit dem aufdringlichen Journalisten Francis Scott-Hayes, dem kommunalen Aktivisten Adam Oduya und der mürrischen Lola Lennox, die immer wieder in der Nähe von St. Jude zu sehen ist und zuhause ihren schwerkranken Sohn Gary pflegt, und dem mit dem Abriss beauftragten Unternehmer Jessop, den die Verzögerungen durch die polizeilichen Ermittlungen schwer treffen. Die Hinweise scheinen auf Gary Lennox zu deuten, doch dann werden zwei der Beteiligten von einem Auto angefahren und dabei getötet bzw. schwer verletzt …
„Es lässt sich an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft die Zeit zäh dahinfloss, während ich an einer Ermittlung beteiligt war. Viel öfter ist das Gegenteil der Fall, und ich tauche aus einer Tätigkeit auf, nur um festzustellen, dass mal eben ein ganzer Tag vergangen war. Doch im St. Jude schien die Zeit regelrecht zu gefrieren.“ (S. 202) 
Seit der britische Schriftsteller Simon Beckett mit dem 2006 in Deutschland veröffentlichten ersten Roman um den forensischen Anthropologen David Hunter, „Die Chemie des Todes“, zum internationalen Bestseller-Autoren avancierte, sind vier weitere Titel in der Reihe erschienen, zuletzt „Totenfang“ (2016). Drei Jahre später scheint Beckett nicht mehr so recht zu wissen, wie er die Geschichte um seinen berühmten Protagonisten weiterspinnen soll.
Nach dem Tod seiner Frau und seiner Tochter gibt die Beziehung zu Rachel in „Die ewigen Toten“ nicht viel mehr her als Trennungsängste und Rachels Sorge um das Leben ihres Liebsten. Also konzentrieren sich sowohl Beckett als auch sein Protagonist ganz auf den mal wieder ganz außergewöhnlichen Fall mysteriöser Leichenfunde in einer Krankenhausruine. Hier nimmt sich der Autor alle gebührende Zeit, die Fertigkeiten der Forensik-Koryphäe David Hunter zu demonstrieren. Leider verliert er dabei die Charakterisierung seiner Figuren aus den Augen, die in allen Belangen sehr hölzern wirkt. Einzig die schrullig-missgelaunte Lola Lennox fällt hier etwas aus dem Rahmen, doch eine Identifikationsfigur sucht der Leser in „Die ewigen Toten“ vergebens.
In der Regel werden im Thriller-Genre solche Defizite durch einen rasant vorangetriebenen, spannungsreichen Plot ausgeglichen, aber auch damit kann der neue Hunter-Thriller nicht dienen. Stattdessen reibt sich Hunter in enervierenden Konkurrenzkämpfen auf, suhlt sich nach einer Kränkung auch mal im Selbstmitleid, versucht durch gebratene Leckereien zu der abweisenden Lola Lennox vorzudringen und muss sich der Avancen sowohl eines aufdringlichen Journalisten und eines Aktivisten erwehren, mit denen Hunter im Grunde nichts zu tun haben will. Währenddessen kommen die Ermittlungen so schleppend voran, dass der gelangweilte Leser immer wieder versucht ist, das Buch aus der Hand zu legen, doch mit der vagen Hoffnung, dass doch noch irgendwann was passieren muss, bleibt man am Drücker und wird im letzten Viertel mit einigen Ereignissen konfrontiert, die dem Genre gerecht werden.
Davon abgesehen erweist sich Simon Beckett als routinierter Erzähler mit einem gefälligen, auf Dauer aber etwas spröde wirkenden Schreibstil. Er nimmt sich viel Zeit, die Details der Ermittlungen zu beschreiben, aber der Spannungsbogen bleibt auf konstant niedrigem Niveau, bis der zuweilen arg konstruiert wirkende Zwist im Finale den Roman die Kurve bekommen lässt.
Leseprobe Simon Beckett - "Die ewigen Toten"

John Niven – „Kill ´em all“

Sonntag, 3. Februar 2019

(Heyne, 384 S., HC)
Seit Steven Stelfox 1994 seine Karriere als A&R-Scout bei Unigram begonnen hat und als ausführender Produzent der Talent-Show „American Pop Star“ seinen Reichtum vervielfachen konnte, genießt der 47-Jährige den beruhigenden Wohlstand, der mit einem 300-Millionen-Dollar-Vermögen einhergeht, und stellt sich nur noch sporadisch für fürstliche Honorare als Berater zur Verfügung. Gerade als Unigrams Aktien weiter zu fallen drohen, muss Stelfox seinem alten Freund James Trellick, mittlerweile CEO bei Unigram, aus der Patsche helfen. Sein erfolgreichster Künstler Lucius Du Pre, der gerade einen Marathon von zwanzig Konzerten im New Yorker Madison Square Garden und ebenso vielen in der Londoner O2-Arena vorbereitet, um seine immensen Schulden wieder einzuspielen, hat eine Vorliebe für kleine Jungs. Mit denen tobt er nicht nur in seinem Vergnügungspark herum und guckt mit ihnen seine Lieblings-DVD „Fantasia“, sondern stellt mit ihnen Sachen an, die besser nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Das denken sich auch die Eltern von Connor, als sie eine blutbefleckte Unterhose unter dem Bett ihres Sohnes finden, denn statt mit ihrem Verdacht zur Polizei zu gehen, verstecken sie eine Kamera in Connors Mütze und filmen so den nächsten sexuellen Übergriff des drogenverseuchten und abgehalfterten Pop-Stars.
Natürlich denken Stelfox und die Leute bei Unigram nicht daran, auf die absurd hohen Forderungen von Connors Eltern und ihrem Anwalt einzugehen. Stattdessen entwickelt Stelfox einen teuflischen Plan, bei dem zumindest er selbst am Ende als der große Gewinner dastehen wird. Aber da droht ihm ausgerechnet Du Prez einen Strich durch die Rechnung zu machen …
„Bis jetzt hatte ich nie wirklich verstanden, was es heißt, ,die Medikamente abgesetzt‘ zu haben. Fraglos erfüllten die atemberaubenden Mengen pharmazeutischer Aufputsch- und Beruhigungsmittel, die Lucius über Jahre genommen hat, die Funktion einer Art Sicherungsschraube … oder von einem Sperrkreis zur Unterdrückung störender Frequenzen. Von ihnen befreit, ist der Wichser durchgeknallter geworden als ein Plattenbau voller Scheißhausratten.“ (S. 311f.) 
Nach „Kill Your Friends“ und „Gott bewahre“ hält uns der schottische Schriftsteller John Niven einmal mehr in Gestalt des großkotzigen Selfmade-Arschlochs Steven Stelfox der Welt das ungetrübte Spiegelbild vor Augen, in dem Donald Trump wie eine Karikatur die Geschicke des mächtigsten Landes der Welt lenkt und junge Frauen, die sich für ihren Traum von einer Karriere in Hollywood als menschliche Toilette missbrauchen lassen, wie ein Hohn auf die #MeToo-Debatte wirken. Wer in diesem Roman eine sympathische Identifikationsfigur sucht, wird bitterlich enttäuscht, denn der Großteil von „Kill ´em all“ ist aus der Perspektive von Steven Stelfox geschrieben, der von Beginn keinen Hehl daraus macht, was er von den „Losern“ hält, die es in ihrem Leben zu nichts bringen. Aus der gesicherten Position seines Reichtums heraus hält es Stelfox wie Präsident Trump: Er versucht gar nicht erst, bei den Minderheiten zu punkten, sondern nur seine ureigenen Interessen durchzusetzen – weil er es kann, ohne für seine Rücksichtslosigkeit belangt werden zu können. Wer sich auf den sehr zynischen Blick auf eine Welt, in der Musikfans selbst den billigst produzierten Scheiß zu Hits machen, einlassen kann, wird auf höchst unterhaltsame Weise auch mit den Schattenseiten des Reichtums vertraut, wenn es immer nur noch darum geht, mehr Geld zu scheffeln, größere Yachten zu besitzen als David Geffen und seinen Fuhrpark um imposantere Luxus-Karossen zu erweitern. Das wirkt auf der einen Seite extrem oberflächlich und klischeebeladen, aber hinter den großkotzigen Sprüchen und Gedanken, die Stelfox hier reihenweise vom Stapel lässt, liegt immer mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.
Leseprobe John Niven - "Kill 'em all"

Stephen King – (Der dunkle Turm: 3) „tot.“

Samstag, 2. Februar 2019

(Heyne, 454 S., Pb.)
Roland von Gilead, der ehemalige Junkie Eddie Dean und die aus den beiden schizophrenen Persönlichkeiten Odetta Susannah Holmes und Detta Susannah Walker hervorgegangene Susannah Dean ziehen vom Westlichen Meer ins Landesinnere von Mittwelt, wo Roland in einem großen, alten Wald seinen beiden Gefährten nicht nur das Schießen, sondern auch den Kodex der Revolvermänner beibringt. Zum Glück lernen Eddie und Susannah schnell, denn sie werden von einem kolossalen Bärroboter angegriffen, eines der Tiere, die das Alte Volk dafür abgestellt hat, die zwölf Portale der sechs Balken zu beschützen, die in der Mitte zusammenlaufen und dort den Dunklen Turm stützen.
Nachdem Susannah die Antenne auf dem Kopf des Bären getroffen hat, können die drei Gefährten des Ka-tet dem Pfad des Balkens in die Richtung des Dunklen Turms fortsetzen, allerdings scheint Roland langsam den Verstand zu verlieren. Indem er nämlich den Killer Jack Mort davon abgehalten hat, den jungen Jake Chambers in New York vor ein Auto zu stoßen, wodurch Jake schließlich in dem Gasthaus in Rolands Welt gelandet ist, blieb Jake am Leben und in seiner eigenen Welt, aber Roland erinnert sich nach wie vor an Jakes Grenzübergang in Rolands Mittwelt.
Ähnlich ergeht es auch dem Jungen. Er hat keine Erinnerung daran, wie er seinen Abschlussaufsatz geschrieben hat, und als er ihn zurückbekommt und entdeckt, was für einen Nonsens er unter dem Titel „Mein Verständnis von Wahrheit“ abgeliefert hat, versteht er noch weniger, dass eine besondere Auszeichnung dafür erhält. Drei Wochen später ist Jake irgendwie bewusst, dass er gar nicht leben dürfte, und macht sich auf den Weg durch die Straßen von New York, bis er auf einem Baugelände eine einzelne Rose entdeckt, die er zu beschützen gedenkt, denn in ihr sieht er ein Symbol des Guten. Als er das heruntergekommene Haus auf dem Gelände betritt, begegnet Jake einem fürchterlichen Dämon, der ihn fast tötet, aber durch einen von Eddie geschnitzten Schlüssel gelingt es Roland, Jake im letzten Moment zu retten in seine Welt hinüberzuziehen. Zusammen mit dem Billy Bumbler Oy, einem rudimentär sprechenden Hundewesen, folgt das Ka-tet weiter dem Pfad des Balkens zum Dunklen Turm und muss sich mit der tückischen, rätselbegeisterten Einschienenbahn Blaine der Mono arrangieren, um einer Bande zu entkommen, die dem Ka-tet in einer von Krieg verwüsteten Großstadt mächtig zusetzen …
„Es war nur ein weiterer Showdown auf einer verlassenen Straße. Das war alles, und das war genug. Es war Khef, Ka und Ka-tet. Dass es immer zu dieser Konfrontation kam, zum Showdown, war ein Eckpfeiler seines Lebens und die Achse, um die Ka sich drehte. Dass der Kampf diesmal mit Worten ausgefochten werden würde und nicht mit Kugeln, spielte keine Rolle, es würde dennoch ein Kampf um Leben und Tod werden.“ (S. 445) 
Mit seinem dritten von insgesamt acht Bänden umfassenden Epos von Rolands Reise zum Dunklen Turm fügt Stephen King eine weitere turbulente Etappe hinzu, die in „Schwarz“ mit Rolands Jagd nach dem Mann in Schwarz begann und in „Drei“ mit Rolands Rekrutierung seiner drei Begleiter fortgesetzt wurde. In „tot.“ haben sowohl Roland als auch Jake vor allem mit dem Paradoxon zu kämpfen, wie Jake in seiner eigenen Welt und in Mittwelt sein kann, nachdem Roland Jakes Mörder vor dem einschneidenden Ereignis töten konnte. Aber vor allem lernt das Ka-tet das Landesinnere von Mittwelt kennen, die liebenswerten Einwohner von River Crossing ebenso wie die batteriegesteuerten Tierwächter der Portale und die Kriminellen in der Stadt, die wie ein postapokalyptisches New York aussieht, und natürlich der Einschienenbahn Blaine der Mono, der Jake bereits in einem Kinderbuch begegnet ist.
Der Roman entwickelt dabei eine mythische Wucht wie Tolkiens „Der Herr der Ringe“ und zuvor die großen mythischen Reisen unbedarfter, aber mutiger Helden zu ihrer Bestimmung. Dabei entwickelt King ein immenses Maß an Ideenreichtum, das weit über die Grenzüberschreitungen der beiden Welten und einiger interessanter Fabelwesen und Monster hinausgeht, aber er fordert von seinen Lesern auch einiges ab, was die komplexen Zusammenhänge, Zeitsprünge und Erinnerungen an merkwürdige Ereignisse angeht.
Im Vergleich zu „Drei“ fällt „tot.“ wegen seiner allzu verschachtelten Konstruktion etwas ab, aber die einfühlsame Entwicklung der sympathischen Figuren, die andauernden Unwägbarkeiten einer phantastischen Reise und der Cliffhanger sorgen am Ende dafür, die Spannung und das Interesse des Lesers aufrechtzuerhalten.
Leseprobe Stephen King - "tot."

Stephen King – (Der Dunkle Turm: 2) „Drei“

Freitag, 25. Januar 2019

(Heyne, 464 S., Pb.)
Nachdem Roland von Gilead, der letzte Revolvermann seiner Art, mit dem Mann im Schwarz ein stundenlanges Palaver abgehalten hat, bei dem Roland mit Tarotkarten („Der Gefangene“, „Herrin der Schatten“ und „Tod“) die Zukunft vorausgesagt worden ist, stirbt der Mann in Schwarz und Roland sieht am Ufer des westlichen Meeres dem Sonnenuntergang entgegen. Mit der einbrechenden Dunkelheit krabbeln aber auch Monster-Hummer aus dem Meer, Roland verliert bei der überraschenden Attacke zwei Finger seiner rechten Hand und einen Zeh. Trotz der einsetzenden, von Fieber und Schüttelfrost begleiteten Blutvergiftung setzt Roland seine Suche nach dem Dunklen Turm fort und findet bald die erste der Türen, die ihm der Mann in Schwarz prophezeit hatte.
Als er sie durchschreitet, schlüpft er in den Körper des Junkies Eddie Dean, der gerade für seinen Boss Balazar eine Ladung Kokain nach New York bringen soll. Eine aufmerksame Stewardess kommt Eddies Verhalten und vor allem der Wechsel seiner Augenfarbe von Braun zu Blau seltsam vor und sorgt dafür, dass Eddie nach der Landung der Maschine vom Zoll in Empfang genommen wird. Doch zwischenzeitlich hat Roland es geschafft, das Kokain in seine Welt zu bringen, so dass Eddie nach zweistündigem Verhör endlich zur eigentlichen Übergabe bei Balazar fahren kann.
Doch hier kommt es zu einem weiteren Zwischenfall, bei dem nicht nur Eddies Bruder Henry umkommt, sondern auch die ganze Drogenhändlerbande. Eddie folgt Roland durch die Tür nach Mittwelt und macht sich am Strand entlang auf den Weg zur nächsten Tür mit der Aufschrift „Die Herrin der Schatten“.
Nachdem er zuvor Eddie im New York der 1980er Jahre aufgegriffen hat, landet Roland nun in den 1960er Jahren im Körper einer schwarzen Rollstuhlfahrerin, deren Persönlichkeit sich durch ein traumatisches Erlebnis in ihrer Vergangenheit gespaltet hat, in die wohlerzogene und wohlhabende Odetta Holmes und in die vulgäre, teuflisch raffinierte Detta Walker, was für Eddie und Roland für ihre zukünftige Reise zum Dunklen Turm eine besondere Herausforderung bedeutet, denn sobald Detta in dem beinlosen Körper der Schwarzen das Sagen hat, drohen sowohl dem schwerkranken Roland als auch dem erschöpften Eddie ungemütliche Zwischenfälle. Gemeinsam gelingt es ihnen schließlich, auch die dritte Tür zu erreichen.
Mit Hilfe des Wirtschaftsprüfers Jack Mort, der zum Spaß Leute umbringt und so auch einst den Jungen Jake vor ein Auto gestoßen hatte, den Roland auf der ersten Etappe seiner Reise im Gasthaus kennengelernt hatte und später opfern musste, kommt Roland endlich an die nötige Menge Penicillin, um seine Entzündung zu heilen. Nach der Rückkehr in seine Welt erwartet Roland, Eddie, Jack und Odetta/Detta eine weitere Überraschung …
„Es war der Turm. Der Dunkle Turm.
Er stand am fernen Ende einer Ebene, die im brutalen Licht einer sterbenden Sonne die Farbe von Blut hatte. Er konnte die Treppe nicht sehen, die spiralförmig nach oben führte, immer weiter hinauf innerhalb der Hülle aus Stein, aber er konnte die Fenster sehen, die sich an dieser Treppe entlang erstreckten, und er sah die Geister aller Menschen, die er je gekannt hatte, an ihnen vorübergehen. Immer weiter gingen sie hinaus, und ein heftiger Wind trug den Klang von Stimmen zu ihm, die seinen Namen riefen.“ (S. 456) 
Nachdem „Schwarz“, der erste von insgesamt acht Bänden (wenn man den Spin-off-Roman „Wind“ dazuzählt) von Stephen Kings epischer Saga um den Dunklen Turm, noch eine Zusammenfassung jener Geschichten darstellte, die King zwischen 1978 und 1981 im The Magazin of Fantasy & Science Fiction veröffentlicht hatte und die Jagd von Roland nach dem Mann in Schwarz thematisierte, wirkt „Drei“ weitaus stimmiger in Dramaturgie und Erzählton.
„Schwarz“ war noch deutlich von Robert Brownings Gedicht „Childe Roland to the Dark Tower Came“ ebenso inspiriert wie von Spaghetti-Western, Fantasy- und Horror-Elementen, mit „Drei“ begibt sich Stephen King nun ganz in das Reich der Fantasy und der archetypischen Suche des Narren nach dem Gral, der hier die Form des Dunklen Turms annimmt.
Unterhaltsam schildert der Autor, wie Roland der Prophezeiung folgend seine Gefährten auf der Reise einsammelt, wobei der persönliche Hintergrund der ganz unterschiedlichen Charaktere und ihr Eintritt in Rolands Welt so glaubwürdig aufgearbeitet wird, dass „Drei“ eine ganz eigene Atmosphäre entwickelt. Was den Plot dabei so spannend macht, ist das untrügliche Wissen aller Beteiligten, dass Roland jeden von ihnen opfern wird, um den Dunklen Turm zu erreichen, trotzdem begleiten sie ihn. Auch der Leser ist gespannt, wie die Reise in dem nächsten Band „tot“ fortgesetzt wird.
Leseprobe Stephen King - "Drei"