John Grisham – „Die Kammer“

Freitag, 26. Juli 2019

(Heyne, 672 S., Tb.)
Wegen einer Unmenge an Zivilklagen, die die Kanzlei des jüdischen Rechtsanwalts Marvin B. Kramer seit 1965 wegen diskriminierender Wahlpraktiken gegen lokale Amtsträger in Mississippi angestrengt hat, ist dieser auf der Liste zu verfolgender Juden des Ku-Klux-Klans gelandet. Jeremiah Dogan, Imperial Wizard und Anführer des Klans in Mississippi, plante im Frühjahr 1967, Kramers Büro in die Luft zu sprengen, und engagierte dafür den Klansmann Sam Cayall aus Clanton, Mississippi, sowie den jungen Sprengstoffexperten Rollie Wedge, der für den Anschlag erstmals mit einem Zeitzünder arbeitete. Die Explosion fand allerdings nicht wie geplant am frühen Morgen statt, sondern erst, als Kramer mit seinen beiden fünfjährigen Zwillingssöhnen Josh und John in der Kanzlei eingetroffen war. Während die Kinder bei der Explosion ums Leben kamen, überlebte Kramer zwar den Anschlag, büßte aber seine Unterschenkel ein, 1971 beging er Selbstmord.
Cayall wurde eher zufällig von einer Polizeistreife verhaftet und mit dem Anschlag in Verbindung gebracht. Der von Dogan beauftragte Klan-Anwalt Clovis Brazelton konnte zwar in mehreren Prozessen keinen Freispruch für seinen Mandanten erwirken, aber Cayall durfte bis 1980 in Freiheit leben. Erst als Jerry Dogan ins Visier des FBI geriet und für einen Deal Cayall wegen des Attentats an Kramer ans Messer lieferte, wurde Cayall wieder festgenommen und wegen Dogans Aussage 1981 wegen vorsätzlichen Doppelmords und eines Mordversuchs für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Nachdem verschiedene Anwälte von der Kanzlei Kravitz & Bane den Fall pro bono betreut hatten und Cayall 1990 der Kanzlei ihr Mandat entzogen hatte, versucht der junge Rechtsanwalt Adam Hall den Fall zu übernehmen. Er ist erst seit einem Dreivierteljahr bei Kravitz & Bane, hat bei seiner Einstellung allerdings verschwiegen, dass er der Enkel von Sam Cayall ist. Tatsächlich gelingt es Adam, seinen Großvater davon zu überzeugen, sich von ihm vertreten zu lassen, nachdem er ihn im Todestrakt von Parchman besucht hat.
Da das Gericht des Staates Mississippi den Hinrichtungstermin für den 8. August 1990 bestätigt, bleibt Adam nicht viel Zeit, seinen Großvater vor der Gaskammer zu retten. Während er bei seiner alkoholsüchtigen Tante Lee Booth in Memphis wohnt, arbeitet Adam nicht nur an verschiedenen Möglichkeiten für neue Anträge und Eingaben bei Gericht, um einen Aufschub der Vollstreckung des Todesurteils oder sogar eine Begnadigung bei Gouverneur David McAllister zu erwirken, sondern auch die Identität des mutmaßlichen Komplizen in Erfahrung zu bringen.
Vor allem erhält Adam durch Lee und Sam tiefe, verstörende Einblicke in die dunkle Vergangenheit der Cayall-Familiengeschichte. Doch die Möglichkeiten werden zunehmend begrenzter, nachdem ein Gericht nach dem anderen Sams Berufungen abschmettert.
„Adam war plötzlich nervös. Er hatte Dutzende Fälle von zum Tode Verurteilten gelesen, bei denen die Anwälte in letzter Minute Hebel in Bewegung setzten, die sie zuvor nie angerührt hatten, und Richter dazu brachten, sich noch einmal eine ganz neue Darstellung des Falles anzuhören. Die einschlägige Literatur war voll von Geschichten über juristische Möglichkeiten, die unentdeckt und ungenutzt blieben, bis ein anderer Anwalt mit frischem Blick die Arena betrat und einen Aufschub bewirkte. (…) Sam hatte Glück gehabt. Obwohl Sam die Anwälte von Kravitz & Bane verabscheute, hatten sie ihn exzellent vertreten. Jetzt war nichts mehr übrig, als ein paar verzweifelte Versuche, Griffe nach dem letzten Strohhalm.“ (S. 372f.) 
Nach seinen ersten, allesamt auch erfolgreich verfilmten Bestsellern „Die Jury“, „Die Firma“, „Die Akte“ und „Der Klient“ legte John Grisham 1994 mit „Die Kammer“ sein bis dato eindringlichstes Werk vor, das nicht nur ein flammendes Plädoyer gegen die Todesstrafe darstellt, sondern auch tiefe Einblicke in eine Familiengeschichte gewährt, die maßgeblich durch die diskriminierende Herrschaft des Ku-Klux-Klans geprägt worden ist. Grisham nimmt sich für alle Bestandteile seines umfassenden Plots viel Zeit. Das beginnt mit der ausführlichen Beschreibung der Vorbereitungen und Ausführung des Attentats auf die Kanzlei von Marvin B. Kramer und setzt sich vor allem in der detaillierten Schilderung der juristischen Angelegenheiten fort, mit denen alle am Prozess Beteiligten betraut werden. Die eindringlichsten Eindrücke hinterlässt allerdings die Schilderung des Alltags im Todestrakt, die eintönige Abfolge von meist sechzehn Stunden Schlaf, schlechtem Gefängnisessen, einer Stunde Aufenthalt im Freien und einigen wenigen Besuchen.
Aber auch die Familiengeschichte, die der junge Adam sowohl durch seine Tante Lee als auch seinen Großvater Sam zu hören bekommt, macht deutlich, wie sehr der zum Tode Verurteilte auch Opfer seiner familiären Wurzeln ist, wie sehr sein eigenes Handeln von den Klan-Aktivitäten seines Vaters geprägt worden ist. Die Spannung erzielt der Roman natürlich aus der Frage, ob es Adam gelingt, noch in letzter Minute etwas für seinen Großvater zu bewirken, und sei es auch nur die Umwandlung der Vollstreckung durch Gas in einer durch eine tödliche Injektion, was viele Bundesstaaten ohnehin schon praktizieren, weil der Tod in der Gaskammer als sehr qualvoll angesehen wird.
Doch auch die Wandlung des rassistischen Verurteilten in ein menschliches Wesen, das seine Taten zutiefst bereut, macht „Die Kammer“ äußerst lesenswert. Grisham versteht es nicht nur, die juristischen Prozesse verständlich aufzuzeigen, die dem jungen Anwalt zur Verfügung stehen, sondern auch die politischen Hintergründe und die gesellschaftlichen Voraussetzungen, unter denen der Ku-Klux-Klan seine Macht entwickeln konnte und wieder einbüßen musste.
1996 wurde auch „Die Kammer“ verfilmt, diesmal unter der Regie von James Foley mit Chris O’Donnell als Adam, Gene Hackman als Sam Cayall und Faye Dunaway als Adams Tante Lee in den Hauptrollen.
Leseprobe John Grisham - "Die Kammer"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 6) „Schwarze Engel“

Samstag, 20. Juli 2019

(Heyne, 416 S., HC)
Mitten in der Nacht erhält Harry Bosch, Detective beim Morddezernat der Hollywood Division des LAPD, einen Anruf von Deputy Chief Irvin Irving, der Bosch für einen Sondereinsatz zur Bergstation Angels Flight beordert, was eigentlich außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Hollywood Division liegt. Doch Bosch wird schnell klar, warum ihm der Fall zugetragen wurde: In einer der beiden Kabinen, die zur Personenbeförderung zwischen Downtown und Bunker Hill dient, wurde der berühmt-berüchtigte schwarze Bürgerrechtsanwalt Howard Elias ermordet aufgefunden.
Elias hat sich durch mehrere Anklagen gegen die Polizei von Los Angeles wegen Amtsmissbrauchs, Brutalität und rassistischen Übergriffen einen Namen gemacht und arbeitete gerade an einem Fall, bei dem sein Mandant Michael Harris der Polizei diverser Vergehen beschuldigt, u.a. dass ihm mit einem Bleistift der Marke Black Warrior das Trommelfell durchstochen worden sei, weshalb in der Presse nur vom „Black Warrior“-Fall die Rede ist.
Da angesichts der Brisanz des Falles die ganze Polizei unter öffentlicher Beobachtung steht und mit nach den Krawallen von 1992 und dem O.J.-Simpson-Prozess mit neuen Ausschreitungen gerechnet werden muss, gründet Chief Irving eine Sondereinheit, der nicht nur Bosch mit seinen Leuten Jerry Edgar und Kizmin Riders angehören, sondern auch der von Bosch verhassten Detective Chastain von der Internen Dienstaufsicht, der die interne Überprüfung der Michael-Harris-Beschwerde geleitet hatte. Die Ermittlungen verlaufen entsprechend holperig. Zunächst scheinen sich alle gegen Michael Harris vorgebrachten Beweise, dass er die elfjährige Tochter des Autozaren Kincaid ermordet haben soll, zu erhärten, doch bei näherer Durchsicht der Unterlagen zu dem Mordprozess stößt Bosch auf Hinweise zur Kinderpornographie, in die ausgerechnet Kincaid selbst verwickelt zu sein scheint. 
„Jeder noch so kleine Fehler konnte zu einer Katastrophe führen – für das Verfahren, für die Polizei, für Karrieren. Er fragte sich, ob Irving sich all dessen bewusst gewesen war, als er den Fall Boschs Team zugeteilt hatte. Vielleicht, dachte er, waren Irvings Komplimente nur ein Deckmantel für sein wahres Motiv – Bosch und sein Team ans Messer zu liefern. Bosch wusste, was er jetzt dachte, trug Züge von Verfolgungswahn. Dass sich der Deputy Chief so schnell einen so raffinierten Plan ausgedacht haben könnte, war höchst unwahrscheinlich.“ (S. 110) 
Und als hätte er mit dem schwierigen Drahtseilakt zwischen politischen Machtspielchen, polizeilicher Wahrheitsfindung und der Sorge um einen erneuten Ausbruch von gewalttätigen Unruhen auf der Straße genug zu tun, plagen Bosch Gedanken, seine Frau Eleanor nach nur einem Jahr Ehe wieder zu verlieren.
In seinem sechsten Fall geht es für Hieronymus „Harry“ Bosch ums Ganze. Vor dem Hintergrund der jüngsten Unruhen, die es im Zuge von unangemessener Polizeigewalt beim Rodney-King-Prozess und den juristischen Verfehlungen im Verfahren gegen O.J. Simpson in Los Angeles gab, birgt der brutale Mord an einem prominenten schwarzen Bürgerrechtsanwalt viel Potenzial, die Stimmung gerade in der schwarzen Bevölkerung wieder umkippen zu lassen. Michael Connelly, der jahrelang als Polizeireporter für die Los Angeles Times tätig gewesen ist, beschreibt akribisch den Alltag der Ermittlungsarbeit, die Bosch und sein Team leisten, wobei deutlich wird, welche Hürden genommen werden müssen, um ja keine Interessenkonflikte hervorzurufen oder unberechtigte Durchsuchungen vorzunehmen. Besonders schwierig wird der Fall aber dadurch, dass tatsächlich Polizeibeamte für den Mord an Elias in Frage kommen, dass sogar ein Ermittler als Informant für Elias tätig gewesen sein muss. Connelly beschreibt nicht nur detailreich die einzelnen Ermittlungsschritte und Verhöre, sondern auch die Stimmung auf den Straßen, die allmählich überzukochen droht. So ist „Schwarzer Engel“ weit mehr als nur ein genretypischer Krimi, sondern auch ein vielschichtiges Gesellschaftsportrait, das das Spannungsfeld zwischen Politik, Polizeiarbeit, Hollywood-Prominenz und die Stimmung im einfachen Volk stimmungsvoll einfängt.

Lee Child – (Jack Reacher: 20) „Keine Kompromisse“

Donnerstag, 18. Juli 2019

(Blanvalet, 446 S., HC)
Jack Reacher ist mal wieder unterwegs, diesmal nicht per Anhalter, zu Fuß oder mit dem Bus, sondern mit dem Zug von Oklahoma City nach Chicago. Als er auf dem Streckenplan auf den Ortsnamen Mother’s Rest stößt, hält er das für einen vielversprechenden Haltepunkt, steigt aus und ersinnt sich gleich mögliche Szenarien, die zur Namensgebung der Kleinstadt irgendwo im Mittleren Westen der USA geführt haben könnten. Auf dem Bahnsteig lernt er Michelle Chang kennen, die, wie er später bei einem gemeinsamen Essen im örtlichen Diner herausfindet, einst beim FBI gearbeitet hat und nun als Privatermittlerin tätig ist. Sie hat am Bahnhof auf ihren Kollegen Keever gewartet, der sie zur Unterstützung angefordert hat, aber nicht aufgetaucht ist.
In Reacher erwachen die während seiner Zeit bei der Militärpolizei erworbenen und perfektionierten Ermittlerinstinkte, so dass er Chang seine Unterstützung anbietet. Tatsächlich erweisen sich die Bürger der Kleinstadt alles andere als gastfreundlich und zwingen die beiden zur übereilten Abreise. Zuvor ist Reacher in Keevers Motelzimmer ein zusammengefalteter, achtlos neben dem Mülleimer liegender Notizzettel in die Hände gefallen, der sie nach einigen Umwegen zum Wissenschaftsredakteur Westwood der L.A. Times führt. Mit seiner Hilfe stoßen Chang und Reacher auf ein lukratives Geschäft mit dem Tod, das Interessierte in den verborgenen Tiefen des Deep Web abschließen können. Damit Reacher und Chang den Verantwortlichen in Mother’s Rest nicht zu nahe kommen, engagieren sie einen Profikiller, doch Reacher hat wie immer für jede körperliche Konfrontation die passende Antwort parat:
„Nahkampf setzte voraus, dass der Schusswaffengebrauch erfolglos geblieben war. Das Schlimmste war, dass die Eierköpfe nichts finden konnten, was sich vorschreiben ließ. Es gab keine brauchbaren Theorien. Kampfsportarten funktionierten in der richtigen Welt nicht. Judo und Karate waren wertlos ohne Matten und Schiedsrichter und spezielle Pyjamas. Nahkampf war im Prinzip eine Schlägerei. Wie in einer Bar. Gut war, was Erfolg hatte.“ (S. 228) 
Seit 1997 ist Lee Childs Romanfigur Jack Reacher neben James Bond, Ethan Hunt und Jason Bourne zu einer der interessantesten Action-Helden in der Literatur und auf der Leinwand avanciert. Das erfolgreiche Konzept der kurzweiligen Romanreihe setzt sich auch im bereits 20. Band fort: Egal, wo Reachers Drang, nach seiner militärischen Karriere, die ihn in alle Welt geführt hat, in Ruhe sein Heimatland zu erkunden, hinführt: Stets gerät er nach kurzer Zeit in eine außergewöhnliche Situation, die seine Fähigkeiten als Ermittler auf den Plan rufen.
Das Szenario beginnt spannend. Während der Leser schon im ersten Kapitel über Keevers Schicksal und die Skrupellosigkeit seiner Peiniger ins Bild gesetzt wird, ersinnen Chang und Reacher noch Legenden über den Ursprung des Ortsnamens Mother’s Rest. Bereits bei den ersten Begegnungen und Aufenthalten am Bahnhof, im Motel und im Diner wird einerseits die besondere Anziehungskraft zwischen Chang und Reacher herausgearbeitet, aber auch das unabdingbare Verlangen der außergewöhnlichen Miliz in Mother’s Rest, ihr dunkles Geheimnis um jeden Preis zu bewahren. Indem der Autor zwischen Reachers und Changs Ermittlungsbemühungen und den Vertuschungs- und Aufräumplänen der Mother’s-Rest-Gemeinde wechselt, forciert er die Spannung, wobei es natürlich immer wieder zu – auch für Reacher – schmerzhaften Begegnungen kommt.
Die präzise Sprache und die kurzen Hauptsätzen unterstützen das hohe Tempo der Erzählung, wobei es immer wieder faszinierend ist, an Reachers knallhart präzisen Überlegungen teilzuhaben. Die Story wirkt dagegen weniger überzeugend, die Art und Weise, wie Chang und Reacher Fortschritte bei ihren Ermittlungen machen, schon mal arg konstruiert, bis die Suche in Mother’s Rest mit einem überzogenen Showdown ihr Ende findet.
Reacher-Fans bekommen damit gewohnt schnörkellose, actionreiche Thriller-Kost mit ihrem Lieblingshelden präsentiert, wobei die anfangs geschickt eingefädelte Geschichte in der Mitte an Fahrt verliert, um zum Finale etwas übertrieben zuzulegen, so als hätte Child bereits die dritte Verfilmung seiner Romane (nach „Sniper“ und „Die Gejagten“) beim Schreiben im Hinterkopf gehabt.
Leseprobe Lee Child - "Keine Kompromisse"

Dan Brown – (Robert Langdon: 4) „Inferno“

Dienstag, 16. Juli 2019

(Lübbe, 686 S., HC)
Als Robert Langdon, Professor für Kunstgeschichte und Symbologie an der Harvard University, mit Kopfschmerzen in einem Krankenhaus aus einem Albtraum aufwacht, hat er keine Ahnung, wo er ist und wie er dahingekommen ist. Von der jungen Ärztin Dr. Sienna Brooks und ihrem älteren Kollegen Dr. Marconi erfährt Langdon, dass er angeschossen worden sei und wegen des daraus resultierenden Traumas offensichtlich die Erinnerungen an die letzten beiden Tage verloren habe. Bevor Langdon aber weitere Informationen erhalten kann, stürmt eine bewaffnete Frau namens Vayentha ins Krankenhaus und erschießt Dr. Marconi, Langdon kann aber mit Dr. Brooks in ihre Wohnung flüchten.
Wie sich herausstellt, ist Langdon ohne sein Wissen im Besitz eines Biotubes, der nur mit seinem Fingerabdruck zu öffnen ist. Darin befindet sich aber nicht wie erwartet ein Pathogen, sondern ein Projektor, der Sandro Botticellis „La Mappa dell’Inferno“ abbildet, das von „Inferno“, dem ersten der drei Bücher aus Dante Aligheris berühmten Werk „Die göttliche Komödie“ inspiriert wurde. Allerdings entdeckt Langdon auffällige Manipulationen, wobei ihm vor allem die umgestellte Buchstabenkombination „Cerca Trova“ ins Auge fällt.
Die Phrase „Suche, und du wirst finden“ ist Langdon aus seinem Albtraum vertraut, außerdem soll Langdon bei seinem Eintreffen im Krankenhaus immer wieder die Worte „Ve … sorry. Ve … sorry“ gemurmelt haben. Langdon wird klar, dass Botticellis manipuliertes Bild auf den Palazzo Vecchio hinweist, denn „Ve .. sorry“ sollte keine Entschuldigung sein, sondern auf den Biografen und Künstler Giorgio Vasari verweisen, der die Phrase „Cerca Trova“ in seinem berühmten Schlachtengemälde „Battaglia di Marciano“ versteckt hat.
Während die hochintelligente Ärztin und der Symbologe fieberhaft vor der Attentäterin flüchten, die es offensichtlich auf Langdon abgesehen hat, und dahinterkommen wollen, was genau Langdon finden soll, versucht die Direktorin der Weltgesundheitsorganisation WHO, Dr. Elisabeth Sinskey, unter Einsatz eines Seuchenbekämpfungsteams in Florenz den Plan des ebenso brillanten wie besessenen Genforschers Bertrand Zobrist zu vereiteln, das Problem der Überbevölkerung durch die Freisetzung eines Pathogens zu lösen. Da sie sich nicht erklären kann, warum Langdon plötzlich von der Bildfläche verschwunden ist, macht sie sich Sorgen um seine Position in diesem Wettlauf gegen die Zeit.
Auf wessen Seite steht er eigentlich?
Sinskey kannte Langdon zwar erst seit wenigen Tagen, doch verfügte sie über eine gesunde Menschenkenntnis und weigerte sich daher zu glauben, dass man einen Mann wie ihn mit Geld verführen konnte. Und doch hat er gestern Abend den Kontakt zu uns abgebrochen. Jetzt sah es so aus, als würde er mit dem Gegner gemeinsame Sache machen. Haben Zobrists Anhänger ihn von dem irrsinnigen Vorhaben überzeugt?“ (S. 392) 
Nach „Illuminati“, „Sakrileg – The Da Vinci Code“ und „Der verlorene Symbol“ präsentiert Bestseller-Autor Dan Brown mit „Inferno“ den vierten Band um den charismatischen amerikanischen Wissenschaftler Robert Langdon, der etliche Bücher zu seinen Fachgebieten der Mystik, okkulten Gesellschaften und Kunstgeschichte veröffentlicht hat und über ein eidetisches Gedächtnis verfügt. Das hilft ihm natürlich auch bei der erneuten Schnitzeljagd durch die Kunst- und Weltgeschichte, die den Symbologen und den Leser von Florenz über Venedig bis nach Istanbul führt. Brown verbindet dabei einen konventionellen Thriller-Plot mit recht ausgiebigen Exkursen und Erklärungen zu den einzelnen Stationen der Schnitzeljagd, vor allem natürlich zu Dantes „Göttlicher Komödie“, aber auch zu den imponierenden Museen und Kirchen, in denen beispielsweise Dantes Totenmaske und andere Kunstwerke ausgestellt sind, die für Langdons „Suche und finde“-Mission von Bedeutung sind. Dass die Verbindung von Thriller-Spannung und Vermittlung von Allgemeinwissen nach altbekanntem Muster verläuft, stört wenig, denn unterhaltsam ist das Konzept nach wie vor, auch wenn die Charakterisierung der Figuren unter dem waghalsigen Tempo leidet. Allein Sienna Brooks erhält eine interessante Hintergrundgeschichte und avanciert schließlich neben Langdon zur zentralen Figur des Romans.
„Inferno“ macht aber nicht nur die Meisterwerke der Renaissance wieder lebendig, sondern thematisiert mit der populationsapokalyptischen Gleichung, die die Probleme der Überbevölkerung zusammenfasst, auch ein sehr aktuelles Problem – und eine auch hier kontrovers diskutierte Lösung. Ron Howard verfilmte wie zuvor schon „Illuminati“ und „The Da Vinci Code“ auch „Inferno“ mit Tom Hanks in der Hauptrolle des Robert Langdon. Da er über weite Strecken auf seine geliebte Mickey-Mouse-Sammleruhr verzichten musste, die ihn daran erinnern soll, dass er das Leben leichter nimmt und öfter lacht, blieb der Humor in „Inferno“ aber gänzlich auf der Strecke.
Leseprobe Dan Brown - "Inferno"

Dan Simmons – (Joe Kurtz: 3) „Kalt wie Stahl“

Samstag, 13. Juli 2019

(Festa, 448 S., Tb.)
Nachdem der ehemalige Privatdetektiv Joe Kurtz für den Mord an dem Killer seiner damaligen Partnerin Samantha Fielding für elfeinhalb Jahre in den Bau gewandert war, hat er sich seit seiner Freilassung vor einem Jahr mit der Online-Partnervermittlung Sweetheart Search selbständig gemacht, für die allerdings seine Sekretärin Arlene Demarco die Hauptarbeit leistet. Kurtz wiederum widmet sich inoffiziell weiterhin der Arbeit, die er am besten kann, hat sich in den vergangenen Jahren auch für die beiden in Buffalo regierenden Mafia-Familien Farino und Gonzaga als Ermittler betätigt und zwischen beiden Parteien auch vermittelt.
Als er den wöchentlichen Termin bei seiner mehr als anständigen Bewährungshelferin Peg O’Toole wahrnimmt, legt sie ihm Fotos verrosteter Fahrgeschäfte eines offensichtlich stillgelegten Freizeitparks vor, mit denen Kurtz allerdings nichts anfangen kann. Wenig später begegnen sich beide in der Tiefgarage des Amtsgebäudes, worauf das Feuer auf sie beide eröffnet wird. O’Toole wird dabei lebensgefährlich verletzt, aber auch Kurtz landet mit einem Streifschuss am Kopf im Krankenhaus, wo er sogleich von Detective Paul Kemper und seiner Kollegin Rigby King verhört wird. Sie war Kurtz‘ erste Freundin, nachdem sie sich im Waisenhaus von Pater Baker und später in Thailand kennen- und lieben gelernt hatten.
Doch nicht nur die Polizei hat ein Interesse an den Vorgängen in der Tiefgarage, auch O’Tooles Verlobter Brian Kennedy, der das Sicherheitsunternehmen leitet, das auch für die Überwachungskameras am Tatort zuständig ist, und Major a.D. Michael O’Toole, der an den Rollstuhl gefesselte Onkel der im Koma liegenden Bewährungshelferin, wollen von Kurtz ein paar Antworten. Der ist nach seiner Selbstentlassung aus dem Krankenhaus damit beschäftigt, sowohl für Angelina Farino Ferrara als auch Toma Gonzaga herauszufinden, wer hinter den Morden an Heroin-Dealern auf beiden Seiten verantwortlich ist. Während Kurtz schließlich das Gelände des stillgelegten Freizeitparks ausfindig macht, nach dem Peg O’Toole gefragt hat, räumt ein Killer, der sich Dodger nennt, weiter in Kurtz‘ unmittelbarer Umgebung auf …
„Zweimal hatte er jetzt schon beschlossen, diesen Ex-Privatschnüffler umzubringen. Zweimal hatte er sich darauf vorbereitet, auch die Frau zu töten, die mit dem Privatschnüffler zusammen war. Zweimal war er dabei gestört worden. Der Artful Dodger mochte das gar nicht – vor allem, wenn der Major oder seine Leute mitmischten.“ 
2003 veröffentlichte der preisgekrönte Bestseller-Autor Dan Simmons („Drood“, „Sommer der Nacht“) leider schon den letzten Band seiner Trilogie um den ehemaligen Privatdetektiv Joe Kurtz und setzte damit seine Duftmarke in dem Hardboiled-Krimi-Genre. Mit Joe Kurtz ist Simmons eine Figur gelungen, die sich nicht scheut, dahinzugehen, wo es wehtut. Auch im dritten Band „Kalt wie Stahl“ kämpft Kurtz wegen seiner Verletzungen ständig mit rasenden Kopfschmerzen und schlecht verheilten Wunden, doch lässt er sich davon nicht aufhalten, für die Fragen, die ihn beschäftigen, auch eine Antwort zu finden. Da hat es Kurtz wieder mit hartnäckigen Polizisten, seiner ehemaligen Freundin, verschiedenen Mafia-Größen, beharrlichen Auftragskillern und lukrativen Drogendeals zu tun, dass es eine Wonne ist, die Mischung aus Jerry-Bruckheimer-, Jason-Bourne- und James-Bond-Action Seite für Seite in atemloser Spannung zu verfolgen.
Im Vergleich zu den beiden Vorgänger-Bänden „Eiskalt erwischt“ und „Bitterkalt“ ist „Kalt wie Stahl“ nicht nur umfangreicher ausgefallen, Simmons hat auch seine Figuren mit mehr Inneneinsichten ausgestattet, nur seine zuvor öfter thematisierte Beziehung zu Sams (und seiner eigenen?) Tochter Rachel bleibt diesmal fast außen vor. Das Action-Feuerwerk ist wieder etwas hanebüchen bombastisch ausgefallen, und besonders glaubwürdig ist es irgendwann auch nicht mehr, wie Kurtz immer wieder sich aus den lebensgefährlichsten Notlagen zu befreien versteht, aber Freunde harter Thriller-Unterhaltung kommen wieder voll auf ihre Kosten.

Dan Simmons – (Joe Kurtz: 2) „Bitterkalt“

Freitag, 12. Juli 2019

(Festa, 384 S., Tb.)
Auch wenn der ehemalige Privatdetektiv und für den Rachemord an den Killern seiner damaligen Partnerin Sam Fielding zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilte Joe Kurtz nach seiner Freilassung die Auseinandersetzung mit dem Farino-Clan, dem korrupten Bullen Hathaway und diversen Auftragskillern inklusive des legendären Dänen überlebt hat, kommt der taffe Ermittler nicht zur Ruhe. Angelina Farino, die nach dem Ableben des Dons solange die Geschäfte der Familie weiterführt, bis ihr Bruder Little Skag aus dem Knast entlassen wird, hat nämlich die Drei Stooges auf Kurtz angesetzt, ihm die Lebenslichter auszublasen, doch stellen sie sich natürlich zu dumm an, um dem wackeren Stehaufmännchen wirklich zu nahe zu kommen.
Während seine Sekretärin Arlene Demarco neue Büroräume für sein Unternehmen High School Sweetheart Search sucht, nachdem der Pornoladen, in dessen Kellerräumen die Firma bislang residierte, vor dem Abriss steht, sieht Kurtz regelmäßig bei Sams vierzehnjähriger Tochter Rachel nach dem Rechten, da sie bei ihrem 42-jährigen, regelmäßig wegen Trunkenheit am Steuer angezeigten Stiefvater Donald Lee Rafferty nicht zwingend in den besten Händen ist.
Tatsächlich verursacht Rafferty einen Verkehrsunfall, bei dem Rachel schwer verletzt wird und Milz und eine Niere verliert. Bevor sich Kurtz aber um eine Endlösung für Rafferty kümmern kann, erweist er seinem loyalen Informanten Pruno einen Gefallen, indem er sich mit einem seiner Freunde trifft. Der Violinist John Wellington Frears bittet Kurtz, einen Mann namens James B. Hansen ausfindig zu machen, einem Fakultätskollegen, der Frears‘ Tochter Crystal vor knapp zwanzig Jahren ermordet haben soll und der nun offenbar unter einem anderen Namen gerade in Buffalo ist.
Kurtz kommt bei seinen Nachforschungen einem hochintelligenten Mann auf die Spur, der im Laufe seiner Karriere die verschiedensten Namen trug und Berufe ausübte. Derzeit lebt er mit seiner Frau Donna und ihrem Sohn Jason im Vorort Tonawanda und arbeitet unter dem Namen Robert Gaines Millworth im Morddezernat von Buffalo. Und schließlich heuert Angelina Farino Ferrara Kurtz an, Emilio Gonzaga und seine Topleute zu töten. Schließlich soll Gonzaga damals den Befehl gegeben haben, Samantha zu töten. Kurtz muss nicht lange überlegen, um auf den Deal einzugehen:
„Er hatte brav seine elfeinhalb Jahre für die Tötung von Sams Mördern abgesessen, weil Samantha Fielding in jeder Hinsicht seine Partnerin war und er ihr das schuldete. Aber jetzt stellte sich heraus, dass er diese Jahre umsonst hinter Gitter verbracht hatte. Wenn der Auftrag für Sams Ermordung von Emilio Gonzaga stammte, dann musste der sterben.“ 
Wie schon im ersten Joe-Kurtz-Band „Eiskalt erwischt“, mit dem der preisgekrönte US-amerikanische Bestseller-Autor Dan Simmons („Göttin des Todes“, „Terror“, „Hyperion“) das Genre des Hardboiled-Krimis für sich entdeckte und dabei ein adrenalinbefeuertes Action-Feuerwerk abfackelte, geht es in „Bitterkalt“ von Beginn an mächtig zur Sache, dass die Fetzen, Fäuste und Kugeln fliegen. Kurtz befindet sich dabei zwischen allen möglichen Fronten, setzt sich für Sams Tochter Rachel ein, jongliert zwischen den beiden rivalisierenden Mafia-Clans, ist einem Serienkiller auf der Spur und muss sich noch einen weiteren Cop vom Hals schaffen, der wie Hathaway zuvor auf der Gehaltsliste der Mafia steht.
An sich bietet der komplexe Plot Stoff für mehrere Thriller, doch Simmons hat sichtlich Spaß daran, seinen erstaunlich widerstandsfähigen Helden in einem mörderischen Tempo durch möglichst viele absurde Situationen zu bugsieren, bis er am Ende die (meisten) Bösen zur Strecke gebracht hat. So unglaubwürdig die dramatischen Höhepunkte auch ausfallen, sorgen die flotte Schreibe und der knackige Dialogwitz für kurzweilige Thriller-Unterhaltung, wobei sich Simmons diesmal mehr Mühe gegeben hat, die Hintergrundgeschichten seiner Figuren auszuarbeiten.

Dan Simmons – (Joe Kurtz: 1) „Eiskalt erwischt“

Donnerstag, 11. Juli 2019

(Festa, 336 S., Tb.)
Um seine ehemalige Partnerin Sam Fielding zu rächen, tötet Privatdetektiv Joe Kurtz erst den einen ihrer Killer, wirft dann den zweiten namens Eddie Falco aus dem Fenster eines Hochhauses, direkt auf das Dach eines Polizeiwagens. Kurtz lässt sich widerstandslos festnehmen und verbringt die nächsten elfeinhalb Jahre im Knast von Attica. Als er von seiner Assistentin Arlene Demarco abgeholt wird, gründet er im Keller eines Porno-Shops in Buffalo eine Partnervermittlung für ehemalige Highschool-Liebschaften, wobei Arlene die Büroarbeit übernimmt und Kurtz den Überbringer für den einen oder anderen Stapel von alten Liebesbriefen.
Doch obwohl Kurtz wegen seiner Haftstrafe keine Waffen tragen, sich nicht mit Kriminellen treffen darf und schon gar nicht seine Lizenz als Privatdetektiv zurückbekommt, bietet er dem Mafioso Byron Tatrick Farino, dessen Sohn Stephen „Little Skag“ Farino er im Gefängnis vor Repressalien beschützt hatte, seine Dienste an, indem er Nachforschungen zum vermissten Farino-Buchhalter Buell Richardson anstellt. Kurtz gerät in kürzester Zeit zwischen die Fronten der immer schwächer werdenden Farino-Familie und den Gonzagas, legt sich mit dem neuen Rechtsanwalt der Familie, Leonard Miles, an, schmeißt einen seiner ehemaligen Klienten – so will es später die Legende – in die Niagara-Fälle und lässt sich auf eine Affäre mit der Farino-Tochter Sophia ein.
Schließlich bekommt es Kurtz auch mit dem Profikiller zu tun, der nur als der Däne bekannt ist, mit der Killer-Truppe sowohl der Farinos als auch der Gonzagas und dem korrupten Cop Hathaway, aber Kurtz ist all seinen Verfolgern immer einen Schritt voraus, kann dabei sowohl auf die Loyalität seiner Sekretärin Arlene, seiner Bewährungshelferin Peg O’Toole als auch seines Informanten Pruno zählen, der nach seiner akademischen Laufbahn als Obdachloser in Buffalo lebt.
„Kurtz hatte die Idee für die Ablenkung nicht der Ilias entliehen. Aber nach Prunos Vorschlag, sich an den gelesenen Büchern zu orientieren, war ihm wieder ein reißerischer Spionagethriller eingefallen, der in den Zellentrakten von Attica die Runde machte. Irgendwas über Ernest Hemingway, der sich während des Zweiten Weltkriegs auf Kuba als Spion versucht hatte.“ 
Kurtz findet heraus, dass Richardson Geschäften auf die Schliche kam, die Miles an der Familie vorbei am Laufen hatte, und aus dem Weg geräumt worden war, als er einen Anteil an der Beute verlangte. Die Luft wird damit auch für Joe Kurtz immer dünner …
Dan Simmons hat sich seit Mitte der 1980er Jahre sowohl im Horror- als auch Science-Fiction-Genre einen Namen gemacht und mit Werken wie „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Hyperion“, „Sommer der Nacht“ und „Ilium“ Preise wie den World Fantasy Award, Locus Award und Bram Stoker Award errungen. 2001 erweiterte er sein literarisches Spektrum um den Hardboiled-Detektivroman, womit er die Tradition von Schriftstellern wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler aufgreift und sie ins Extreme steigert. Simmons hält sich weder mit einer Einführung seiner Figuren, noch mit einer moderaten Entwicklung des Plots auf, sondern setzt von Beginn an auf ein hohes Tempo und krasse Action. Erst nach und nach werden die einzelnen Puzzleteile von Joes Vergangenheit aufgegriffen, wobei Sams Tochter Rachel, die bei ihrem raubeinigen Stiefvater lebt, zu den interessanteren Aspekten zählt. Bei dem halsbrecherischen Tempo und der teilweise recht abstrusen Entwicklungen im Plot kommen die Charakterisierungen der Figuren zwangsläufig zu kurz, und die halsbrecherische Art, wie Kurtz mit seinen oft übermächtig wirkenden Gegners umgeht, wirkt auf Dauer arg übertrieben. Doch Simmons erweist sich auch im Hardboiled-Krimi-Sektor als großartiger Stilist, der vor allem das Lebensgefühl in der zunehmend heruntergekommenen, von Drogen, Gewalt und Korruption geprägten Stadt Buffalo gut einzufangen versteht. Auf jeden Fall hat er mit Joe Kurtz eine kluge und schlagkräftige Figur geschaffen, die es bislang auf zwei Fortsetzungen gebracht hat.

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 8) „Rote Rache“

Sonntag, 7. Juli 2019

(Golkonda, 284 S., Tb.)
Obwohl Hap und Leonard nach der Auseinandersetzung mit Clete Jimsons Gorillas von der Dixie-Mafia ein hübsches Sümmchen kassiert haben, das ihnen die hübsche Auftragskillerin Vanilla Ride vermacht hatte, und sich eine kleine Auszeit gönnen könnten, sind die beiden Hobby-Detektive nun offiziell für ihren alten Kumpel Marvin Hanson tätig, der nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst eine Privatdetektei unterhält. Ihr nächster Auftrag führt sie zur wohlhabenden, aber bescheiden lebenden Witwe Mrs. Christopher, die davon überzeugt ist, dass hinter dem Mord an ihrem Sohn mehr steckt, als die von der Polizei abgehakte Theorie von Raub mit Todesfolge. Unterstützt wird sie dabei von dem Journalisten Cason Statler aus Camp Rapture, einem nahen Freund der Familie. Den Polizeiberichten nach wurden Ted Christopher und seine Freundin Mini Marchland vor zwei Jahren an einer Joggingstrecke ermordet aufgefunden.
Von Teds Schwester June erfahren Hap und Leonard, dass Mini ein Flittchen gewesen sein soll, dass sich für einen Vampir gehalten habe. Dass bei den Leichen eine rote Teufelsfratze gefunden wurde, die an dem Baum über ihnen gemalt worden war, behielt die Polizei von Camp Rapture unter Verschluss, aber die beiden nun im offiziellen Auftrag ermittelnden Detektive stoßen während ihrer Ermittlungen auf weitere dieser merkwürdigen Zeichnungen, die über fünf Jahre an ganz unterschiedlichen Orten auftauchten, ohne dass je eine Zusammenhang zwischen ihnen vermutet worden wäre. Je weiter Hap und Leonard in die mysteriöse Geschichte eintauchen, umso mehr schrecken sie offensichtlich den Killer auf, den sie Roter Teufel nennen und der so brutal bei seinen Taten vorgeht, dass Hap bei dem Anblick eines der Opfer einen Nervenzusammenbruch erleidet.
„Der Tag verflog scheinbar in einem Augenblick. Wieder sah ich zu, wie die Schatten über die Wand wanderten. Diesmal waren es keine Vampire. Es waren kleine Stückchen Zeit, die meinem Leben gestohlen worden waren. Das Zimmer war dunkel und schwer, als wäre es in schwarzen Samt gehüllt.“ (S. 111f.) 
Doch nicht nur Hap erleidet traumatische Blessuren während der Suche nach dem Roten Teufel, auch sein „Bruder“ Leonard kommt übel unter die Räder. Zum Glück bekommen sie unerwartet von Vanilla Ride Unterstützung, denn sie hat selbst noch eine Rechnung mit dem Killer offen …
In ihrem achten Abenteuer (und dem letzten von insgesamt sechs, die der Golkonda-Verlag gerade als limitierte Taschenbuchausgaben veröffentlicht hat) müssen sich Hap Collins und Leonard Pine erst einmal daran gewöhnen, dass sie nicht wie sonst in einen Schlamassel stolpern, weil sie der Gerechtigkeit zu Sieg verhelfen wollen, sondern im offiziellen Auftrag unterwegs sind, der sich allerdings schnell als weit gefährlicher erweist als zunächst angenommen. Auch wenn „Rote Rache“ mit knapp über 280 Seiten nach dem ersten Roman „Wilder Winter“ der kürzeste in der Reihe darstellt, bekommt der Leser die volle Qualität von Joe R. Lansdales Genrekünsten präsentiert, nämlich herrlich flotte Sprüche und Frotzeleien, die die Beziehung zwischen Hap, seiner Freundin Brett und seinem Buddy Leonard charakterisieren, dazu einen vertrackten Fall und jede Menge böse Typen und krachende Action. Vor allem das Wiedersehen mit der taffen, attraktiven, aber auch ehrbaren Killerin Vanilla Ride stellt einen Höhepunkt des Romans dar. Zwar erzählt „Rote Rache“ wie alle Abenteuer von Hap und Leonard eine in sich abgeschlossene Geschichte, gerade in diesem Fall macht es aber Sinn, den vorangegangenen Band „Das Dixie-Desaster“ gelesen zu haben, weil vor allem Vanilla Ride und Marvin Hanson dort ausführlicher charakterisiert werden. Aber auch Cason Statler aus Camp Rapture ist ein alter Bekannter, den Lansdale-Fans aus dem Roman „Gluthitze“ (bzw. „Gauklersommer“ in der Golkonda-Ausgabe) bereits kennengelernt haben dürften.
„Rote Rache“ setzt die beliebte Hap-&-Leonard-Reihe, die mittlerweile auch als Amazon-TV-Serie zu verfolgen ist, konsequent mit derbem Humor und krachender Action, aber auch melancholischen und existentiellen Tönen fort, schlägt dabei gelegentlich etwas arg über die Stränge des Glaubwürdigen, macht aber neugierig auf die nächsten Abenteuer des charismatischen Duos aus East Texas.

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 7) „Das Dixie-Desaster“

Dienstag, 2. Juli 2019

(Golkonda, 316 S., Tb.)
Hap Collins - weiß, heterosexuell und Kriegsdienstverweigerer – und sein Buddy Leonard Pine – schwarz, schwul und Vietnam-Veteran – geraten mal wieder richtig in Schwierigkeiten, als Leonard mit dem gemeinsamen Kumpel, Ex-Bulle Marvin Hanson, in der gemeinsamen Wohnung von Hap und seiner Freundin Brett auftauchen. Der zur Zeit an einen Gehstock gefesselte Marvin beauftragt die beiden temperamentvollen Freunde damit, seine achtzehnjährige Enkelin Gadget von ihrem prügelnden Lover Tanedrue loszueisen, der sie zudem mit Drogen versorgt und für die berüchtigte Dixie-Mafia dealt.
Marvin hätte auch seine ehemaligen Kollegen mit dieser Geschichte behelligt, allerdings stecken auch korrupte Bullen in der Sache mit drin. Als Familienmenschen und Gerechtigkeitsfanatiker lassen sich Hap und Leonard nicht bitten und schlagen nicht nur den Trailer, aus dem Gadget und ihr Freund ihr Zeug verticken, und die drogenverseuchte Crew kurz und klein, sondern spülen auch die vor Ort liegenden Drogen im Klo runter. Das ruft natürlich auch die Dixie-Mafia auf den Plan, aber auch das FBI, für den Mafia-Mitglied Hirem Burnett als Kronzeuge aussagen sollte.
Sein Sohn Tim war mit Marvins Enkelin und dreihunderttausend Dollar Drogengeld durchgebrannt, so dass die Mafia das schwarze Mädchen aus dem Verkehr ziehen und das Geld zurückhaben wollte. So lassen sich Hap und Leonard vom FBI einspannen, um selbst aus der Schusslinie des FBI zu geraten und Burnett dabei zu helfen, heil aus der Sache rauszukommen.
„Am liebsten wollte ich mit Brett auf irgendeine Insel fahren, Kokosnüsse essen und rammeln, bis wir daran verreckten. Ich wollte nie wieder jemanden schlagen. Wollte nie wieder eine Waffe sehen, nicht mal von Weitem, nicht mal auf einem Foto in einer Zeitschrift. Ich wollte nie wieder wütend sein. Ich wollte nicht über meinen Ehrenkodex nachdenken müssen.“ (S. 105) 
Doch natürlich kommt es ganz anders. Hap & Leonard können sich zwar gegen ihre hartnäckigen Verfolger aus den Mafia-Reihen behaupten, bekommen es aber dann mit der Profikillerin Vanilla Ride zu tun …
In ihrem siebten Abenteuer demonstrieren die beiden an sich so unterschiedlichen, letztlich aber innig miteinander verbundenen Freunde Hap & Leonard, dass sie nicht nur ihr Herz am rechten Fleck haben, sondern auch alles dafür tun, der gerechten Sache zum Sieg zu verhelfen – auch wenn das bedeutet, selbst dabei etwas unter die Räder zu kommen. Da sich Lansdales Romane der Hap-&-Leonard-Reihe um die 300 Seiten eingependelt haben, verläuft der Plot nach vorhersehbarem Muster und ohne große Einleitung. Um ein unschuldiges Ding aus den Klauen der Dixie-Mafia zu befreien, sind sich die beiden Haudegen nicht zu schade, sich gegen einen ganzen Trupp von Mafia-Schergen in Stellung zu bringen und auch bei herben Verlusten auf ihrer Verbündeten-Seite bei der Stange zu bleiben. Lansdale schildert das muntere Treiben mit gewohnt lockerer Schreibe, würzt die lebendigen Dialoge mit dem ihm typischen Wortwitz und findet so die perfekte Mischung aus turbulenter Action (bei der seine beiden Protagonisten ebenso beteiligt sind wie Mafia-Vollstrecker, FBI, korrupte Bullen und eine sexy Vollblut-Killerin namens Vanilla Ride), liebenswerten Sympathiebekundungen zwischen Hap, Leonard und Brett sowie derben Sprüchen, wie sie nur Menschen von sich geben, die aus unterschiedlichen Lagen der Fleischeslust frönen. So zählt „Das Dixie-Desaster“ zu den besten Abenteuern des ungewöhnlichen Gespanns, von dem man einfach nicht genug bekommen kann.

David Baldacci – (Atlee Pine: 1) „Ausgezählt“

Mittwoch, 26. Juni 2019

(Heyne, 480 S., HC)
Nie wird die FBI-Agentin Atlee Pine vergessen, wie sie im Alter von sechs Jahren von einem nächtlichen Eindringling überrascht worden ist, der mit einem Abzählreim zwischen ihr selbst und ihrer Zwillingsschwester Mercy entschied und schließlich ihre geliebte Schwester entführte, die sie bis zum heutigen Tage nicht wiedersah. Durch den zu lebenslanger Haft verurteilten Serienkiller Daniel James Tor, den sie im Hochsicherheitsgefängnis ADX Florence aufsucht, hofft sie nach 29 Jahren einen Hinweis auf ihren Verbleib zu erhalten, denn Tor hat sich zu der fraglichen Zeit in der Gegend aufgehalten, doch lässt er Pine frustriert wieder den Heimweg antreten.
Nach diesem unerfreulichen Abstecher in ihre eigene Vergangenheit wird Pine zum Grand Canyon gerufen, in dessen Nähe sie ihr Büro unterhält. Zwei Männer des National Park Service machen sie auf ein getötetes Maultier aufmerksam, das zu einer Herde von Tieren gehörte, mit denen Touristen in die Schlucht geführt werden, um in der Phantom Ranch auf dem Grund des Canyons zu übernachten. Von dem Mann, der auf dem Muli saß, fehlt allerdings jede Spur. Jener Benjamin Priest soll für eine Vertragsfirma der Regierung gearbeitet haben, doch werfen jegliche Nachforschungen nur neue Fragen auf. Zusammen mit ihrer Assistentin Carol Blum und dem National-Park-Angestellten Sam Kettler stößt Pine auf eine gigantische Verschwörung, in der nicht nur Russland seine Finger im Spiel hat, sondern offensichtlich auch hochrangige FBI-Beamte und Vertreter anderer US-Behörden.
Pine beobachtet nicht nur, wie ein Militärhubschrauber die beiden Priest-Brüder entführt hat, sondern muss im Haus des vermissten Mannes auch zwei Russen töten und sich gegen einen koreanischen Auftragskiller zur Wehr setzen.
Vielleicht ist das alles Lüge oder ein riesiger Irrtum, und ich finde gar nichts. Ich sollte lieber darüber nachdenken, was ich tue, wenn das FBI mich auf die Straße setzt.  Tatsache war, dass Pine für eine Sache solcher Tragweite nicht qualifiziert war. Als FBI-Agentin wusste sie, was sie zu tun hatte, wenn es galt, einen Bankraub, eine Entführung oder einen Mord aufzuklären. Aber das hier war etwas völlig anderes.“ (S. 393) 
US-Bestseller-Autor David Baldacci („Der Präsident“) hat bereits etliche erfolgreiche Serien um charismatische Einzelgänger auf gefährlichen Missionen kreiert. Im Heyne-Verlag sind zuletzt die Reihen um John Puller und Amos Decker erschienen. Allerdings hat Baldacci auch immer wieder ein Herz für weibliche Heldinnen gehabt, zu denen nun auch die taffe Mittdreißigerin Atlee Pine zählt. Bereits mit dem ersten Kapitel macht der Autor den Leser mit Pines tragischer Vergangenheit vertraut. Das Trauma der Entführung ihrer Zwillingsschwester Mercy dient Pine nun als Antrieb für ihre Karriere in der Provinz von Shattered Rock, wo sie allein für die FBI-Angelegenheiten zuständig ist.
Nach vielversprechendem Beginn – zu dem auch der ungewöhnliche Tod des Mulis im Grand Canyon und die im Kadaver eingeritzten Buchstaben J und K zählen – nimmt die thematisierte Verschwörung, bei der es nicht weniger um einen atomaren Krieg geht, allerdings zunehmend unglaubwürdigere Züge an. Es ist dem sympathischen FBI-Duo Pine/Blum und der männlichen Begleitung durch Kettler zu verdanken, dass man als Leser dem irrwitzigen Plot trotzdem folgt, denn mit pointierten Dialogen, der richtigen Portion Action und immer wieder eingestreuten emotionalen und humorvollen Momenten hält Baldacci den Leser bei der Stange. Die Nebenfiguren bleiben allerdings enttäuschend blass, das Finale wirkt etwas halbgar.
Da Baldacci seine Heldin aber mit einer interessanten Lebensgeschichte ausgestattet hat, zu der es noch viel zu schreiben gäbe, und einer faszinierenden Mischung aus Furchtlosigkeit und Verletzlichkeit, könnte die Serie um Atlee Pine nach durchwachsenem Beginn dennoch eine Zukunft haben.
Leseprobe David Baldacci - "Ausgezählt"

Linwood Barclay – (Promise Falls: 4) „Kenne deine Feinde“

Samstag, 22. Juni 2019

(Knaur, 464 S., Pb.)
Barry Duckworth, Detective bei der Polizei in Promise Falls, wird in seinem Büro von Brian Gaffney erwartet, den seine Kollegen ziellos durch die Straßen herumirrend aufgegriffen haben. Nach einem Filmriss hegt Gaffney die Vermutung, von Außerirdischen entführt worden zu sein, die ihn in den Rücken gestochen haben, doch bei näherer Betrachtung stößt Duckworth auf eine stümperhafte Tätowierung, nach der Gaffney für den Tod eines gewissen Sean verantwortlich gemacht wird.
Das Letzte, an das sich der völlig verstörte junge Mann erinnern kann, ist ein Aufenthalt in der Kneipe Knight’s. Bei der Sichtung der Überwachungskamera stößt Duckworth auch auf ein bekanntes Gesicht, das seines Sohnes Trevor, der mit seiner Freundin wenig später nach Gaffney das Lokal verlassen hat.
Während Duckworth nach einer Übereinstimmung mit einem älteren, ähnlich gelagerten Fall sucht, wird Privatermittler Cal Weaver mit einer außergewöhnlichen Mission betraut: Er soll Jeremy Plimpton beschützen, nachdem dieser in einem aufsehenerregenden Prozess in Albany beschuldigt worden ist, während einer Party im betrunkenen Zustand mit dem Porsche eines der Gäste, Galen Broadhurst, ein junges Mädchen überfahren zu haben. Der achtzehnjährige Großneffe der in Promise Falls lebenden Madeline Plimpton konnte von seinem Verteidiger Grant Finch allerdings vor einer Gefängnisstrafe bewahrt werden, indem dieser geltend machen konnte, dass der junge Mann so verwöhnt und verhätschelt worden ist, dass er die Folgen seines Handelns nicht absehen konnte. Seither wurde Jeremy nicht nur von der Presse als Riesenbaby tituliert, sondern auch das Opfer einer beispiellosen Hetzjagd im Netz – beispielsweise über die Webseite „Gerechte Strafe“ - und in den sozialen Medien.
Da Jeremy in Albany um sein Leben fürchten musste, ist er bei seiner Großtante nach Promise Falls untergetaucht, wo auch seine Mutter Gloria und ihr Freund Bob Butler den Privatermittler empfangen. Da es auch in Promise Falls nicht mehr sicher für Jeremy ist, unternimmt Weaver mit dem verängstigten Jungen einen Road Trip und stößt bei seinen Ermittlungen auf immer größere Ungereimtheiten. Derweil sehnt sich ein Mann nach zweifelhaftem Ruhm, der ihm im Schatten seiner wohlgeratenen Geschwister bislang versagt geblieben ist.
„Er würde den Sprung in die Abendnachrichten schaffen. Auf CNN.
Die Welt würde seinen Namen erfahren.
Kannte die Welt den Namen seiner Schwester? Kannte sie den seines Bruders? Einen Scheiß. Und dabei hatten sie ihr Leben doch solch hehren Aufgaben geweiht. Was hatten sie jetzt davon? Hatten sie irgendetwas vorzuzeigen? Blindgänger.“ (S. 360) 
Mit seiner „Promise Falls“-Trilogie hatte der kanadische Thriller-Bestseller-Autor Linwood Barclay („Ohne ein Wort“) eine Reihe ungewöhnlicher Vorfälle in der Kleinstadt Promise Falls thematisiert, das durch die Vergiftung der Wasserversorgung in die Schlagzeilen geraten war. Nun kehrt Barclay mit seinem neuen Roman nach Promise Falls zurück, und damit sowohl zu dem sympathischen Detective Barry Duckworth und dem ebenfalls einst in Promise Falls beheimateten Ex-Cop Cal Weaver, der nach dem Tod seiner Frau und seines Sohnes von Buffalo zurück nach Promise Falls zog, um weiter als Privatermittler zu arbeiten.
Für den vierten Roman der Reihe ist es nicht nötig, die Trilogie zu kennen. Mit den notwendigen Hintergrundinfos versorgt der Autor den Leser zwischendurch. Allerdings erreicht „Kenne deine Feinde“ nie die Qualität der Trilogie. Dabei bieten die zunächst unabhängig voneinander bearbeiteten Fälle, mit denen es Duckworth und Weaver zu tun haben, durchaus Material für eine spannende Lektüre. Doch gerade der Fall des sogenannten Riesenbabys wuchert nach interessantem Beginn zu einer immer komplexeren und leider absolut unglaubwürdigen Story heran, zu der allzu viele Personen ihren Beitrag leisten, ohne dafür schlüssige Motive zu haben.
Während die Beziehung zwischen Weaver und seinem Schützling Jeremy noch einfühlsam charakterisiert wird, ist der Rest des Plimpton-Clans so unsympathisch und bis zur Karikatur klischeehaft gezeichnet, dass die vielen „überraschenden Wendungen“ im Schlussviertel nur noch ärgerlich sind.
Leseprobe Linwood Barclay - "Kenne deine Feinde"

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 6) „Machos und Macheten“

Sonntag, 16. Juni 2019

(Golkonda, 364 S., Tb.)
Die beiden Freunde Hap Collins und Leonard Pine, die zwar die unterschiedlichsten politischen Ansichten, sexuellen Ausrichtungen und Hautfarben haben, die man sich vorstellen kann, aber die besten Freunde sind und vor allem das Herz am rechten Fleck haben, arbeiten seit sechs Monaten als Wachschutz in Deerstones Geflügelverarbeitungsfabrik, als Hap beobachtet, wie auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns ein vollgedröhnter Mann ein junges Mädchen misshandelt. Hap kann rechtzeitig genug eingreifen, um dem schwer verletzten Mädchen das Leben zu retten, kommt aber selbst ganz schön unter die Räder.
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Opfer um Sarah Bond, Tochter von Elmer Bond, dem das Unternehmen gehört, in dem Hap und Leonard arbeiten. Bond zeigt sich mit einem 100.000-Dollar-Scheck erkenntlich, gönnt den beiden Freunden einen einmonatigen bezahlten Urlaub, den Hap und Leonard mit einer Kreuzfahrt nach Mexiko verbringen. Dort lernt Hap die hübsche Fischerstochter Beatrice kennen, mit der er die Nächte verbringt, obwohl sein Herz an seiner Freundin Brett hängt. Um die Schulden bei dem Gangster Juan Miguel abzuzahlen, die ihr Vater für ihr Studium in den USA aufgenommen hat, lässt sich Beatrice auf einen lukrativen Deal ein: Da ihr Vater nach einem Haibiss nicht arbeiten kann, organisiert sie einen dreitägigen Charterausflug für wohlhabende Typen, bei dem Beatrice den Männern auch in anderer Hinsicht dienlich sein muss. Der Ausflug gerät aber völlig außer Kontrolle, Hap, Leonard und Billy, der Anführer der Truppe, landen im Gefängnis.
„Hier saßen wir also, in einem mexikanischen Knast. Ich, Leonard und ein Arschloch. Es war ein grässlicher Ort. Klein und eng, wir alle drei in einer feuchten Zelle mit diesen Ratten und einem furchtbar dreckigen Klo in der Mitte. Vor aller Augen musste man sich hinsetzen und scheißen. Irgendwie war das für mich das Erniedrigendste. Dass ich mir Kackwürste aus dem Kreuz presste, die durch das hiesige Essen wie Ziegelsteine rauskamen, und Billy mir dabei zuschaute.“ (S. 188f.) 
Doch der Gefängnisaufenthalt erweist sich noch als das kleinste Übel während ihres Abenteuerurlaubs in Mexiko, denn Hap und Leonard bekommen es schon bald mit dem Nudisten Juan Miguel und seinem riesigen Leibwächter Hammerhead zu tun, die sich nicht gern an der Nase herumführen lassen …
Besonders ehrgeizig sind Hap und Leonard nie gewesen, aber so langsam scheinen die beiden Freunde und Hobby-Ermittler ihr unstetes Leben in den Griff zu bekommen. Sie gehen einfachen, aber geregelten Jobs nach, Leonard lebt mit seinem Lover John zusammen, und Hap strebt auch mit seiner Freundin Brett eine ernsthafte Beziehung an, auch wenn er in Mexiko mal wieder schwach wird. Es dauert eine Weile, bis „Machos und Macheten“ in Gang kommt. Lansdale nimmt sich viel Zeit, den Alltag der beiden Freunde zu beschreiben und macht deutlich, dass der Humor und die lebendigen Dialoge ihm weit wichtiger sind als die Geschichte selbst. Bis sie endlich in Mexiko angekommen sind, passiert eigentlich nichts Weltbewegendes, nur die üblichen kleinen Pannen, die so typisch für das Leben von Hap und Leonard sind. Natürlich wird wieder viel über Titten, Mösen und Schwänze herumgealbert, es wird sich geprügelt, aber sobald die mexikanischen Gangster ins Spiel kommen, wird auch gefoltert und getötet. Das ist nichts für zartbesaitete Gemüter, aber das trifft letztlich auf die ganze Reihe um Hap und Leonard zu, die nun teilweise in limitierten Taschenbuchausgaben von Golkonda erhältlich ist.
„Machos und Macheten“ überzeugt mehr durch den unnachahmlichen Wortwitz und die erfrischenden Dialoge als durch eine komplizierte Story. Aber der Thriller bietet genau das, was die Fans von Hap und Leonard erwarten, nicht mehr und nicht weniger.

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 3) „Bärenblues“

Dienstag, 11. Juni 2019

(Golkonda, 316 S., Tb.)
Da Leonards Nachbarn ihre Drogen ungestraft verticken können, weil sie Freunde des Polizeichefs sind, der immer ein Auge zudrückt, solange er seinen Anteil bekommt, rastet der schwarze homosexuelle Leonard regelmäßig aus und steckt nun schon zum dritten Mal die Bude von Mohawk und seinen Kumpanen an. Sein weißer heterosexueller bester Kumpel Hap hilft da liebend gern aus und mischt kräftig mit.
Sergeant Charlie Blank bleibt nichts anderes übrig, als den beiden schlagkräftigen Buddys Handschellen anzulegen und abzuführen, was Leonards Lover Raul zum Anlass nimmt, das Weite zu suchen. Allerdings eröffnet Lieutenant Hanson ihnen einen Ausweg: Seine schwarze Freundin, die Rechtsanwältin Florida Grange, mit der Hap auch kurz etwas am Laufen hatte, ist spurlos verschwunden. Die ambitionierte Frau wollte in den Enthüllungsjournalismus einsteigen und war einer großen Story auf der Spur. Bobby Joe Soothe, der Enkel der Country-Blues-Guitar-Legende L.C. Soothe, plante laut einem Artikel in einer Musikzeitschrift, in die Fußstapfen seines Großvaters zu treten, indem er dessen bislang unveröffentlichte Stücke zum Besten gab. Als ein Yankee Bobby Joe die wertvollen Aufnahmen abkaufen wollte, soll der Musiker dem Weißen die Kehle durchgeschnitten haben, weshalb er in den Bau wanderte und sich dort vor Verzweiflung an seinen Schnürsenkeln aufhängte. Also fuhr sie trotz Hansons Warnung vor ein paar Wochen nach Grovetown, was für Schwarze ein gefährliches Pflaster sein soll. Das bekommen auch Hap und Leonard bei ihrer Ankunft dort zu spüren. An einem Waschsalon entdecken sie sogar ein Schild „Kein Zutritt für Farbige“. Doch weder bei Chief Cantuck noch bei den Bewohnern erfahren die beiden Hobby-Detektive, was mit Florida passiert sein könnte. Allerdings sorgt ihre Gegenwart für viel Unruhe, so dass sie von dem rassistischen Mob in einem Café ordentlich aufgemischt werden.
„Wir hatten nicht nur festgestellt, dass wir nicht unbesiegbar waren, wir hatten beide das Fürchten gelernt und wussten voneinander, was für Angst wir hatten. Das war nicht das erste Mal. Wir hatten aus unserer Angst nie einen Hehl gemacht, doch diesmal war es mehr als bloß Angst. Es war Hilflosigkeit. Die Sache war uns über den Kopf gewachsen.“ (S. 252) 
Doch so schnell lassen sich Hap und Leonard nicht unterkriegen …
Mit seinem dritten Abenteuer um die sympathischen, eigentlich recht gegensätzlichen Freunde Hap Collins und Leonard Pine führt uns Joe R. Lansdale einmal mehr in die tiefste Provinz von East Texas, wo die Rassentrennung noch zum Alltag gehört und der Ku-Klux-Klan in seiner gewalttätigsten Form regiert. Für so liberale, gerechtigkeitsliebende Menschen wie Hap und Leonard geht diese menschenverachtende Denkweise natürlich gar nicht klar, weshalb sie in Grovetown praktisch ständig im Visier der weißen Arschlöcher sind, die sich für bessere Menschen halten. Da gerät die Suche nach Florida fast nur Nebensache.
Trotz der gesellschaftskritischen Kommentare versteht es der Autor, mit seinem unvergleichlich derben Humor immer wieder ein Ventil zu schaffen, sodass auch die Neuauflage von „Bärenblues“ als Taschenbuch (nachdem die deutschsprachige Erstausgabe unter dem Titel „Mambo mit zwei Bären“ bei Rowohlt und eine Paperback-Ausgabe mit dem neuen Titel bereits bei Golkonda erschienen waren) eine spannende Detektiv-Story mit männertypischem Humor und deutlich sozialkritischen Tönen verknüpft.

Joe R. Lansdale – (Hap & Leonard: 2) „Mucho Mojo“

Samstag, 8. Juni 2019

(Golkonda, 316 S., Tb.)
Hap Collins setzt gerade Stöcke auf einem Rosenfeld, als sein Kumpel Leonard Pine ihm die Nachricht überbringt, dass sein Onkel Chester das Zeitliche gesegnet hat und er zur seiner Beerdigung nach La Borde will. Von der Rechtsanwältin Florida Grange erfährt Leonard, dass er Chesters Haus im Schwarzenbezirk der Stadt liegt, sowie eine höhere Geldsumme geerbt hat.
Außerdem bekommt Leonard von der Rechtsanwältin noch einen Umschlag mit einem Bankschließfachschüssel, einer Taschenbuchausgabe von „Dracula“ und Rabattmarken überreicht. Eigentlich wollen die beiden Freunde zunächst nur das Haus etwas aufpolieren, um es dann weiterverkaufen zu können, aber als sie beim Aufräumen und Renovieren unter einer Bodendiele auf eine Truhe stoßen, in der ein kleines Skelett liegt, erwacht der Gerechtigkeitssinn der beiden ungleichen Hobby-Ermittler. Denn die polizeilichen Ermittlungen im Fall der im Laufe der Jahre verschwundenen Kinder scheinen weniger als nur halbherzig verfolgt zu werden.
Eine Spur führt schließlich zu Reverend Fitzgerald, dessen Mitarbeiter Illium Moon mit dem Verstorbenen befreundet war. Während alle Indizien darauf hinweisen, dass Illium und Chester für das Verschwinden der Kinder verantwortlich gewesen zu sein scheinen, gehen Hap und Leonard davon aus, dass der pädophile Serienmörder noch immer sein Unwesen treibt. Aber auch die Drogendealer im Nachbarhaus sorgen für Unmut.
„Ich mühte mich hier mit Leonard ab, irgendeinem irren Kinderschänder und Mörder das Handwerk zu legen, und nur eine Tür weiter geschah im Grunde das Gleiche mit anderen Mitteln, da verhöhnte eine ganze Ladung Sackratten das Gesetz, und die Bullen sahen tatenlos zu, wir sahen tatenlos zu, völlig tatenlos. Da wurden Kinder durch die Sucht zu Tode gequält, und die Drogendealer sackten die dicke Kohle ein.“ (S. 220) 
Die Romane des amerikanischen Bestseller-Autors Joe R. Lansdale um den weißen Hetero-Kriegsdienstverweigerer Hap Collins und den schwarzen homosexuellen Vietnam-Veteranen Leonard Pine haben längst Kultstatus erreicht und wurden von den Amazon-Studios bereits als Fernsehserie adaptiert. Nun sind sechs Bände der erfolgreichen Roman-Reihe in einer limitierten Taschenbuch-Ausgabe im Golkonda-Verlag erschienen, der bereits die Paperback-Ausgaben veröffentlicht hatte (wobei der hier vorliegende Band bereits 1996 unter dem Titel „Texas Blues“ im Rowohlt-Verlag erschienen war).
In ihrem zweiten Abenteuer wird nicht nur die Rassismus-Thematik in der Beziehung zwischen Hap und Florida aufgegriffen, auch die Korruption und Scheinheiligkeit in öffentlichen Ämtern wird zum Kern der auch von körperlichen Auseinandersetzungen begleitenden Ermittlungen der beiden Hobby-Detektive. Doch neben der handlungstreibenden Aufklärung der Kindermorde sorgt vor allem der selbstironische Humor zwischen den ebenso temperamentvollen wie warmherzigen Buddys Hap und Leonard für großartige und schnörkellose Krimi-Unterhaltung.

John Grisham – „Der Klient“

Mittwoch, 5. Juni 2019

(Hoffmann und Campe, 480 S., HC)
Als sich der elfjährige Mark Sway mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Ricky aus der Wohnwagensiedling, in der sie mit ihrer alleinerziehenden Mutter Diane leben, stehlen, um im nahegelegenen Wald heimlich zu rauchen, stoßen sie auf einen Wagen mit laufendem Motor. Als Mark versucht, den offensichtlichen Selbstmordversuch zu unterbinden, indem er den Schlauch aus dem Auspuff zieht, wird er vom Fahrer ins Innere des Wagens gezerrt, wo er den Grund für die Verzweiflungstat erfährt: Bei dem bereits stark angetrunkenen Mann handelt es sich um den Mafia-Anwalt Jerome „Romey” Clifford aus New Orleans, der den Mafioso Barry Muldanno vertritt, weil dieser den Senator Boyd Boyette umgebracht haben soll.
Allerdings kann ihm schwerlich der Prozess gemacht werden, da bislang die Leiche des vermissten Mannes nicht aufgetaucht ist. Mark erfährt allerdings unfreiwillig, dass sich Boyettes sterbliche Überreste im betonierten Boden der Garage des Anwalts befinden. Nachdem sich Romey erschossen hat, alarmiert Mark die Polizei, sein kleiner Bruder wird mit einem Schock ins Krankenhaus eingeliefert, wo er ins Koma fällt. Als die Polizei zu ahnen beginnt, warum sich der Anwalt umgebracht hat, und etliche Spuren von Mark im Wageninneren sicherstellt, setzt der aus New Orleans stammende Staatsanwalt Roy Foltrigg alles daran, den Jungen zum Verhör zu zwingen. Dagegen will die Mafia sicherstellen, dass Mark nichts ausplaudert, und setzt seine Familie unter Druck.
Mark wendet sich an die engagierte Anwältin Reggie Love, die alle Mühe hat, den Jungen vor dem Zugriff des FBI, eines gewitzten Zeitungsreporters und der Mafia zu schützen.
„Hier war er nun, elf Jahre alt, allein, mal lügend, dann die Wahrheit sagend, dann noch mehr lügend, nie sicher, was er tun sollte. Die Wahrheit kann einen das Leben kosten – das hatte er einmal in einem Film gesehen, und es fiel ihm immer dann wieder ein, wenn er den Drang verspürte, irgendwelche Amtspersonen anzulügen. Wie sollte er je aus diesem Schlamassel wieder herauskommen?“ (S. 160)
Als John Grisham 1993 seinen vierten Roman „Der Klient” veröffentlichte, war er mit seinen zuvor veröffentlichten, allesamt erfolgreich verfilmten Bestsellern „Die Akte”, „Die Firma” und „Die Jury” bereits zum weltweit meistgelesenen Autor avanciert. Auch mit „Der Klient” beweist der ehemalige Anwalt, dass er ein außergewöhnliches Gespür für ein dramatisches Setting besitzt und daraus einen bis zum Schluss unerbittlich packenden Thriller zu kreieren versteht.
Die Angst, aber auch das selbstbewusste Auftreten des aufgeweckten Jungen wird dabei ebenso eindringlich beschrieben wie die rührende Fürsorge von Jugendrichter Harry Roosevelt und der vom Leben bereits arg gebeutelten Anwältin. Auf der anderen Seite bekommen sowohl die habgierigen und publikumshungrigen Anwälte und die Beamten der Strafverfolgungsbehörden auf süffisant humorvoll-garstige ihre gehörige Portion Fett weg, was den Lesegenuss auf ansprechende Weise fördert. Bereits ein Jahr nach Erscheinen des Romans hat Joel Schumacher eine gleichnamige Verfilmung mit Tommy Lee Jones und Susan Sarandon in den Hauptrollen in die Kinos gebracht.

Ian McEwan – „Maschinen wie ich“

Donnerstag, 30. Mai 2019

(Diogenes, 406 S., HC)
Anfang der 1980er Jahre in London: Der 32-jährige Online-Trader Charlie gönnt sich nach dem Verkauf des Familienhauses für 86000 Pfund einen der ersten von insgesamt fünfundzwanzig voll funktionsfähigen künstlichen Menschen. Adam sieht lebensecht aus wie ein türkischer Hafenarbeiter, findet Charlie, und mit seiner überschäumenden Intelligenz, lebensechter Motorik (die ihn auch zu einem guten Sex-Partner avancieren lässt) wird Adam für Charlie nicht nur ein unentbehrlicher Helfer im Haushalt, sondern vor allem zum besseren Trader.
Charlie sieht in seiner neuen Errungenschaft die ideale Möglichkeit, seiner Nachbarin im Stockwerk über ihm, der zehn Jahre jüngeren Studentin Miranda, näherzukommen. Bei der Programmierung seiner Persönlichkeit lässt Charlie Miranda nämlich jede zweite Frage beantworten, doch mit den Fortschritten, die Adam in kürzester Zeit beim Lernen macht, hat Charlie nicht gerechnet. Zwar freut sich Charlie, dass Adam ihm durch seine analytischen Fähigkeiten viel mehr Geld durch den Online-Handel einbringt, als er es selbst je schaffen würde, auf der anderen Seite muss er mitanhören, wie Adam Gefühle für Miranda entwickelt und sie sogar zu ekstatischen Lustschreien animiert, die er selbst von ihr nie zu hören bekam. Doch bevor Charlie so richtig eifersüchtig auf Adam werden kann, der ihn zudem vor Mirandas Lügen gewarnt hat, kommt schon das nächste Großprojekt auf ihn zu: die von Miranda so sehr ersehnte Adoption des Pflegekindes Mark und die Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel aus Mirandas Vergangenheit. Adam hat die Liebe zu Miranda derweil zu neuen Höchstleistungen angetrieben. Er macht sich nicht nur mit der ganzen Weltliteratur vertraut, sondern verfasst in kürzester Zeit auch 2000 Haikus.
„Niemand wusste, was wir da geschaffen hatten. Was Adam und seinesgleichen an subjektivem Leben besaßen, konnte unsereins nicht verifizieren. Wenn das stimmte, dann war er, was man heutzutage gern eine black box nannte – von außen gesehen schien sie zu funktionieren. Viel mehr ließ sich darüber nicht sagen.“ (S. 223f.) 
Mit seinem neuen Roman wagt sich der britische Bestseller-Autor Ian McEwan („Abbitte“, „Kindeswohl“) in den Bereich der Science-Fiction vor und setzt sich - auf gewohnt kluge Weise - mit dem Thema der künstlichen Intelligenz auseinander. Interessanterweise schildert McEwan seine britische Heimat mit dem Beginn des Falkland-Krieg-Desasters in den 1980er Jahren mit großzügiger schriftstellerischer Freiheit. So führt der Falkland-Krieg zum unmittelbaren Ende der Thatcher-Herrschaft, ihr Nachfolger Tony Benn wird aber gleich Opfer eines IRA-Bombenattentats, und die Beatles nehmen noch einmal ein verkitschtes Reunion-Album auf, das auch durch ein imponierendes Sinfonieorchester nicht an Qualität gewinnt. Der britische Mathematiker und Informatiker Alan Turing ist hier nicht 1954 durch Selbstmord von der Welt gegangen, sondern weilt noch unter den Lebenden und hat seinen elementaren Beitrag zur Entwicklung der ersten überzeugenden Generation von Androiden geleistet.
Beeindruckender gerät jedoch die Schilderung, wie Adam es gelingt, sich selbst weiterzubilden und seine Persönlichkeit zu formen, sich nicht nur unbegrenztes Wissen anzueignen und jederzeit abzurufen, sondern auch echte Gefühle und schöpferische Qualitäten zu entwickeln. Damit stiehlt er seinen allzu menschlichen Besitzern zunehmend die Show, führt deren Beziehung durch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn (oder Rachebedürfnis?) in eine folgenschwere Krise. Der Autor gibt so einen interessanten Einblick in ein wahrscheinlich gar nicht allzu fern erscheinendes Szenario, das das Genre der Science-Fiction seit jeher fasziniert hat und vor allem viele Fragen aufwirft – nicht nur zum Verhältnis von Mensch und Maschine, sondern auch der Menschen untereinander.
Leseprobe Ian McEwan - "Maschinen wie ich"

Chip Cheek – „Tage in Cape May“

Freitag, 24. Mai 2019

(Blessing, 334 S., HC)
Cape May, New Jersey, im September 1957. Der 20-jährige Farmerssohn Henry und die 18-jährige Kaufmannstochter Effie haben sich nur wenige Monate nach ihrem Highschool-Abschluss das Ja-Wort gegeben und sehen gespannt ihren Flitterwochen entgegen. Henry war wie Effie in der kleinen Stadt Signal Creek in Georgia aufgewachsen und vor dieser Reise noch nie nördlich von Atlanta gewesen, noch hatte er je das Meer gesehen. Effie hatte in dem Haus ihres Onkels George früher ihre Ferien verbracht, es das letzte Mal aber vor drei Jahren gesehen, als ihre Tante Lizzie verstorben war. Im Spätsommer liegt der Ferienort allerdings verlassen da, viele Geschäfte und Restaurants sind bereits geschlossen. Das sexuell unerfahrene, gottesfürchtige Paar bringt das erste Mal schnell hinter sich, geht an der Promenade spazieren und beginnt sich schnell zu langweilen.
Gerade als Henry und Effie schon überlegen, vorzeitig abzureisen, läuten sie aus Neugierde an der Tür des einzigen Hauses in der Nachbarschaft, in dem Licht brennt und – dem Cadillac-Cabrio und Rolls-Royce in der Auffahrt nach zu urteilen – offenbar reiche Leute wohnen. Zu Effies großer Überraschung öffnet ihnen Clara, eine Freundin ihrer älteren Cousine, die sie beide nicht leiden konnte. Clara ist jedoch ganz aus dem Häuschen über die gesellschaftliche Abwechslung und stellt ihnen ihren Lebensgefährten Max und seine Halbschwester Alma vor, mit denen sich auf einmal das Blatt zum Guten zu wenden scheint. Denn das in New York lebenden Trio unternimmt mit dem jungen Ehepaar Bootsfahrten aufs Meer und macht die Nacht zum Tag, wobei getrunken und gespielt und schließlich als besonderer Nervenkitzel auch in die leer stehenden Nachbarhäuser eingebrochen wird.
Als Effie krank wird und das Bett hüten muss, beginnt Henry mit Alma eine heftige Affäre und betrachtet das Leben auf einmal mit ganz anderen Augen.
„Das Geheimnis des Lebens bleibt uns verborgen, dachte Henry, weil wir nicht immerzu wach sein können, um jeden Augenblick davon bewusst zu erleben. Könnte man eine Weile auf Schlaf verzichten und bekäme unser Dasein ununterbrochen mit, würde einem Wesentliches offenbart.“ (S. 223) 
Der 1976 geborene, in der Nähe von Los Angeles geborene Schriftsteller Chip Cheek legt nach einigen veröffentlichten Kurzgeschichten mit „Tage in Cape May“ ein stimmungsvolles Romandebüt vor, das er nicht zufällig in dem Ferienort spielen lässt, der gerade mal auf 4000 Einwohner kommt und in der Hochsaison 100000 Urlauber anzieht, denn er selbst verbrachte mit Schriftsteller-Freunden immer wieder Zeit dort und hat so ein Gespür für den Ort bekommen, der die perfekte Kulisse für das Liebesdrama in den später 1950er Jahren bildet.
Gekonnt beschreibt er die unterschiedlichen Eindrücke, die die Kleinstadt in der Hoch- und Nebensaison bei seinen Besuchern hinterlässt. Indem Cheek das Geschehen in die ungewöhnlich ruhige Nebensaison verlagert, kann er sich ganz auf seine Protagonisten fokussieren, die nicht den vielfältigen Freizeitaktivitäten, die so ein Ferienparadies üblicherweise bietet, nachgehen können, sondern sich mit sich selbst auseinandersetzen müssen. Hier wird deutlich, dass sich Effie und Henry zwar schon seit Kindertagen kennen mögen, dass die Heirat aber ganz neue Erfahrungen mit sich bringt. Nachdem die Hürde der ersten sexuellen Vereinigung genommen worden ist, vergnügt sich das junge Paar zwar täglich daran, aber darüber hinaus fällt den beiden wenig ein, wie sie sich miteinander beschäftigen können. Erst als die beiden unbedarften Landeier dem älteren Trio aus New York begegnen, eröffnen sich neue Horizonte, wird die zuvor vorsichtig erkundete Landschaft der sexuellen Erfahrungen zunehmend enthemmter erforscht. Natürlich spielt dabei Alkohol eine Rolle, um die Hemmungen fallen zu lassen, aber auch dies geschieht erst schrittweise.
Während Effie noch tiefer als ihr Mann der religiösen Erziehung verhaftet ist und täglich vor dem Schlafengehen betet, fühlt sich Henry schnell von der geheimnisvollen Alma angezogen und kann ihrer sexuellen Anziehungskraft nicht widerstehen. Was folgt, ist ein sinnenfrohes Arrangement, bei dem Henry nachts aus dem Haus schleicht, um sich mit der wartenden Alma in einem der leeren Häuser zu treffen und meist früh genug heimkehrt, bevor die kränkelnde Effie aufwacht, sich sonst aber mit seiner Schlaflosigkeit und langen Spaziergängen entschuldigt. Der Leser mag Henrys Verhalten – vor allem so kurz nach seiner Hochzeit – moralisch verwerflich finden, doch gelingt es dem Autor, den jungen Mann nicht vorbehaltlos zu verurteilen, denn Henry leidet selbst darunter, dass er Effie über alles liebt, aber eben auch seine Lust in vollen Zügen genießt.
Bei allen moralischen Fragen, die „Tage in Cape May“ aufwirft, ist es einfach spannend zu verfolgen, wie die Beteiligten mit den zunehmend ausschweifenden Ereignissen in Cape May umgehen, und im letzten Kapitel beantwortet Cheek auch die Frage, wie es mit Henry und Effie in den nächsten Jahrzehnten weitergeht. Allerdings werden die aufgeworfenen Probleme auch nicht allzu tiefschürfend aufgearbeitet, das Potenzial für dramatische Ereignisse und Wendungen wird nie ausgeschöpft. So bleiben vor allem Clara und Max als sinnenfrohe künstlerische Figuren ohne Geldsorgen etwas blass, aber Chip Cheek ist mit „Tage in Cape May“ ein faszinierend sinnliches Drama gelungen, das auf erfrischende Weise das Spannungsfeld von Lust und Liebe thematisiert.
Leseprobe Chip Cheek - "Tage in Cape May"

Gary Shteyngart – „Willkommen in Lake Success“

Sonntag, 19. Mai 2019

(Penguin, 432 S., HC)
Als Sohn eines jüdischen Poolreinigers hat es Barry Cohen weit gebracht und den amerikanischen Traum gelebt: Nach seinem Studium in Princeton machte er Karriere an der Wall Street und verwaltete einen eigenen Hedgefonds, der ihm Millionen, aber schließlich auch Probleme mit der Börsenaufsicht einbrachte. Der „freundlichste Typ der Wall Street“ hat aber nicht nur innerhalb von drei Jahren achthundert Millionen Dollar seiner Anleger verzockt, sondern auch mit privaten Problemen zu kämpfen. Während sein dreijähriger Sohn Shiva aufgrund seiner autistischen Störung nicht spricht und definitiv nicht in Barrys Fußstapfen tritt, unterhält seine schwangere Frau Seema auch noch eine Affäre mit dem Mann einer neuen Freundin, deren Sohn sich auch noch mit ihrem eigenen angefreundet hatte.
Barry sehnt sich auf einmal nach seiner Jugendliebe Layla und steigt aus seinem Luxus-Leben aus. Nur mit seinen (sündhaft teuren) Lieblingsuhren im Gepäck steigt er in New York in einen Greyhound-Bus und macht sich auf den Weg nach El Paso. Auf der Fahrt macht er die Bekanntschaft von Drogensüchtigen, Studentinnen und Lebenskünstlern und lernt so die andere Seite des American Way of Life kennen.
„Es war alles so scheißlächerlich. Sein erstes Lachen allein, solange er sich erinnern konnte. Niemanden interessierte seine schwarze Amex, niemand interessierte Seans blutendes Gesicht, niemanden interessierte, dass sein Sohn schwer autistisch, dass seine Ehe gescheitert war, niemanden interessierte sein Valupro-Fiasko oder was der Frau zustoßen würde, die mit nichts als einem Föhn ein Hotelzimmer bezogen hatte, als der Morgen zum Tag wurde. Die schiere Ausdehnung des Landes war viel zu groß für seine Sorgen.“ (S. 63) 
Nach seinen drei Bestsellern „Handbuch für den russischen Debütanten“, „Absurdistan“ und „Super Sad True Love Story“ schildert der in Leningrad als Sohn jüdischer Eltern geborene und seit seinem siebten Lebensjahr in den USA lebende Schriftsteller Gary Shteyngart mit seinem vierten Roman „Willkommen in Lake Success“ den unterhaltsamen Zwangsausstieg eines typischen Wall-Street-Karrieristen, der zwar alles hat, was man mit Geld kaufen kann – vor allem unverschämt teure Uhren -, aber plötzlich vor den Trümmern seines exklusiven Lebens steht, als er feststellen muss, dass sein Sohn nicht der perfekte Nachfolger im Investment-Sektor sein wird und seine Frau ihn nicht mehr liebt. Aus der Sehnsucht nach seiner College-Liebe Layla entwickelt sich ein Road-Trip, der den Protagonisten Barry Cohen mit den unteren Milieuschichten der amerikanischen Bevölkerung auf dem engen Raum eines Greyhound-Busses konfrontiert, woraus sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen interessante Einsichten über die Wähler von Donald Trump und Hilary Clinton gewinnen lassen. Allerdings wirken die Figuren recht klischeehaft gezeichnet und die Geschichte vom geläuterten Hedgefonds-Millionär, der in der wirtschaftlichen und privaten Krise sein Leben mit teils nostalgischer Verklärung, teils selbstkritischer Reflexion Revue passieren lässt und auf einmal die einfachen Menschen kennenlernt, auf die er zuvor nur abschätzig hinabgesehen hat, etwas arg konstruiert, zumal mit dem überraschend versöhnlichen, etwas unglaubwürdigen Ausklang. Nichtsdestotrotz gewährt Shteyngart seinen Lesern interessante Einblicke in die amerikanische Seele, in die enttäuschten Erwartungen und Träume der Unter- und Mittelschicht. Dabei lässt der Autor sowohl sanfte humoristische Töne und ein wenig Erotik einfließen, erweist sich stellenweise auch als guter Beobachter der unterschiedlichen Mentalitäten und der politischen Meinungsbildung, so dass ein wenig deutlicher wird, warum ein zynischer Scharlatan wie Donald Trump überhaupt die Massen so manipulieren konnte, dass er zum Präsidenten gewählt worden ist.
Leseprobe Gary Shteyngart - ""Willkommen in Lake Success"