(DuMont, 288 S., HC)
Mit seinen allesamt bei DuMont veröffentlichten Romanen „Offene
See“, „Der perfekte Kreis“, „Der längste, strahlendste Tag“ und „Cuddy –
Echo der Zeit“ hat der nordenglische Schriftsteller und Journalist Benjamin
Myers bereits eine Vielzahl von deutschen Lesern begeistert und
mittlerweile auch die SPIEGEL-Bestsellerlist erobert. Nun erscheint mit „Strandgut“
ein neuer Roman des Briten, der sich einmal mehr sehr überzeugend in das
Innenleben seiner Figuren einzufühlen versteht.
Earlon „Bucky“ Bronco hat mit seinen siebzig Jahren
eigentlich nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt. In seinen Jugendjahren hatte
er als Soulsänger zwei Singles – „Until the Wheels Fall Off“ und „All the Way
Through tot he Morning“ - aufgenommen, dann seine große Liebe Maybell
kennengelernt, doch dass sein vielversprechender Bruder Cecil ungerechterweise eine
lange Haftstrafe abbüßen musste und seine geliebte Maybell im vergangenen Jahr
aus dem Leben schied, brach Buckys Lebenswillen. Nun verbringt er seine schmerzerfüllten
Tage – sehnsüchtig erwartet er nur „die goldene Stunde“, die ihm durch die Opioide
gegen seine unerträglichen Hüftschmerzen geschenkt wird – zwischen Bett und
Walmart-Apotheke.
Doch während er in Chicago auf das Ende seines Leidens
wartet, erreicht ihn die Einladung zu einem Soul-Festival im englischen
Scarborough. Im Gegensatz zu seiner Heimat, wo Buckys vier aufgenommenen Songs längst
vergessen sind – die zweite Single hat es nicht mal über das Stadium einer
Testpressung hinaus geschafft -, sind die seltenen Singles hochgehandelte
Sammlerstücke, Bucky selbst eine Legende, die den Höhepunkt des Weekenders an
der britischen Küste bildet. Nach seiner Ankunft auf dem Flughafen in englischen
Yorkshire wird der „King of Soul“ von der Mittfünfzigerin Dinah empfangen, die
ihn über das Wochenende in Scarborough begleitet.
Die melancholische, aber auch
begeisterungsfähige Frau hat selbst ihr Päckchen zu tragen, einen ebenso
nutzlosen Mann wie Sohn, und erfreut sich regelmäßiger Fluchten in das kalte Wasser
der Nordsee. Zwar kann auch sie nicht für neue Opioide sorgen, die er im
Flugzeug hat liegenlassen, aber mit ihrer lebensklugen Art hilft sie Bucky über
einige emotionale Klippen hinweg. Und dann ist da auch noch die aus Afghanistan
stammende Hotelangestellte Shabana, die ihm den Aufenthalt im Hotel etwas
versüßt. Vor dem Auftritt leidet Bucky nicht nur unter heftigen
Entzugserscheinungen, sondern auch unter großer Nervosität, vor so vielen Leuten
aufzutreten. Doch die Zeit, die er vor allem mit Dinah hier in England bislang
verbracht hat, verleiht ihm auch einen neuen Lebenswillen, eine andere
Einstellung zu den Dingen, die ihn zu dem gemacht haben, was er heute ist.
„Und so tat Bucky das hier heute nicht nur für seine geliebte Maybell, sondern auch für Cecil Bronco, der für immer der junge Mann an der Schwelle zu etwas ganz Großem geblieben war. So musste es sein. Das hier war das letzte Geleit, das Bucky seinem Bruder nie hatte geben können. Die Elegie, die er nie hatte lesen, das Klagelied, das er nie hatte singen können. Er tat es für die Zukunft, die sein Bruder nie hatte erleben dürfen.“
Benjamin Myers ist mit „Strandgut“ ein bei
aller Kürze einfühlsames Buch über die Schicksale zweier Menschen gelungen, die
zunächst nur durch die Musik verbunden zu sein scheinen, auf dem Festival in
England, wo sich der Sänger und die ihn betreuende Dinah kennenlernen, aber
entdecken, wie viel Kraft, Verständnis und Lebensmut sie einander geben. So stellt
„Strandgut“ eine Art Entwicklungsroman zweier Menschen dar, die mit
ihrem Schicksal eigentlich abgeschlossen hatten, bevor sie sich begegneten, um
dann durch die jeweils andere Perspektive einen neuen Blick auf ihr Leben
gewinnen.
Das ist ebenso berührend wie humorvoll erzählt, wobei der Autor auch
die kulturellen Unterschiede zwischen den USA und England auf witzige Weise
thematisiert. Dass Myers große Sympathien für seine Figuren empfindet, vergrößert
das Lesevergnügen, denn sowohl Bucky als auch Dinah verfügen über ein markantes
Identifikationspotenzial, wachsen dem Publikum schnell ans Herz. Mit einer einfachen,
aber bildhaften Sprache und feinem Gespür für die Empfindungen seiner Figuren ist
„Strandgut“ ein wunderbarer Feel-good-Roman nicht nur für die ältere
Generation.
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