Sonntag, 17. August 2025

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 11) „Der Feind im Schatten“

(Zsolnay, 592 S., HC)
Mit der kulturpessimistischen Figur des schwedischen Kommissars Kurt Wallander hat Henning Mankell maßgeblich dazu zur weltweiten Popularität der skandinavischen Kriminalliteratur beigetragen. Nach dem ersten Auftritt in „Mörder ohne Gesicht“ Anfang der 1990er Jahre war die Reihe 1998 mit dem achten Fall „Die Brandmauer“ eigentlich schon abgeschlossen, doch dann erschien mit „Wallanders erster Fall“ noch ein Band mit zusammengefassten Erzählungen die Vorgeschichte sowie 2002 mit „Vor dem Frost“ der erste (und einzige) Band um Wallanders Tochter Linda, in dem er selbst nur als Nebenrolle auftaucht. Umso überraschender war 2009 die Veröffentlichung von „Der Feind im Schatten“, dem letzten großen Fall des mittlerweile sechzigjährigen Kommissars.
Nachdem Kurt Wallander vor fünf Jahren seine Wohnung in Ystad aufgegeben hat und in ein Haus auf dem Land bei Löderup gezogen ist, hat sich einiges getan im Leben des alternden Kommissars. Mit Jussi legte er sich einen schwarzen Labradorwelpen zu und nimmt freudig die Nachricht entgegen, dass seine Tochter Linda, die als Polizistin in Ystad arbeitet und in einer Neubausiedlung bei Malmö wohnt, ein Kind erwartet. Sie zieht mit dem fünfunddreißigjährigen Finanzmakler Hans von Enke zusammen und bringt am 30. August 2007 im Krankenhaus von Ystad mit Klara eine Tochter zur Welt.
Wallander wird zum 75. Geburtstag von Hans von Enkes Vater nach Stockholm eingeladen. Der Korvettenkapitän a. D. Håkan von Enke erzählt ihm in einer vertraulichen Situation, dass mehrere Male fremde U-Boote in schwedischen Gewässern entdeckt wurden, doch der Abwurf einer Unterwasserbombe, die das mutmaßlich sowjetische U-Boot zum Auftauchen zwingen sollte, wurde von der schwedischen Marineführung im letzten Moment verhindert. Es gab noch weitere Vorfälle dieser Art. Wallander kann sich keinen Reim auf die Erzählung des Mannes machen, doch dann kehrt Håkan von Enke von seinem täglichen Spaziergang nicht zurück, und seine Ehefrau Louise meldet ihn als vermisst. Während Kommissar Ytterberg in Stockholm die Ermittlungen leitet, unterstützt ihn Kurt Wallander während seines Urlaubs und macht zwei langjährige Freunde des Vermissten ausfindig, zum einen den Maschineningenieur Sten Nordlander, der mit Håkan von Enke bei der Marine war, zum anderen den pensionierten US-amerikanischen U-Boot-Kapitän Steven Atkins, den von Enke 1961 in Berlin kennengelernt und den er häufig in den USA besucht hat. Kurz darauf wird auch Louise von Enke vermisst. Die frühere Wasserspringerlehrerin soll die sagenumwobene schwedische Spionin gewesen sein, von der seit Jahrzehnten in Geheimdienstkreisen gemunkelt worden ist. Als Louise unter merkwürdigen Umständen tot aufgefunden wird, ist Wallander ratlos, was er von den Enkes halten soll…

„Lindas feste Überzeugung, dass Louise keine Spionin war, machte ihn nachdenklich. Es handelte sich nicht um einen Beweis, sondern um eine Überzeugung: Es konnte nicht sein. Aber wenn es so ist, dachte Wallander, was ist dann die Erklärung? Konnten Louise und Håkan trotz allem irgendwie zusammengearbeitet haben? Oder war Håkan von Enke so kaltblütig verlogen, dass er von seiner großen Liebe zu Louise sprach, damit niemand auch nur auf den Gedanken kam, er könne sie nicht geliebt haben? Steckte er hinter ihrem Tod und versuchte, alle Nachforschungen in eine falsche Richtung zu lenken?“ (S. 487)

Doch Wallander hat neben diesem undurchsichtigen Fall vor allem mit persönlichen Problemen zu kämpfen. Nach einem weinseligen Abend in einem Restaurant hat er dort seine Waffe liegengelassen, was ihm eine disziplinarische Strafe einbringt, dann macht seine Ex-Frau Mona, Lindas Mutter, einen Alkoholentzug in einer Klinik. Am schwersten trifft Wallander aber der Besuch seiner großen Liebe Baiba aus Riga, die unheilbar an Krebs erkrankt ist und nicht mehr lange zu leben hat. Und dann sind da diese Gedächtnislücken, die Wallander sich nicht erklären kann und die immer häufiger auftreten…
Der 2015 verstorbene Henning Mankell bereitete seiner Lieblingsfigur in „Der Feind im Schatten“ einen großartigen Abgang. Der Fall um die vermissten Eheleute Håkan und Louise von Enke macht vor allem deutlich, wie unsicher sich die Schweden im Spannungsfeld des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion auf der einen und den USA auf der anderen Seite fühlten. Wer wie für wen spioniert haben könnte, wird allerdings nebensächlich bei den privaten Problemen, mit denen sich Wallander herumschlagen muss, vor allem die Sorge um die drei wichtigsten Frauen in seinem Leben – Mona, Baiba und Linda – sowie die eigene, vor allem geistige Gesundheit. Zwischendurch kommt natürlich immer wieder der obligatorische Kulturpessimismus durch, wenn Mankell seinen Protagonisten über die maroden Polizeistrukturen, rassistische Tendenzen und überteuerte Preise schwadronieren lässt. Das ist nicht unbedingt spannende Kriminalliteratur, aber auf jeden Fall emotional berührender Stoff, der Mankell- und Wallander-Fans im Besonderen versöhnlich stimmt.

 

Sonntag, 10. August 2025

Richard Matheson – „Die besten Erzählungen“

(Festa, 2 Bd., 874 S., HC im Schuber)
Heutzutage gerade im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannt, zählte der US-amerikanische Schriftsteller Richard Matheson in den 1950er Jahren zu den populärsten Science-Fiction-Autoren seiner Zeit, wurden doch schon seine ersten Romane „I Am Legend“ (1954) und „The Shrinking Man“ (1956) später verfilmt. Neben diesen beiden international bekannten Romanen ist hierzulande aber wenig von Matheson erschienen, der von seinem Zeitgenossen Ray Bradbury als einer „der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet wurde. Dieses Manko versucht nun der Festa-Verlag zu beheben, indem er zu Beginn eine luxuriöse, auf 1250 limitierte Ausgabe von Mathesons besten Erzählungen veröffentlicht, darunter die Vorlage zu Steven Spielbergs Frühwerk „Duell“.
Nach einem Vorwort von Horror-Autor F. Paul Wilson beginnt der erste, „Albtraum über den Wolken“ betitelte Band mit Richard Mathesons berühmter Geschichte „Von Mann und Frau geboren“, die der Autor im zarten Alter von 23 Jahren geschrieben hatte und 1950 im „Magazine of Fantasy & Science Fiction“ veröffentlichen konnte und die von seinen Eltern im Keller eingesperrten Kind handelt, das sie als „Monstrum“ betrachten. Die ebenfalls berühmte Geschichte „Der Dritte von der Sonne“ erzählt von einem Astronauten, der einen vermeintlichen Testflug dazu nutzen will, um mit seiner Familie zu einem neuen Planeten zu fliehen, „Sohn des Blutes“ von einem Jungen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als ein Vampir zu sein.
In „Hexenkrieg“ werden sieben junge Mädchen dazu eingesetzt, mit ihren paranormalen Kräften in Kriegshandlungen einzugreifen, in „Die Rückkehr“ reist Professor Robert Wade weiter in die Zeit voraus als jemals zuvor, ins 25. Jahrhundert – mit ungeahnten Folgen.
„Im Slaughter-Haus“ versuchen zwei Brüder, ein seit ihrer Kindheit zum Verkauf stehendes Haus für ihre künstlerischen Ambitionen zu nutzen, und obwohl sie nicht abergläubisch sind, werden sie kurz nach ihrem Einzug mit Hinweisen auf weitere Hausbewohner konfrontiert…
In „Das Ferngespräch“ wird die alte Miss Keene von einem Anrufer belästigt, der sich erst gar nicht meldet und dann auf das „Hallo“ der alten Dame mit einem „H-a-l-l-o“ antwortet. Ihre Beschwerden bei der Telefonistin fruchten nicht, aber deren Nachforschungen ergeben, dass die Anrufe vom Friedhof kommen würden, was eigentlich nicht möglich sei…
„Steel“ erzählt die Geschichte der beiden abgebrannten Freunde Kelly und Pole, die mit ihrem in die Jahre gekommenen B-Zwei-Boxer namens Battling Maxo einen Wettkampf gegen einen viel moderneren B-Sieben bestreiten wollen. Allerdings fehlen noch einige Ersatzteile, was Kelly zu einer drastischen Maßnahme greifen lässt.
Für Mr. Ketchum endet in „Noahs Kinder“ die Heimfahrt nach einem miesen Urlaub in Neuengland mit einer Polizeikontrolle in dem 67-Seelen-Kaff Zachry. Sein erzwungener Aufenthalt dort entwickelt sich zu einem drastischen Albtraum.
In „Die Grillen“ machen Hal und Jean Galloway am Ende ihres Urlaubs in ihrem Hotel die Bekanntschaft von Mr. Morgan, der in dem Zirpen der Grillen dort draußen einen Code zu entdecken glaubte, der die Namen von Toten chiffriert, die der Mann in seinem Codebuch festgehalten hat. In der Nacht macht das Ehepaar eine schreckliche Entdeckung…
Zu den bekanntesten Erzählungen im zweiten Band zählen die von Steven Spielberg verfilmte Geschichte „Duell“ um einen Mann, der von einem mysteriösen Fahrer in einem mörderischen Lastwagen verfolgt wird, und die für Rod Serlings Fernsehserie „Twilight Zone“ adaptierte Geschichte „Albtraum über den Wolken“, in der ein Passagier auf dem Flügel des Flugzeugs ein unheimliches Wesen entdeckt, das allerdings niemand außer ihm selbst zu bemerken scheint.

„Wie konnten die Augen so etwas wahrnehmen, wenn es nicht existierte? Wie konnte das, was in seinem Kopf passierte, den physischen Akt des Sehens so vollständig für seine Zwecke einspannen? Er war nicht erschöpft gewesen, nicht benommen – un es war auch keine formlose, flüchtige Vision gewesen. Sie war scharf und dreidimensional gewesen, voll und ganz der Dinge, die er sah und von denen er wusste, dass sie real waren. Das war das Beängstigende daran. Es war nicht im Geringsten wie in einem Traum gewesen.“ (Bd. 2, S. 81)

Der zweite Band wird zudem mit fast 250 Seiten reich illustriertem Bonus-Material abgerundet, das dem Lesepublikum den Autor und Menschen Richard Matheson näherbringt. Interessant sind vor allem Mathesons eigene Anmerkungen zu den einzelnen Geschichten, aber auch die Einblicke, die beispielsweise sein langjähriger Freund und Verleger Barry Hoffman und Dirk Berger, Herausgeber und Illustrator der vorliegenden Anthologie, in seinem Essay „Er ist Legende“ über den Schriftsteller gewährt, der zusammen mit Ray Bradbury, Charles Beaumont, William F. Nolan und anderen der informellen The Southern California Group of Writers angehörte und weit über das Science-Fiction- und Terror-Genre hinaus gewirkt hatte.
Die hier versammelten Geschichten fesseln nicht nur durch den Einfallsreichtum der minimalistisch inszenierten Plots, sondern vor allem durch die wunderbare Sprache, mit der Matheson sein Publikum aus ganz gewöhnlichen Alltagssituationen in die „Twilight Zone“ entführt. Dass der zurückgezogen lebende Schriftsteller nie die Popularität von modernen Meistern wie Stephen King, Dean Koontz oder Clive Barker erreichte, ist vor allem für die deutschsprachigen Fans ein großes Manko, ist hier doch nur ein Bruchteil seines Werkes übersetzt worden. 
Der Festa Verlag wird hier hoffentlich etwas Abhilfe schaffen, hat er doch bereits eine Neuausgabe des Klassikers „Ich bin Legende“ für dieses Jahr angekündigt. Weitere Werke sollen folgen. Die Ausstattung der limitierten Luxus-Ausgabe ist übrigens vorbildlich und qualitativ hochwertig. Dafür sorgen neben der Auswahl der Geschichten und des umfangreichen Bonus-Materials auch die atmosphärisch stimmigen Illustrationen von Dirk Berger zu fast jeder Geschichte sowie all die Filmposter sowie Cover-Abbildungen der deutschen und amerikanischen Ausgaben von Geschichtensammlungen und Romanen des 2013 verstorbenen Schriftstellers und Drehbuchautors.

Bentley Little – „Der Berater“

(Buchheim, 440 S., HC)
Seit seinem 1990 veröffentlichten, gleich mit dem Bram Stoker Award ausgezeichneten Debütroman „The Revelation“ hat sich der US-amerikanische Schriftsteller Bentley Little einen Namen im Horror-Genre machen können, allerdings ist nur ein Bruchteil der seither erschienenen Werke des produktiven Autors auch in deutscher Übersetzung erhältlich. Nachdem einige Romane wie „Böse“, „Verderben“, „Schemen“, „Furcht“, „Fieber“ und „Unheil“ bei Bastei Lübbe erschienen sind, hat sich in den letzten Jahren der Buchheim Verlag Littles jüngeren Schaffen gewidmet. Neben dem Frühwerk „Die Universität“ ist dort 2019 auch der Roman „Der Berater“ erschienen, der 2023 unter dem Originaltitel „The Consultant“ mit Christopher Waltz in der Hauptrolle als achtteilige Fernsehserie verfilmt werden sollte.
Craig Horne ist Abteilungsleiter für die Softwareentwicklung bei dem kriselnden Unternehmen CompWare und ist nicht wenig überrascht, dass an diesem Morgen bereits vor dem üblichen Arbeitsbeginn um 8 Uhr ein Manager-Meeting von CEO Matthews einberufen worden ist. Wahrscheinlich würde es um das neue Business-Paket OfficeManager gehen, dessen Verkaufszahlen weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Matthews unterrichtet die Manager darüber, dass aus der geplanten Fusion mit Automated Interface nichts würde und eine externe Unternehmungsberatung damit beauftragt worden sei, die innere Ordnung bei CompWare wiederherzustellen. Doch die BFG mit ihrem omnipräsenten Geschäftsführer Regus Patoff ist mehr als nur daran interessiert, die Arbeitsabläufe zu optimieren und den Personalbestand zu konsolidieren. Obwohl die BFG Associates beste Referenzen aufweist, stellen sich ihre Methoden sehr schnell als überaus fragwürdig heraus. Patoff erwartet nicht nur, dass Mails rund um die Uhr abgerufen werden, sondern stattet sowohl Matthews als auch Craigs Familie unangenehme Hausbesuche ab. Spätestens als die ersten Kandidaten, die auf Patoffs Abschussliste stehen, bei mysteriösen Unfällen ums Leben kommen bzw. sich selbst töten, sind Craig und seine Frau Angie in höchstem Maße beunruhigt – zumal auch die Notfallambulanz, in der Angie arbeitet, von der BFG unter die Lupe genommen wird…
Bei der CompWare entwickelt sich eine ungesunde Atmosphäre der Paranoia…

„Die Kollegen verdächtigten sich gegenseitig und keiner wusste so recht, wer sich wem gegenüber verpflichtet fühlte und ob nicht vielleicht der eine oder andere den Maulwurf für die BFG spielte. Craig hatte keine Ahnung, ob dieses Gefühl des gegenseitigen Misstrauens absichtlich herbeigeführt worden war, aber es fühlte sich an, als wäre man in der Hitlerjugend gelandet. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, war so groß, dass die meisten Mitarbeiter es bevorzugten, ihre Zeit allein in ihren Büros zu verbringen und zu arbeiten. Vielleicht war das der Zweck des Ganzen.“ 

Bentley Little ist dafür bekannt geworden, dass er seine Horror-Werke stets mit einer gesunden Prise Gesellschaftskritik würzt, und es fällt nicht schwer, die Geschäftspraktiken gewinnorientierter, börsennotierter Unternehmen im Zentrum seines Romans „Der Berater“ als übergeordnetes Thema zu identifizieren, das allerdings so grausam auf die Spitze getrieben wird, dass es ins Horror-Genre fällt. Dafür sorgen nicht nur das unmenschliche, nahezu diabolische Auftreten von Regus Patoff, sondern auch die unerklärlichen Veränderungen in dem mehrstöckigen Unternehmensgebäude und das grausame, oft sexistische Gebaren der Angestellten im Verlauf der vermeintlichen Optimierungsmaßnahmen. Leider schafft es der Autor dabei nicht, die übernatürlichen Elemente glaubwürdig darzustellen. Dazu fehlen ihm im Gegensatz zu Stephen King, Clive Barker oder Peter Straub auch einfach die sprachlichen Mittel. Wenigstens ist ihm die Charakterisierung der Mittelstandsfamilie Horne mit ihren Sorgen um Hypothekenzahlungen und Versicherungen so gut gelungen, dass sie ein gewisses Identifikationspotenzial besitzen. Doch das reicht nicht, um „Der Berater“ zu einem guten Genre-Roman zu machen.

Dienstag, 22. Juli 2025

Bentley Little – „Die Universität“

(Buchheim, 488 S., E-Book)
Bereits mit seinem 1990 veröffentlichten Erstling „The Revelation“, der zuvor seine Abschlussarbeit für den MA in Vergleichende Literaturwissenschaft an der California State University Fullerton gewesen war, erhielt Bentley Little den Bram Stoker Award für den besten Debütroman. Seither hat der publikumsscheue Amerikaner dreißig Romane und etliche Kurzgeschichten veröffentlicht, doch nie auch nur annähernd den Status seiner berühmten Kollegen Stephen King, Peter Straub, Dan Simmons oder Dean Koontz erreichen können. Warum das so ist, dokumentiert das 1994 veröffentlichte Frühwerk „The Night School“ aka „University“, das erst 2019 im Buchheim Verlag in deutscher Sprache unter dem Titel „Die Universität“ erschienen ist.
Als Chefredakteur der Universitätszeitung „Daily Sentinel“ der Brea Universität in Kalifornien stehen Jim Parker alle Möglichkeiten nach seinem Studium der Journalistik für die Zukunft offen. Dennoch verspürt er ein diffuses Unbehagen, nach dem Sommer wieder an die Brea zurückzukehren, doch nach einem Gespräch mit seiner Mutter lässt er seine Zweifel sausen. Die Entscheidung, wie geplant seinen Abschluss zu machen, wird durch die Bekanntschaft seiner Kommilitonin Faith Pullen versüßt, die es gar nicht erwarten konnte, aus dem Haus, das sie mit ihrer sexhungrigen Mutter und ihrem jüngeren Bruder Keith bewohnt hat, zu verlassen und ihr vierjähriges Studium an der Brea zu beginnen, wo sie einen Job in der Bibliothek ergattern konnte, um ihr Studium zu finanzieren.
Dr. Ian Emerson doziert in diesem Semester über Schauerliteratur und wird zu Beginn des Semesters von einem Mann namens Gifford darauf angesprochen, dass die Universität „getötet“ werden müsse, bevor das Böse zu übermächtig werde. Tatsächlich häufen sich die Gewalttaten an der Universität. Frauen werden vergewaltigt, Kleinwüchsige und Angehöriger anderer Rassen diskriminiert. Menschen verschwinden spurlos oder stürzen sich verzweifelt in den Tod. Während die Universitätspräsidentin und die Verwaltung alles daransetzen, um die Entwicklung kleinzureden und auf äußere Einflüsse zurückzuführen, ist auch Emerson mit der Zeit davon überzeugt, den Ratschlag von Gifford zu überdenken und eine Gruppe von Leuten um sich zu scharen, die den unheimlichen Ereignissen auf dem Campus entgegenzuwirken. Denn die Brutalität, mit der die Studenten mittlerweile agieren, lässt nichts Gutes ahnen…

„Mit dem Bösen ließ sich viel leichter umgehen, wenn es zufällig und ohne Plan auftrat. Wieder dieses Wort. Das Böse. Es war selbst in zeitgenössischer Horrorliteratur außer Mode geraten, wahrscheinlich weil es in Post-Clive-Barker-Zeiten als zu kulturrelativistisch erachtet wurde, aber es passte einfach. Dabei gab er nichts auf die jüdisch-christliche Vorstellung des Bösen, diesen belanglosen und eigentümlich personalisierten Glauben, der banale Schwächen wie Völlerei und Stolz als Todsünden betrachtete. Aber das mutwillige Herbeiführen von Leiden und Tod gehörte für ihn definitiv in diese Kategorie. Und genau das machte die Universität. Sie führte Tod und Leiden herbei, zu ihrem eigenen Vergnügen, wie Gifford Stevens behauptete.“ (S. 327)

Warum Bentley Little nicht in einer Liga beispielsweise mit dem „King of Horror“ spielt, wird bereits nach wenigen Seiten deutlich. Zwar gibt sich der Autor anfangs noch etwas Mühe, wenigstens zwei der Protagonisten, Jim und seine spätere Freundin Faith, mit einem persönlichen Hintergrund zu versehen, doch das im Buch thematisierte Böse der Universität wird schon zu Anfang nur unzureichend ebenso plump wie diffus beschrieben. Statt das Grauen langsam in den Alltag ganz normaler Menschen schleichen zu lassen, wie es Stephen King meisterhaft beherrscht, bedient sich Little der Holzhammer-Methode, vernachlässigt die Atmosphäre des klassischen Spukhaus-Horrors zugunsten voyeuristischer Schilderungen von hartem Sex, brutalen Vergewaltigungen und Splatter-Effekten, die bei Littles Kollegen Richard Laymon weitaus stimmiger zum Ausdruck kommen.
Die Beschreibung der zunehmend verstörenden Ereignisse an der Brea wirkt eher schlagwortartig und geht leider einher mit der plakativen Zeichnung der vielen Figuren, die den Plot unnötig in die Länge ziehen, worunter sowohl die Spannung als auch die Atmosphäre, vor allem aber die Glaubwürdigkeit leiden. Denn die Natur des Bösen erfährt bis zum Ende keine überzeugende Erklärung, so dass „Die Universität“ wie eine verunglückte Verkleidung für einen unoriginellen Torture-Porn-Plot im Gewand eines Horror-House-Schockers wirkt. Das kann Bentley Little definitiv besser.

David Baldacci – „Der Präsident“

(beTHRILLED, 577 S., E-book)
Seit David Baldacci Mitt der 2000er Jahre mit den Serien um die beiden Ex-Secret-Service-Agenten Sean King und Michelle Maxwell und den Camel Club Gefallen an – wenn zumeist auch nur kurzen - Romanreihen, an denen Erfolgsautoren wie James Patterson, Michael Connelly und Lee Child seit jeher arbeiten, gefunden hat, sind nur noch wenige alleinstehende Romane des ehemaligen Strafverteidigers und Wirtschaftsjuristen erschienen. Sein wichtigster Roman aus der überschaubaren Anzahl in dieser Hinsicht ist auch sein erster, wenn auch nicht bester gewesen, der unmittelbar nach Veröffentlichung von und mit Clint Eastwood verfilmte Thriller „Absolute Power“, der hierzulande von Bastei Lübbe unter dem Titel „Der Präsident“ verlegt und nun (zusammen mit den anderen Baldacci-Frühwerken) in dem Lübbe-E-book-Imprint beTHRILLED neu aufgelegt worden ist.
Der 66-jährige Luther Whitney hat seinen Lebensunterhalt als Einbrecher verdient und durch die vielen Jahren im Gefängnis die Beziehung zu seiner Tochter Kate zerrüttet, die als Protest gegen den Lebenswandel ihres Vaters Staatsanwältin geworden ist. Nun will Luther einen letzten großen Coup landen und dringt in das zuvor sorgfältig ausgekundschaftete und derzeit verlassene Anwesen des Milliardärs Walter Sullivan in Middleton, Virginia, ein. Er schaltet die Alarmanlage aus und ist gerade dabei, den Safe im Tresorraum am Schlafzimmer auszuräumen, als er bemerkt, dass er unerwünschten „Besuch“ bekommt. Luther versteckt sich im Tresorraum und beobachtet durch den Einwegfenster, wie ausgerechnet der verheiratete, stark angetrunkene und von Sullivan seit Jahren unterstützte US-Präsident Alan J. Richmond dessen junge Frau Christy zu brutalem Sex animieren will. Als sie sich lautstark mit einem Brieföffner in der Hand zu wehren versucht, stürmen die beiden Secret-Service-Agenten Bill Burton und Tim Collin den Raum und erschießen die Frau. Die ebenfalls im Haus anwesende Stabschefin Gloria Russell lässt die Situation von den beiden Männern bereinigen, doch stellen die Agenten dabei fest, dass es einen Zeugen gegeben haben muss, der nicht nur durch das Fenster getürmt ist, sondern auch den verräterischen Brieföffner hat mitgehen lassen. Luther türmt zunächst ins Ausland, doch als er die geheuchelte Ansprache des Präsidenten zu dem Mord an der Frau seines Freundes Walter Sullivan hört, beschließt er, den Präsidenten mit seinem Vergehen nicht davonkommen zu lassen. Dabei erhofft er sich Hilfe von Jack Graham, dem ehemaligen Lebensgefährten seiner Tochter, der nun als Anwalt in einer renommierten Kanzlei Karriere macht und der Kate nach wie vor liebt. Und auch der ermittelnde Detective Seth Frank zweifelt an den bisherigen Indizien und Beweisen in dem Fall. Der Präsident und seine ehrgeizige Stabschefin setzen allerdings alles daran, jedwede Zeugen und Beweise für immer verschwinden zu lassen. Doch die Rechnung haben sie ohne Luther gemacht…

„Luther holte den Brief aus der Tasche. Er wollte dafür sorgen, dass die Stabschefin ihn just zu dem Zeitpunkt erhielt, wo sie die letzten Anweisungen erwartete. Die Abrechnung. Sie alle würden bekommen, was ihnen zustand. Es war die Mühe wert, Russell Blut schwitzen zu lassen, und das tat sie, ganz bestimmt sogar. So sehr sich Luther auch bemühte, er konnte nicht vergessen, wie die Frau lustvoll den Präsidenten bestiegen hatte, neben einer noch warmen Leiche, als wäre die tote Frau ein Haufen Dreck, den man einfach links liegen ließ. Und dann Richmond. Dieser versoffene, schleimige Bastard!“ (S. 346)

Baldaccis Erstlingswerk ist auf einer spannenden Prämisse aufgebaut, nämlich den Verfehlungen eines selbstgefälligen, machthungrigen US-Präsidenten, dem sein von einem unfreiwilligen Zeugen beobachtete Fehltritt mit Todesfolge zum Verhängnis werden könnte. Der Autor spinnt allerdings ein allzu unglaubwürdiges Geflecht von Beziehungen und Intrigen, die der anfangs geschickt aufgebauten Spannung bald den Boden abgraben. Den Zufall, dass ein gewiefter Einbrecher (ausgerechnet) in einem mit einem Einwegfenster versehenen Tresorraum beobachtet, wie (ausgerechnet) der amerikanische Präsident Sex mit der Frau eines vermeintlichen Freundes hat, mag man noch mittragen, doch aus dem Katz- und Maus-Spiel zwischen den engsten Vertrauten des Präsidenten auf der einen und Luther und seinen Verbündeten auf der anderen Seite entwickelt sich ein allzu komplex konstruiertes und zunehmend unglaubwürdiges Intrigen-Puzzle. Dazu zählt leider auch die oberflächliche Psychologisierung der Figuren wie die klischeehafte Beziehung zwischen Jack Graham und der vom alten Geldadel abstammenden Jennifer Baldwin, die Graham zu lösen versucht, um wieder mit Kate zusammenzukommen, mit der er gemeinsam Kates Vater aus dem Dilemma zu befreien versucht. Ebenso unglaubwürdig wirkt das Gebaren der Stabschefin, die tatsächlich den stark alkoholisierten Zustand des von ihr verehren Präsidenten ausnutzt, um ihn noch am Tatort zu besteigen. Der dramaturgisch uneinheitlich aufgebaute Plot, die unzureichenden, stark klischeehaften Charakterisierungen und Motive der Figuren und die vielen unglaubwürdigen Zufälle und Entwicklungen überdecken dabei das fraglos vorhandene Talent eines Bestseller-Autors, der erst noch seinen Stil finden muss.

Mittwoch, 2. Juli 2025

Austin Taylor – „Das Gefühl von Unendlichkeit“

(Heyne, 398 S., HC)
Mit gerade mal 26 Jahren legt die in Maine geborene und lebende Austin Taylor ihr Romandebüt vor. Sie hat in Harvard Chemie und Englisch studiert und ihre dort gemachten Erfahrungen in ihren Erstling einfließen lassen, was dem Roman „Das Gefühl von Unendlichkeit“ von Beginn an einen authentischen Charakter verleiht.
Als Tochter eines renommierten MIT-Physikers ist Zoe Kyriakidis seit Kindertagen mit Studierenden aufgewachsen, die ihr Vater regelmäßig zum Abendessen mit nach Hause brachte und zwischen denen sie eingequetscht mühelos den anregenden Diskussionen folgte. Doch als sie im Alter von elf oder zwölf Jahren verstand, woran er forschte (Quantenfeldtheorie), erlahmte ihr Interesse, bis es einer Art von Rebellion wich. Der Wissenschaft blieb sie allerdings treu. Mit Bestnoten wurde sie in Harvard angenommen, studiert dort nun Chemie. Als sie während der Vorlesungen den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Jack Leah kennenlernt, bekommt sie durch ihn eine der begehrten Assistenzstellen bei Professor David Li und arbeitet mit Jack zusammen an einer Gentherapie im Anti-Aging-Bereich. Während Jack fleißig im Labor experimentiert, arbeitet Zoe vor allem an der Theorie, die sie gemeinsam bei dem legendären Professor Brenna weiterverfolgen. Schon bald zeigen sich Investoren interessiert, was auch die Beziehungen zwischen Zoe, Jack und dessen Mitbewohner Carter verändert, der in das Start-up einsteigt. Zwar schafft es Zoe trotz des immensen Interesses der Medien und der Welt der Wissenschaft noch immer nicht, sich aus dem Schatten ihres größeren Bruders Alex zu lösen und die verdiente Anerkennung ihres Vaters zu erhalten, doch das Anti-Aging-Konzept macht so viele Schlagzeilen, dass Zoe mittlerweile viel Zeit damit verbringt, die Theorie zu vermarkten, Interviews zu geben und Reden zu halten – und sich in eine Beziehung mit Jack zu stürzen…

„Vermutlich würde der Professor sagen, dass es ihr um Ruhm ginge. Aber es hatte mehr mit Respekt zu tun. Oder damit, ernst genommen zu werden. Vielleicht auch mit Macht. Bei Jack war es wahrscheinlich das Geld. In gewisser Weise vielleicht auch Macht. Bestimmt nicht Ruhm – selbst wenn Journalisten ihn um ein Interview anflehten – alle waren von seinem verschlossenen Wesen fasziniert -, ließ er sie abblitzen. Zu viel Arbeit im Labor, sagte er. Bevor sie ein Paar wurden, hätte Zoe bei keinem der Götzenbilder an Lust gedacht, aber jetzt schon.“ (S. 234)

Doch wo Milliarden Dollar Umsatz gemacht werden, sind die Neider nicht weit und beginnen, in den Medien die Arbeit im Start-up schlechtzureden. Dass da weit mehr als nur ein Körnchen Wahrheit dran ist, entdeckt Zoe viel zu spät…
Will man Austin Taylors Debütroman „Das Gefühl von Unendlichkeit“ in wenigen Worten beschreiben, dürfte dabei eine Mischung aus Wissenschafts- und Liebesroman herauskommen, eine etwas vereinfachte Variante vielleicht von Sylvia Nasars Biografie über den genialen Mathematiker John F. Nash, die Ron Howard mit Russell Crowe und Jennifer Connelly in den Hauptrollen unter dem Titel „A Beautiful Mind“ erfolgreich verfilmt hat. Taylor nimmt sich die nötige, aber nicht übermäßige Zeit, Zoe Kyriakidis‘ Kindheit und Jugend im wissenschaftlichen Umfeld ihres Vaters zu beschreiben, untermauert ihr eigenes Wissen aus dem Chemie-Studium mit einer Vielzahl von Fachbegriffen, die die Idee von der Regeneration der Zellen bis zur Unsterblichkeit mehr oder weniger verständlich vor Augen führt. Das verleiht dem Thema einen hohen Grad an Authentizität, ist allerdings auch mit der Gefahr verbunden, hier bereits einen Teil der Leserschaft zu vergraulen. Dieses Risiko wird dadurch erhöht, dass wir Zoe noch nicht wirklich ins Herz geschlossen haben, weil wir noch zu wenig von ihr wissen. Es folgt die vertraute Geschichte vom Aufstieg und Fall eines vielversprechenden Start-up-Unternehmens, wobei wir mitverfolgen, wie Zoe eine Art Ménage à trois mit Jack und Carter führt, ohne dass die Motivationen der Beteiligten auch nur ansatzweise herausgearbeitet werden. Jacks Geschichte wird sogar erst im letzten Viertel aufgearbeitet.
Am Ende hat die Autorin versucht, recht viele Themen auf den 400 Seiten unterzubringen, wobei die wissenschaftliche Seite gefühlt am meisten Aufmerksamkeit erhalten hat. Die Liebesbeziehung zwischen Zoe und Jack sorgt für das emotionale Auf und Ab, das untrennbar mit der Geschichte des Start-ups verbunden ist. Das ist trotz der vielen Fachbegriffe angenehm flüssig zu lesen, voller Dramatik, die allerdings subtiler aufgebaut hätte werden können, ebenso die Charakterisierungen der Figuren, die abgesehen von Zoe und Jack nahezu nur als Statisten fungieren.

Samstag, 28. Juni 2025

Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 16) „Die Rache des Uhrmachers“

(Blanvalet, 480 S., HC)
Zwar hat der ehemalige Zeitungsautor und Rechtsanwalt Jeffery Deaver bereits Ende der 1980er Jahre das Schreiben zu seiner Hauptbeschäftigung gemacht, doch erst mit dem ersten, 1997 veröffentlichten und später von Phillip Noyce mit Denzel Washington und Angelina Jolie erfolgreich verfilmten Thriller „Der Knochenjäger“ dem US-Amerikaner der internationale Durchbruch. Auch wenn Deaver zwischendurch immer wieder für sich stehende Thriller und weitere Romanreihen veröffentlichte, stehen nach wie vor die Thriller um den seit einem tragischen Arbeitsunfall querschnittsgelähmten forensischen Ermittler Lincoln Rhyme und seiner Assistentin/Frau Amelia Sachs im besonderen Fokus. In dem mittlerweile 16. Fall für das ungewöhnliche Ermittler-Duo haben es Rhyme und Sachs erneut mit dem Uhrmacher zu tun, der ihnen seit „Der gehetzte Uhrmacher“ immer mal wieder das Leben schwer gemacht hat.
Vor vier Monaten ist ein Unbekannter in das New Yorker Bauamt eingebrochen und hat eine Vielzahl von digitalen Dokumenten zur Infrastruktur heruntergeladen – Baupläne, Grundriss und technische Zeichnungen – sowie einige Ausdrucke der Dateien mitgenommen. Bislang haben sich die Befürchtungen von NYPD und Homeland Security aber nicht bewahrheitet, dass hinter dem Diebstahl ein geplanter Terrorakt stehen könnte. Doch dann kippt aus zunächst unerklärlichen Gründen ein Kran auf einer Großbaustelle an Manhattans Upper East Side um, tötet einen Menschen und verletzt sechs weitere. Wenig später erhält der Bürgermeister eine E-Mail mit der Forderung an die Stadt, ein gemeinnütziges Unternehmen zu gründen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Solange die in der Mail erwähnten Liegenschaften nicht übertragen worden sind, wird New York City alle 24 Stunden einen verheerenden Unfall erleben. Vom Kommunalka-Projekt, dem Verfasser der Mail, hat noch niemand etwas gehört. Während die Polizei alle weiteren Großbaustellen in der Stadt und vor allem die installierten Baukräne unter strenger Beobachtung hält, gehen Rhyme und Sachs mit Hilfe des ambitionierten Nachwuchs-Forensikers Ron Pulaski u.a. der These nach, ob der oder die Täter die Grundstückspreise nach unten drücken wollen, um günstig an die interessanteren Projekte zu gelangen. Der Täter hat den Kran mit der äußerst aggressiven Flusssäure präpariert, die sich auch durch Beton frisst. Während der weiteren Ermittlungen gerät vor allem der Abgeordnete Stephen Cody in den Fokus, da dessen Text aus einem Positionspapier auf seiner Internetseite von den Erpressern zitiert worden ist. Für echte Beunruhigung sorgt allerdings die Tatsache, dass Charles Vespasian Hale alias der Uhrmacher in der Stadt ist und einmal mehr Lincoln Rhyme nach dem Leben trachtet…

„Läufer und Türme und Bauern … Ich sehe die Züge unserer Schachpartie, Charles. Sie erfolgen – wie stets bei dir – mit der Präzision eines Uhrwerks, ökonomisch und ohne zu zögern. Auf schwarze Felder und auf weiße Felder. Läufer und Türme und Bauern … Ein Feld, zwei, zehn … Doch was ich nicht verstehe, Charles, ist deine Strategie. Wie soll ich auf diesen oder jenen Zug reagieren, ohne im Mindesten zu wissen, wie du meinen König angreifen willst?“ (S. 232)

Jeffery Deaver erweist sich auch in seinem 16. Abenteuer mit Lincoln Rhyme und Amelia Sachs als routinierter Thriller-Autor, der mit einem sauber recherchierten, extrem durchstrukturiert, zum Ende hin aber auch übermäßig konstruiert wirkenden Plot überzeugt. Die ungewöhnliche Ausgangssituation mit den sabotierten Baukränen in New York City, die faszinierende Sammlung und Auswertung der Spuren und Beweise sowie die geschilderten technologischen Möglichkeiten, mit ausgefeilten Überwachungssystemen gefühlt jede Bewegung einer verdächtigen Person nachvollziehen zu können, sowie die wechselnden Perspektiven der Ermittler auf der einen und der Täter auf der anderen Seite sorgen für fesselnde Unterhaltung, bei der einzig die emotionalen Momente zu kurz kommen. In dieser Hinsicht geraten Rhyme und Sachs tatsächlich zu Nebenfiguren, denn ihre persönliche Beziehung wird überhaupt nicht thematisiert. Stattdessen rückt Ron Pulaski in den Vordergrund, der sich nach einem von ihm verschuldeten Unfall der Innenrevision stellen muss und um seine berufliche Zukunft als möglicher Nachfolger von Lincoln Rhyme bangt. Dafür überzeugt die wendungsreiche Handlung, bei der der Uhrmacher erneut zu großer Form aufläuft.

Dienstag, 24. Juni 2025

Don Winslow – (Boone Daniels: 1) „Pacific Private“

(Suhrkamp, 396 S., Tb.)
Bevor Don Winslow seit Mitte der 2000er Jahre zunächst mit der Kartell-Trilogie („Tage der Toten“, „Das Kartell“ und „Jahre des Jägers“), der Danny-Ryan-Reihe („City on Fire“, „City of Dreams“ und „City in Ruins“) und Romanen wie „Zeit des Zorns“ und „Kings of Cool“ zu einem der prominentesten Thriller-Autoren avancierte, bewies er bereits mit der Reihe um Neal Carey und anderen Werken, dass er thematisch und stilistisch breit aufgestellt ist. Das demonstrierte vor allem auch die 2008 veröffentlichte Roman „Dawn Patrol“, der eine packende Krimi-Handlung in der Surferszene von Kalifornien einbettete.
Pacific Beach, Kalifornien. Hier warten die Mitglieder der sogenannten „Dawn Patrol“ – Boone Daniels, Hang Twelve, Dave the Love God, Johnny Banzai, High Tide und Sunny Day – auf die große Wellenfront, eine Brandung, wie sie nur alle zwanzig Jahre vorkommt. Doch der Ex-Cop Boone Daniels, der zwar für sein Leben gern surft, aber auch als Privatdetektiv seinen Lebensunterhalt zu verdienen versucht, muss seine Lieblingsbeschäftigung stark einschränken, als er von der attraktiven Anwältin Petra Hall, deren Kanzlei den Stripclub-Besitzer Dan Silver vertritt, der außerdem noch eine Reihe von Lagerhäusern besitzt, von denen eins kürzlich abgebrannt ist. Das Versicherungsunternehmen will nicht zahlen, weil es von Brandstiftung ausgeht, denn Tammy Roddick, eine von Silvers Tänzerinnen, mit denen er ein Verhältnis unterhielt, will gesehen haben, wie Silver selbst das Lagerhaus abgefackelt hat. Doch bevor Tammy vor Gericht aussagen kann, wird ihre Leiche an einem Hotel-Swimming-Pool aufgefunden, nachdem sie aus unerklärlichen Gründen vom Balkon gestürzt war. Die Tote wird allerdings nicht als Tammy identifiziert, sondern als ihre Freundin Angela Hart. Als Boone zusammen mit der Anwältin die Umstände von Angelas Tod und dem Verbleib von Tammy auf den Grund geht, stößt er auf einen Ring von Mädchenhändlern…

„Was ich gesehen habe, denkt Boone. Ich habe die Welt von einer Welle heraus gesehen, das Universum in einem einzigen Wassertropfen. Sie haben keine Ahnung von der Welt da draußen. Bald wird die Sonne aufgehen, die Dawn Patrol wird rauspaddeln, die großen Wellen angehen, Sunny wird ihre Chance nutzen. Er wäre gern mit ihnen da draußen, wäre gern für immer und ewig dort draußen. Aber es gibt Sonnenaufgänge, die man alleine beobachten muss.“ (S. 354)

„Pacific Private“ – so der etwas unglückliche deutsche Titel von „Dawn Patrol“ – ist alles andere als ein klassischer Kriminalroman. Don Winslow nimmt sich nicht nur viel Zeit, um die Hintergründe der Dawn-Patrol-Mitglieder, die Beziehung zwischen Boone und Sunny und natürlich die Untersuchung zum Mord an Angela Hart und das Auffinden der verschwundenen Zeugin Tammy Roddick zu beschreiben, sondern er rekapituliert auch minutiös, wie die kalifornische Küste zum Surferparadies avancierte, woran nicht nur gewiefte Immobilienspekulanten, sondern auch Brian Wilson und die Beach Boys großen Anteil hatten. Wer also nur eine spannende Krimihandlung erwartet, könnte angesichts der unterhaltsam aufbereiteten Hintergrundgeschichte gelangweilt sein. Aber wer Don Winslow als stilistisch großartigen Erzähler schätzt, wird an der authentisch vermittelten Atmosphäre ebenso seinen Spaß haben wie an der bedrückenden Krimihandlung. Ein Jahr später folgte mit „Pacific Paradise“ sogar noch eine Fortsetzung. 


Montag, 23. Juni 2025

Stephen King – „Kein Zurück“

(Heyne, 640 S., HC)
Über die Jahre hat sich Stephen King offensichtlich etwas in seine Figur Holly Gibney verliebt. Als Privatermittlerin in der von Bill Hodges geleiteten Agentur Finders Keepers spielte sie zunächst in der Bill-Hodges-Trilogie (bestehend aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“) zunächst eine sympathische Nebenrolle, ehe sie eine prominentere Rolle in „Der Outsider“ und in der Titelgeschichte der Kurzgeschichtensammlung „Blutige Nachrichten“ einnehmen durfte. 2023 nahm die hochbegabte Ermittlerin in „Holly“ die ungeteilte Hauptrolle ein. Nun hat Holly Gibney in Stephen Kings neuen Roman „Kein Zurück“ die nicht leichte Aufgabe, als Bodyguard für eine feministische Rampensau zu fungieren, während ein Serienkiller ihre Freundin Izzy auf Trab hält.
Als Detective Isabelle „Izzy“ James zu ihrem Vorgesetzten gebeten wird, überreicht dieser ihr einen Brief, in dem ein gewisser Bill Wilson ankündigt, für den Tod eines unschuldig Verurteilten 13 Unschuldige und einen Schuldigen zu töten. Offenbar ist mit dem Unschuldigen Alan Duffrey gemeint, den zwölf Geschworene der Kinderpornographie für schuldig befanden, worauf Duffrey im Knast niedergestochen wurde. Später gestand sein an Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium leidender Arbeitskollege, Duffrey die belastenden Pornomagazine untergeschoben zu haben, um sich dafür zu rächen, dass Duffrey statt seiner befördert worden war. Dass der Briefeschreiber keinen Scherz gemacht hat, beweist er mit dem Mord an einer unbescholtenen Frau - in ihrer Hand fand die Polizei einen Zettel mit dem Namen einer Geschworenen, die an der Verurteilung eines Unschuldigen beteiligt war. Izzy zieht ihre Freundin Holly Gibney zurate, die den Fall höchst interessant findet, aber selbst alle Hände voll zu tun hat. Die Feministin Kate McKay, die von Bundesstaat zu Bundesstaat zieht, um in großen Hallen gegen Abtreibungsgegner zu wettern, ist zur Zielscheibe radikaler Kirchengruppierungen geworden, und nachdem ihre Assistentin Corrie Anderson bereits Opfer zweier Attacken geworden ist, nimmt Holly die Stelle als Bodyguard für den egozentrischen Medienstar an. Als McKay in der Halle auftreten soll, in der auch die Soulsängerin Sista Bessie ihr Comeback feiert, bahnt sich eine Katastrophe an…

„Sie muss daran denken, wie ein Irrer namens Brady Hartsfield versucht hat, genau diesen Saal in die Luft zu sprengen. Dem alten Spruch, dass der Blitz nie zweimal an derselben Stelle einschlägt, traut sie absolut nicht, aber was kann sie machen? Nicht zum ersten Mal hat sie den Eindruck, von den Ereignissen einfach mitgerissen zu werden.“ (S. 424)

Obwohl er vor allem als Meister des übernatürlichen Horrors gilt, was er Werken wie „Carrie“, „The Stand“, „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und „Brennen muss Salem“ zu verdanken hat, wird Stephen King längst einfach als glänzender Erzähler geschätzt, der gerade in den Romanen mit Holly Gibney auch auf klassische Horrorelemente verzichtet. Schließlich bietet der Alltag in dieser Zeit so viel Grauen, dass ein Autor wie Stephen King, der stets das Zeitgeschehen im Blick hat und dieses mit seinen Romanen auch reflektiert, keine übernatürlichen Gruselszenarien beschwören muss, um seine Leserschaft zu fesseln. „Kein Zurück“ präsentiert sich als klassische Kriminalgeschichte mit zwei zunächst parallellaufenden Plots und zwei weiteren Nebenschauplätzen. Im Mittelpunkt stehen die sogenannten „Stellvertretermorde“ eines Mannes, der durch die harte Erziehung seines Vaters auf Abwege geraten ist, und die religiös motivierten Taten eines Mannes, der den Verlust seiner Schwester auf ganz eigene Art zu verarbeiten versucht. Unnötig aufgebläht wird das Ganze durch einen Sportwettkampf zwischen der Feuerwehr und der Polizei und dem Auftritt von Sista Bessie, was „Kein Zurück“ auf stolze 640 Seiten anschwellen lässt. Es braucht nicht viel, um „Kein Zurück“ als Kommentar auf sowohl religiöse Fanatiker als auch engstirnige Populisten zu verstehen, die momentan auf der ganzen Welt für politischen und gesellschaftlichen Zündstoff und blutige Kriege sorgen. Das ist durchaus spannend zu verfolgen, bleibt aber zu sehr an der Oberfläche, um nachhaltig überzeugen zu können. Die Charakterisierungen sind - für King ungewöhnlich – nämlich recht klischeehaft ausgefallen. King selbst führt seine Hüftoperation im September 2023 an, dass er den Roman mehrmals umschreiben musste.

Dienstag, 17. Juni 2025

Benjamin Myers – „Strandgut“

(DuMont, 288 S., HC)
Mit seinen allesamt bei DuMont veröffentlichten Romanen „Offene See“, „Der perfekte Kreis“, „Der längste, strahlendste Tag“ und „Cuddy – Echo der Zeit“ hat der nordenglische Schriftsteller und Journalist Benjamin Myers bereits eine Vielzahl von deutschen Lesern begeistert und mittlerweile auch die SPIEGEL-Bestsellerlist erobert. Nun erscheint mit „Strandgut“ ein neuer Roman des Briten, der sich einmal mehr sehr überzeugend in das Innenleben seiner Figuren einzufühlen versteht.
Earlon „Bucky“ Bronco hat mit seinen siebzig Jahren eigentlich nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt. In seinen Jugendjahren hatte er als Soulsänger zwei Singles – „Until the Wheels Fall Off“ und „All the Way Through tot he Morning“ - aufgenommen, dann seine große Liebe Maybell kennengelernt, doch dass sein vielversprechender Bruder Cecil ungerechterweise eine lange Haftstrafe abbüßen musste und seine geliebte Maybell im vergangenen Jahr aus dem Leben schied, brach Buckys Lebenswillen. Nun verbringt er seine schmerzerfüllten Tage – sehnsüchtig erwartet er nur „die goldene Stunde“, die ihm durch die Opioide gegen seine unerträglichen Hüftschmerzen geschenkt wird – zwischen Bett und Walmart-Apotheke. 
Doch während er in Chicago auf das Ende seines Leidens wartet, erreicht ihn die Einladung zu einem Soul-Festival im englischen Scarborough. Im Gegensatz zu seiner Heimat, wo Buckys vier aufgenommenen Songs längst vergessen sind – die zweite Single hat es nicht mal über das Stadium einer Testpressung hinaus geschafft -, sind die seltenen Singles hochgehandelte Sammlerstücke, Bucky selbst eine Legende, die den Höhepunkt des Weekenders an der britischen Küste bildet. Nach seiner Ankunft auf dem Flughafen in englischen Yorkshire wird der „King of Soul“ von der Mittfünfzigerin Dinah empfangen, die ihn über das Wochenende in Scarborough begleitet. 
Die melancholische, aber auch begeisterungsfähige Frau hat selbst ihr Päckchen zu tragen, einen ebenso nutzlosen Mann wie Sohn, und erfreut sich regelmäßiger Fluchten in das kalte Wasser der Nordsee. Zwar kann auch sie nicht für neue Opioide sorgen, die er im Flugzeug hat liegenlassen, aber mit ihrer lebensklugen Art hilft sie Bucky über einige emotionale Klippen hinweg. Und dann ist da auch noch die aus Afghanistan stammende Hotelangestellte Shabana, die ihm den Aufenthalt im Hotel etwas versüßt. Vor dem Auftritt leidet Bucky nicht nur unter heftigen Entzugserscheinungen, sondern auch unter großer Nervosität, vor so vielen Leuten aufzutreten. Doch die Zeit, die er vor allem mit Dinah hier in England bislang verbracht hat, verleiht ihm auch einen neuen Lebenswillen, eine andere Einstellung zu den Dingen, die ihn zu dem gemacht haben, was er heute ist.

„Und so tat Bucky das hier heute nicht nur für seine geliebte Maybell, sondern auch für Cecil Bronco, der für immer der junge Mann an der Schwelle zu etwas ganz Großem geblieben war. So musste es sein. Das hier war das letzte Geleit, das Bucky seinem Bruder nie hatte geben können. Die Elegie, die er nie hatte lesen, das Klagelied, das er nie hatte singen können. Er tat es für die Zukunft, die sein Bruder nie hatte erleben dürfen.“

Benjamin Myers ist mit „Strandgut“ ein bei aller Kürze einfühlsames Buch über die Schicksale zweier Menschen gelungen, die zunächst nur durch die Musik verbunden zu sein scheinen, auf dem Festival in England, wo sich der Sänger und die ihn betreuende Dinah kennenlernen, aber entdecken, wie viel Kraft, Verständnis und Lebensmut sie einander geben. So stellt „Strandgut“ eine Art Entwicklungsroman zweier Menschen dar, die mit ihrem Schicksal eigentlich abgeschlossen hatten, bevor sie sich begegneten, um dann durch die jeweils andere Perspektive einen neuen Blick auf ihr Leben gewinnen. 
Das ist ebenso berührend wie humorvoll erzählt, wobei der Autor auch die kulturellen Unterschiede zwischen den USA und England auf witzige Weise thematisiert. Dass Myers große Sympathien für seine Figuren empfindet, vergrößert das Lesevergnügen, denn sowohl Bucky als auch Dinah verfügen über ein markantes Identifikationspotenzial, wachsen dem Publikum schnell ans Herz. Mit einer einfachen, aber bildhaften Sprache und feinem Gespür für die Empfindungen seiner Figuren ist „Strandgut“ ein wunderbarer Feel-good-Roman nicht nur für die ältere Generation.


Donnerstag, 12. Juni 2025

Robert McCammon – (Matthew Corbett 2-2) – „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten Band II“

(Luzifer Verlag, 444 S., HC)
Die mehrjährige Schaffenspause, in der sich der einst prominente Horror-Autor Robert R. McCammon („Blutdurstig“, „Die schwarze Pyramide“) von seinem angestammten Genre lösen wollte, hat offenbar Wunder gewirkt. Denn mit der 2002 begonnenen Serie um den jungen Matthew Corbett, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Gerichtsdiener und Hobby-Ermittler seine Karriere startet, hat McCammon eine erfolgreiche Reihe initiiert, die mittlerweile sieben Bände umfasst. Die ersten beiden Werke – „Speaks the Nightbird“ und „The Queen of Bedlam“ – sind sogar so umfangreich gelungen, dass der Luzifer Verlag die deutschen Übersetzungen in jeweils zwei Hardcover-Bänden veröffentlichte. Nachdem im ersten Band von „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten“ die drei New Yorker Geschäftsleute Dr. Godwin, Pennford Deverick und Eben Ausley von dem sogenannten „Maskenschnitzer“ bestialisch ermordet wurden, hat sich unser junger Held auf die Suche nach dem Täter gemacht und dabei Bekanntschaft mit Mrs. Herrald und ihrem Gehilfen Greathouse geschlossen, die Corbett für ihre Ermittlungs-Agentur in ihre Dienste zu nehmen wünschten.
Matthew Corbett und Greathouse folgen einer Einladung von Dr. Ramsendell nach Philadelphia, der durch Marmaduke Grigsbys Zeitung „Der Ohrenkneifer“ auf die Anzeige der Herrald Vertretung in New York gestoßen ist und die Ermittler bittet, die Identität einer Patientin herauszufinden, die in ihrer Anstalt nach modernen Methoden betreut wird und nur als die „Königin“ bekannt ist. Ramsendell und sein Kollege Dr. Hulzen fragen sich, warum sich die Patientin in ihrem in sich eingeschlossenen Zustand befindet, und hoffen, durch weitere Nachforschungen einen besseren Behandlungszugang zu finden. Der einzige Kontakt, der Corbett und Greathouse zur Verfügung steht, ist der Anwalt Dr. Primm, der sich um die jährliche Zahlung für die Unterbringung der unbekannten Frau kümmert und größten Wert auf ihre Anonymität legt. Als sich die beiden Ermittler in dem Zimmer mit dem vornehmen Ambiente einen ersten Eindruck von der Person verschaffen wollen, fragt die alte Dame nur, ob die „Antwort des Königs“ inzwischen eingetroffen sei. Corbett versucht sich vorzustellen, wie die Verbindung von Deverick, dessen Namen die alte Dame wohl zu kennen scheint, zum Maskenschnitzer aussehen mag, aber auch die Verbindung zwischen dem Mörder, der Königin der Verdammten und den drei Mordopfern. Bei seinen Recherchen erfährt Corbett, dass Deverick nach seinem Erfolg in New York seine Aktivitäten auch auf Philadelphia ausgedehnt hatte und zwischenzeitlich sogar eine Seereise nach London unternommen hatte, obwohl er wegen seiner Verdauungsbeschwerden ungern gereist ist. Schließlich macht Corbett die Bekanntschaft von Mr. Chapel, der sehr an dem Notizbuch interessiert ist, das Ausley bei sich geführt hatte und nun verschwunden zu sein scheint. Wie Corbett auf dem mondänen Landsitz von Mr. Chapel erfährt, bestand offenbar eine Geschäftsbeziehung zwischen dem von Ausley geleiteten Waisenhaus und Mr. Chapel, der die größten Talente unter den Jungen in seine eigenen Dienste übernahm. Nun wird Corbett auch langsam klar, was die Königin in dem Tollhaus mit dem mysteriösen Maskenschnitzer gemein hat…

„Diese Königin der Verdammten sah den Strudel der Menschheit mit all seinen Freuden und Tragödien, seiner Weisheit und Verrücktheit. Diese Königin der Verdammten knobelte, trank in großen Zügen und raufte sich gelegentlich. Aber hier war sie nun einmal, in ihrem nachtschwarzen Gewand mit Laternenlicht, das wie gelbe Diamanten strahlte. Hier war sie, schwieg über ihre Gedanken und schrie ihr Verlangen heraus. Hier war sie, an der Grenze zur Neuen Welt.“ (S. 434)

Da die amerikanische Originalausgabe als ein Band veröffentlicht worden ist, geht der zweite Band in der deutschen Ausgabe nahtlos mit Teil 3 des Buches weiter. Und nun erfahren wir Leser auch endlich, was es mit dem Buchtitel auf sich hat. Mit der Bekanntschaft der Königin der Verdammten und Corbetts Aufenthalt bei Mr. Chapel erhält der Plot einen neuen Schwerpunkt, dazu kommt auch die leicht romantisch angehauchte Beziehung zwischen Corbett und Berry Grigsby. Während der erste Band noch den Gothic Touch von „Penny Dreadful“ verströmte, wechselt die Atmosphäre im zweiten Band zu einem klassischen Sherlock-Holmes-Plot, wobei Matthew Corbett die Darlegung seiner Schlussfolgerungen fast aus dem Nichts vorträgt. Das sorgt zwar für einige Wendungen und dramatische Entwicklungen, doch die bedrückende Stimmung des ersten Bandes wird nicht mehr erreicht. McCammon ist zweifellos ein hervorragender Stilist mit einem guten Gespür für interessante Plots, doch verliert er sich hier zu sehr in Ausschweifungen auf Kosten stimmiger Charakterisierungen. Gerade das Ensemble auf dem Landsitz von Mr. Chapel mit der mannstollen Charity LeClaire und dem preußischen Grafen Dahlgren verkommen zur bloßen Karikatur. Nach vielversprechendem Beginn mit dem ersten Band fällt die Geschichte von „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten“ im zweiten Band leider merklich ab.


Samstag, 31. Mai 2025

Hanns-Josef Ortheil – „Die große Liebe“

(btb, 318 S., Tb.)
Hanns-Josef Ortheil, Fachmann für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus hat bereits in seinen vorangegangenen Romanen „Faustinas Küsse“ und „Im Licht der Lagune“ sein Faible für das Sehnsuchtsland Italien sprachgewaltig zum Ausdruck gebracht, in dem 2003 veröffentlichten Roman mit dem programmatischen Titel „Die große Liebe“ holte der in Köln geborene und in Hildesheim lehrende Schriftsteller, Pianist, Drehbuchautor und Ratgeber zumindest in Sachen Sprache zum großen Wurf aus.
Der Fernsehredakteur Giovanni reist mit dem Zug nach San Benedetto an die italienische Adriaküste, um für einen Dokumentarfilm über das Meer zu recherchieren. Nachdem er sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut gemacht und ein Bad im Meer genossen hat, sucht er die Direktorin des meeresbiologischen Instituts, Dottoressa Franca, auf, erzählt ihr von seinem Vorhaben, in seinem Film das Thema Meer auf einfache, meeresbiologische Weise auf angenehm lehrreiche Art anzugehen, mit genauem Beobachten der Fische, der Pflanzen und des Treibens am Strand. Schon bei diesem ersten Gespräch wird von beiden Seiten eine besondere Magie wahrgenommen, die sie bei weiteren Begegnungen zu erkunden versuchen. Giovanni hat sich ohnehin gerade aus einer längeren Beziehung verabschiedet, die er durch Francas Kennenlernen kurz Revue passieren lässt. Franca ist allerdings mit dem ambitionierten Institutskollegen Dottore Alberti verlobt ist. „Es ist schön hier mit Ihnen“, offenbart die Meeresbiologin bei einem der ersten Treffen, doch bei aller Anziehungskraft lassen sich Giovanni und Franca Zeit miteinander, bis für beide völlig klar ist, dass sie füreinander bestimmt sind…

„… ich glaube, dachte ich, es ist auch in ihrem Fall die große Liebe, ich bin sicher, auch sie erlebt es zum ersten Mal, das Wort ,Liebe‘ ist zwischen uns noch nicht gefallen, aber es muss nicht ausgesprochen werden, das ganze Brimborium der Annäherung mit all seinen Umwegen und den oft kindischen Komplikationen haben wir uns einfach erspart. Wenn das aber so ist und sie es auch so empfindet, gibt es im Blick auf die Zukunft im Grunde nichts zu überlegen, die Zukunft ist vorgezeichnet, wir werden zusammenbleiben, wir sind ein Paar, noch nie habe ich mich mit jemandem so verbunden gefühlt…“ (S. 198)

Es ist tatsächlich eine ungewöhnlich, fast schon langweilig unkomplizierte Liebesgeschichte, die Hanns-Josef Ortheil mit diesem Roman erzählt, der mit dem provozierend kitschigen Titel „Die große Liebe“ versehen ist. Denn auch wenn Ortheils Ich-Erzähler kaum größere Hürden zu überwinden hat, als die mahnenden Ratschläge seines Kollegen und Freundes Rudolf sowie des Hoteliers Carlo in den Wind zu schießen, sich mit Francas Verlobten – ganz gesittet – auseinanderzusetzen und ihren Vater kennenzulernen, nimmt der Autor die Herausforderung an und erzählt schlicht und einfach vom Kennen- und Liebenlernen zweier intelligenter, psychisch unauffälliger Erwachsener, die keine Tragödien, Dramen oder unüberwindbare Konflikte bewältigen müssen, um endlich zueinander zu finden. So unspektakulär das in der Nacherzählung klingt, gelingt es Ortheil jedoch, die besonderen Vorzüge und Genüsse der italienischen Kultur, Lebensart und Kulinarik einzusetzen, um das Aufkeimen und Entwickeln der großen Liebe ansprechend in Szene zu setzen. Es ist aber nicht nur die absolut authentisch wirkende Kulisse, die die Leserschaft für sich einnimmt, es ist vor allem Ortheils sprachliches Geschick, mit dem die beschriebene Liebe an Farben, Gerüchen, Geschmack und Klängen gewinnt. Das muss man bei einem so ballastfreien Plot auch erst einmal schaffen, sein Publikum damit zufriedenzustellen.  

Freitag, 30. Mai 2025

Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 6) „Moonlight Mile“

(Diogenes, 384 S., Pb.)
In seinem mit dem Shamus Award für den besten Debütroman ausgezeichneten, 1994 veröffentlichten Krimi „A Drink Before the War“ hat Dennis Lehane bereits seine Klasse als filmreifer Autor mit Gespür für packende Plots, interessante Figuren und pointierte Dialoge unter Beweis gestellt. Sein Ermittlerduo Patrick Kenzie und Angela Gennaro durfte in den folgenden Jahren weitere Fälle aufklären, doch erst als sich Lehane im Jahr 2001 eine Pause von seiner bis dato fünf Bände umfassenden Kenzie-&-Gennaro-Reihe gönnte, um mit „Mystic River“ neues Terrain zu erschließen, wurde er zum Shooting-Star der US-amerikanischen Literaturszene, denn der meisterhafte Filmemacher Clint Eastwood nahm sich der Leinwandadaption an und machte Lehanes Namen international bekannt. 2010 präsentierte Lehane mit „Moonlight Mile“ eine Quasi-Fortsetzung des vierten Bandes „Gone Baby Gone“ (von und mit Ben Affleck verfilmt) und schloss die Reihe damit ab. Ebenso wie die erstmals bei Ullstein und dann in den letzten Jahren von Diogenes wiederveröffentlichten Kenzie-&-Gennaro-Romane erscheint nun auch „Moonlight Mile“ in neuer Übersetzung von Peter Torberg als schickes Paperback bei Diogenes.
Es hat sich einiges geändert im Leben von Patrick Kenzie und Angela Gennaro. Mittlerweile ist das Paar verheiratet und Eltern einer vierjährigen Tochter, Angela steht kurz vor dem Abschluss ihres Studiums, und Patrick wartet auf eine Festanstellung bei der Bostoner Privatdetektei Duhamel-Standiford. Nun wird Patrick mit einem alten Fall konfrontiert. Vor zwölf Jahren wurde die vierjährige Amanda McCready von ihrem Onkel Lionel und ein paar fehlgeleiteten Polizisten entführt worden, um das Mädchen von ihrer alkoholsüchtigen Mutter Helene wegzuholen und sie bei fürsorglicheren Eltern unterzubringen. Nachdem Patrick und Angela das Mädchen damals zu ihrer rechtmäßigen Mutter zurückgebracht hatten, ist die nun fast Siebzehnjährige erneut verschwunden, wie Patrick von Amandas Tante Beatrice erfährt. Patrick nimmt den Fall mit gemischten Gefühlen an, denn natürlich fühlt er sich für Amandas Schicksal verantwortlich. Dass er das Mädchen ihren liebevollen Ersatzeltern entzogen und wieder der zwar rechtmäßigen, aber lieblosen Mutter zurückgeführt hat, bereitet Patrick noch immer Kopfschmerzen, weshalb er sich umso eifriger in die Suche nach ihr stürzt. Allerdings bekommt er es schnell mit russischen Drogen- und Mädchenhändlern zu tun, als er erfährt, dass auch Amandas beste Freundin Sophie verschwunden ist. Einmal mehr wird Patrick bewusst, wie verrückt die Welt um ihn herum geworden war…

„Wenn man in letzter Zeit jemandem eine einfache Frage stellte oder eine unverfängliche Bemerkung machte, traf einen plötzlich ein Aufschrei aus Verlust und Wut. Wir begriffen überhaupt nicht, wie wir da hineingeraten waren. Wir erfassten nicht, was uns widerfahren war. Eines Tages wachten wir auf, und jemand hatte alle Straßenschilder gestohlen und alle Navigationssysteme ausgeschaltet. Im Auto war kein Benzin, im Wohnzimmer standen keine Möbel, der Abdruck im Bett neben uns war glattgestrichen worden.“ (S. 254)

Wie schon in vielen seiner vorangegangenen Romanen erweist sich Dennis Lehane auch in „Moonlight Mile“ als virtuoser Schriftsteller, der weit mehr bietet als nur einen spannenden Krimiplot. Der Roman thematisiert eindrucksvoll, wie systematisch das Gesundheits- und Fürsorgesystem in den USA versagt, wenn sich ein Kind in Verhältnissen befindet, in denen es in jeder Hinsicht zu verwahrlosen droht. In dem Lehane das Schicksal der damals vierjährigen Amanda mit dem des selbstbewussten Teenagers von heute gegenüberstellt, werden die Defizite des Systems umso deutlicher herausgestellt. Das Kindeswohl-Thema gesellt sich in „Moonlight Mile“ aber nahtlos zu anderen Problemfeldern der modernen Zivilisation, Korruption, Gewissenlosigkeit, wachsende Jugendkriminalität, ausufernde Drogen- und Menschenhandel, alles angefeuert von einer Rezession, in der jeder irgendwie nur versucht, über die Runden zu kommen. 
Diese Themen werden bei aller Wichtigkeit jedoch nicht ausschweifend in den Mittelpunkt gestellt, vielmehr fließen sie in die Gedanken des Ich-Erzählers Patrick Kenzie ein, der sich selbst am Scheitelpunkt seiner beruflichen Existenz befindet und sich fragt, ob er für den Job, den er ausübt, überhaupt noch gemacht ist. „Moonlight Mile“ erweist sich als stringent erzählter Krimi, der weniger durch einen spannenden, temporeichen Plot besticht als durch die emotionalen Fahrgewässer, die Patrick und Angie bei der Suche nach Amanda durchqueren müssen. Die bildhafte und doch schnörkellose Sprache und vor allem die vor sarkastischem Humor triefenden Dialoge machen den Abschluss der großartigen Krimi-reihe zu einem perfekten Lesevergnügen.

Samstag, 24. Mai 2025

Robert McCammon – (Matthew Corbett 2-1) – „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten Band I“

(Luzifer Verlag, 424 S., HC)
Robert McCammon zählte seit Ende der 1970er Jahren zu den bekanntesten Horrorautoren, auch wenn er stets in zweiter Reihe hinter den Großen wie Stephen King, Peter Straub, Dean Koontz oder Clive Barker stand. Allerdings überwarf er sich nach einigen erfolgreichen Genreromanen mit seinem Verlag, weil er dem Horror-Genre nicht verhaftet bleiben wollte – und nahm sich schließlich eine mehrjährige Auszeit. Zehn Jahre nach seinem Roman „Gone South“ (dt. „Durchgedreht“) legte der US-Amerikaner mit „Speaks the Nightbird“ den Beginn einer Reihe um den Ermittler Matthew Corbett vor, der in zu Beginn des 18. Jahrhunderts ungewöhnliche Fälle bearbeitet. Nachdem der Luzifer Verlag das Buch in zwei Bänden unter dem Titel „Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal“ in deutscher Erstveröffentlichung vorgelegt hatte, erschien auch die nachfolgende Geschichte „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten“ in zwei Bänden.
Nachdem Matthew Corbett als Gerichtsdiener für den reisenden Richter Isaac Woodward in den Carolina-Kolonien gearbeitet hatte, zog es ihn nach New York, wo er nun ebenfalls als Gerichtsdiener für Richter Powers arbeitet, bei der örtlichen Zeitung als Setzer aushilft und ein Zimmer unter dem Dach bei der Töpferei-Familie Stokelys bewohnt. Die wachsende Stadt mit derzeit 5000 Einwohnern steht unter Schock, als der angesehene Arzt Dr. Godwin erstochen und mit merkwürdigen Schnitten um die Augen herum aufgefunden wird. Marmaduke Grigsby, Herausgeber der einzigen Zeitung in der Stadt, hat den Täter als „Maskenschnitzer“ bezeichnet und so die Unruhe in der Bevölkerung nur noch mehr angestachelt. Matthew hat zunächst noch eine eigene Fehde zu begleichen, nämlich Rache an dem sadistischen Waisenhausbesitzer Eben Ausley zu nehmen, der sich nicht nur an Matthew selbst, sondern auch an dessen Freund John Five vergangen hat. Doch Matthew kann seinen Freund nicht zu einer Aussage vor Gericht überreden, das Ausley seiner gerechten Strafe zuführen würde. Doch als auch Ausley Opfer des gefürchteten Maskenschnitzers wird, hat Matthew ganz andere Sorgen. Da Richter Powers in den Ruhestand gehen wird, muss sich Matthew eine neue Anstellung suchen. Während er selbst nach Hinweisen auf die Identität des Schnitzers sucht, macht Matthew die Bekanntschaft von Mrs. Herrald, die Matthew in ihre Dienste nehmen würde, wenn er sich denn bei seiner ersten Aufgabe bewährt und von ihrem Gehilfen Greathouse in verschiedene Kampftechniken eingewiesen wird. Besonders verdächtig erscheinen Matthew einige angesehene Leute der Stadt, so auch Wachtmeister Lillehorne und Reverend Wade, der ausgerechnet in der Nähe des anrüchigen Etablissements von Madam Blossom gesehen wurde.

„Matthew schien es, dass eine potenzielle Verbindung zwischen Dr. Godwin, Deverick und nun ausgerechnet Ausley vielleicht in der Geschäftswelt lag, sofern es überhaupt eine gab. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass es sich vielleicht um die falsche Fährte handelte. Denn wie, um alles in der Welt, konnte der Leiter eines Waisenhauses mit einer Sucht nach dem Spieltisch in enger Beziehung zu einem wohlhabenden Großhändler stehen, der sich von den bitteren Straßen Londons nach oben gekämpft hatte? Und weiter: Wie war ein überragender und allgemein bewunderter Arzt mit diesen beiden Männern verbunden?“ (S. 326f.)

Robert McCammon hatte sich vor allem mit seinen Südstaaten-Romanen und vor allem mit dem Coming-of-Age-Drama „Boy’s Life“ als hervorragender Stilist etabliert, und diese Fähigkeit spielt er in seiner historischen Mystery-Krimi-Reihe um den jungen Ermittler Matthew Corbett voll aus. Der Autor verwendet das noch junge New York mit wenigen tausend Einwohnern als Kulisse für eine atmosphärisch dichte Story, die an „Jack the Ripper“ ebenso denken lässt wie an die Krimis von Sherlock Holmes. Es sind vor allem die lebendigen Beschreibungen der Gasthäuser, dem Treiben auf den dreckigen Straßen und am Hafen, aber auch die bildhaften Charakterisierungen der vielen Figuren, die McCammon im Verlauf der gemächlich inszenierten Handlung einführt. 
Da es sich bei „The Queen of Bedlam“ – so der 2007 veröffentlichte Originaltitel – in der deutschen Ausgabe um zwei Bände handelt, entwickelt sich die Spannung nur sehr langsam. Man muss sich beim Lesen stets vor Augen halten, dass die eigentliche Zuspitzung der Handlung und die Verbindung zur titelgebenden Königin der Verdammten erst im nächsten Band erfolgt. So darf man sich erst in Ruhe mit dem weiteren Werdegang des ambitionierten Ermittlers auseinandersetzen und seinen nicht immer freundlichen Bekanntschaften mit Zeugen, Familienangehörigen, Verdächtigen und zwielichtigen Gestalten jeglicher gesellschaftlicher Herkunft folgen. Es hilft zumindest, ein Gefühl für die Lebensumstände im New York des Jahres 1702 zu bekommen.

Samstag, 17. Mai 2025

Colin Wilson – „Der Stein der Weisen“

(Festa, 490 S., HC)
Der britische Schriftsteller Colin Wilson (1931 – 2013) war Zeit seines Lebens von schöpferischen Individuen fasziniert und Biografien zu einflussreichen Persönlichkeiten wie Rudolf Steiner, Carl Gustav Jung, P.D. Ouspensky, Georges I. Gurdjieff, Wilhelm Reich und Aleister Crowley verfasst. Ein besonderes Anliegen war ich, Wege zu finden, der Enge des Alltagsbewusstseins zu entkommen und unser Potential zu entwickeln. Wilson schrieb neben unzähligen Sachbüchern, darunter Klassiker wie „The Outsider“ und „The Occult“, aber auch immer wieder Romane. Sein erster, 1960 veröffentlichter Roman „Ritual in the Dark“ über einen Serienmörder war an die Geschichte von Jack the Ripper angelehnt. Als er in seinem Buch „The Strength to Dream“ (1962) die Horrorliteratur von H. P. Lovecraft kritisierte, nahm Wilson die Herausforderung von Lovecrafts Freund und Verleger August Derleth an, etwas Besseres zu schreiben. Nachdem er diese Aufgabe mit „The Mind Parasites“ (1967) bravourös gemeistert hatte, setzte er 1969 mit „The Philosopher’s Stone“ sogar noch einen drauf und legte eine Geschichte zur Entstehung von Lovecrafts legendären Cthulhu-Mythos vor, der später von Autoren wie Robert Bloch, Ramsey Campbell, Graham Masterton, Brian Lumley und Wolfgang Hohlbein aufgegriffen und weiterentwickelt worden ist. Der auf Horror-Literatur spezialisierte Festa-Verlag hat das Werk nun in der – limitierten - Reihe H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens unter dem Titel „Der Stein der Weisen“ als deutsche Erstausgabe veröffentlicht.

Howard Lester ist 1942 als Sohn eines Wartungstechnikers in Nottinghamshire in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, und die Erinnerungen an seine ersten zehn Lebensjahre waren von Schmutz und Langeweile geprägt. Hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zur Wissenschaft einerseits und zur Musik andererseits, begann sich Lester schon in frühen Jahren für das Phänomen der Zeit zu interessieren. Die schicksalhafte Begegnung des 13-jährigen Jungen mit dem 45-jährigen Wissenschaftler Sir Alastair Lyell führte Lester zur Erkenntnis, dass das menschliche Leben von der Realität entrückt und der Tod unsere letzte Abrechnung sei. Als sein Mentor versorgte Lyell den Jungen mit Büchern über Huxley, Darwin, Tyndal und Herbert Spencer, bis Lester das Thema fand, dem er fortan sein Leben widmen würde: Das „große Geheimnis“ des Lebens zu ergründen und einen Weg zu finden, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Denn seiner Auffassung nach sterben Menschen nur deshalb, weil sie sich langweilen und sich nicht anstrengen, nach höherem Wissen zu streben, weil sie sich durch das Triviale versklaven lassen. Nach dem Tod von Lyell im Jahr 1967 erbt Lester genügend Geld, um sich weiterhin seinen Forschungen zu widmen, wobei er sich zunehmend mit den Mystikern auseinandersetzt, viel Zeit im Lesesaal des Britischen Museums verbringt und schließlich die Bekanntschaft von Sir Henry Littleway macht, mit dem Lester fortan nicht nur Forschungen über das Älterwerden betreibt, sondern vor allem auch Operationen vornimmt, bei denen eine spezielle Legierung in den präfrontalen Kortex des Gehirns eingeführt wird, um die Geisteskräfte zu steigern und einen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, bei dem die äußere Welt durch die Macht des Gehirns in ihre Schranken gewiesen wird. Schließlich stoßen Lester und Littleway auf eine Basaltstatue und das Voynich-Manuskript und erfahren durch bewusst herbeigeführte Rückschauen, die sie bis zu Stonehenge und der Kultur der Maya führen, von den Großen Alten, die bereits Arthur Machen und H. P. Lovecraft in ihren Werken thematisiert haben…
„Meine ,Zeitschau‘ war noch immer relativ schwach, wenn ich versuchte, sie auf die ferne Vergangenheit anzuwenden, obwohl sie durchaus klar war, wenn ich sie mit weniger Epochen beschäftigte. Was die Basaltfigur betraf, so schien ihre Geschichte nicht mehr vollkommen undurchsichtig. Wenn ich sie jetzt anschaute, konnte ich spüren, dass auch sie mit einer seltsamen Religion von entsetzlichem Humor zu tun hatte. An dieser Erkenntnis war etwas seltsam Erfrischendes. Der Mensch neigt dazu, seine Götter nach seinem Bilde zu gestalten, um sie zu vermenschlichen. Aber diese Götter waren wild und ganz und gar fremd.“ (S. 356)
„Der Stein der Weisen“ wird nicht von ungefähr im Untertitel als „philosophischer Roman“ bezeichnet, denn eine konventionelle Handlung weist das Buch nicht auf. Dafür berichtet der Ich-Erzähler Howard Lester von seinen ausgiebigen Studien und Experimenten, die ihn schließlich zu weitreichenden Erkenntnissen über die Evolution des Menschen und die Rolle der Großen Alten bis in die heutige Zeit hineinführen. Das ist vor allem in philosophischer Hinsicht interessant und dürfte vor allem die Leser interessieren, die bereits Wilsons „Das Okkulte“ verschlungen haben. Für Lovecraft-Fans ist dieser Exkurs nur insofern interessant, als Lovecraft, der Cthulhu-Mythos ebenso wie das sagenumwobene „Necronomicon“ erwähnt und die Ursprünge der Großen Alten erklärt werden, doch von der atmosphärisch dichten Sprache, die Lovecrafts Erzählungen prägen, ist Wilsons „Der Stein der Weisen“ weit entfernt. Der sachliche, zuweilen etwas überhebliche Ton des Erzählers und seine Erkenntnis, zu den wenigen Individuen mit großer Einsicht und unbegrenztem Entwicklungspotenzial zu gehören, sorgen eher dafür, sich mit den philosophischen Fragen auseinanderzusetzen, als sich vor den Großen Alten zu fürchten.