(Festa, 490 S., HC)
Der britische Schriftsteller Colin Wilson (1931 –
2013) war Zeit seines Lebens von schöpferischen Individuen fasziniert und Biografien
zu einflussreichen Persönlichkeiten wie Rudolf Steiner, Carl Gustav Jung, P.D.
Ouspensky, Georges I. Gurdjieff, Wilhelm Reich und Aleister Crowley verfasst.
Ein besonderes Anliegen war ich, Wege zu finden, der Enge des
Alltagsbewusstseins zu entkommen und unser Potential zu entwickeln. Wilson
schrieb neben unzähligen Sachbüchern, darunter Klassiker wie „The Outsider“
und „The Occult“, aber auch immer wieder Romane. Sein erster, 1960
veröffentlichter Roman „Ritual in the Dark“ über einen Serienmörder war
an die Geschichte von Jack the Ripper angelehnt. Als er in seinem Buch „The
Strength to Dream“ (1962) die Horrorliteratur von H. P. Lovecraft kritisierte,
nahm Wilson die Herausforderung von Lovecrafts Freund und
Verleger August Derleth an, etwas Besseres zu schreiben. Nachdem er
diese Aufgabe mit „The Mind Parasites“ (1967) bravourös gemeistert hatte,
setzte er 1969 mit „The Philosopher’s Stone“ sogar noch einen drauf und legte
eine Geschichte zur Entstehung von Lovecrafts legendären Cthulhu-Mythos
vor, der später von Autoren wie Robert Bloch, Ramsey Campbell, Graham
Masterton, Brian Lumley und Wolfgang Hohlbein aufgegriffen und weiterentwickelt
worden ist. Der auf Horror-Literatur spezialisierte Festa-Verlag hat das Werk
nun in der – limitierten - Reihe H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens
unter dem Titel „Der Stein der Weisen“ als deutsche Erstausgabe
veröffentlicht.
Howard Lester ist 1942 als Sohn eines Wartungstechnikers in
Nottinghamshire in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, und die Erinnerungen
an seine ersten zehn Lebensjahre waren von Schmutz und Langeweile geprägt. Hin-
und hergerissen zwischen seiner Liebe zur Wissenschaft einerseits und zur Musik
andererseits, begann sich Lester schon in frühen Jahren für das Phänomen der
Zeit zu interessieren. Die schicksalhafte Begegnung des 13-jährigen Jungen mit
dem 45-jährigen Wissenschaftler Sir Alastair Lyell führte Lester zur
Erkenntnis, dass das menschliche Leben von der Realität entrückt und der Tod
unsere letzte Abrechnung sei. Als sein Mentor versorgte Lyell den Jungen mit
Büchern über Huxley, Darwin, Tyndal und Herbert Spencer, bis
Lester das Thema fand, dem er fortan sein Leben widmen würde: Das „große
Geheimnis“ des Lebens zu ergründen und einen Weg zu finden, dem Tod ein
Schnippchen zu schlagen. Denn seiner Auffassung nach sterben Menschen nur
deshalb, weil sie sich langweilen und sich nicht anstrengen, nach höherem
Wissen zu streben, weil sie sich durch das Triviale versklaven lassen. Nach dem
Tod von Lyell im Jahr 1967 erbt Lester genügend Geld, um sich weiterhin seinen
Forschungen zu widmen, wobei er sich zunehmend mit den Mystikern
auseinandersetzt, viel Zeit im Lesesaal des Britischen Museums verbringt und schließlich
die Bekanntschaft von Sir Henry Littleway macht, mit dem Lester fortan nicht
nur Forschungen über das Älterwerden betreibt, sondern vor allem auch
Operationen vornimmt, bei denen eine spezielle Legierung in den präfrontalen
Kortex des Gehirns eingeführt wird, um die Geisteskräfte zu steigern und einen
Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, bei dem die äußere Welt durch die Macht
des Gehirns in ihre Schranken gewiesen wird. Schließlich stoßen Lester und Littleway
auf eine Basaltstatue und das Voynich-Manuskript und erfahren durch bewusst
herbeigeführte Rückschauen, die sie bis zu Stonehenge und der Kultur der Maya führen,
von den Großen Alten, die bereits Arthur Machen und H. P. Lovecraft in ihren
Werken thematisiert haben…
„Meine ,Zeitschau‘ war noch immer relativ schwach, wenn ich versuchte, sie auf die ferne Vergangenheit anzuwenden, obwohl sie durchaus klar war, wenn ich sie mit weniger Epochen beschäftigte. Was die Basaltfigur betraf, so schien ihre Geschichte nicht mehr vollkommen undurchsichtig. Wenn ich sie jetzt anschaute, konnte ich spüren, dass auch sie mit einer seltsamen Religion von entsetzlichem Humor zu tun hatte. An dieser Erkenntnis war etwas seltsam Erfrischendes. Der Mensch neigt dazu, seine Götter nach seinem Bilde zu gestalten, um sie zu vermenschlichen. Aber diese Götter waren wild und ganz und gar fremd.“ (S. 356)
„Der Stein der Weisen“ wird nicht von ungefähr im
Untertitel als „philosophischer Roman“ bezeichnet, denn eine konventionelle
Handlung weist das Buch nicht auf. Dafür berichtet der Ich-Erzähler Howard Lester
von seinen ausgiebigen Studien und Experimenten, die ihn schließlich zu weitreichenden
Erkenntnissen über die Evolution des Menschen und die Rolle der Großen Alten
bis in die heutige Zeit hineinführen. Das ist vor allem in philosophischer
Hinsicht interessant und dürfte vor allem die Leser interessieren, die bereits Wilsons
„Das Okkulte“ verschlungen haben. Für Lovecraft-Fans ist dieser
Exkurs nur insofern interessant, als Lovecraft, der Cthulhu-Mythos
ebenso wie das sagenumwobene „Necronomicon“ erwähnt und die Ursprünge der
Großen Alten erklärt werden, doch von der atmosphärisch dichten Sprache, die Lovecrafts
Erzählungen prägen, ist Wilsons „Der Stein der Weisen“ weit
entfernt. Der sachliche, zuweilen etwas überhebliche Ton des Erzählers und
seine Erkenntnis, zu den wenigen Individuen mit großer Einsicht und
unbegrenztem Entwicklungspotenzial zu gehören, sorgen eher dafür, sich mit den
philosophischen Fragen auseinanderzusetzen, als sich vor den Großen Alten zu
fürchten.