Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 6) „Moonlight Mile“

Freitag, 30. Mai 2025

(Diogenes, 384 S., Pb.)
In seinem mit dem Shamus Award für den besten Debütroman ausgezeichneten, 1994 veröffentlichten Krimi „A Drink Before the War“ hat Dennis Lehane bereits seine Klasse als filmreifer Autor mit Gespür für packende Plots, interessante Figuren und pointierte Dialoge unter Beweis gestellt. Sein Ermittlerduo Patrick Kenzie und Angela Gennaro durfte in den folgenden Jahren weitere Fälle aufklären, doch erst als sich Lehane im Jahr 2001 eine Pause von seiner bis dato fünf Bände umfassenden Kenzie-&-Gennaro-Reihe gönnte, um mit „Mystic River“ neues Terrain zu erschließen, wurde er zum Shooting-Star der US-amerikanischen Literaturszene, denn der meisterhafte Filmemacher Clint Eastwood nahm sich der Leinwandadaption an und machte Lehanes Namen international bekannt. 2010 präsentierte Lehane mit „Moonlight Mile“ eine Quasi-Fortsetzung des vierten Bandes „Gone Baby Gone“ (von und mit Ben Affleck verfilmt) und schloss die Reihe damit ab. Ebenso wie die erstmals bei Ullstein und dann in den letzten Jahren von Diogenes wiederveröffentlichten Kenzie-&-Gennaro-Romane erscheint nun auch „Moonlight Mile“ in neuer Übersetzung von Peter Torberg als schickes Paperback bei Diogenes.
Es hat sich einiges geändert im Leben von Patrick Kenzie und Angela Gennaro. Mittlerweile ist das Paar verheiratet und Eltern einer vierjährigen Tochter, Angela steht kurz vor dem Abschluss ihres Studiums, und Patrick wartet auf eine Festanstellung bei der Bostoner Privatdetektei Duhamel-Standiford. Nun wird Patrick mit einem alten Fall konfrontiert. Vor zwölf Jahren wurde die vierjährige Amanda McCready von ihrem Onkel Lionel und ein paar fehlgeleiteten Polizisten entführt worden, um das Mädchen von ihrer alkoholsüchtigen Mutter Helene wegzuholen und sie bei fürsorglicheren Eltern unterzubringen. Nachdem Patrick und Angela das Mädchen damals zu ihrer rechtmäßigen Mutter zurückgebracht hatten, ist die nun fast Siebzehnjährige erneut verschwunden, wie Patrick von Amandas Tante Beatrice erfährt. Patrick nimmt den Fall mit gemischten Gefühlen an, denn natürlich fühlt er sich für Amandas Schicksal verantwortlich. Dass er das Mädchen ihren liebevollen Ersatzeltern entzogen und wieder der zwar rechtmäßigen, aber lieblosen Mutter zurückgeführt hat, bereitet Patrick noch immer Kopfschmerzen, weshalb er sich umso eifriger in die Suche nach ihr stürzt. Allerdings bekommt er es schnell mit russischen Drogen- und Mädchenhändlern zu tun, als er erfährt, dass auch Amandas beste Freundin Sophie verschwunden ist. Einmal mehr wird Patrick bewusst, wie verrückt die Welt um ihn herum geworden war…

„Wenn man in letzter Zeit jemandem eine einfache Frage stellte oder eine unverfängliche Bemerkung machte, traf einen plötzlich ein Aufschrei aus Verlust und Wut. Wir begriffen überhaupt nicht, wie wir da hineingeraten waren. Wir erfassten nicht, was uns widerfahren war. Eines Tages wachten wir auf, und jemand hatte alle Straßenschilder gestohlen und alle Navigationssysteme ausgeschaltet. Im Auto war kein Benzin, im Wohnzimmer standen keine Möbel, der Abdruck im Bett neben uns war glattgestrichen worden.“ (S. 254)

Wie schon in vielen seiner vorangegangenen Romanen erweist sich Dennis Lehane auch in „Moonlight Mile“ als virtuoser Schriftsteller, der weit mehr bietet als nur einen spannenden Krimiplot. Der Roman thematisiert eindrucksvoll, wie systematisch das Gesundheits- und Fürsorgesystem in den USA versagt, wenn sich ein Kind in Verhältnissen befindet, in denen es in jeder Hinsicht zu verwahrlosen droht. In dem Lehane das Schicksal der damals vierjährigen Amanda mit dem des selbstbewussten Teenagers von heute gegenüberstellt, werden die Defizite des Systems umso deutlicher herausgestellt. Das Kindeswohl-Thema gesellt sich in „Moonlight Mile“ aber nahtlos zu anderen Problemfeldern der modernen Zivilisation, Korruption, Gewissenlosigkeit, wachsende Jugendkriminalität, ausufernde Drogen- und Menschenhandel, alles angefeuert von einer Rezession, in der jeder irgendwie nur versucht, über die Runden zu kommen. 
Diese Themen werden bei aller Wichtigkeit jedoch nicht ausschweifend in den Mittelpunkt gestellt, vielmehr fließen sie in die Gedanken des Ich-Erzählers Patrick Kenzie ein, der sich selbst am Scheitelpunkt seiner beruflichen Existenz befindet und sich fragt, ob er für den Job, den er ausübt, überhaupt noch gemacht ist. „Moonlight Mile“ erweist sich als stringent erzählter Krimi, der weniger durch einen spannenden, temporeichen Plot besticht als durch die emotionalen Fahrgewässer, die Patrick und Angie bei der Suche nach Amanda durchqueren müssen. Die bildhafte und doch schnörkellose Sprache und vor allem die vor sarkastischem Humor triefenden Dialoge machen den Abschluss der großartigen Krimi-reihe zu einem perfekten Lesevergnügen.

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