(btb, 542 S., HC)
Nachdem der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser
mit dem zehnten Buch „Sein letzter Fall“ seinen Kommissar Van Veeteren
in Rente schickte, sollte es immerhin drei Jahre dauern, bis Nesser in
Inspektor Barbarotti einen „Nachfolger“ präsentierte. Allerdings ist ihm in dem
hierzulande 2007 veröffentlichten Debüt „Mensch ohne Hund“ fast nur eine
Art Nebenrolle beschieden.
Wenige Tage vor Weihnachten bereitet Rosemarie Wunderlich
Hermansson das große Familientreffen anlässlich des gemeinsamen Geburtstages
ihres verhassten Ehemanns Karl-Erik und ihrer gemeinsamen Tochter Ebba vor. Die
ehemalige Handarbeits- und Deutschlehrerin sieht mit Grauen dem Ruhestand
entgegen, den ihr Mann, den sie wenig liebevoll als „pädagogische Fichte“
bezeichnet, mit ihr in Spanien an der „Rentnerküste“ verbringen will. Das
Familienfest steht allerdings unter einem ungünstigen Stern, vor allem, weil
ihr Sohn Walter, einst ein erfolgreicher Sportler, in einer TV-Reality-Soap
dabei gefilmt wurde, wie er am Strand der Masturbation frönte und fortan als „Wichs-Walter“
die schwedische Boulevard-Presse beherrschte. Die Ärztin Ebba, die ihren 40.
Geburtstag begeht, wird von ihrem Ehemann, dem Supermarkt-Leiter Leif, und den
halbwüchsigen Söhnen Henrik und Kristoffer begleitet. Die jüngere Schwester
Kristina erscheint mit ihrem Gatten, dem reizbaren Fernsehproduzenten Jakob und
dem zweijährigen Sohn Kelvin. Unter der Oberfläche der Feierlichkeiten, des vermeintlich
ausgelassenen Essens und Trinkens brodelt es allerdings. Kristoffer kommt dahinter,
dass sein älterer Bruder offensichtlich schwul ist. Als sich Henrik nachts aus
dem Zimmer schleicht, glaubt er noch, dass er sich mit dessen Freund Jens treffen
will. Stattdessen ist Henrik zu seiner Tante Kristina unterwegs, die sich mit Jakob
und Kelvin in einem Hotel eingemietet haben, das Jakob allerdings wegen einer
Konferenz vorzeitig verlassen musste. Nachdem Kristina ihren Neffen davon
überzeugen kann, dass er nicht homosexuell ist, verschwinden sowohl Walter als
auch Henrik spurlos. Hauptkommissar Asunander beauftragt Inspektor Gunnar
Barbarotti mit dem Fall, der sich mit konventionellen Mitteln nicht aufklären lässt.
„Wen zum Teufel hatte Henrik Grundt in Kymlinge treffen wollen? Sein kleiner Bruder hatte ja auch darauf hingewiesen: Er kannte keine Menschenseele dort. Konnte es sein, dass es sich um einen Bekannten aus Uppsala handelte, mit dem er das Stelldichein verabredet hatte? Ein Bekannter, der sich auch in dieser Landesecke aufhielt, um Weihnachten zu feiern? (…) Und hing das wirklich nicht mit Walters Verschwinden in der Nacht zuvor zusammen?“ (S. 295)
Mittlerweile machen sich vor allem Rosemarie und dann ihre Tochter
Ebba nach einem Hinweis eines Hotelportiers vermehrt Gedanken um das Schicksal
ihrer vermissten Familienmitglieder, bis sich auch Kristoffer zu einer fatalen
Entscheidung durchringt…
Allein die Tatsache, dass Inspektor Barbarotti erst nach 200
Seiten erstmals in die Handlung eingeführt wird, veranschaulicht, dass es sich
bei „Mensch ohne Hund“ nicht um einen klassischen Krimi handelt. Der
Titel bezieht sich übrigens auf ein gut 650 Seiten umfassendes gleichnamiges
Romanmanuskript des vermissten Walter Hermansson, spielt für die Handlung aber
keine entscheidende Rolle. Barbarotti wird als sympathischer und geschiedener
Mittvierziger vorgestellt, der über die Feiertage seine achtzehnjährige Tochter
Sara zu Besuch hat und eine Affäre mit der Urlaubsbekanntschaft Marianne
unterhält. Der Schwerpunkt des Romans liegt allerdings in der Beschreibung der angespannten
Verhältnisse innerhalb der Hermansson-Familie. Ausgedehnte innere Monologe der
einzelnen Familienmitglieder sorgen für die Charakterisierung sowohl der
Figuren als auch ihrer Beziehungen zueinander. Was sich aus diesen
zwischenmenschlichen Dramen entwickelt, macht den eigentlichen Reiz der
Handlung aus, wobei die Aufklärung der Schicksale der beiden Vermissten fast in
den Hintergrund gerät.
Nesser erweist sich in „Mensch ohne Hund“
weniger als Kriminalist, sondern als guter Beobachter menschlicher
Befindlichkeiten, die zu tragischen Entscheidungen führen können. Das ist nicht
besonders spannend, aber die gefällige, mit vielen humorvollen Einschüben
versehene Sprache des Autors macht Lust auf die Fortsetzung der Barbarotti-Reihe.