(Diogenes, 384 S., Pb.)
In seinem mit dem Shamus Award für den besten Debütroman
ausgezeichneten, 1994 veröffentlichten Krimi „A Drink Before the War“
hat Dennis Lehane bereits seine Klasse als filmreifer Autor mit
Gespür für packende Plots, interessante Figuren und pointierte Dialoge unter
Beweis gestellt. Sein Ermittlerduo Patrick Kenzie und Angela Gennaro durfte in
den folgenden Jahren weitere Fälle aufklären, doch erst als sich Lehane im
Jahr 2001 eine Pause von seiner bis dato fünf Bände umfassenden
Kenzie-&-Gennaro-Reihe gönnte, um mit „Mystic River“ neues Terrain
zu erschließen, wurde er zum Shooting-Star der US-amerikanischen Literaturszene,
denn der meisterhafte Filmemacher Clint Eastwood nahm sich der
Leinwandadaption an und machte Lehanes Namen international bekannt. 2010
präsentierte Lehane mit „Moonlight Mile“ eine Quasi-Fortsetzung
des vierten Bandes „Gone Baby Gone“ (von und mit Ben Affleck
verfilmt) und schloss die Reihe damit ab. Ebenso wie die erstmals bei Ullstein
und dann in den letzten Jahren von Diogenes wiederveröffentlichten Kenzie-&-Gennaro-Romane
erscheint nun auch „Moonlight Mile“ in neuer Übersetzung von Peter
Torberg als schickes Paperback bei Diogenes.
Es hat sich einiges geändert im Leben von Patrick Kenzie und
Angela Gennaro. Mittlerweile ist das Paar verheiratet und Eltern einer vierjährigen
Tochter, Angela steht kurz vor dem Abschluss ihres Studiums, und Patrick wartet
auf eine Festanstellung bei der Bostoner Privatdetektei Duhamel-Standiford. Nun
wird Patrick mit einem alten Fall konfrontiert. Vor zwölf Jahren wurde die vierjährige
Amanda McCready von ihrem Onkel Lionel und ein paar fehlgeleiteten Polizisten
entführt worden, um das Mädchen von ihrer alkoholsüchtigen Mutter Helene
wegzuholen und sie bei fürsorglicheren Eltern unterzubringen. Nachdem Patrick
und Angela das Mädchen damals zu ihrer rechtmäßigen Mutter zurückgebracht hatten,
ist die nun fast Siebzehnjährige erneut verschwunden, wie Patrick von Amandas
Tante Beatrice erfährt. Patrick nimmt den Fall mit gemischten Gefühlen an, denn
natürlich fühlt er sich für Amandas Schicksal verantwortlich. Dass er das
Mädchen ihren liebevollen Ersatzeltern entzogen und wieder der zwar
rechtmäßigen, aber lieblosen Mutter zurückgeführt hat, bereitet Patrick noch
immer Kopfschmerzen, weshalb er sich umso eifriger in die Suche nach ihr
stürzt. Allerdings bekommt er es schnell mit russischen Drogen- und Mädchenhändlern
zu tun, als er erfährt, dass auch Amandas beste Freundin Sophie verschwunden
ist. Einmal mehr wird Patrick bewusst, wie verrückt die Welt um ihn herum
geworden war…
„Wenn man in letzter Zeit jemandem eine einfache Frage stellte oder eine unverfängliche Bemerkung machte, traf einen plötzlich ein Aufschrei aus Verlust und Wut. Wir begriffen überhaupt nicht, wie wir da hineingeraten waren. Wir erfassten nicht, was uns widerfahren war. Eines Tages wachten wir auf, und jemand hatte alle Straßenschilder gestohlen und alle Navigationssysteme ausgeschaltet. Im Auto war kein Benzin, im Wohnzimmer standen keine Möbel, der Abdruck im Bett neben uns war glattgestrichen worden.“ (S. 254)
Wie schon in vielen seiner vorangegangenen Romanen erweist
sich Dennis Lehane auch in „Moonlight Mile“ als virtuoser Schriftsteller,
der weit mehr bietet als nur einen spannenden Krimiplot. Der Roman thematisiert
eindrucksvoll, wie systematisch das Gesundheits- und Fürsorgesystem in den USA
versagt, wenn sich ein Kind in Verhältnissen befindet, in denen es in jeder Hinsicht
zu verwahrlosen droht. In dem Lehane das Schicksal der damals
vierjährigen Amanda mit dem des selbstbewussten Teenagers von heute
gegenüberstellt, werden die Defizite des Systems umso deutlicher
herausgestellt. Das Kindeswohl-Thema gesellt sich in „Moonlight Mile“ aber
nahtlos zu anderen Problemfeldern der modernen Zivilisation, Korruption,
Gewissenlosigkeit, wachsende Jugendkriminalität, ausufernde Drogen- und
Menschenhandel, alles angefeuert von einer Rezession, in der jeder irgendwie
nur versucht, über die Runden zu kommen.
Diese Themen werden bei aller
Wichtigkeit jedoch nicht ausschweifend in den Mittelpunkt gestellt, vielmehr
fließen sie in die Gedanken des Ich-Erzählers Patrick Kenzie ein, der sich selbst
am Scheitelpunkt seiner beruflichen Existenz befindet und sich fragt, ob er für
den Job, den er ausübt, überhaupt noch gemacht ist. „Moonlight Mile“ erweist
sich als stringent erzählter Krimi, der weniger durch einen spannenden,
temporeichen Plot besticht als durch die emotionalen Fahrgewässer, die Patrick
und Angie bei der Suche nach Amanda durchqueren müssen. Die bildhafte und doch
schnörkellose Sprache und vor allem die vor sarkastischem Humor triefenden
Dialoge machen den Abschluss der großartigen Krimi-reihe zu einem perfekten
Lesevergnügen.