Dennis Lehane – (Kenzie & Gennaro: 6) „Moonlight Mile“

Freitag, 30. Mai 2025

(Diogenes, 384 S., Pb.)
In seinem mit dem Shamus Award für den besten Debütroman ausgezeichneten, 1994 veröffentlichten Krimi „A Drink Before the War“ hat Dennis Lehane bereits seine Klasse als filmreifer Autor mit Gespür für packende Plots, interessante Figuren und pointierte Dialoge unter Beweis gestellt. Sein Ermittlerduo Patrick Kenzie und Angela Gennaro durfte in den folgenden Jahren weitere Fälle aufklären, doch erst als sich Lehane im Jahr 2001 eine Pause von seiner bis dato fünf Bände umfassenden Kenzie-&-Gennaro-Reihe gönnte, um mit „Mystic River“ neues Terrain zu erschließen, wurde er zum Shooting-Star der US-amerikanischen Literaturszene, denn der meisterhafte Filmemacher Clint Eastwood nahm sich der Leinwandadaption an und machte Lehanes Namen international bekannt. 2010 präsentierte Lehane mit „Moonlight Mile“ eine Quasi-Fortsetzung des vierten Bandes „Gone Baby Gone“ (von und mit Ben Affleck verfilmt) und schloss die Reihe damit ab. Ebenso wie die erstmals bei Ullstein und dann in den letzten Jahren von Diogenes wiederveröffentlichten Kenzie-&-Gennaro-Romane erscheint nun auch „Moonlight Mile“ in neuer Übersetzung von Peter Torberg als schickes Paperback bei Diogenes.
Es hat sich einiges geändert im Leben von Patrick Kenzie und Angela Gennaro. Mittlerweile ist das Paar verheiratet und Eltern einer vierjährigen Tochter, Angela steht kurz vor dem Abschluss ihres Studiums, und Patrick wartet auf eine Festanstellung bei der Bostoner Privatdetektei Duhamel-Standiford. Nun wird Patrick mit einem alten Fall konfrontiert. Vor zwölf Jahren wurde die vierjährige Amanda McCready von ihrem Onkel Lionel und ein paar fehlgeleiteten Polizisten entführt worden, um das Mädchen von ihrer alkoholsüchtigen Mutter Helene wegzuholen und sie bei fürsorglicheren Eltern unterzubringen. Nachdem Patrick und Angela das Mädchen damals zu ihrer rechtmäßigen Mutter zurückgebracht hatten, ist die nun fast Siebzehnjährige erneut verschwunden, wie Patrick von Amandas Tante Beatrice erfährt. Patrick nimmt den Fall mit gemischten Gefühlen an, denn natürlich fühlt er sich für Amandas Schicksal verantwortlich. Dass er das Mädchen ihren liebevollen Ersatzeltern entzogen und wieder der zwar rechtmäßigen, aber lieblosen Mutter zurückgeführt hat, bereitet Patrick noch immer Kopfschmerzen, weshalb er sich umso eifriger in die Suche nach ihr stürzt. Allerdings bekommt er es schnell mit russischen Drogen- und Mädchenhändlern zu tun, als er erfährt, dass auch Amandas beste Freundin Sophie verschwunden ist. Einmal mehr wird Patrick bewusst, wie verrückt die Welt um ihn herum geworden war…

„Wenn man in letzter Zeit jemandem eine einfache Frage stellte oder eine unverfängliche Bemerkung machte, traf einen plötzlich ein Aufschrei aus Verlust und Wut. Wir begriffen überhaupt nicht, wie wir da hineingeraten waren. Wir erfassten nicht, was uns widerfahren war. Eines Tages wachten wir auf, und jemand hatte alle Straßenschilder gestohlen und alle Navigationssysteme ausgeschaltet. Im Auto war kein Benzin, im Wohnzimmer standen keine Möbel, der Abdruck im Bett neben uns war glattgestrichen worden.“ (S. 254)

Wie schon in vielen seiner vorangegangenen Romanen erweist sich Dennis Lehane auch in „Moonlight Mile“ als virtuoser Schriftsteller, der weit mehr bietet als nur einen spannenden Krimiplot. Der Roman thematisiert eindrucksvoll, wie systematisch das Gesundheits- und Fürsorgesystem in den USA versagt, wenn sich ein Kind in Verhältnissen befindet, in denen es in jeder Hinsicht zu verwahrlosen droht. In dem Lehane das Schicksal der damals vierjährigen Amanda mit dem des selbstbewussten Teenagers von heute gegenüberstellt, werden die Defizite des Systems umso deutlicher herausgestellt. Das Kindeswohl-Thema gesellt sich in „Moonlight Mile“ aber nahtlos zu anderen Problemfeldern der modernen Zivilisation, Korruption, Gewissenlosigkeit, wachsende Jugendkriminalität, ausufernde Drogen- und Menschenhandel, alles angefeuert von einer Rezession, in der jeder irgendwie nur versucht, über die Runden zu kommen. 
Diese Themen werden bei aller Wichtigkeit jedoch nicht ausschweifend in den Mittelpunkt gestellt, vielmehr fließen sie in die Gedanken des Ich-Erzählers Patrick Kenzie ein, der sich selbst am Scheitelpunkt seiner beruflichen Existenz befindet und sich fragt, ob er für den Job, den er ausübt, überhaupt noch gemacht ist. „Moonlight Mile“ erweist sich als stringent erzählter Krimi, der weniger durch einen spannenden, temporeichen Plot besticht als durch die emotionalen Fahrgewässer, die Patrick und Angie bei der Suche nach Amanda durchqueren müssen. Die bildhafte und doch schnörkellose Sprache und vor allem die vor sarkastischem Humor triefenden Dialoge machen den Abschluss der großartigen Krimi-reihe zu einem perfekten Lesevergnügen.

Robert McCammon – (Matthew Corbett 2-1) – „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten Band I“

Samstag, 24. Mai 2025

(Luzifer Verlag, 424 S., HC)
Robert McCammon zählte seit Ende der 1970er Jahren zu den bekanntesten Horrorautoren, auch wenn er stets in zweiter Reihe hinter den Großen wie Stephen King, Peter Straub, Dean Koontz oder Clive Barker stand. Allerdings überwarf er sich nach einigen erfolgreichen Genreromanen mit seinem Verlag, weil er dem Horror-Genre nicht verhaftet bleiben wollte – und nahm sich schließlich eine mehrjährige Auszeit. Zehn Jahre nach seinem Roman „Gone South“ (dt. „Durchgedreht“) legte der US-Amerikaner mit „Speaks the Nightbird“ den Beginn einer Reihe um den Ermittler Matthew Corbett vor, der in zu Beginn des 18. Jahrhunderts ungewöhnliche Fälle bearbeitet. Nachdem der Luzifer Verlag das Buch in zwei Bänden unter dem Titel „Matthew Corbett und die Hexe von Fount Royal“ in deutscher Erstveröffentlichung vorgelegt hatte, erschien auch die nachfolgende Geschichte „Matthew Corbett und die Königin der Verdammten“ in zwei Bänden.
Nachdem Matthew Corbett als Gerichtsdiener für den reisenden Richter Isaac Woodward in den Carolina-Kolonien gearbeitet hatte, zog es ihn nach New York, wo er nun ebenfalls als Gerichtsdiener für Richter Powers arbeitet, bei der örtlichen Zeitung als Setzer aushilft und ein Zimmer unter dem Dach bei der Töpferei-Familie Stokelys bewohnt. Die wachsende Stadt mit derzeit 5000 Einwohnern steht unter Schock, als der angesehene Arzt Dr. Godwin erstochen und mit merkwürdigen Schnitten um die Augen herum aufgefunden wird. Marmaduke Grigsby, Herausgeber der einzigen Zeitung in der Stadt, hat den Täter als „Maskenschnitzer“ bezeichnet und so die Unruhe in der Bevölkerung nur noch mehr angestachelt. Matthew hat zunächst noch eine eigene Fehde zu begleichen, nämlich Rache an dem sadistischen Waisenhausbesitzer Eben Ausley zu nehmen, der sich nicht nur an Matthew selbst, sondern auch an dessen Freund John Five vergangen hat. Doch Matthew kann seinen Freund nicht zu einer Aussage vor Gericht überreden, das Ausley seiner gerechten Strafe zuführen würde. Doch als auch Ausley Opfer des gefürchteten Maskenschnitzers wird, hat Matthew ganz andere Sorgen. Da Richter Powers in den Ruhestand gehen wird, muss sich Matthew eine neue Anstellung suchen. Während er selbst nach Hinweisen auf die Identität des Schnitzers sucht, macht Matthew die Bekanntschaft von Mrs. Herrald, die Matthew in ihre Dienste nehmen würde, wenn er sich denn bei seiner ersten Aufgabe bewährt und von ihrem Gehilfen Greathouse in verschiedene Kampftechniken eingewiesen wird. Besonders verdächtig erscheinen Matthew einige angesehene Leute der Stadt, so auch Wachtmeister Lillehorne und Reverend Wade, der ausgerechnet in der Nähe des anrüchigen Etablissements von Madam Blossom gesehen wurde.

„Matthew schien es, dass eine potenzielle Verbindung zwischen Dr. Godwin, Deverick und nun ausgerechnet Ausley vielleicht in der Geschäftswelt lag, sofern es überhaupt eine gab. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass es sich vielleicht um die falsche Fährte handelte. Denn wie, um alles in der Welt, konnte der Leiter eines Waisenhauses mit einer Sucht nach dem Spieltisch in enger Beziehung zu einem wohlhabenden Großhändler stehen, der sich von den bitteren Straßen Londons nach oben gekämpft hatte? Und weiter: Wie war ein überragender und allgemein bewunderter Arzt mit diesen beiden Männern verbunden?“ (S. 326f.)

Robert McCammon hatte sich vor allem mit seinen Südstaaten-Romanen und vor allem mit dem Coming-of-Age-Drama „Boy’s Life“ als hervorragender Stilist etabliert, und diese Fähigkeit spielt er in seiner historischen Mystery-Krimi-Reihe um den jungen Ermittler Matthew Corbett voll aus. Der Autor verwendet das noch junge New York mit wenigen tausend Einwohnern als Kulisse für eine atmosphärisch dichte Story, die an „Jack the Ripper“ ebenso denken lässt wie an die Krimis von Sherlock Holmes. Es sind vor allem die lebendigen Beschreibungen der Gasthäuser, dem Treiben auf den dreckigen Straßen und am Hafen, aber auch die bildhaften Charakterisierungen der vielen Figuren, die McCammon im Verlauf der gemächlich inszenierten Handlung einführt. 
Da es sich bei „The Queen of Bedlam“ – so der 2007 veröffentlichte Originaltitel – in der deutschen Ausgabe um zwei Bände handelt, entwickelt sich die Spannung nur sehr langsam. Man muss sich beim Lesen stets vor Augen halten, dass die eigentliche Zuspitzung der Handlung und die Verbindung zur titelgebenden Königin der Verdammten erst im nächsten Band erfolgt. So darf man sich erst in Ruhe mit dem weiteren Werdegang des ambitionierten Ermittlers auseinandersetzen und seinen nicht immer freundlichen Bekanntschaften mit Zeugen, Familienangehörigen, Verdächtigen und zwielichtigen Gestalten jeglicher gesellschaftlicher Herkunft folgen. Es hilft zumindest, ein Gefühl für die Lebensumstände im New York des Jahres 1702 zu bekommen.

Colin Wilson – „Der Stein der Weisen“

Samstag, 17. Mai 2025

(Festa, 490 S., HC)
Der britische Schriftsteller Colin Wilson (1931 – 2013) war Zeit seines Lebens von schöpferischen Individuen fasziniert und Biografien zu einflussreichen Persönlichkeiten wie Rudolf Steiner, Carl Gustav Jung, P.D. Ouspensky, Georges I. Gurdjieff, Wilhelm Reich und Aleister Crowley verfasst. Ein besonderes Anliegen war ich, Wege zu finden, der Enge des Alltagsbewusstseins zu entkommen und unser Potential zu entwickeln. Wilson schrieb neben unzähligen Sachbüchern, darunter Klassiker wie „The Outsider“ und „The Occult“, aber auch immer wieder Romane. Sein erster, 1960 veröffentlichter Roman „Ritual in the Dark“ über einen Serienmörder war an die Geschichte von Jack the Ripper angelehnt. Als er in seinem Buch „The Strength to Dream“ (1962) die Horrorliteratur von H. P. Lovecraft kritisierte, nahm Wilson die Herausforderung von Lovecrafts Freund und Verleger August Derleth an, etwas Besseres zu schreiben. Nachdem er diese Aufgabe mit „The Mind Parasites“ (1967) bravourös gemeistert hatte, setzte er 1969 mit „The Philosopher’s Stone“ sogar noch einen drauf und legte eine Geschichte zur Entstehung von Lovecrafts legendären Cthulhu-Mythos vor, der später von Autoren wie Robert Bloch, Ramsey Campbell, Graham Masterton, Brian Lumley und Wolfgang Hohlbein aufgegriffen und weiterentwickelt worden ist. Der auf Horror-Literatur spezialisierte Festa-Verlag hat das Werk nun in der – limitierten - Reihe H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens unter dem Titel „Der Stein der Weisen“ als deutsche Erstausgabe veröffentlicht.

Howard Lester ist 1942 als Sohn eines Wartungstechnikers in Nottinghamshire in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, und die Erinnerungen an seine ersten zehn Lebensjahre waren von Schmutz und Langeweile geprägt. Hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zur Wissenschaft einerseits und zur Musik andererseits, begann sich Lester schon in frühen Jahren für das Phänomen der Zeit zu interessieren. Die schicksalhafte Begegnung des 13-jährigen Jungen mit dem 45-jährigen Wissenschaftler Sir Alastair Lyell führte Lester zur Erkenntnis, dass das menschliche Leben von der Realität entrückt und der Tod unsere letzte Abrechnung sei. Als sein Mentor versorgte Lyell den Jungen mit Büchern über Huxley, Darwin, Tyndal und Herbert Spencer, bis Lester das Thema fand, dem er fortan sein Leben widmen würde: Das „große Geheimnis“ des Lebens zu ergründen und einen Weg zu finden, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Denn seiner Auffassung nach sterben Menschen nur deshalb, weil sie sich langweilen und sich nicht anstrengen, nach höherem Wissen zu streben, weil sie sich durch das Triviale versklaven lassen. Nach dem Tod von Lyell im Jahr 1967 erbt Lester genügend Geld, um sich weiterhin seinen Forschungen zu widmen, wobei er sich zunehmend mit den Mystikern auseinandersetzt, viel Zeit im Lesesaal des Britischen Museums verbringt und schließlich die Bekanntschaft von Sir Henry Littleway macht, mit dem Lester fortan nicht nur Forschungen über das Älterwerden betreibt, sondern vor allem auch Operationen vornimmt, bei denen eine spezielle Legierung in den präfrontalen Kortex des Gehirns eingeführt wird, um die Geisteskräfte zu steigern und einen Entwicklungsprozess in Gang zu setzen, bei dem die äußere Welt durch die Macht des Gehirns in ihre Schranken gewiesen wird. Schließlich stoßen Lester und Littleway auf eine Basaltstatue und das Voynich-Manuskript und erfahren durch bewusst herbeigeführte Rückschauen, die sie bis zu Stonehenge und der Kultur der Maya führen, von den Großen Alten, die bereits Arthur Machen und H. P. Lovecraft in ihren Werken thematisiert haben…
„Meine ,Zeitschau‘ war noch immer relativ schwach, wenn ich versuchte, sie auf die ferne Vergangenheit anzuwenden, obwohl sie durchaus klar war, wenn ich sie mit weniger Epochen beschäftigte. Was die Basaltfigur betraf, so schien ihre Geschichte nicht mehr vollkommen undurchsichtig. Wenn ich sie jetzt anschaute, konnte ich spüren, dass auch sie mit einer seltsamen Religion von entsetzlichem Humor zu tun hatte. An dieser Erkenntnis war etwas seltsam Erfrischendes. Der Mensch neigt dazu, seine Götter nach seinem Bilde zu gestalten, um sie zu vermenschlichen. Aber diese Götter waren wild und ganz und gar fremd.“ (S. 356)
„Der Stein der Weisen“ wird nicht von ungefähr im Untertitel als „philosophischer Roman“ bezeichnet, denn eine konventionelle Handlung weist das Buch nicht auf. Dafür berichtet der Ich-Erzähler Howard Lester von seinen ausgiebigen Studien und Experimenten, die ihn schließlich zu weitreichenden Erkenntnissen über die Evolution des Menschen und die Rolle der Großen Alten bis in die heutige Zeit hineinführen. Das ist vor allem in philosophischer Hinsicht interessant und dürfte vor allem die Leser interessieren, die bereits Wilsons „Das Okkulte“ verschlungen haben. Für Lovecraft-Fans ist dieser Exkurs nur insofern interessant, als Lovecraft, der Cthulhu-Mythos ebenso wie das sagenumwobene „Necronomicon“ erwähnt und die Ursprünge der Großen Alten erklärt werden, doch von der atmosphärisch dichten Sprache, die Lovecrafts Erzählungen prägen, ist Wilsons „Der Stein der Weisen“ weit entfernt. Der sachliche, zuweilen etwas überhebliche Ton des Erzählers und seine Erkenntnis, zu den wenigen Individuen mit großer Einsicht und unbegrenztem Entwicklungspotenzial zu gehören, sorgen eher dafür, sich mit den philosophischen Fragen auseinanderzusetzen, als sich vor den Großen Alten zu fürchten.


Robert Bloch – „Der große Kick“

Dienstag, 13. Mai 2025

(Diogenes, 260 S., Tb.)
Ähnlich wie sein gleichermaßen in den Genres Krimi, Horror und Science-Fiction bewanderter Zeitgenosse Ray Bradbury hat „Psycho“-Autor Robert Bloch zwar auch einige Romane geschrieben, doch sein liebstes Betätigungsfeld schien das der Short Story gewesen zu sein, sind doch auch im deutschsprachigen Raum neben seinen ebenfalls allesamt kurzen Romanen etliche Kurzgeschichten-Sammlungen von ihm veröffentlicht worden. Dazu zählt auch „Der große Kick“, eine Zusammenstellung von zwölf Geschichten, die im Original in den Sammelbänden „Such Stuff As Dreams Are Made of“ (1979), „Cold Chills“ (1977) und „Mysteries of the Worm“ (1981) erschienen sind, somit dem Spätwerk des 1994 verstorbenen Autors zuzurechnen sind.
„Der Spiegelfluch“ erzählt zu Beginn die Geschichte von Ron, der als Ansager auf einem Rummelplatz nicht nur „exotische Menschenwesen“ vorstellt, sondern auch das gefürchtete Rummelplatzmonster, das tief unten in einer Grube haust und Hühnern, die dort hinuntergeworfen werden, im Nu den Kopf abbeißt. Tatsächlich handelt es sich bei dem „Monster“ um einen armen Schlucker, der bereit ist, alles für seine tägliche Ration Schnaps zu tun. Als sich Ron mit Cora, der Enkelin der Handlesedame Madame Sylvia, vergnügt und sie schwängert, hat das fatale Auswirkungen auf ihn…
Auch „Die Tierschau“ thematisiert das nicht immer koschere Treiben auf einem Rummelplatz, diesmal sorgt Captain Ryders Hollywood-Dschungelsafari für eine unangenehme Wendung im Leben des Anhalters Dave, der den Fehler macht, Ryder auf einen kränklich wirkenden Gorilla anzusprechen…
Schließlich bleibt „Die Karten lügen nicht“ diesem Gewerbe verhaftet, begleitet den Showstar Danny Jackson dabei, wie er mit der Prophezeiung, dass er auf Sonntag sterben würde, wie es in den Karten zu lesen stand, umgeht. Es ist Mittwochabend, also noch genügend Zeit, den Unsinn, den die alte Frau verzapft hat, zu vergessen. Doch Danny hat noch ein anderes Problem: Er ist hochverschuldet, seine letzten drei Filme waren Flops, nun enden auch die Probeaufnahmen für ein lukratives Fernsehprojekt in einem Fiasko…
Mit „Der Tempel des Schwarzen Pharaos“ und „Das Geheimnis des Sebek“ begibt sich Robert Bloch in die Tiefen der ägyptischen Mystik. Da begibt sich der Protagonist der zuletzt erwähnten Geschichte in Louisiana auf das Kostümfest von Henricus Vanning, wo der Autor von ägyptischen Geschichten auf einen Mann trifft, der wie Priester des alten Ägypten gekleidet ist und der eine schreckliche Entdeckung macht, als er die Krokodilsmaske zu ergreifen versucht…

„Das Ägypten meiner Träume – war es real? Warum hatte der eine Blick auf den rätselhaften Mann mit der Maske solchen Eindruck auf mich gemacht? Die Priester Sebeks hatten Blut vergossen, um sich die göttliche Rache zu sichern – konnten sie einen uralten Fluch Wirklichkeit werden lassen?“ (S. 136)

Diogenes veröffentlichte 1994 mit „Der große Kick“ eine durchaus interessante Kurzgeschichten-Sammlung von Robert Bloch, der ja auch vor allem in seinen produktiven 1960er Jahren Drehbücher zu Horrorfilmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Der Puppenmörder“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ und „Totentanz der Vampire“ geschrieben hatte, wobei einmal mehr die flüssige, leicht verständliche Sprache und die Fähigkeit zu komprimierten Pointen im letzten Satz den Reiz der Geschichten ausmachen. Das Rummelplatz-Thema wird zu Anfang etwas arg ausgereizt, während „Der Dickschädel“ auch Blochs Hang zu schwarzem Humor deutlich macht. Aber diese zwölf Geschichten sind trotz ihres Unterhaltungswerts weit von Blochs besten Erzählungen entfernt, präsentieren sie doch kaum wirklich neue Ideen.


Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 1) „Mensch ohne Hund“

Samstag, 10. Mai 2025

(btb, 542 S., HC)
Nachdem der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser mit dem zehnten Buch „Sein letzter Fall“ seinen Kommissar Van Veeteren in Rente schickte, sollte es immerhin drei Jahre dauern, bis Nesser in Inspektor Barbarotti einen „Nachfolger“ präsentierte. Allerdings ist ihm in dem hierzulande 2007 veröffentlichten Debüt „Mensch ohne Hund“ fast nur eine Art Nebenrolle beschieden.
Wenige Tage vor Weihnachten bereitet Rosemarie Wunderlich Hermansson das große Familientreffen anlässlich des gemeinsamen Geburtstages ihres verhassten Ehemanns Karl-Erik und ihrer gemeinsamen Tochter Ebba vor. Die ehemalige Handarbeits- und Deutschlehrerin sieht mit Grauen dem Ruhestand entgegen, den ihr Mann, den sie wenig liebevoll als „pädagogische Fichte“ bezeichnet, mit ihr in Spanien an der „Rentnerküste“ verbringen will. Das Familienfest steht allerdings unter einem ungünstigen Stern, vor allem, weil ihr Sohn Walter, einst ein erfolgreicher Sportler, in einer TV-Reality-Soap dabei gefilmt wurde, wie er am Strand der Masturbation frönte und fortan als „Wichs-Walter“ die schwedische Boulevard-Presse beherrschte. Die Ärztin Ebba, die ihren 40. Geburtstag begeht, wird von ihrem Ehemann, dem Supermarkt-Leiter Leif, und den halbwüchsigen Söhnen Henrik und Kristoffer begleitet. Die jüngere Schwester Kristina erscheint mit ihrem Gatten, dem reizbaren Fernsehproduzenten Jakob und dem zweijährigen Sohn Kelvin. Unter der Oberfläche der Feierlichkeiten, des vermeintlich ausgelassenen Essens und Trinkens brodelt es allerdings. Kristoffer kommt dahinter, dass sein älterer Bruder offensichtlich schwul ist. Als sich Henrik nachts aus dem Zimmer schleicht, glaubt er noch, dass er sich mit dessen Freund Jens treffen will. Stattdessen ist Henrik zu seiner Tante Kristina unterwegs, die sich mit Jakob und Kelvin in einem Hotel eingemietet haben, das Jakob allerdings wegen einer Konferenz vorzeitig verlassen musste. Nachdem Kristina ihren Neffen davon überzeugen kann, dass er nicht homosexuell ist, verschwinden sowohl Walter als auch Henrik spurlos. Hauptkommissar Asunander beauftragt Inspektor Gunnar Barbarotti mit dem Fall, der sich mit konventionellen Mitteln nicht aufklären lässt.

„Wen zum Teufel hatte Henrik Grundt in Kymlinge treffen wollen? Sein kleiner Bruder hatte ja auch darauf hingewiesen: Er kannte keine Menschenseele dort. Konnte es sein, dass es sich um einen Bekannten aus Uppsala handelte, mit dem er das Stelldichein verabredet hatte? Ein Bekannter, der sich auch in dieser Landesecke aufhielt, um Weihnachten zu feiern? (…) Und hing das wirklich nicht mit Walters Verschwinden in der Nacht zuvor zusammen?“ (S. 295)

Mittlerweile machen sich vor allem Rosemarie und dann ihre Tochter Ebba nach einem Hinweis eines Hotelportiers vermehrt Gedanken um das Schicksal ihrer vermissten Familienmitglieder, bis sich auch Kristoffer zu einer fatalen Entscheidung durchringt…
Allein die Tatsache, dass Inspektor Barbarotti erst nach 200 Seiten erstmals in die Handlung eingeführt wird, veranschaulicht, dass es sich bei „Mensch ohne Hund“ nicht um einen klassischen Krimi handelt. Der Titel bezieht sich übrigens auf ein gut 650 Seiten umfassendes gleichnamiges Romanmanuskript des vermissten Walter Hermansson, spielt für die Handlung aber keine entscheidende Rolle. Barbarotti wird als sympathischer und geschiedener Mittvierziger vorgestellt, der über die Feiertage seine achtzehnjährige Tochter Sara zu Besuch hat und eine Affäre mit der Urlaubsbekanntschaft Marianne unterhält. Der Schwerpunkt des Romans liegt allerdings in der Beschreibung der angespannten Verhältnisse innerhalb der Hermansson-Familie. Ausgedehnte innere Monologe der einzelnen Familienmitglieder sorgen für die Charakterisierung sowohl der Figuren als auch ihrer Beziehungen zueinander. Was sich aus diesen zwischenmenschlichen Dramen entwickelt, macht den eigentlichen Reiz der Handlung aus, wobei die Aufklärung der Schicksale der beiden Vermissten fast in den Hintergrund gerät. 
Nesser erweist sich in „Mensch ohne Hund“ weniger als Kriminalist, sondern als guter Beobachter menschlicher Befindlichkeiten, die zu tragischen Entscheidungen führen können. Das ist nicht besonders spannend, aber die gefällige, mit vielen humorvollen Einschüben versehene Sprache des Autors macht Lust auf die Fortsetzung der Barbarotti-Reihe.

David Baldacci – (Amos Decker: 7) „Long Shadows“

Montag, 5. Mai 2025

(Heyne, 510 S., HC)
Der ehemalige Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist David Baldacci hat sich seit seinem von und mit Clint Eastwood verfilmten Romandebüt „Absolute Power“ (dt. „Der Präsident“) zu einem der meistgelesenen Thriller-Autoren weltweit entwickelt und vor allem in den 2000er und 2010er Jahren eine beeindruckende Anzahl an Romanreihen um charismatische Protagonist:innen entwickelt. Mit „Long Shadows“, dem siebten Band um den mit einem fotografischen Gedächtnis gesegneten FBI-Berater Amos Decker, führt der sogenannte „Memory Man“ nun allein die Spitze hinsichtlich der Anzahl der in einer Reihe veröffentlichten Romane an. Und auch qualitativ bewegt sich die Reihe nach wie vor auf hohem Niveau.
Als hätte Amos Decker nicht schon genug daran zu leiden, dass er während seiner Laufbahn als Detective seine Tochter Cassie, seine Frau Molly und deren Mann in seinem Heim bestialisch ermordet vorfand, verfügt er als ehemaliger Footballspieler nach einem Zusammenstoß mit einem gegnerischen Spieler über ein fast perfektes autobiografisches Gedächtnis und über die Fähigkeit der Synästhesie, die sich bei Decker u.a. in der Fähigkeit manifestiert, Zahlen, Personen und Empfindungen in Farben zu sehen. Für seine jetzige Tätigkeit als Berater für das FBI sind diese Fähigkeiten Gold wert, verfügt Decker doch über eine Aufklärungsquote von hundert Prozent. Dennoch ist die unorthodoxe Art, mit der Decker auftritt und arbeitet, bei seinen Vorgesetzten ein Dorn im Auge. 
Nun muss Decker einen weiteren Verlust verkraften. Seine ehemalige, an Demenz leidende Partnerin beim Burlington Police Department in Ohio, Mary Lancaster, ruft Decker mitten in der Nacht an, um ihm zu berichten, dass sie ihre eigene Tochter vergessen habe. Dann wird Decker Zeuge, wie sich Mary mit ihrer Pistole das Leben nimmt. 
Für Trauerarbeit bleibt jedoch keine Zeit. Mit seiner neuen Partnerin Frederica White wird Decker nach Florida geschickt, um den Doppelmord an einer Bundesrichterin und ihrem Bodyguard aufzuklären, wobei sie von dem dort zuständigen Beamten Doug Andrews unterstützt werden. Interessant ist nicht nur, dass der Bodyguard mit zwei Schüssen niedergestreckt worden ist, während die Richterin mit mehreren Messerstichen getötet wurde, sondern auch, dass die Richterin eine durchlöcherte Augenbinde umgebunden bekam, dem Bodyguard dagegen alte slowakische Geldscheine in den Hals geschoben wurden. Zu den Verdächtigen zählt natürlich der Ex-Mann der Richterin, der sich offenbar mit der Trennung nicht abfinden konnte, aber auch die Firma, bei der der Bodyguard angestellt war, scheint etwas zu verbergen zu haben. Jedenfalls verschwinden nach und nach wichtige Zeugen, und die wenigen, mit denen Decker und White sprechen können, sind nicht so auskunftsfreudig wie erhofft…

Was wirst du jetzt tun, Decker? Du hast einen Fall aufzuklären, aber kaum Spuren, nur einen großen Haufen Sand, in dem du nach irgendeinem Körnchen suchst, das dir weiterhelfen könnte. Du wirst mit einem Wust an Informationen konfrontiert, von denen viele keinen erkennbaren Sinn ergeben, und sollst irgendeinen Zusammenhang herausfiltern, ein Muster erkennen. Er seufzte tief. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ob ich es überhaupt will.“ (S. 143)

Mit den letzten „Memory Man“-Romanen drohte sich der versierte Autor an dem komplexen Arrangement an Figuren, Action und Zusammenhängen zu verheben, doch hat Baldacci mit „Long Shadows“ nun wieder etwas mehr die Kurve gekriegt. Nach dem erschütternden Auftakt mit dem Selbstmord seiner früheren Partnerin und der Tatsache, dass sich Decker nun an eine neue Partnerin gewöhnen muss, kommt Baldacci mit einem interessanten Doppelmord schnell zur Sache, wobei er nicht auf einen handlungsgetriebenen Plot setzt, sondern auf hartnäckige Ermittlungsarbeit, die sich in vielen, zuweilen etwas ermüdenden Dialogen Ausdruck verschafft. Auf die neue Arbeitsbeziehung zwischen Decker und White hätte dabei etwas tiefer eingegangen werden können, um dem Thriller auch eine emotionale Gewichtung zu verleihen. Meist beschränken sich die persönlichen Themen nämlich auf Erinnerungen an die Familienangehörigen, die sowohl Decker als auch White verloren haben. Dafür beweist Baldacci mit wiederholten Verhören, die sein neues Ermittler-Duo durchführt, echte Steher-Qualitäten, mit denen Stück für Stück die wahren Motive für den Doppelmord herausgearbeitet werden. Und das Ende macht Hoffnung, dass die Reihe um den „Memory Man“ weiterhin fortgesetzt wird, zumal noch die Frage im Raum steht, wie sehr sich Deckers Persönlichkeit mit der vorhergesagten Veränderung seiner Gehirnstruktur entwickeln mag.