Posts mit dem Label Verlag: Diogenes werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Verlag: Diogenes werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Robert Bloch – „Der große Kick“

Dienstag, 13. Mai 2025

(Diogenes, 260 S., Tb.)
Ähnlich wie sein gleichermaßen in den Genres Krimi, Horror und Science-Fiction bewanderter Zeitgenosse Ray Bradbury hat „Psycho“-Autor Robert Bloch zwar auch einige Romane geschrieben, doch sein liebstes Betätigungsfeld schien das der Short Story gewesen zu sein, sind doch auch im deutschsprachigen Raum neben seinen ebenfalls allesamt kurzen Romanen etliche Kurzgeschichten-Sammlungen von ihm veröffentlicht worden. Dazu zählt auch „Der große Kick“, eine Zusammenstellung von zwölf Geschichten, die im Original in den Sammelbänden „Such Stuff As Dreams Are Made of“ (1979), „Cold Chills“ (1977) und „Mysteries of the Worm“ (1981) erschienen sind, somit dem Spätwerk des 1994 verstorbenen Autors zuzurechnen sind.
„Der Spiegelfluch“ erzählt zu Beginn die Geschichte von Ron, der als Ansager auf einem Rummelplatz nicht nur „exotische Menschenwesen“ vorstellt, sondern auch das gefürchtete Rummelplatzmonster, das tief unten in einer Grube haust und Hühnern, die dort hinuntergeworfen werden, im Nu den Kopf abbeißt. Tatsächlich handelt es sich bei dem „Monster“ um einen armen Schlucker, der bereit ist, alles für seine tägliche Ration Schnaps zu tun. Als sich Ron mit Cora, der Enkelin der Handlesedame Madame Sylvia, vergnügt und sie schwängert, hat das fatale Auswirkungen auf ihn…
Auch „Die Tierschau“ thematisiert das nicht immer koschere Treiben auf einem Rummelplatz, diesmal sorgt Captain Ryders Hollywood-Dschungelsafari für eine unangenehme Wendung im Leben des Anhalters Dave, der den Fehler macht, Ryder auf einen kränklich wirkenden Gorilla anzusprechen…
Schließlich bleibt „Die Karten lügen nicht“ diesem Gewerbe verhaftet, begleitet den Showstar Danny Jackson dabei, wie er mit der Prophezeiung, dass er auf Sonntag sterben würde, wie es in den Karten zu lesen stand, umgeht. Es ist Mittwochabend, also noch genügend Zeit, den Unsinn, den die alte Frau verzapft hat, zu vergessen. Doch Danny hat noch ein anderes Problem: Er ist hochverschuldet, seine letzten drei Filme waren Flops, nun enden auch die Probeaufnahmen für ein lukratives Fernsehprojekt in einem Fiasko…
Mit „Der Tempel des Schwarzen Pharaos“ und „Das Geheimnis des Sebek“ begibt sich Robert Bloch in die Tiefen der ägyptischen Mystik. Da begibt sich der Protagonist der zuletzt erwähnten Geschichte in Louisiana auf das Kostümfest von Henricus Vanning, wo der Autor von ägyptischen Geschichten auf einen Mann trifft, der wie Priester des alten Ägypten gekleidet ist und der eine schreckliche Entdeckung macht, als er die Krokodilsmaske zu ergreifen versucht…

„Das Ägypten meiner Träume – war es real? Warum hatte der eine Blick auf den rätselhaften Mann mit der Maske solchen Eindruck auf mich gemacht? Die Priester Sebeks hatten Blut vergossen, um sich die göttliche Rache zu sichern – konnten sie einen uralten Fluch Wirklichkeit werden lassen?“ (S. 136)

Diogenes veröffentlichte 1994 mit „Der große Kick“ eine durchaus interessante Kurzgeschichten-Sammlung von Robert Bloch, der ja auch vor allem in seinen produktiven 1960er Jahren Drehbücher zu Horrorfilmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Der Puppenmörder“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ und „Totentanz der Vampire“ geschrieben hatte, wobei einmal mehr die flüssige, leicht verständliche Sprache und die Fähigkeit zu komprimierten Pointen im letzten Satz den Reiz der Geschichten ausmachen. Das Rummelplatz-Thema wird zu Anfang etwas arg ausgereizt, während „Der Dickschädel“ auch Blochs Hang zu schwarzem Humor deutlich macht. Aber diese zwölf Geschichten sind trotz ihres Unterhaltungswerts weit von Blochs besten Erzählungen entfernt, präsentieren sie doch kaum wirklich neue Ideen.


Martin Suter – „Wut und Liebe“

Montag, 28. April 2025

(Diogenes, 294 S., HC)
Martin Suter ist vor allem deshalb ein Bestseller-Autor, weil er mit leichter Hand und simpler Sprache geschickt konstruierte Geschichten über meist bürgerliche Schicksale zu erzählen versteht. Zudem ist er ein Meister der Selbstdarstellung, wie die im Buch auf separaten Karten mit Hinweisen auf Lesungen mit prominenter Unterstützung und auf seine eigene Homepage mit der Möglichkeit zu einem exklusiven, aber kostenpflichten „Member“-Zugang dokumentieren. Mit seinem neuen, nicht mal 300 Seiten umfassenden Roman versucht sich der Schweizer an einer Mischung aus Liebes-, Kriminal- und Enthüllungsroman.
Noah wartet mit seinen dreiunddreißig Jahren noch immer auf seinen Durchbruch als Künstler. Seine einunddreißigjährige Freundin Camilla erwartet allerdings mehr vom Leben, als einen langweiligen Job als Buchhalterin auszuüben und einen mittellosen Künstler durchzufüttern. Also verlässt sie ihn und sucht sich einen wohlhabenderen Mann, der allerdings noch verheiratet ist und Camilla deshalb in eine Mietwohnung abschiebt. Da scheint für Noah die Verlockung groß, das Angebot der wohlhabenden Witwe Betty Hasler anzunehmen, die er in der Kneipe „Die Blaue Tulpe“ kennenlernt, für eine Million Schweizer Franken den ehemaligen Geschäftspartner ihres Mannes zu liquidieren. Peter W. Zaugg soll dafür gesorgt haben, dass ihr Mann Pat vor Überarbeitung drei Herzinfarkte erlitt und mit fünfundsechzig zur ewigen Ruhe gebettet wurde. Nun strebt die Witwe nur noch danach, dass Zaugg vor ihr stirbt. Für Noah wenden sich die Dinge langsam zum Besseren. Sein Triptychon mit drei Akten von Camilla wird in der Galerie für 14.000 CHF gehandelt, und Noah setzt mit diesem Erfolg alles daran, Camilla wieder zurückzugewinnen. Schließlich habe sie ihm versichert, ihn noch zu leben, nur eben nicht das Leben mit ihm unter diesen Umständen. Aus dieser Konstellation entwickelt sich munteres Hin und Her zwischen Liebenden und Hassenden, zwischen Künstlern und skrupellosen Geschäftemachern, zwischen Idealisten und Pragmatikern. Und Noah setzt alles auf eine Karte…

„Und wie er sie so betrachtete, begann etwas ganz anderes vom Gefühl der Liebe abzulenken: der Hass auf Zaugg. Er wollte dieses Ungeziefer vernichten. Aber nicht einfach so, wie man beiläufig eine Mücke totklatscht. Eher so, wie man eine Fliege killt, die einen lange und schlau und absichtlich gereizt hat. Mit Wut und Vergnügen. Und wenn das auch noch fürstlich bezahlt war, umso besser.“ (S. 242)

Suter beginnt seinen neuen Roman „Wut und Liebe“ mit einem kleinen Paukenschlag, die kopflastige Buchhalterin trennt sich aus finanziellen Gründen von ihrem Künstlerfreund, nicht weil sie ihn nicht mehr lieben würde. Bevor sich der Autor aber näher mit seinen beiden Protagonisten näher auseinandersetzt, wird die nächste interessante Konstellation vorbereitet. Noah geht in die Kneipe „Die Blaue Tulpe“, um seinen Liebeskummer zu ertrinken, die Witwe Betty, um ihren Hass auf den „Mörder“ ihres Mannes zu schüren. Aus diesen beiden Beziehungen zaubert Suter souverän einen vertrackten Plot, in dem Camilla ihre Kopfentscheidung zu bereuen beginnt, Noah eine Idee davon bekommt, ein erfolgreicher Künstler zu sein, und Betty ihren ganz persönlichen Rachefeldzug vorantreibt. Die titelgebenden Empfindungen Wut und Liebe spielen in der weiteren Entwicklung der Geschichte natürlich eine tragende Rolle, aber interessanter wird das Spiel mit den Identitäten, hinter denen sich die Figuren verstecken. Was anfangs so wirken mag, als würde Suter die Charakterisierung seiner Figuren vernachlässigen, erweist sich im weiteren Verlauf als geschickter Schachzug, um die klischeehaft gezeichneten Charaktere in einem Wirbelwind von Charaden und Intrigen ganz anders dastehen zu lassen. Allerdings übertreibt es Suter zum Finale hin mit den Zufällen und konstruierten Wendungen, so dass der anfängliche Spaß, das Schicksal eines Thirtysomething-Liebespaars nach der Trennung weiterzuverfolgen, mit der zunehmend abstrusen Krimihandlung deutlich an Unterhaltungswert einbüßt.

Jardine Libaire – „Dein Herz, ein wildes Tier“

Samstag, 26. April 2025

(Diogenes, 322 S., HC)
Hierzulande ist die New York geborene, mittlerweile im texanischen Austin lebende Jardine Libaire mit dem 2018 bei Diogenes erschienenen Liebesroman „Uns gehört die Nacht“ bekannt geworden. Nun legt Libaire, die ehrenamtlich für ein Hilfsprogramm für Frauen im Gefängnis arbeitet, mit „Dein Herz, ein wildes Tier“ einen ebenfalls rasant inszenierten Roman voller wilder Gefühle vor.
Eben noch zählten Staci, Ray, Ernie und Coral zu einer Clique von verkrachten Existenzen, die in einem ehemaligen Pfadfinder-Lager in Oklahoma ihren Lebensunterhalt mit dem Kochen und Verkaufen von Drogen verdienten. Doch nachdem das Quartett aus der Stadt zurückgekehrt ist, um gut 10.000 Dollar für den verkauften Stoff einzusacken, finden die Vier ihr altes Heim nach einer Explosion in Trümmern zerfetzt vor. Bevor die Polizei sie erwischen kann, machen sie sich auf ihren beiden Bikes auf den Weg nach Texas. Unterwegs erfahren sie, dass ihr Anführer Tim und seine Freundin Shayna fliehen konnten, die anderen haben sich in alle Winde verstreut. Nur Lynn wird noch vermisst, Judy liegt im Koma im Krankenhaus. Nach ein paar Wochen sollen sie Chris anrufen, um in Erfahrung zu bringen, wo sie Tim das Geld übergeben sollen. Der über fünfzigjährige Biker Ray und die ehemalige Striptänzerin Staci sind schon seit Ewigkeiten ein Paar, Ernie war mit Anfang dreißig eine Leseratte, die ein dramatisches Leben zwischen manischer Freude und Depressionen führte. Das taube Teenagermädchen Coral hatte im Camp noch Shaynas Baby die Brust gegeben und wurde von den sechzehn anderen Bewohnern heftig umworben worden. Während ihrer Reise nach Texas, aber auch nach ihrer Ankunft in dem Haus mit Schuppen, Scheune und riesigem Garten, das sie mieten, versuchen die drei Erwachsenen, vor allem aber Ernie, irgendeine Beziehung zu ihr aufzubauen.

„Die Wahrhaftigkeit ihrer Existenz war ins Innerste seines Bewusstseins gedrungen. Sie war real. Er spürte die Wärme ihres Blutes, das Pumpen ihrer Herzkammern, den Puls an ihrem Hals, und er erschauderte. Kleeblüten umrahmten ihr Gesicht, und sie kniff die Augen zusammen, als wollte sie fragen: Was ist los mit dir? Er konnte nicht mal ihren Blick erwidern.“ (S. 195)

Coral beweist nicht nur ein geschicktes Händchen im Garten, sondern baut auch eine Beziehung zu einem außergewöhnlichen Haustier auf. Schließlich entscheidet sich die Gemeinschaft, die Beziehung zu Tim abzubrechen und das Geld zu behalten, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Doch dann erhält ihr idyllisches Versteck ungewollte Aufmerksamkeit, und das Leben, das sich die vier verschrobenen Individuen gerade erst aufgebaut haben, droht wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen…
Bereits in ihrem Romandebüt hat Jardine Libaire es überzeugend verstanden, die Geschichte einer Liebe zweier Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten als Drama mit Shakespeare-Touch zu erzählen. Auch in „Dein Herz, ein wildes Tier“ nimmt sich die Autorin ungewöhnlicher Figuren an, die am Rande der Gesellschaft irgendwie zurechtzukommen versuchen, teilweise ihre Träume von Erfolg und Familie und Heimat begraben haben, um in einer zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaft neu anzufangen und dabei ganz eigene Bindungen eingehen. Gerade der Beginn in dem ehemaligen Pfadfinder-Lager mit unübersichtlich eingeführtem Figurenarsenal macht deutlich, wie sich quasi per Zufall eine Gemeinschaft geformt hat, die durch den Drogenhandel zusammengehalten und zerrissen wird, aber die wirklich bedeutenden Beziehungen und die Tiefe der Erzählung entwickelt sich erst mit dem Road Trip der vier Ausreißer auf ihrem Weg nach Texas. Libaire gelingt es, im Verlauf ihrer Geschichte nicht nur die besonderen Eigenschaften ihrer Figuren sehr bildhaft zu beschreiben, sondern auch die ungewöhnlichen Beziehungen zwischen ihnen mit viel Empathie zum Leben zu erwecken. So ist Libaires zweiter Roman eine gelungene Mischung aus literarischem Road Movie, zärtlichem Coming-of-Age-Roman und exzentrischem Abenteuer-Drama gelungen, der Lust auf die weiteren Werke dieser außergewöhnlich talentierten Autorin macht.               
 Leseprobe Jardine Libaire - "Dein Herz, ein wildes Tier"

Tammy Armstrong – „Pearly Everlasting“

Montag, 7. April 2025

(Diogenes, 368 S., HC)
An der University of British Columbia hat die Kanadierin Tammy Armstrong in Literatur und Critical Animal Studies promoviert und so die idealen Voraussetzungen geschaffen, um mit ihrem Roman „Pearly Everlasting“ eine einfühlsame Geschichte über die innige Verbundenheit eines jungen Mädchens und eines Bären in einer unwirtlichen Umgebung zu erzählen.
Im Januar 1918 wird der Bär Bruno im Bau unter einer Tanne geboren, irgendwann im Februar auch ein Mädchen, das nach der weißblühenden Silberimmortelle Pearly Everlasting getauft wird. In diesem „falschen Frühling 1918“ stillt Pearlys Mutter Eula das Kind und den Bären an ihren Brüsten, so dass Pearly von Beginn an Bruno als ihren Bruder betrachtet. Doch das Leben in dem Holzfällercamp 33, in dem Pearlys Vater Edon als Koch arbeitet, ist alles andere als unbeschwert, vor allem mit der Ankunft des neuen Campleiters Heeley O. Swicker, dem die Bosheit schon im Gesicht geschrieben steht und der die Männer drangsaliert, wo er nur kann. Als Pearly eines Tages Swicker leblos mit blutigen Wunden auffindet, dauert es nicht lange, bis Bruno für den Mord an dem Mann verantwortlich gemacht und verschleppt wird. Pearly, mittlerweile fünfzehn Jahre alt, erträgt es nicht, ihren Bruder nicht bei sich zu haben, und macht sich auf die Suche, begibt sich in der rauen Wildnis und unter ihr nicht immer freundlich gesinnten Menschen immer wieder in Gefahr. Als sie ihn endlich findet, hängt Brunos Leben am seidenen Faden. In Bracken findet sie in Amaël einen Tierarzt, der sich rührend um den verletzten Bären kümmert, während Pearly Arbeit in der Pension von Mrs. Prue findet und hofft, dass sie mit Bruno bald wieder nach Hause zurückkehren kann…

„Ich lauschte, wie sich in Bruno Saiten dehnten und kreuzten. Seine Pfade klangen und führten uns in die Wälder und zu den Gerüchen zurück: eine Andeutung von Mäusen in der Ecke eines Schuppens, die gähnen und sich dann im feuchten Stroh umdrehen. Handöl auf einem Türknauf. Tote Asseln, die in Dielenritzen stecken. Wirbelnde, aufsteigende Nachtluft. Essig, der in Gurkenhaut eindringt. Menthol auf Zungenbiss. Ich bin in dir, sagte ich zu Brunos schlafender Gestalt. Sein Gesichtsausdruck jetzt immer derselbe, wenn Bären denn Lebewohl sagen könnten.“ (S. 315)

Wie die Autorin in ihrer Danksagung am Ende ihres Buches erwähnt, hat der Naturfotograf William Lyman Underwood im Winter 1903 tief in den Wäldern von Maine eine Frau fotografiert, die ihre neugeborene Tochter zusammen mit einem verwaisten Bärenjungen stillte. Dieses Foto und ein dazugehöriger Auszug aus Underwoods Memoiren inspirierte Tammy Armstrong zu ihrem rein fiktiven Roman, den sie in New Brunswick angesiedelt ist und eine berührende Geschichte über die innige Verbundenheit erzählt, die ein junges Mädchen seit seiner Geburt mit dem gleichaltrigen Bärenjungen Bruno empfindet. Armstrong versteht es hervorragend, die von harter Arbeit, vielen Entbehrungen und frostigen Temperaturen geprägte Lebensweise der Holzfäller, Flößer und Waldarbeiter während der Großen Depression in bildgewaltiger Sprache zu beschreiben und über die Perspektive der Ich-Erzählerin Pearly Everlasting hinaus nicht nur ein Gespür für die Figuren zu entwickeln, die eine mehr oder weniger wichtige Rolle im Leben des Mädchens und ihres Bruders spielen, sondern auch die mythische Welt, in der die Menschen dort lebten, vor Augen zu führen. 
Die Geschichte der Verbundenheit, Trennung, Suche, Wiedervereinigung und Heimkehr verläuft zwar in vorsehbaren Bahnen und verliert so ab der Hälfte an Spannung, aber dafür wird deutlich, wie die junge Pearly aus Liebe zu ihrem Bären die größten Anstrengungen unternimmt, um wieder mit ihm vereint zu sein, und durch die gefährliche Reise und teilweise gewalttätigen Begegnungen mit skrupellosen, bösartigen und verhärmten Menschen viel zu früh erwachsen wird. „Pearly Everlasting“ stellt eine interessante Mischung aus Coming-of-Age-, Liebes- und historischem Roman dar, überzeugt als Charakter- und Gesellschaftsstudie und vor allem als sprachlich fesselndes Werk - wenn man sich denn für das Thema erwärmen kann.

Joachim B. Schmidt – „Ósmann“

Sonntag, 30. März 2025

(Diogenes, 288 S., HC)
Seit der in der Schweiz geborene Joachim B. Schmidt als Teenager erstmals nach Island gereist ist, hat er sich in die Insel verliebt und sich selbst versprochen, wiederzukommen, zunächst als Tourist, aber dann folgte auch ein Jahr mit Jobs in einer Gärtnerei und auf einem Bauernhof, bis er im Jahr 2007 entschied, dorthin auszuwandern. Mit seinen Erzählungen und Romanen wie „Kalmann“, „Tell“ und „Kalmann und der schlafende Berg“ hat Schmidt seit 2010 nicht nur zahlreiche Preise gewonnen, sondern auch ein feines Gespür für seine Wahlheimat entwickelt, die auch in seinem neuen Roman „Ósmann“ zum Ausdruck kommt.
Im Jahr 1862 wird Jón Magnússon Ósmann auf einem Bauernhof in Nordisland geboren, lernt von seinem Vater Magnús den Fährbetrieb und übernimmt diesen später. „Nonni“, wie er liebevoll von seinem Vater genannt wird, kommt allerdings mehr nach seiner Mutter Sigurbjörg, die ihren Mann um ein paar Daumenbreiten überragte und dafür verantwortlich sein dürfte, das Nonni ein so hünenhafter, kräftiger Mann geworden ist. Er ist ein geselliger Kerl, der gern ein Schwätzchen mit den Fahrgästen hält, sie zum Aufwärmen in seine Hütte einlädt, wo er ihnen einen Platz am Feuer, Kaffee und Robbenfleisch anbietet. An einem Sommermorgen im Jahr 1904 tritt Ósmann wie gewöhnlich splitternackt und hustend vor seine Hütte, grüßt das nebelverhangene Bergmassiv Tindastóll, die sagenumwobene Insel Drangey weit draußen im Fjord, die Eiderenten und träge dahinrauschende Gletscherwasser, um dann ins eiskalte Wasser des Ós einzutauchen, um dann den Tag damit zu verbringen, die Reisenden mit der Seilfähre über den Ós zu bringen. Doch bevor er sein eiskaltes Bad nehmen kann, bemerkt er flussaufwärts den nackten Körper einer angeschwemmten Frau. Er trägt den leblosen Körper in seine Hütte und stellt fest, dass die Frau noch lebt. Er gibt ihr zu trinken und etwas zu essen, lässt sie schlafen. Doch als er mit einem Bündel Kleider zurückkommt, ist die Frau spurlos verschwunden. Es kommen andere Frauen, die nicht wie im Märchen auftauchen und verschwinden, sie bereiten Ósmann allerdings größeren Kummer, vor allem aber der Tod seines Erstgeborenen.

„Der Tod schien eine willkürliche Angelegenheit zu sein, manche starben eben früher, andere später. Und darum verlor man auch über Ósmanns Erstgeborenen kein Wort. Als hätte es Páll Jónsson nie gegeben. Denn das Leben gehörte den Lebenden, und die Toten, nun ja, die ließ man am besten in Ruhe tot sein – etwas, das ich selbst nur zu gut wusste.“ (S. 127)

Mit „Ósmann“ erzählt Joachim B. Schmidt die Lebensgeschichte des isländischen Fährmanns Jón Magnússon Ósmann (1862-1914), wobei ein Mann, der sich als Freund von Ósmann bezeichnet, als allwissender Erzähler fungiert, die Erlebnisse und Ereignisse nicht unbedingt in chronologischer Reihenfolge zum Besten gibt. Doch die Jahreszahlen zu Beginn des Kapitels zusammen mit besonderen Wetterbedingungen und der Anzahl der Winter, die Ósmann bereits überlebt hat, helfen dabei, den Überblick zu behalten. „Ósmann“ erzählt aber nicht allein die Lebensgeschichte eines ebenso engagierten wie hilfsbereiten und kommunikativen Fährmanns, sondern das Leben in diesen oft einsamen, kalten Sphären vor dem Hintergrund der Mythen und Sagen, die im Dasein der Isländer eine ebenso große Rolle spielen wie die Menschen, die dort leben. Schmidt erweist sich als stilsicherer Autor, der mit seiner Sprache ebenso die unwirtliche Landschaft, das eiskalte Wasser, die weißen Berge und die Mentalität der Menschen zu beschreiben versteht wie die spezielle Poesie, zu der sich Ósmann immer mal wieder hinreißen lässt und seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, seiner Lebensfreude und Liebe ebenso wie der im Verlauf seines Lebens zunehmenden Trauer und Verzweiflung.

Colin Higgins – „Harold und Maude“

Samstag, 1. März 2025

 (Diogenes, 182 S., HC)
Hal Ashbys Film „Harold und Maude“ (1971) darf getrost als Klassiker der Filmgeschichte betrachtet werden und ist nicht nur durch das kongeniale Zusammenspiel von Bud Cort als Harold und Ruth Gordon in den Titelrollen, sondern auch durch den ikonischen Soundtrack von Cat Stevens zu internationaler Berühmtheit gelangt. Das Drehbuch stammt vom Australier Colin Higgins und stellte dessen Abschlussarbeit eines Drehbuchseminars an der Universität Los Angeles dar. Im selben Jahr brachte Higgins die Geschichte um Harold und Maude auch als Roman heraus, den der Diogenes Verlag nun in seiner neuen Reihe „Modern Classics“ wiederveröffentlicht.
Der 19-jährige Harold Chasen hat schnell adaptiert, dass er die Aufmerksamkeit seiner Mutter vor allem dann auf sich zieht, wenn er seinem Leben ein Ende zu setzen scheint. Doch als er sich mit einer Schlinge um den Hals mit Musik von Chopin im Hintergrund vom Stuhl stößt, rügt sie ihn nur wegen seines unangemessenen Verhaltens, schließlich kämen die Crawfords heute zum Abendessen. So sehr sich die wohlhabende Mrs. Chasen auch bemüht, ihren wohlerzogenen Sohn zur Vernunft zu bringen – weder der Psychiater Dr. Harley noch ihr als Brigadegeneral bei der Armee fungierende Bruder Victor können in dieser Hinsicht Erfolge verbuchen -, denkt sich Harold immer weitere Arrangements für vorgetäuschte Selbstmorde aus, die seine Mutter zunehmend verzweifeln lassen. Als letzten Ausweg sieht sie in einer Partnervermittlung, die Harold mit drei potenziellen Hochzeitskandidatinnen versorgt, die allerdings weder Harold noch seine wählerische Mutter zufriedenstellen. Doch dann lernt Harold bei einer Beerdigung die lebenslustige Maude kennen, die während ihres 79-jährigen Lebens zwar schon schwierige Zeiten durchmachen musste, aber nie ihre Zuversicht und den Lebensmut verloren hat. Mit ihr zusammen lernt Harold endlich, worauf es im Leben wirklich ankommt.

„,Ja. Ich weine. Ich weine um dich. Ich weine um das hier. Ich weine angesichts der Schönheit, eines Sonnenuntergangs oder einer Möwe. Ich weine, wenn ein Mann seinen Bruder quält … wenn er Reue zeigt und um Vergebung bittet … wenn Vergebung verweigert wird, ebenso, wie wenn sie gewährt wird. Wir lachen. Wir weinen. Dass sind zwei einzigartige menschliche Eigenschaften. Und das Wichtigste im Leben ist, dass man keine Angst davor hat, ein Mensch zu sein, mein lieber Harold.‘“ (S. 145)

Wer den Film wie ich bereits mehrere Male gesehen hat, wird beim Lesen des Romans immer wieder die dazu entsprechenden Bilder des Films vor Augen haben, was vor allem auf den Umstand zurückzuführen sein dürfte, dass der 1988 im Alter von 47 Jahren in Beverly Hills an Aids verstorbene Autor sein Drehbuch einfach in eine knackige Romanform gegossen hat, die die Filmhandlung nahezu identisch abbildet und insofern keine Überraschungsmomente bereithält. Es ist allerdings ebenso wenig verwunderlich, warum „Harold und Maude“ zur Pflichtlektüre für Englischschüler avanciert ist, denn die kurzweilige Novelle präsentiert nicht nur eine unorthodoxe Liebesgeschichte, sondern thematisiert auf humorvolle Art die Konventionen und Erwartungen von Mitglieder der sogenannten besseren Gesellschaft und die bedingungslose Liebe zum Leben von Menschen, die zu viel Schlimmes in ihrem Leben erlebt haben, um sich über die Misslichkeiten des Alltags oder allzu einengende Vorschriften zu beschweren. „Harold und Maude“ ist auch über fünfzig Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ein jederzeit vergnügliches wie kluges Büchlein über die Liebe und den Tod, Freundschaft und Freiheit, Poesie und Musik, und begeistert durch seine beiden schrulligen Hauptfiguren.

Christian Schünemann – „Bis die Sonne scheint“

Donnerstag, 27. Februar 2025

(Diogenes, 252 S., HC)
Der 1968 in Bremen geborene Christian Schünemann ist bislang durch seine bei Diogenes veröffentlichte Krimiserie um den Starfrisör Tomas Prinz sowie die zusammen mit Jelena Volič verfassten Kriminalromane um die serbische Amateurdetektivin Milena Lukin bekannt geworden. Nun wagt er sich mit seinem neuen Buch „Bis die Sonne scheint“ an einen melancholisch-heiteren Familienroman.
Für Daniel Hormann ist 1983 noch alles in Ordnung, wie er der Postbeamtin Frau Pieper am Schalter bestätigt. Noch träumt er davon, dass er seine Konfirmation mit blauem Samtsakko und grauer Flanellhose begehen darf und mit reichlich Bargeldgeschenken beehrt wird. Doch dann hört er eines Abends ein Gespräch seiner Eltern mit und erfährt, dass die Lage mehr als ernst ist. Nicht nur, dass das Wasser durch das Dach des eigenen Bungalows tropft, auch das Konto ist leer. Dabei hat sich Daniels Vater Siegfried erfolgreich von einem angestellten technischen Zeichner bei der Stadt zu einem Firmengründer für das Entwickeln von Häusern im Selbstbau-Verfahren gemausert. Doch in Zeiten der Wirtschaftskrise mit ungünstigen Zinsen geht die Nachfrage nach Hormann Massivhäusern so stark zurück, dass Daniels Vater sich als Vertreter von Wasserfiltern versucht und seine Mutter Marlene einen Wollladen in der Einkaufspassage eröffnet. Davon dürfen die Großeltern Lydia und Henriette natürlich nichts erfahren, der Schein muss um jeden Preis gewahrt bleiben. Dass Geld, das durch die Vertreter-Provisionen und Marlenes Laden reinkommt, wird aber nicht etwa verwendet, um den Gerichtsvollzieher zu besänftigen und die Schulden zu begleichen, sondern um es sich mit der ganzen sechsköpfigen Familie mal richtig gutgehen zu lassen, sei es in schicken Restaurants oder bei spontanen Kurztrips in die Sonne…

„An der B6 sah ich meinen Vater im Auto, wie er in unseren Weg einbog. Ein Familienvater, der von der Arbeit kam, während meine Mutter auf dem Sofa Pullover strickte. Ein schönes, friedliches Bild. In Wirklichkeit hatte mein Vater nur unnötig Benzin verfahren und Wasserfilter angepriesen, die kein Mensch haben wollte, während meine Mutter die Nadeln heißlaufen ließ, weil wir Bargeld für den nächsten Einkauf brauchten.“ (S. 185)

Wie der Autor in seinem interessanten Nachwort beschreibt, kam Christian Schünemann die Idee zu „Bis die Sonne scheint“ nach einem Besuch bei seiner Tante in einem Vorort von Chicago, wo er sich Kopien von dem umfassenden Briefwechsel zwischen ihr und seiner Mutter machte. So setzte sich eine Familiengeschichte zusammen, die teils anders erzählt worden ist, als Schünemann sich erinnerte, was ihn zu der Erkenntnis brachte, dass jeder seine eigenen Erinnerungen und seine eigene Wahrnehmung habe. Von diesem Eindruck lebt dieser Roman, mit dem Schünemann die Geschichte seiner eigenen Familie verarbeitet. 
Was zunächst wie eine Coming-of-Age-Geschichte des pubertierenden Ich-Erzählers anmutet, entwickelt sich schnell zu einer zumindest zeitlich umfassenden Familienchronik, die bis zum Kennenlernen von Siegfrieds Eltern zurückreicht, die Kriegszeiten und die Jahre des Wiederaufbaus berücksichtigt, die mühsame Gründung einer Familie mit gesichertem Einkommen mit den Einkünften als Beamter und Buchhalterin ebenso wie der dann doch rapide anmutende wirtschaftliche Abstieg, von dem niemand etwas mitbekommen soll.
Das ist wunderbar flüssig und mit augenzwinkerndem Humor geschrieben, doch werden auf den gerade mal 250 Seiten so viele Figuren vorgestellt und so oft zwischen den Epochen gewechselt, dass eine tiefere Verbundenheit mit den Hormanns kaum aufkommt, was der Sympathie für die unternehmungslustige und einfallsreiche Familie keinen Abbruch tut. Doch Daniels Geschwister beispielsweise werden kaum mit einem Wort erwähnt, das Skizzieren der Familienchronik gewinnt mehr Bedeutung als die Beschreibung der innerfamiliären Beziehungen. Entweder hätte der Autor seinen Figuren mehr Raum zur Entfaltung verleihen oder das Figurenarsenal beschränken müssen, um einen nachhaltigen Lesegenuss zu gewährleisten.

Takis Würger – „Für Polina“

Mittwoch, 26. Februar 2025

(Diogenes, 296 S., HC)
Der 1985 in Hohenhameln geborene Takis Würger hat nach seiner journalistischen Ausbildung u.a. für den Spiegel viel aus dem Ausland berichtet und wurde 2010 vom Medium Magazin als einer der „Top 30 Journalisten unter 30“ ausgezeichnet. Auch mit seinem ersten, 2017 bei Kein & Aber veröffentlichten Roman „Der Club“ ließ Würger aufhorchen. Nun legt der Autor nach „Stella“, „Noah. Von einem, der überlebte“ und „Unschuld“ mit „Für Polina“ sein Diogenes-Debüt vor.
In den Sommerferien vor ihrem Abitur reist Fritzi Prager mit Regionalzügen und per Anhalter ins italienische Lucca, wo sie in günstiges Zimmer in einer Pension bezieht und im Schatten der alten Stadtmauer ihre mitgebrachten Bücher liest. Sie genießt die Spaziergänge durch die Gassen, das italienische Essen und die Tatsache, allein zu sein, was sie nicht abhält, sich in die Leben anderer Menschen hineinzuträumen. Sie lernt einen Hamburger Natursteinhändler kennen und wird von ihm schwanger, was ihre weiteren Lebenspläne durchkreuzt. Statt Jura in München zu studieren, wofür sie als Jahrgangsbeste bereits eine Zusage hat, wird sie nun Mutter eines kleinen, speckigen Jungen mit blonden Haaren. Sie lernt Güneş kennen, die neben ihr auf der Entbindungsstation liegt und ihre Tochter in Anlehnung an Dostojewskis Geliebte Polina genannt hat. 
Aus dieser Bekanntschaft entwickelt sich eine jahrelange Freundschaft. Fritzi bekommt durch Güneş einen Reinigungsjob in einer Netto-Filiale vermittelt und zieht in eine heruntergekommene Villa im Moor, wo der wortkarge Heinrich Hildebrand vor allem an Hannes einen Narren gefressen hat. Güneş und Fritzi sehen sich, wann immer es ihre Zeit erlaubt, und so verbringen auch Polina und Hannes bis in ihre Teenagerjahre viel Zeit miteinander. Obwohl sich die beiden Teenager ineinander verlieben und später miteinander schlafen, steht ihre Beziehung unter keinem guten Stern. 
Durch Missverständnisse und Versäumnisse verlieren sie sich sogar völlig aus den Augen - bis Hannes, der seinen Lebensunterhalt bei einem Hamburger Transportunternehmen für Klaviere verdient, auf einem der Instrumente, das er mit seinem Kollegen Bosch von einer Wohnung in die andere zu bringen hat, mitten in der Innenstadt eine herzzerreißende Melodie spielt und das Video von der unorthodoxen Darbietung viral geht…

„Hannes spielte, und die Menschen hörten ihn, als hörten sie Licht. Die Besucher des kleinen italienischen Nudelrestaurants auf der anderen Straßenseite verstummten, erst verdutzt, dann ergriffen. Due Studentinnen auf dem Weg ins Philosophieseminar verlangsamten ihre Schritte, kamen näher und blieben stehen. Die Kellner vergaßen ihre Bestellungen, die Babys in ihren Kinderwagen lauschten. Es war keine Zauberei. Oder vielleicht doch. Wann war Musik jemals etwas anderes als Zauberei?“ (S. 222)

Takis Würgers „Für Polina“ ist ebenso ein Coming-of-Age- wie Liebesroman. Auf der überschaubaren Länge von nicht mal 300 Seiten entfaltet der in Leipzig lebende Autor eine berührende, selten die Grenze zum Kitsch streifende Geschichte einer problematischen Liebesbeziehung, deren Dramatik sich vor allem aus der Ungewissheit speist, wo sich Polina überhaupt befindet. Die mehr oder weniger aktiv betriebene Suche nach Polina wird durch allerlei Krisen zurückgeworfen, aber auch durch Hannes‘ Weigerung, seinem Kompositionstalent eine Chance zu geben. Würger gelingt es, seinen allesamt irgendwie sympathischen, eigenwilligen Figuren auf wenigen Seiten Charakter zu verleihen, und vor allem zwischen Bosch und Hannes, aber auch zwischen Heinrich und Hannes entwickeln sich prägende Freundschaften fürs Leben. Dadurch wird der melancholischen Geschichte nicht nur Humor, sondern auch Zuversicht verliehen.
Die stärksten Momente weist „Für Polina“ in der einfühlsamen, bildreichen Sprache und den leisen Tönen auf, mit denen Würger vor allem die Empfindungen durch das Spielen und Komponieren klassischer Musik beschreibt, aber auch die Sehnsüchte Liebender, die einander unerreichbar fern erscheinen. Da sind märchenhafte Zuspitzungen wie Hannes‘ Karriere eigentlich völlig unnötig. Dafür hätten feinere Einsichten in Hannes‘ Gefühlsleben die Intensität der Geschichte vielleicht noch verstärkt. Aber auch von diesen kleinen Schwächen abgesehen ist „Für Polina“ eine zauberhafte kleine Geschichte über den Wert wahrer Freundschaften und die Kraft der Liebe – vor allem auch zur Musik – geworden.

John Irving – „Zirkuskind“

Montag, 13. Januar 2025

John Irving – „Zirkuskind“ 
(Diogenes, 970 S., Tb.) 
Seit John Irving mit zarten 26 Jahren sein immerhin schon 500 Seiten starkes Romandebüt „Lasst die Bären los!“ veröffentlicht hat, zählt der aus New Hampshire stammende Autor zu den erzählwütigsten Vertretern seiner Zunft. In der Regel dürfen seine Fans alle zwei bis vier Jahre mit einem neuen, gern auch mal 1000 Seiten umfassenden Opus von ihm rechnen. So wartet auch sein achter, 1994 erschienener Roman „A Son of the Circus“ mit eindrucksvollen 970 Seiten auf und entführt die geneigte Leserschaft nach Indien. 
Dr. Farrokh Daruwalla fühlt sich in seiner Heimatstadt Toronto, wo er die meiste Zeit mit seiner Wiener Frau lebt, die er während seines Studiums in der Schweiz kennengelernt hat, nach wie vor wie ein Einwanderer, weshalb es ihn immer wieder nach Bombay zieht, wo er geboren und aufgewachsen ist. Dort verbringt der etwas pummelige, schon in die Jahre gekommene Orthopäde seine Zeit vor allem damit, seinem Hobby zu frönen, nämlich Blutproben von Liliputanern des Great Blue Nile Circus zu sammeln, um ihre Gene zu studieren, was ihm allerdings so gut wie nie gelingt. Erfolgreicher ist er darin, Drehbücher für den von vielen verhassten Schauspieler John D. zu schreiben, dessen „Inspektor Dhar“-Filme stets nach dem gleichen Rezept funktionierten. Doch dann wird es turbulent. 
Mit dem Scholastiker Martin Mills taucht nicht nur überraschend der bislang unbekannte Zwillingsbruder des Schauspielers auf, um in Bombay an einer Schule zu lehren, sondern im traditionellen Duckworth-Goldclub treibt auch ein Mörder sein Unwesen, der mit seiner hinterlassenen Botschaft „Weil Dhar Mitglied im Club ist“ unmissverständlich klar macht, dass das Morden weitergeht, solange der vor allem von den kastrierten Transvestiten-Prostituierten verhasste Schauspieler nicht aus dem Club geworfen wird. 
Daruwallas zwergwüchsiger Chauffeur, der echte Kommissar Patel, das aus Iowa stammende Hippie-Mädchen Nancy und einige skurrilere Figuren wie der Junge mit dem Elefantenfuß, aufreizende Kinderprostituierte und ein Killer, der seinen Opfer Elefanten auf den Bauch malt, runden das Ensemble in dem multisexuellen und -kulturellen Plot ab, in dem der gute Doktor nicht nur den Verlust seines homosexuellen Freundes aus Toronto verkraften muss, sondern sich auch gegen die erotischen Verführungen der HIV-positiven Kinderprostituierten Madhu standhaft bleiben muss. 
„Ihre vorsätzliche Nacktheit war bedrückend, allerdings nicht, weil sie ihn wirklich gereizt hätte, Sex mit ihr zu haben (allein schon der Gedanke) erschien ihm plötzlich als der Inbegriff des Bösen. Er wollte gar keinen Sex mit ihr – er verspürte nur eine ganz flüchtige Begierde -, aber ihre überdeutliche Verfügbarkeit betäubte seine anderen Sinne. Dabei war er sich bewusst, dass sich ein so reines Übel, etwas so eindeutig Verkehrtes, wohl selten so folgenlos darbot. Das war ja gerade das Entsetzliche: Wenn er ihr gestattete, ihn zu verführen, würde das kein negatives Nachspiel haben – außer dass er sich, immer und ewig – daran erinnern und schuldig fühlen würde.“ (S. 759) 
Für „Zirkuskind“ hat John Irving Neuengland verlassen, und obwohl er in seiner Vorbemerkung beteuert, dass der Roman nicht von Indien handele und er Indien nicht kenne, spielt sich doch der Großteil des Romans dort ab, wobei das titelgebende Zirkuskind letztlich nur am Rand eine Rolle spielt. Vielmehr entfaltet Irving vor der berauschenden Kulisse der lauten, von Menschen nur so wimmelnden Metropole ein breites Spektrum an für ihn gewohnten kuriosen Figuren, von denen Dr. Daruwalla das Zentrum der Erzählung bildet, die sich über etliche Nebenhandlungen und Erinnerungen erstreckt und sich nicht recht entscheiden kann, ob sie Krimi, Drama, Kultur- oder Sittengeschichte sein will. 
Es geht um Glauben, sexuelle und kulturelle Identität, Wahrheit und Fiktion, um Familie und Randfiguren der Gesellschaft, natürlich auch um den Mikrokosmos Zirkus. Es hätte sicher gereicht, Daruwallas Geschichte als Zauderer zwischen den Welten und Kulturen zu erzählen und das Gefühl von Heimat und Fremdsein in all seinen Facetten zu thematisieren. 
Warum allerlei sexuelle Aktivitäten, seltsame Morde und Schicksale von Zirkuskindern alles so verworren machen müssen, bleibt mir persönlich ein absolutes Rätsel. 
„Zirkuskind“ ist von allen Irving-Romanen wohl derjenige, den man nicht unbedingt gelesen haben muss. 

Ray Bradbury – „Familientreffen“

Samstag, 5. Oktober 2024

(Diogenes, 228 S., Tb.) 
Mit – oft erfolgreich verfilmten – Romanen und Geschichten wie „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und natürlich „Fahrenheit 451“ zählt der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) zu den großen Schriftstellern der fantastischen Literatur, fühlte er sich doch gleichermaßen in den Genres des Kriminalromans, der Science-Fiction, der Fantasy und des Horrors zuhause. Ein frühes Beispiel seiner Erzählkunst bot der 1947 veröffentlichte und längst vergriffene Sammelband „Dark Carnival“, der Geschichten aus den Jahren 1943 bis 1947 vereinte. 1955 erschien mit „The October Country“ ein Band, der knapp die Hälfte der insgesamt 27 Stories aus „Dark Carnival“ in teils überarbeiteter Form zusammenfasste und um vier neue Geschichten erweitert wurde. Bradbury entführt seine Leser mit „Familientreffen“ - so der deutsche Titel - in Grenzbereiche der menschlichen Vorstellungskraft und macht uns mit Zirkusleuten, Vampiren und Schriftstellern mit Mordgelüsten vertraut. 
In „Der Zwerg“ besucht die titelgebende Figur allabendlich das Spiegelkabinett, wenn der Besucherandrang nicht mehr so stark ist, zahlt seine zehn Cent und rennt bis zum Langen Lulatsch durch. Doch dann treibt der Betreiber des Kabinetts einen makabren Scherz mit dem Zwerg… 
George Garvey hat zwar eine attraktive Frau, wird aber von seiner Umgebung als der langweiligste Typ überhaupt betrachtet. Eine Gruppe von sieben Leuten, die sich einen Spaß daraus machen, Garvey einen Besuch abzustatten, sich über Musik und Bücher auszutauschen, zu denen er nichts beitragen kann, und sich anschließend, als sie wieder unter sich sind, über den Mann herzuziehen, der offenbar Millionen Wege kennt, einen zu lähmen, in Tiefschlaf oder sogar ins Koma zu versetzen. Doch Garvey lässt die Schmach nicht auf sich sitzen, informiert sich und verblüfft seine Besucher durch sein überraschend profundes Wissen. Um seine Popularität aufrechtzuerhalten, sieht sich Garvey gezwungen, immer ausgefallenere Marotten zu entwickeln. Nachdem er eine abgetrennte Fingerspitze durch einen Fingerschutz eines Mandarins ersetzt hatte, plant er für den Verlust eines Auges einen besonderen Coup: „Der wachsame Poker-Chip von H. Matisse“ kann allerdings nicht verhindern, dass Garvey weiterhin ein Langweiler bleibt… 
„Das Skelett“ wiederum erzählt die Geschichte des Hypochonders Mr. Harris, dessen Hausarzt nichts gegen seine schmerzenden Knochen zu unternehmen vermag, weshalb der Mann Hilfe bei einem im Telefonbuch gelisteten Knochenspezialisten sucht. Mr. Munigant sieht das Problem psychischer Natur. Als Mr. Harris einen Ausflug nach Phoenix unternimmt, verschlimmern sich allerdings seine Schmerzen… 
In „Der Bote“ dient Dog für den zehnjährigen, durch eine Krankheit ans Bett gefesselte Martin die Verbindung zur Außenwelt. Über eine Mitteilung am Halsband des Hundes hofft der Junge auf Besuch. Meist ist es Miss Haight, die ihm kleine Törtchen und Bücher über Dinosaurier und Höhlenmenschen mitbringt und Domino, Dame oder Schach mit ihm spielt. Eines Tages kehrt Dog allerdings nicht mehr von seinen Ausflügen nach Hause zurück… 
„Noch lange nach Mitternacht lag Martin da und schaute hinaus auf die Welt draußen vor den kühlen, klaren Fensterscheiben. Jetzt war nicht einmal mehr Herbst, denn es war kein Dog da, um ihn ins Zimmer zu holen. Es würde keinen Winter geben, denn wer könnte Schnee anbringen, der dann in seinen Händen schmolz? Vater, Mutter? Nein, das war nicht dasselbe. Sie konnten nicht mitspielen, dieses Spiel mit den besonderen Regeln und Geheimnissen, mit seinen Geräuschen und Gesten. Keine Jahreszeiten mehr. Die Zeit würde stehenbleiben. Der Vermittler, der Bote, war im wilden Gedränge der Zivilisation verlorengegangen, vergiftet, gestohlen, unter ein Auto geraten, verendet in einem Kanalisationsschacht…“ (S. 108) 
Ray Bradbury vermag mehr, als nur ins Reich der Fantasie abzudriften und unmögliche Geschichten mit skurrilen Figuren zu erzählen, denn im Grunde genommen stecken hinter den Menschen und (sehr menschlich wirkenden) Fabelwesen ganz gewöhnliche Sehnsüchte, Ängste und Begierden, der Wunsch, anerkannt und geliebt zu werden, ein von Sinn erfülltes Leben zu führen und dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Auch wenn nicht alle hier versammelten Geschichten zu fesseln vermögen, sind doch schon die spätere Meisterschaft und die sprachliche Brillanz des Autors zu erkennen, der „Familientreffen“ August Derleth, dem Schriftsteller und Verleger von Lovecrafts Werk, gewidmet hat, einem weiteren einflussreichen Wegbereiter der fantastischen Literatur.


Kent Haruf – „Unsere Seelen bei Nacht“

Montag, 30. September 2024

(Diogenes, 200 S., HC) 
Gerade mal sechs Romane hat der 2014 verstorbene, aus Colorado stammende Kent Haruf zwischen 1984 und 2015 geschrieben, allesamt in der fiktiven Kleinstadt Holt, Colorado, angesiedelt. Sein posthum veröffentlichter Roman „Unsere Seelen bei Nacht“ ist zugleich sein bekanntester, wurde er doch erfolgreich 2017 mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt. Seither hat Diogenes es sich zur Aufgabe gemacht, das überschaubare Gesamtwerk von Haruf dem deutschen Publikum zugänglich zu machen. Sein letztes und bekanntestes Buch machte dabei den Anfang. 
Die 70-jährige Witwe Addie Moore und ihr Nachbar Louis Waters sind zwar Nachbarn, nur einen Häuserblock voneinander entfernt, nur einen Häuserblock voneinander entfernt, haben bislang aber recht wenig miteinander zu tun gehabt. Bis Addie eines Maiabends bei Louis klingelt und ihn unverblümt fragt, ob er sich vorstellen könne, ab und zu bei ihr vorbeizukommen und bei ihr im Bett zu schlafen. Es gehe nicht um Sex, sondern einfach darum, die Nacht zu überstehen und miteinander zu reden. Louis bittet um etwas Bedenkzeit ob dieses überraschenden Angebots, steht aber schon nächsten Abend bei ihr vor der Tür. Das Arrangement funktioniert wunderbar, vertreibt es den beiden Witwern doch auf vertraute Weise die Einsamkeit. Abend für Abend kommt Louis zu Addie, trinkt mit ihr am Tisch ein Glas Bier, sie ein Glas Wein, dann gehen sie zu Bett und erzählen einander, wie sie ihre Liebsten verloren haben, wie ihre Ehen waren und welche Fehler man gemacht hat. 
Natürlich bleibt die Beziehung zwischen Addie und Louis in einer Kleinstadt wie Holt nicht lange ein Geheimnis, aber das Paar kümmert sich kaum darum. 
„Ich will nur friedlich vor mich hin leben und darauf achten, was Tag für Tag passiert. Und abends herkommen und bei dir schlafen. 
Ja, genau das tun wir. Wer hätte gedacht, dass wir in unserem Alter noch einmal so etwas erleben. Dass noch längst nicht alle Veränderungen und Aufregungen hinter uns liegen, wie sich herausstellt. Dass wir noch nicht körperlich und geistig vertrocknet sind. 
Und dabei tun wir nicht mal das, was die Leute glauben.“ (S. 163) 
Spannend wird es, als sich Addies Sohn Gene von seiner Frau trennt und seinen knapp sechsjährigen Sohn Jamie zu Addie bringt… 
In dem nicht mal 200 Seiten umfassenden Kurzroman hält sich Kent Haruf nicht lange mit Nebensächlichkeiten bzw. einer Einführung seiner Hauptfiguren auf und fällt gleich mit der Tür ins Haus, so wie auch Louis mit Addies unorthodoxen Antrag überrascht wird. Dabei dreht sich „Unsere Seelen bei Nacht“ letztlich um die wesentliche Frage, ob man sich im hohen Alter damit abfinden muss, allein zu bleiben, wenn der Partner gestorben ist. So offen, wie Addie die Lösung dieses Problems angeht, dürften die wenigsten das Thema umsetzen. Sowohl Addie als auch Louis finden schnell heraus, wie sehr es sich lohnt, sich auch im gesetzten Alter noch auf einen anderen Menschen einzulassen, sich mit ihm über alles zu unterhalten, was einem wichtig ist, einander nah zu sein, ob mit oder ohne Sex. Gemeinsam gehen Addie und Louis schließlich auch die Herausforderung an, dass mit Addies Enkel neuer – vorübergehender – Zugang ins Haus schneit und dass nicht jeder damit klarkommt, was Addie und Louis miteinander angefangen haben. 
Kent Haruf bleibt in „Unsere Seelen bei Nacht“ immer dicht bei seinen Figuren, verzichtet weitgehend auf Beschreibungen und lässt seine Figuren durch pointierte Dialoge Form annehmen. Da Addie und Louis so sympathisch und bodenständig sind, fällt die Identifikation mit ihnen leicht. Und Kent Haruf ist ein Meister darin gewesen, mit einfachen Mitteln tiefgründige Weisheiten über das Zusammenleben, das Vertrauen und die Liebe zu vermitteln.


Philippe Djian – „Doggy Bag – Sechs“

Samstag, 20. Juli 2024

(Diogenes, 262 S., Tb.) 
Es ist vollbracht. Der französische Erfolgsautor Philippe Djian („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Oh…“) arbeitete zwischen 2005 und 2008 an einer literarischen Soap, die zwar den hehren Anspruch verfolgte, dass Fernseh-Junkies wieder ein Buch in die Hand nehmen, letztlich aber die erotischen Verwicklungen, die Djians Romane auch zuvor schon geprägt haben, auf imposante 1600 Seiten ausufern ließ. Da sind sie also wieder, die Sollens-Brüder Marc und David, ihre frühere gemeinsame Geliebte Édith, die nach zwanzig Jahren mit einer Tochter im Schlepptau zurückkehrt und sich für Marc entscheidet, Marcs und David getrennte Eltern Irène und Victor, die zwar wieder in einem Haus leben, aber nicht wieder zueinander finden. 
Marc beabsichtigt, trotz seiner Sexsucht, die er bei den Anonymen Sexaholikern mit ihren Zwölf Schritten leider vergeblich in den Griff zu bekommen versucht, Édith zu heiraten und damit auch seiner Vaterschaft einen offiziellen Charakter zu verleihen. 
Leider kommen ihm dabei nicht nur seine ungebremste Libido ins Gehege, sondern auch verschiedene Probleme in der Familie. Der Wintereinbruch mit satten zweistelligen Minusgraden, Eisglätte und Schneemassen macht der ganzen Stadt zu schaffen, während sein Bruder nur mit einer elektronischen Fessel seine „Freiheit“ genießen darf, nachdem er in einem Tobsuchtsanfall einen Menschen getötet hatte. Victor hat den Weg zu Gott zurückgefunden, aber auch unerwartet die Kraft der Levitation entdeckt, was ihn weithin zu einem Heiligen werden lässt – nicht aber in den Augen seiner Frau Irène, die ihm dieses manipulative Verhalten durch eine Affäre mit dem Polizeichef De Watt heimzahlt. Außerdem hat sich Marcs Tochter Sonia, nachdem ihr Liebhaber Roberto spurlos verschwunden ist, wieder mit auf eine Affäre mit dem Zahnarzt eingelassen, den sie nicht mal auch nur annähernd attraktiv findet. Doch am schwersten wiegt das Erdbeben, das das Autohaus in die Tiefe stürzen lässt… 
„All diese Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten. All diese Zeit, die sie gebraucht hatten, um die Flammen zu ersticken, die sie früher verzehrt hatten. Man hatte ihnen ind den letzten Monaten arg zugesetzt. Verdammt arg zugesetzt. Niemand käme auf die Idee, das Gegenteil zu behaupten. Die Ereignisse schüttelten sie wie Stürme das Korn auf den Feldern – aber Stürme löschen Erinnerungen nicht aus. Sie hatten die letzten zwanzig Jahre Seite an Seite verbracht. Mehr oder weniger. Welcher Orkan konnte das auslöschen?“ (S. 243) 
Im sechsten und letzten Band seiner „Doggy Bag“-Soap geht Djian merklich die Luft aus. Nachdem vielschichtige Beziehungen und Affären, Ehebrüche, ungeklärte Vaterschaften, Vergewaltigungen und Naturkatastrophen für ordentlich Wirbel in den vergangenen fünf Bänden gesorgt haben, scheinen sich die Dinge nun zu normalisieren. Dass Marc von seiner Sexsucht nicht geheilt werden kann, illustriert Djian mit einer fast schon absurden Episode, als er seinen Protagonisten zu einer bekannten Schlampe gehen lässt, die sich, bevor sie sich zum Geschlechtsverkehr bereiterklärt, von ihrem spitzen Freier erst den Anus sauberlecken lässt. 
Doch das ist nur eine der stark überspitzten Episoden, die das Geschehen interessant machen sollen, wo es kaum noch Interessantes zu entdecken gibt. Da müssen schon weitere unglaubliche Phänomene wie der unvorstellbare Kälteeinbruch zu Weihnachten und das noch unvorstellbarere Erdbeben herhalten, um mehr als nur symbolisch das hilflose Treiben der Figuren zu veranschaulichen, die mehr Opfer ihres ungezügelten Temperaments zu sein scheinen als mit eigenem Willen ausgestattet. Das ist sicher kein Stoff für Serien-Junkies, die sich ihre tägliche Soap-Dosis vor dem Fernseher reinziehen, sondern eher für die hartgesottenen Djian-Fans, die sich aber eher an dem ausgefeilten Stil des Autors als an der ausufernden Geschichte von „Doggy Bag“ begeistern dürften. 

 

Ross Macdonald – (Lew Archer: 5) „Wer findet das Opfer“

Mittwoch, 3. Juli 2024

(Diogenes, 312 S., Pb.) 
Dass Ross Macdonald (1915-1983) neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler der prominenteste Autor klassischer Hardboiled-Detektivromane gewesen ist, kommt nicht von ungefähr, schließlich wurden zwei seiner Lew-Archer-Romane mit Paul Newman in der Hauptrolle verfilmt („Harper“, „Unter Wasser stirbt man nicht“). 1954 erschien mit „Find a Victim“ der fünfte von insgesamt 18 Lew-Archer-Romanen. Nun hat Diogenes im Rahmen der Wiederveröffentlichung seiner Werke Macdonalds Roman in neuer Übersetzung und mit einem Nachwort von Donna Leon herausgegeben. 
Auf dem Weg nach Sacramento, wo er einem Gesetzgebungsausschuss Bericht erstatten muss, entdeckt Privatdetektiv Lew Archer am Rand des südkalifornischen Highways einen angeschossenen Anhalter und bringt ihn in die nächste Kleinstadt namens Las Cruces, wo er beim Motel Kerrigan’s Motor Court einen Krankenwagen kommen lässt. 
Für das Opfer, das als Tony Aquista identifiziert wird, kommt allerdings jede Hilfe zu spät. Der Vorfall wirft natürlich Fragen bei der Polizei auf. Bis der Papierkram erledigt ist, soll Archer in der Stadt bleiben. Die Zeit nutzt er für eigene Ermittlungen. Bereits bei seiner Ankunft bei den Kerrigans hat Archer die Spannungen zwischen Kerrigan und seiner Frau gespürt. Er stößt auf ein undurchdringlich erscheinendes Netz aus verbotenen Geschäfts- und vor allem Liebes-Beziehungen. Aquista war nicht nur Fahrer eines mittlerweile vermissten Trucks, der Kerrigans Whiskey geladen hatte, sondern auch in Kerrigans Angestellte und Geliebte Anne Meyer verschossen gewesen ist. Anne ist ebenso wie der Truck, der dem Speditionsunternehmen ihres Vaters gehört, verschwunden. 
Annes Schwester Hilda wiederum ist mit Sheriff Church verheiratet, der mehr mit der Sache zu tun hat, als es zunächst den Anschein hatte, und Archer gefährlich nah auf die Pelle rückt. 
„Angst durchfuhr mich wie ein Blitz. Ich hatte eine Waffe in meiner Tasche. Ich griff nicht danach. Mehr hätte es nicht gebraucht, um es wie Selbstverteidigung aussehen zu lassen. Und er war Polizist. Die .45er in seiner Hand zog ihn zu mir. Sein lässiges Schweigen war schlimmer als alle Worte. Wenn es vorbei sein sollte mit mir, dann war dies der Zeitpunkt und der Ort, im Valley unter weißem Himmel und mitten in einem Fall, den ich niemals lösen würde.“ (S. 207) 
Ein zufällig von Lew Archer auf der Straße aufgelesener Verletzter bildet den Ausgangspunkt für ein vertracktes Kleinstadt-Rätsel, in dem Alkohol und Drogen ebenso eine Rolle spielen wie ein Banküberfall und verschiedene Fehden und mehr oder weniger geheime Affären. Dieses Knäuel zu entwirren kostet Archer nicht nur viel Laufarbeit und Gehirnschmalz, sondern auch das nötige Einfühlungsvermögen bei den „Frauen in Not“ und die Kraft und den Willen in den körperlichen Auseinandersetzungen. Da Macdonald seinen Privatdetektiv als Ich-Erzähler auftreten lässt, weiß der Leser stets nur so viel, wie Archer selbst in Erfahrung bringt. Dabei verfügt der Protagonist über einen intakten moralischen Kompass, der Archer die Nöte der Frauen, allen voran Kate Kerrigan, nicht ausnutzen lässt, und ein Durchhaltevermögen, mit dem er auch unter Bedrohung seines eigenen Lebens und der mehr als nur vagen Möglichkeit, selbst wegen Mordverdachts in den Fokus der Ermittlungen zu geraten, den Mord an Aquista aufklären will.  
Ross Macdonald fängt die vielschichtige, geheimnisvolle und verworrene Atmosphäre in Las Cruces meisterhaft ein, brilliert mit messerscharfen Dialogen und fein gezeichneten Figuren, die auf verschwörerische Weise miteinander verbandelt sind und oft ohne Rücksicht auf Verluste nur ihr eigenes Glück verfolgen.  

Arnon Grünberg – „Gnadenfrist“

Mittwoch, 3. Juli 2024

(Diogenes, 154 S., TB.) 
Mit Romanen wie „Amour fou“, „Monogam“ und „Mit Haut und Haaren“ hat der niederländische Schriftsteller und Blogger Arnon Grünberg vornehmlich sexuelle Gelüste, wie auch immer geartete Beziehungen thematisiert und damit teilweise messerscharfe Sittenbilder gezeichnet, die die oft kurios anmutenden Kontaktsuchen in der modernen Mittelschicht ebenso amüsant wie scharfsinnig reflektierten. Insofern bietet auch der bereits 2006 erschienene, nun wiederveröffentlichte Kurzroman „Gnadenfrist“ wenig Neues, gibt sich aber nicht mit Nebenschauplätzen ab, sondern zeigt fokussiert auf, wie ein Diplomat durch eine unglückselige, zerstörerische Liebesbeziehung all das zerstört, was er sich sein Leben lang aufgebaut hat. 
Eigentlich hat Jean Baptist Warnke alles, wovon ein Mann nur träumen kann: Eine kluge wie schöne Frau, in die er auch nach acht Jahren noch verliebt ist, zwei kleine Töchter im Alter von anderthalb und vier Jahren sowie einen einträglichen und aussichtsreichen Job als zweiter Mann der niederländischen Botschaft im peruanischen Lima. Dabei hat er nichts weiter zu tun, als repräsentative Aufgaben bei Botschaftsessen wahrzunehmen oder niederländischen Gefangenen Mut zuzusprechen. 
Zu den Höhepunkten seiner eintönigen Arbeitstage zählt der tägliche Besuch im Café El Corner, wo er zu seinem Kaffee stets die recht aktuelle Newsweek durchblättert. Dort lernt er die junge Soziologie-Studentin Malena kennen, die ihn zu einer Gesangsaufführung einlädt. Warnke sieht die Einladung als willkommene Gelegenheit, sich mit der einheimischen Bevölkerung zu befassen, und geht hin. Nach der Aufführung ist Warnke mit Malena allein. 
„Die herrliche Hand des Mädchens liegt in seinem Schritt. Dort gehört sie nicht hin, das weiß er, doch er will sie nicht wegschieben. Das hier ist eine andere Kultur, da muss man Brücken bauen, gerade als Diplomat. Eine Hand im Schritt bedeutet in diesem Milieu etwas anderes als in Den Haag oder Voorschoten. Warnke will niemanden vor dem Kopf stoßen, darum lässt er die Hand liegen. Und er findet es herrlich, wie weich, wie warm, wie klein diese Hand ist.“ (S. 57) 
Es ist der Beginn einer leidenschaftlichen sexuellen Beziehung, die jedoch von einem schrecklichen Ereignis überschattet wird. In der japanischen Botschaft kommt es zu einer schrecklichen Geiselnahme. Eigentlich sollten Warnke und sein Botschafter ebenfalls zu dem dortigen Empfang gehen, doch Malena riet ihm eindringlich davon ab. Nach dem Vorfall ist Malena spurlos verschwunden, und nicht nur in Den Haag fragt man sich, warum die Niederländer nicht zu dem Empfang gegangen sind, was Warnke zunehmend in Erklärungsnöte bringt… 
„Er tue nichts“, antwortet der Diplomat Jean Baptist Warnke auf die Frage des Mädchens, was er beruflich mache. Die Langeweile und Wirkungslosigkeit seines Jobs sind vielleicht ein Grund dafür, warum der Protagonist in Grünbergs kurzer Erzählung so offen für die Affäre mit der schönen einheimischen Studentin ist. Jedenfalls beschreibt Grünberg genüsslich, wie der eigentlich mit allen Wassern gewaschene Diplomat und Familienvater durch den liebestollen Rausch, den er mit Malena erfährt, sein Leben völlig aus den Fugen geraten lässt. 
Dabei geht der Autor nicht besonders subtil vor, sondern beschreibt den tiefen moralischen Fall seines unglückseligen Antihelden mit lakonischer Präzision. Vor allem der Gegensatz zwischen der unterkühlt wirkenden, sachlich und politisch geprägten diplomatischen „Arbeit“ und der destruktiven Liebesbeziehung macht „Gnadenfrist“ zu einem kurzweiligen, bitter-melancholischen, wenn auch allzu vorhersehbaren Lesevergnügen.  

Moritz Heger – „Die Zeit der Zikaden“

Dienstag, 2. Juli 2024

(Diogenes, 302 S., HC) 
Der Stuttgarter Moritz Heger hat sich nach seinem Studium zunächst der Freien Kunst, dann der Germanistik, evangelischen Theologie und Theaterwissenschaften nicht darauf beschränkt, allein als Gymnasiallehrer seine Brötchen zu verdienen. Vielmehr hat er sich auch dem Jugendtheater und der Schriftstellerei zugewandt. In seinem 2021 veröffentlichten Debütroman „Aus der Mitte des Sees“ musste sich ein Mönch an der Schwelle zu seinem 40. Geburtstag mit der Frage auseinandersetzen, ob er die Leitung des Klosters übernehmen oder sich dem Leben vor den Klostermauern widmen soll. 
In einem ähnlichen Kontext bewegt sich auch Hegers neuer Roman „Die Zeit der Zikaden“, zwingt der Autor auch diesmal seine Figuren, sich intensive Gedanken über die Zukunft ihres Lebens zu machen. 
Mit 36 Jahren im Schuldienst verabschiedet sich die 63-jährige Alex („Fraumaaattmann“) Mattmann in den Ruhestand. Dabei heißt es, nicht nur die langjährige Affäre mit ihrem Schuldirektor, sondern auch das von ihr geleitete Theater-AG und vor allem die Mietwohnung hinter sich zu lassen. Ein jüngst erworbenes Tinyhouse auf Rädern steht mehr als nur symbolisch für ihren Neuanfang. 
Die Einladung zur Hochzeit ihrer ehemaligen Schülerin Wibke kommt Alex gerade recht. Während der Feier lernt sie Wibkes Schwiegervater Johann kennen, einen 56-jährigen Bestatter, der sein Unternehmen in die Hände seines Sohnes legt und sich nach Veränderung sehnt, da seine Ehe mit Marion gefühlt nur noch auf dem Papier existiert. 
Als sie den Vorschlag macht, dass er doch für ein paar Monate nach Ligurien gehen solle, um in dem geerbten Steinhaus des Malers Renat nach dem Rechten zu sehen, fällt ihm die Entscheidung leicht, doch kann er das italienische Lebensgefühl nicht unbeschwert genießen, da sich Marions und seine gemeinsame Tochter Nora von ihnen abgewandt hat. Bevor sich Johann aber in seinem zeitweisen depressiven Gemütszustand verliert, lädt er Alex ein, ihn in ihrem Tinyhouse zu besuchen. Der Abstecher zu ihrer alten Freundin Verena entpuppt sich auch nicht als besonders erquicklich, weshalb Alex der Einladung nach Italien gern folgt. 
Bei intensiven Gesprächen über das Leben, die Liebe, den Tod und die Zukunft kommen sich Alex und Johann schnell näher. Und dann beschließt Johann, ein Portrait von Alex zu malen. 
„Am Ende soll sie sich, ohne das abweisen zu können, erkennen, und sie soll erstaunt sein, beides, beides zugleich. Er muss, auch wenn das bei der möglichst getreuen Darstellung des Äußeren paradox klingt, in die Tiefe vordringen. Kurz gesagt: Er will Schönheit. Ein Übersetzer sein. In den Fluss springen, Risiko.“ (S. 161) 
Während der Mönch Lukas in „Aus der Mitte des Sees“ noch in der Mitte des Lebens stand, um eine Entscheidung über sein Leben für Gott oder in der Welt dort draußen zu treffen, stehen Alex und Johann in Hegers Zweitwerk „Die Zeit der Zikaden“ an einem weit späteren Wendepunkt in ihrem jeweiligen Leben und müssen sich darüber klar werden, wie sie ihre Zeit nach einem mehr oder weniger erfüllenden Arbeitsleben verbringen wollen.  
Heger reduziert die Handlung dabei aufs Wesentliche, konzentriert sich vielmehr auf die Inneneinsichten seiner beiden Hauptfiguren und baut die Spannung eher durch die tiefsinnigen Dialoge zwischen Alex und Johann auf. „Du tust mir gut“, sagt Johann schon auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes, später dann: „Du hast mich entkorkt.“ 
Es ist die Art der Fragen, des Zuhörens, der Antworten, mit der sie mehr über den jeweils anderen, aber auch über sich selbst und schließlich über die Beziehung zueinander erfahren. Heger lässt Alex und Johann in Gedanken immer wieder in die Vergangenheit abschweifen, um die jeweilige Persönlichkeit herauszukristallisieren und so den Boden zu bereiten für die neuen Wege, die sie vielleicht in diesem traumhaft schönen Landstrich zu beschreiten wagen. Die eindringliche Sprache, die gelungene Figurenzeichnung und der gesellschaftsreflektierende Ansatz machen „Die Zeit der Zikaden“ zu einem anregenden und einfühlsamen Sommerroman. 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Fünf“

Samstag, 22. Juni 2024

(Diogenes, 258 S., Tb.) 
Für Philippe Djians auf sechs Bände angelegte und insgesamt gut 1600 Seiten umfassende literarische Soap „Doggy Bag“, die der französische Erfolgsautor („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Verraten und verkauft“) zwischen 2005 und 2008 entwickelt hat, braucht die geneigte Leserschaft ab dem vierten Band ein ebenso großes Durchhaltevermögen wie die Protagonisten seiner von allerlei amourösen Verstrickungen geprägten Geschichte. 
Viel verändert hat sich nach dem Auftaktband nämlich nicht. Die Brüder Marc (41) und David Sollens (42) haben das Autohaus ihres 71-jährigen Vaters Victor übernommen, mit dem wegen des Alters und des Todes beunruhigten Familienoberhaupt allerdings gebrochen, seit er wegen einer anderen Frau ihre Mutter Irène verlassen hat. Dass er jetzt reuig zu ihr zurückkehren will, lässt die mit ihren 63 Jahren nach wie vor attraktive Frau nicht ganz unberührt, auch wenn sie ausgerechnet auf der Hochzeit ihres Sohnes David mit der angeblich schwangeren Krankenschwester Josianne mit einem Handwerker geschlafen hatte, um von dem Mann anschließend entführt und vergewaltigt zu werden. 
Zwar lässt sie Victor seitdem wieder in ihrem Haus schlafen, bereut es allerdings, mit ihm hin und wieder auch Sex mit ihm gehabt zu haben. Um nicht bei dem Werben ihres Mannes, der nun den Glauben an Gott wiedergefunden zu haben scheint, weich zu werden, stürzt sie sich in eine Affäre mit dem Polizeichef Olivier de Watt. Dramatisch verläuft der Ausflug mit einem Bus, den Victor der Gemeinde von Pater Joffrey gestiftet hat. Nachdem das Gefährt in einer entlegenen Gegend vom Weg abgekommen ist, macht sich ein riesiger Bär über die Passagiere her und tötet u.a. Victors Privatsekretärin Valérie. 
Während David nach seinem tödlichen Messerangriff auf Joël, dem Freund von Marc und Édiths Tochter Sonia, auf seine Freilassung aus einer psychiatrischen Klinik hofft, hilft auch Marc Teilnahme an den Treffen der Anonymen Sexaholiker nicht darüber hinweg, dass Marc nach wie vor jeder Frau nachsteigt. Dabei liebt er Édith über alles und macht ihr sogar einen Heiratsantrag. 
„Unter solchen Bedingungen zu bumsen hatte natürlich seinen Reiz, und man konnte durchaus verstehen, dass sich ein Mann, der keinerlei sozialen oder familiären Zwängen unterworfen war, entgegen allen Regeln des Anstands hemmungslos der Sache hingeben konnte. Aber doch nicht ein ehrenwerter Bürger, nicht ein Mann, der ein Geschäft in der Stadt hatte, nicht ein Mann, der Beziehungen zum Bürgermeister hatte, nicht ein Mann, der im Begriff war, eine Familie zu gründen. O nein, ganz gewiss nicht!“ (S. 175) 
Die Probleme werden auch nicht dadurch weniger, dass Victor nach Davids hoffentlich nur vorübergehendem Ausscheiden aus der Firma wieder kräftig mitmischt im Autohaus… 
Mit dem unerwartet brutal beendeten Busausflug beginnt der fünfte „Doggy Bag“-Band äußerst dramatisch, doch den Rest der Geschichte nehmen wie gewohnt die angebahnten oder vollzogenen Liebesabenteuer ihren Lauf, wobei Irènes Affäre mit dem Polizeichef ebenso für Wirbel sorgt wie die Liebelei, die die zwanzigjährige Sonia ausgerechnet mit Roberto, dem Jugendfreund von Marc, David und Édith unterhält. Da die Figuren in „Doggy Bag“ allesamt nicht das Zeug zu Sympathieträgern haben, muss man als Leser schon das irrwitzige Wechselbad der Gefühle lieben, das nahezu alle Beteiligten auch in Teil 5 der literarischen Soap durchleben. 

 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Vier“

Montag, 17. Juni 2024

(Diogenes, 256 S., TB.) 
Nach mehr als zwanzig Jahren im Schriftsteller-Geschäft war es für den französischen Erfolgsautor Philippe Dijan („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Verraten und verkauft“) offensichtlich Zeit, mal was Neues auszuprobieren. Also schuf er zwischen 2005 und 2008 seine literarische, sechs Bände umfassende Soap „Doggy Bag“, mit der er versuchte, passionierte Serien-Junkies, die kein oder kaum ein Buch in die Band nehmen, zum Lesen zu animieren. Die Geschichte um die beiden Brüder Marc und David Sollens und ihre nach zwanzig Jahren heimgekehrte beiderseitige Geliebte Édith nahm zwei Bände lang eine turbulente Entwicklung, kam im dritten Band aber schon etwas aus der Puste. 
Marc versucht nach einem Ausrutscher, seine Sexsucht in den Griff zu bekommen, und schließt sich den Anonymen Sexaholikern an. Édith dankt es ihm, muss sie doch nur noch morgens, abends und ein-, zweimal am Tag ran, Marc seinen Trieb abreagieren zu lassen. Seinem Bruder David gelingt es dagegen nicht mal halbwegs souverän, die Herausforderungen in seinem Leben zu meistern, ersticht er in einem Tobsuchtsanfall doch den 25-jährigen Joël, den im Rollstuhl sitzenden Freund von Édiths Tochter Sonia. Die gerade mal zwanzigjährige Sonia wiederum lässt sich mit Roberto, dem 42-jährigen Jugendfreund von Marc, David, Édith und Catherine Da Silva, ein, was nicht gerade Begeisterungsstürme in Robertos früherer Clique hervorruft. 
Marcs und Davids Vater Victor hadert nicht nur mit dem Umstand, dass ihn seine Söhne als Verräter betrachten, sondern auch mit dem Umstand, dass seine acht Jahre jüngere Frau Irène keine Anstalten macht, ihn wieder näher an sich heranzulassen, obwohl er immerhin wieder in ihrem Haus wohnen darf. Und schließlich hat Édiths Ex-Mann Paul hart damit zu kämpfen, dass Édith und Sonia nicht mehr Teil seines Lebens sind und sich eine neue Beziehung angesichts seiner von starkem Mundgeruch begleiteten Zahnprobleme nicht so recht anbahnen will. 
„Niemand war perfekt. Er fuhr mit dem Finger die Mulde entlang, die ihre Hüfte bildete. Er forderte nur ein, was ihm zustand, mehr nicht. Jeder Mensch hatte Anrecht auf seinen Anteil am Gewinn, und wenn manche darauf verzichteten, dann war das ihre Sache, wenn manche lieber auf den Knien herumrutschten, war das ebenfalls ihre Sache. Wenn Sylvie sich ihm noch lange verweigerte, würde er am gleichen Ort landen wie David. Er bewunderte so viel Macht. Innerlich stieß er einen wohligen Seufzer aus. Das Phänomen an sich war faszinierend. Man könnte ein Buch darüber schreiben – allerdings würde nicht er es schreiben.“ (S. 234f.) 
Wie in einer Daily Soap im Fernsehen lässt auch Philippe Djian in seiner literarischen Soap „Doggy Bag“ genüsslich die Puppen tanzen, wenn es um die zwischenmenschlichen Beziehungen von Paaren, Freunden und Verwandten angeht. Fast hat es den Anschein, als wären die Männer in „Doggy Bag“ allesamt vor allem triebgesteuert, und wenn sich der Sexualtrieb mal dorthin verirrt, wo er ganz sicher nicht hingehört, steuern die Betroffenen geradewegs auf eine Katastrophe zu. Das ist durchaus kurzweilig und amüsant, wartet aber auch mit etlichen geschwätzigen Längen auf, die die Lust auf eine Fortsetzung im Rahmen halten.