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David Baldacci – (Amos Decker: 7) „Long Shadows“

Montag, 5. Mai 2025

(Heyne, 510 S., HC)
Der ehemalige Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist David Baldacci hat sich seit seinem von und mit Clint Eastwood verfilmten Romandebüt „Absolute Power“ (dt. „Der Präsident“) zu einem der meistgelesenen Thriller-Autoren weltweit entwickelt und vor allem in den 2000er und 2010er Jahren eine beeindruckende Anzahl an Romanreihen um charismatische Protagonist:innen entwickelt. Mit „Long Shadows“, dem siebten Band um den mit einem fotografischen Gedächtnis gesegneten FBI-Berater Amos Decker, führt der sogenannte „Memory Man“ nun allein die Spitze hinsichtlich der Anzahl der in einer Reihe veröffentlichten Romane an. Und auch qualitativ bewegt sich die Reihe nach wie vor auf hohem Niveau.
Als hätte Amos Decker nicht schon genug daran zu leiden, dass er während seiner Laufbahn als Detective seine Tochter Cassie, seine Frau Molly und deren Mann in seinem Heim bestialisch ermordet vorfand, verfügt er als ehemaliger Footballspieler nach einem Zusammenstoß mit einem gegnerischen Spieler über ein fast perfektes autobiografisches Gedächtnis und über die Fähigkeit der Synästhesie, die sich bei Decker u.a. in der Fähigkeit manifestiert, Zahlen, Personen und Empfindungen in Farben zu sehen. Für seine jetzige Tätigkeit als Berater für das FBI sind diese Fähigkeiten Gold wert, verfügt Decker doch über eine Aufklärungsquote von hundert Prozent. Dennoch ist die unorthodoxe Art, mit der Decker auftritt und arbeitet, bei seinen Vorgesetzten ein Dorn im Auge. 
Nun muss Decker einen weiteren Verlust verkraften. Seine ehemalige, an Demenz leidende Partnerin beim Burlington Police Department in Ohio, Mary Lancaster, ruft Decker mitten in der Nacht an, um ihm zu berichten, dass sie ihre eigene Tochter vergessen habe. Dann wird Decker Zeuge, wie sich Mary mit ihrer Pistole das Leben nimmt. 
Für Trauerarbeit bleibt jedoch keine Zeit. Mit seiner neuen Partnerin Frederica White wird Decker nach Florida geschickt, um den Doppelmord an einer Bundesrichterin und ihrem Bodyguard aufzuklären, wobei sie von dem dort zuständigen Beamten Doug Andrews unterstützt werden. Interessant ist nicht nur, dass der Bodyguard mit zwei Schüssen niedergestreckt worden ist, während die Richterin mit mehreren Messerstichen getötet wurde, sondern auch, dass die Richterin eine durchlöcherte Augenbinde umgebunden bekam, dem Bodyguard dagegen alte slowakische Geldscheine in den Hals geschoben wurden. Zu den Verdächtigen zählt natürlich der Ex-Mann der Richterin, der sich offenbar mit der Trennung nicht abfinden konnte, aber auch die Firma, bei der der Bodyguard angestellt war, scheint etwas zu verbergen zu haben. Jedenfalls verschwinden nach und nach wichtige Zeugen, und die wenigen, mit denen Decker und White sprechen können, sind nicht so auskunftsfreudig wie erhofft…

Was wirst du jetzt tun, Decker? Du hast einen Fall aufzuklären, aber kaum Spuren, nur einen großen Haufen Sand, in dem du nach irgendeinem Körnchen suchst, das dir weiterhelfen könnte. Du wirst mit einem Wust an Informationen konfrontiert, von denen viele keinen erkennbaren Sinn ergeben, und sollst irgendeinen Zusammenhang herausfiltern, ein Muster erkennen. Er seufzte tief. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ob ich es überhaupt will.“ (S. 143)

Mit den letzten „Memory Man“-Romanen drohte sich der versierte Autor an dem komplexen Arrangement an Figuren, Action und Zusammenhängen zu verheben, doch hat Baldacci mit „Long Shadows“ nun wieder etwas mehr die Kurve gekriegt. Nach dem erschütternden Auftakt mit dem Selbstmord seiner früheren Partnerin und der Tatsache, dass sich Decker nun an eine neue Partnerin gewöhnen muss, kommt Baldacci mit einem interessanten Doppelmord schnell zur Sache, wobei er nicht auf einen handlungsgetriebenen Plot setzt, sondern auf hartnäckige Ermittlungsarbeit, die sich in vielen, zuweilen etwas ermüdenden Dialogen Ausdruck verschafft. Auf die neue Arbeitsbeziehung zwischen Decker und White hätte dabei etwas tiefer eingegangen werden können, um dem Thriller auch eine emotionale Gewichtung zu verleihen. Meist beschränken sich die persönlichen Themen nämlich auf Erinnerungen an die Familienangehörigen, die sowohl Decker als auch White verloren haben. Dafür beweist Baldacci mit wiederholten Verhören, die sein neues Ermittler-Duo durchführt, echte Steher-Qualitäten, mit denen Stück für Stück die wahren Motive für den Doppelmord herausgearbeitet werden. Und das Ende macht Hoffnung, dass die Reihe um den „Memory Man“ weiterhin fortgesetzt wird, zumal noch die Frage im Raum steht, wie sehr sich Deckers Persönlichkeit mit der vorhergesagten Veränderung seiner Gehirnstruktur entwickeln mag.

Robert Bloch – „Boten des Grauens“

Samstag, 26. April 2025

(Heyne, 158 S., Tb.)
Robert Bloch (1917-1994) wird vor allem durch seine 1959 veröffentlichte Romanvorlage für Alfred Hitchcocks „Psycho“ in Erinnerung bleiben, doch hat der u.a. mit dem World Fantasy Award und dem Bram Stoker Award für sein Lebenswerk ausgezeichnete Schriftsteller im Verlauf seiner langjährigen Karriere ein umfassendes Werk an Romanen und Geschichten hinterlassen, die anfänglich von H.P. Lovecraft und dem „Cthulhu-Mythos“ inspiriert waren und dann in eine breite Palette von Krimi-, Horror- und Science-Fiction-Stories übergingen. 1967 erschien mit „The Living Demons“ eine Sammlung von elf Kurzgeschichten, die zwischen 1941 und 1967 vorwiegend in „Weird Tales“ erstmals veröffentlicht worden waren und 1970 als „Boten des Grauens“ in einem schmalen Bändchen bei Heyne in deutscher Erstausgabe erschienen.
In „Harrys Zeitkapsel“ lässt Professor Dr. Dr. Harrison Cramer eine Zeitkapsel vor allem mit Dingen füllen, die ihm überwiegend seine fünfzehn Jahre jüngere Frau vorschlägt, und die dann im neuen Haus des Humanismus ins Fundament eingemauert werden soll. Schließlich würde seine Frau, die übrigens eine Affäre mit dem Anwalt Rick unterhält, den sie nach einer schnellen Scheidung von Harry zu heiraten beabsichtigt, Harrys Meinung nach die Mehrheit repräsentieren. Also lässt er Plattenalben, Filmkopien der Fernsehreihe „Irgendwo, USA“ und Abenteuerromane zusammentragen und hebt sich das interessanteste Stück bis zum Schluss auf…
„Von einem Geist skalpiert“ erzählt die Geschichte von einem Mann namens Orlando Crown, der betrügerische Amateurokkultisten und berufsmäßige Geisteraustreiber entlarvt. Vor allem die weit verbreitete Praxis, indianische Geister als Mittler zwischen der Welt der Lebenden und der Toten zu verwenden, stößt bei Crown auf Ablehnung. Als er jedoch die Bekanntschaft von Mrs. Prinn macht, wird Crown eines Besseren belehrt…
In „Tod eines Vampirs“ spielt Graf Barsac die Rolle des Vampirs so gut, dass er die bereits auf der Bühne des Grand Guignol in Paris erprobte Hauptrolle auch im realen Leben zu verkörpern beabsichtigt, mit unvorhersehbaren Folgen…
„Die Bestien von Barsac“ stellt wiederum eine Variante des Sujets um einen verrückten Wissenschaftler dar. Hier wird Dr. Jerome in die Burg des exzentrischen Sebastian Barsac eingeladen, mit der an der Sorbonne studiert hatte. Barsac habe seit Verlassen der Universität einzig an einer Veränderung der Zellstruktur des Gehirns gearbeitet, um ein Bindeglied zwischen Mensch und Tier zu entdecken. Ihm sei es gelungen, mittels mechanischer Hypnose menschliche Charakteristiken auf Tiere zu übertragen. Dr. Jerome muss sehr schnell feststellen, dass hinter dem wahnwitzig wirkenden Gefasel seines alten Kommilitonen mehr steckt, als er ahnt…
In „Der Pakt mit dem Schatten“ hadert ein Drugstore-Betreiber, der Pharmazie studiert hatte, mit seinem Schicksal, jeden Tag zehn bis fünfzehn Stunden auf den Füßen zu sein, um seinen Kunden Coca-Cola und Schokoladensodas auszuschenken. Da ist es eine willkommene Abwechslung für ihn, als ein Mann, der sich als Chemiker ausgibt, der Experimente durchführt, ungewöhnliche Dinge wie Eisenhuttinktur, Belladonna, Phosphor und ein Dutzend Kerzen nachfragt. Allerdings bittet er, den fälligen Betrag für drei Tage zu stunden. Zwar hält der Mann sein Versprechen, wird aber fortan von einem geheimnisvollen Schatten begleitet…

„Als ich an diesem Abend nach Hause ging, sah ich die dunkle Straße mit neuem Interesse. Die schwarzen Häuser standen wie eine Barriere, hinter der phantastische Geheimnisse lauerten. Reihe auf Reihe, keine Häuser mehr, sondern dunkle Kerker von Träumen. In welchem Haus verbarg sich mein Fremder? In welchem Raum beschwor er welche seltsamen Götter? Wieder einmal fühlte ich die Gegenwart von Wundern in der Welt, von versteckten Seltsamkeiten hinter der Szene von Drugstore und technischer Zivilisation. Noch immer wurden schwarze Bücher gelesen, und wildäugige Fremde gingen und murmelten, Kerzen brannten in der Nacht, und eine vermisste Katze mochte ein Tieropfer bedeuten.“ (S. 99)

Robert Bloch erweist sich in einer seiner besseren Kurzgeschichten-Sammlungen als Meister des Schreckens, erzählt – natürlich – von den obligatorischen Vampiren, Okkultisten und experimentierfreudigen Wissenschaftlern, von leichtgläubigen und skeptischen Menschen, die mehr als dicht davor sind, die Schwelle zum Wahnsinn zu überschreiten, die aber auch oft genug eine böse Überraschung erleben. Vor allem ist Robert Bloch, der auch Drehbücher zu Filmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Der Puppenmörder“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ und „Totentanz der Vampire“ schrieb, ein Meister der kurzen, knackigen Pointe.


Stephen King – „Nachts“

Sonntag, 20. April 2025

(Heyne, 418 S., Jumbo)
Mit „Langoliers“ hatte Stephen King bzw. sein deutscher Verlag Heyne die ersten beiden Novellen aus der vier Geschichten umfassenden Sammlung „Four Past Midnight“ veröffentlicht, die später in der Taschenbuchversion als „Vier nach Mitternacht“ dann tatsächlich auch alle vier Horror-Stories vereinte. Nach der Titelgeschichte und der später mit Johnny Depp verfilmten Story „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ in „Langoliers“ präsentierte „Nachts“ im Jahr 1991 zwei weitere haarsträubende Horror-Geschichten, wie sie sich nur Stephen King ausdenken kann.
„Der Bibliothekspolizist“ erzählt die Geschichte des Immobilien- und Versicherungsmaklers Sam Peebles, der in seiner Heimatstadt Junction City bei der kommenden Speaker’s Night der Rotarier für den verletzten Akrobaten Amazing Joe einspringen und die monatliche Rede halten soll. Von Craig Jones bekommt er sogar ein Thema vorgeschlagen, nämlich die Bedeutung unabhängiger Unternehmen für das Kleinstadtleben. Als er seiner Sekretärin Naomi seinen ersten Entwurf vorträgt, schlägt sie vor Begeisterung nicht gerade Purzelbäume, verweist stattdessen auf zwei Bücher, darunter „Best Loved Poems of the American People“, mit deren Hilfe er seine Rede aufpeppen könnte. Doch als Sam die örtliche Bibliothek aufsucht, ist er von der bedrückenden Atmosphäre und den beängstigenden Postern mit Sprüchen wie „Fahre NIEMALS mit Fremden!“ und „Vermeidet die Bibliothekspolizei! Brave Jungs und Mädchen bringen ihre Bücher PÜNKTLICH zurück!“ mehr als nur leicht verunsichert. Der Eindruck verstärkt sich, als er die Bibliothekarin Ardelia Lortz kennenlernt, die ihm die gesuchten Bücher raussucht und ihm einen Bibliotheksausweis ausstellt, aber bei aller Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft überhaupt keine freundliche Ausstrahlung besitzt. Die mit Hilfe der Bücher verfeinerte Rede wird ein voller Erfolg, doch es kommt, wie es kommen muss: Die beiden Bücher verschwinden im Altpapier, das regelmäßig durch den Alkoholiker Dave Duncan abgeholt und entsorgt wird. Als Sam erneut die Bibliothek aufsucht, findet er sie nicht nur völlig verändert vor, auch von Ardelia Lotz findet sich keine Spur. Je mehr sich Sam mit der Geschichte der Frau befasst, wird er an ein längst verdrängtes Ereignis in seinem eigenen Leben erinnert, was dem Bibliothekspolizisten einen ganz neuen Schrecken verleiht…
Stephen King gelingt es auch in Geschichten, die nicht die übliche, oft epische Länge seiner Romane aufweisen, interessante Figuren zu schaffen und diese so überzeugend in übernatürliche Geschehnisse zu verwickeln, dass es ganz natürlich erscheint. Allerdings will der „King of Horror“ in dieser Geschichte zu viel. Statt sich nur auf die Vorstellung eines aus dem Rahmen gefallenen Bibliothekspolizisten zu beschränken, lässt der Autor seinen Protagonisten nicht nur dessen Vergewaltigung als Kind aufarbeiten, sondern befasst sich auch ausführlich mit der tragischen Geschichte, wie Dave Duncan durch seine Liebe zu Ardelia Lortz zum Alkoholiker wurde, und macht aus der Bibliothekarin ein Monster, das leider die Glaubwürdigkeit der Geschichte vollkommen untergräbt.
Nach diesem doch etwas verpatzten Auftakt macht es King mit „Zeitraffer“ etwas besser, einer Geschichte, die in Kings fiktiver Stadt Castle Rock und zwischen den beiden dort spielenden Romanen „Stark – The Dark Half“ und „Needful Things“ angesiedelt ist. Hier feiert Kevin Delevan seinen 15. Geburtstag, zu dem er u.a. eine Polaroid Sun 660 geschenkt bekommt. So glücklich er über dieses Wunschgeschenk ist, so erstaunt ist er über die Fotos, die die Sofortbildkamera ausspuckt, denn die Bilder scheinen nicht nur mit der Zeit etwas zu machen, sondern zeigen auch einen grässlichen Hund, der von Aufnahme zu Aufnahme immer mehr auf den Fotografen zuzukommen und schließlich fast aus dem Bild zu springen scheint. Statt die Kamera umzutauschen, bringen Kevin und sein Vater die Kamera ins Emporium Galorium zu Reginald „Pop“ Merrill, der sich der Kamera annimmt und ebenso von den Bildern fasziniert ist wie John Delevan und dessen Sohn. Der wittert ein gutes Geschäft, vertauscht die Kamera mit einer modellgleichen Kamera und macht sich auf die Socken, um die mysteriöse Kamera seinen besten Kunden zum Kauf anzubieten. Doch die sind nur entsetzt über den schrecklichen Hund, den die Kamera aus welchen Gründen auch immer ablichtet und der immer bedrohlichere Züge annimmt…

„Das Auge hielt ihn im Bann. Es war mörderisch. Diese Promenadenmischung sprühte geradezu vor Mordlust. Und der Hund hatte keinen Namen; das wusste er ebenso gewiss. Er wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass kein Polaroidmann, keine Polaroidfrau und kein Polaroidkind diesem Polaroidhund je einen Namen gegeben hatte; es war ein Streuner, als Streuner geboren, als Streuner groß und alt und böse geworden, die Inkarnation aller Hunde, die je über das Antlitz der Erde gestreunt waren, namenlos und heimatlos, Hühner töteten und Abfall aus Mülltonnen fraßen, die umzuwerfen sie schon lange gelernt hatten, und in Abwasserrohren und unter den Veranden verlassener Häuser schliefen. Sein Verstand würde verkümmert sein, aber seine Instinkte scharf und rot.“ (S. 304)

Auch wenn „Zeitraffer“ vor allem aus der Perspektive des 15-jährigen Kevin Delevan geschrieben ist, gewinnt dieser längst nicht so viel Kontur wie der von allen in der Kleinstadt verhasste Pop Merrill, der mit seinen siebzig Jahren schon einige unlautere Geschäfte abgewickelt hat – u.a. auch mit Kevins Dad – und deshalb wenig Ansehen in Castle Rock genießt. Vor allem die Art und Weise, wie er Kevins mysteriöse Kamera an gutgläubige, wenn auch vollkommen schrullige Interessenten verkaufen will, demonstriert die Abgründe seiner Persönlichkeit, aber auch die gut gebaute Drug-Store-Verkäuferin Molly Durham weiß ein Lied davon zu singen, wie widerlich der alte Mann ist. Zum Ende hin nimmt die Geschichte zwar an Fahrt auf, doch übertreibt es King einmal mehr mit der Darstellung vermeintlich schockierender Splatter-Effekte, so dass eine zunächst interessant eingefädelte Story über das Ziel hinausschießt. Schade.

John Grisham – (Bruce Cable: 3) „Die Legende“

Dienstag, 8. April 2025

(Heyne, 384 S., HC)
Mit Justiz-Thrillern wie „Die Firma“, „Der Klient“ und „Die Kammer“ ist der ehemalige Anwalt John Grisham zum Genre-Meister avanciert und zieht mit seinen in schöner Regelmäßigkeit erscheinenden Büchern ebenso regelmäßig in die Bestseller-Listen ein. Während seiner mittlerweile über 35-jährigen Schriftstellerkarriere hat Grisham aber auch immer wieder Genres jenseits seiner Erfolgsdomäne erkundet, so mit der Jugendbuchreihe um den jungen Hobby-Detektiv Theo Boone oder Romane rund um Amerikas beliebteste Sportarten. Mit „Das Original“ und „Das Manuskript“ hat der in Virginia lebende Autor eine weitere ungewöhnliche Reihe ins Leben gerufen, die sich vor allem um den Literaturbetrieb und weniger um juristische Spitzfindigkeiten kümmert. Im nun erschienenen dritten Band „Die Legende“ gehen diese beiden Themengebiete aber eine vielversprechende Verbindung ein.
Als sich die nach zwei gut verkauften Romanen und einer veröffentlichten Kurzgeschichtensammlung aufstrebende Dozentin und Teilzeit-Schriftstellerin Mercer Mann auf die Suche nach einer Idee für ihren dritten Roman macht, auf den ihre Lektorin bei Viking Press schon etwas länger wartet, macht ihr Ex-Lover Bruce Cable, der die Buchhandlung Bay Books auf Camino Island führt, auf die Geschichte aufmerksam, die sich um das Jahr 1750 auf der kleinen Insel Dark Isle zwischen Florida und Georgia begab. Die unscheinbare Insel wurde zum sicheren Zufluchtsort für entflohene Sklaven aus Georgia, wo sie zweihundert Jahre lebten, bis alle gestorben oder weggezogen waren. Welche Tragödien sich dabei abgespielt haben, hat die mittlerweile 84 Jahre alte Lovely Jackson in ihrem Buch „Die dunkle Geschichte von Dark Isle“ niedergeschrieben. Demnach sei sie die letzte lebende Erbin der Insel, die sie 1950 mit ihrer Mutter verlassen hat. Nun will das Bauunternehmen Tidal Breeze die Genehmigung vom Staat Florida, auf der unbewohnten Insel ein Casino zu bauen, um Dark Isle so touristisch zu erschließen. Die weißen Unternehmer lassen sich nicht vom angeblichen Fluch beeindrucken, nach dem jeder Weiße, der die Insel betritt, dem Tod geweiht ist, doch Lovely Jackson ist nicht gewillt, ihre Insel den Immobilienhaien zu überlassen. Zusammen mit dem bestens vernetzten Buchhändler Bruce Cable, dem engagierten und erfahrenen Anwalt Steven Mahon und der umtriebigen Praktikantin Diane nimmt die elegante alte Dame den Kampf gegen Tidal Breeze auf und liefert so den Stoff für Mercers neuen Roman, der die Geschichte von Lovely Jackson weitererzählen soll. Bei der Frage, wem die Insel letztlich gehört, stehen Steven & Co. vor allem vor dem Problem, dass keine schriftlichen Unterlagen über den Eigentumsnachweis existieren…
Dass John Grisham ein glänzender Erzähler ist, der sein Publikum auf der ganzen Welt mit packenden Geschichten zu fesseln vermag, steht schon seit seinen auch erfolgreich verfilmten Frühwerken außer Frage, auch wenn man über seine literarischen Fähigkeiten vortrefflich streiten kann. In „Die Legende“, dem dritten Band um den auf Camino Island lebenden Buchhändler Bruce Cable, mag es in erster Linie um die Frage gehen, wem die seit jeher nur von schwarzen Sklaven bevölkerte, seit 1955 aber verlassene Insel nun gehört. Doch das eigentliche Thema ist der Umgang mit der Sklaverei und ihrer Aufarbeitung in der heutigen Zeit. Die liebenswerte Protagonistin Lovely Jackson hat – mangels entsprechender Bildung und schriftlicher Unterlagen - aus den Erzählungen ihrer Leute die Geschichte von Dark Isle niedergeschrieben und so dokumentiert, unter welchen Bedingungen die ehemaligen Sklaven gearbeitet und gelebt haben, wie sie gestorben und begraben worden sind. Die Frage nach dem Eigentum behandelt eben auch die Frage nach dem Umgang mit diesem dunklen Kapitel der amerikanischen Geschichte. Grisham begnügt sich allerdings nicht mit diesem Themenkomplex, sondern führt bereits zu Beginn eine Vielzahl von Figuren ein – wie die bereits aus „Das Original“ bekannte Schriftstellerin Mercer Mann und ihren frisch angeheirateten Mann Thomas -, die zwar die Handlung vorantreiben, aber eine tiefergehende Charakterzeichnung unterlaufen. Dafür wiederholt sich das Format des Duells einer profitgierigen Firma gegen vermeintlich schwache Opfer aus „Das Manuskript“, und der Ausgang ist natürlich sehr vorhersehbar. Am Ende hat Grisham zu viel in den flott geschriebenen Roman gepackt und zu sehr die Erwartungen seines Publikums goutiert, um mehr als nur einen kurzweiligen, aber oberflächlichen Spannungsroman abzuliefern. 

Stephen King – „Das Bild – Rose Madder“

Dienstag, 25. März 2025

(Heyne, 588 S., HC)
Stephen King hat seit seinen frühesten Veröffentlichungen immer wieder starke Frauen in den Mittelpunkt seiner Erzählungen gerückt, am bekanntesten dürften wohl „Carrie“, „Sie“ und „Dolores“ sein, aber auch in dem weniger bekannten, weil verständlicherweise noch nicht verfilmten Roman „Das Bild – Rose Madder“ stellt der „King of Horror“ eine zunächst über Jahre gedemütigte Hausfrau in den Fokus einer Geschichte, die abgesehen von dem übernatürlichen Element keine großen Überraschungen präsentiert.
Seit vierzehn Jahren ist Rose mit dem Polizisten Norman Daniels verheiratet, doch die Ehe erweist sich seit ihrem achtzehnten Lebensjahr als Hölle auf Erden. Immer wieder tickt ihr Mann regelrecht aus und verprügelt sie nach Strich und Faden, wobei er eine besondere Vorliebe für ihre Nieren entwickelt. Bei einem seiner Gewaltausbrüche erleidet Rose eine Fehlgeburt, doch eines Tages genügt ein einzelner Blutstropfen auf dem Bettlaken, der Rose zur Besinnung kommen lässt. Sie nimmt die BankCard ihres Mannes an sich, hebt 300 Dollar vom Konto ab und marschiert zwei Stunden durch die Stadt, bis sie sich mit dem Taxi zum Busbahnhof Portside bringen lässt und mit dem nächstmöglichen Bus in eine 500 Meilen entfernte Stadt fährt. In der Hoffnung auf Hilfe und Orientierung wendet sich Rose an einen Mitarbeiter von Traveller’s Aid, der ihr die Adresse eines Frauenhauses gibt, das von dessen Ex-Frau Anna Stevenson geführt wird. Während Rose ihren Mädchennamen McClendon angenommen hat und trotz ihrer Angst vor ihrem Mann ihr Leben langsam in den Griff bekommt, lässt Norman Daniels natürlich nichts unversucht, um mit Rose mal wieder „aus der Nähe“ zu sprechen, wobei ihn sein detektivischer Instinkt tatsächlich bis zu Daughters and Sisters führt. Doch bis es so weit ist, hat Rose bereits eine eigene Wohnung, einen einträglichen Job als Hörbuch-Sprecherin und einen Verehrer namens Bill gewonnen, in dessen Pfandleihhaus sie ihren Ehering ging ein Bild eingetauscht hat, das sich in Roses Wohnung zu verändern scheint. Aber auch Norman macht auf der Suche nach Rose eine fundamentale Veränderung durch, als in einem Park einem Jungen die Stiermaske wegnimmt, die zu einem unauslöschlichen Teil seiner selbst wird…

„Wie kann das sein? fragte er sich bestürzt. Wie kann das möglich sein? Es ist doch nur ein alberner Jahrmarktspreis für Kinder! Ihm fiel keine Antwort auf diese Frage ein, aber die Maske löste sich nicht, wie fest er auch daran zog, und ihm wurde mit übelkeiterregender Deutlichkeit bewusst, wenn er die Nägel hineingraben würde, würde er Schmerzen verspüren. Er würde bluten. Und tatsächlich hatte die Maske nur noch eine Augenöffnung, die mitten ins Gesicht gewandert war. Seine Sicht durch diese Öffnung war dunkler geworden; das zuvor helle Mondlicht schien wolkenverhangen zu sein.“ (S. 535)

Mit „Rose Madder“, so der schlichte Originaltitel, der sich in erster Linie auf die Signatur des mysteriösen Bildes bezieht, das für den märchenhaften Subplot verantwortlich zeichnet, erzählt Stephen King in erster Linie die natürlich tragische, ansonsten leider sehr gewöhnliche Geschichte einer in der Ehe brutal missbrauchten Frau, wobei sowohl Rosie als auch ihr Mann Norman erschreckend klischeehaft gezeichnet sind. Erschwerend für die Glaubwürdigkeit der Geschichte kommt aber der Gegenentwurf des braven, zuvorkommenden Bill hinzu, der wie ein Ritter in strahlender Rüstung erscheint und die Geschichte zu einem zuckersüß kitschigen Ende führt. Und auch die Episode mit dem Bild, das sich vor den Augen seiner Besitzerin verändert und Rose schließlich mitten in die gemalte Szenerie zieht, wirkt eher wie ein Fremdkörper, der nur eingefügt wurde, um der trivialen Geschichte einen mythischen King-Touch zu verleihen. Leider geht der Schuss hier nach hinten los. „Das Bild – Rose Madder“ zählt so leider zu den langweiligeren Büchern von Stephen King.

Stephen King – „Wahn“

Freitag, 13. Dezember 2024

(Heyne, 896 S., HC) 
Als Stephen King 2008 seinen Roman „Duma Key“ veröffentlichte (der dann in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Wahn“ erschien), blickte er bereits auf mehr als dreißig erfolgreiche Jahre als Schriftsteller zurück, dazu auf prominent verfilmte Bestseller wie „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Shining“, „Christine“, „Dead Zone – Das Attentat“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Sie“. Nachdem er 1999 als Spaziergänger von einem Kleinbus erfasst worden war und drei Monate im Gefängnis verbracht hatte, schrieb King seinen Roman „Duddits“ mit der Hand, aber erst in „Der Turm“, dem siebten Band seines Fantasy-Epos „Der Dunkle Turm“, thematisierte er den Unfall ausführlich. Auch in „Wahn“ hallt das Echo dieses traumatischen Erlebnisses deutlich nach. 
Edgar Freemantle hat es in Minnesota als Selfmade-Bauunternehmer zu großem Erfolg gebracht, war im Alter von fünfzig Jahren genauso viele Millionen Dollar schwer und war glücklich mit Pam verheiratet und stolz auf die an der Brown studierenden Tochter Ilse und die in Frankreich als Lehrerin arbeitende Melinda. 
Doch dann stellte ein Unfall Freemantles Leben auf den Kopf: Der Zusammenprall seines Pick-ups mit einem zwölfstöckigen Kran führte nicht nur zu einem Schädel-Hirn-Trauma, sondern auch zum Verlust seines rechten Arms. Die Hirnprellung und die anhaltenden Kopfschmerzen führten zu einer Störung seines Sprachzentrums, zu unkontrollierten Wutanfällen und unerträglichen (Phantom-)Schmerzen, bis Pam die Kraft und den Glauben verliert, die Ehe fortzuführen. 
Freemantles Psychiater Dr. Kamen lässt seinen selbstmordgefährdeten Patienten daran erinnern, dass er früher gern gemalt habe, und schlägt ihm eine Auszeit auf der Insel Duma Key an Floridas Westküste vor. Als Freemantle am 10. November von seiner Reha-„Queen“ Kathi Green zum Flughafen gebracht wird und nach Florida fliegt, ahnt er nicht, dass er in ein Haus zieht, das zuvor schon von verschiedenen Künstler-Größen bewohnt worden ist. Freemantle bekommt mit Jack Cantori einen fleißigen Assistenten und freundet sich mit seinem Nachbarn Wireman an, der sich liebevoll um die 85-jährige, an Alzheimer erkrankte Elizabeth Eastlake kümmert, die nahezu alle Immobilien auf Duma Key ihr Eigen nennt. Freemantle nennt sein neues Heim Big Pink und beginnt nach einiger Zeit tatsächlich mit dem Malen, wofür er offenbar ein großes Talent besitzt. 
Doch die Bilder von Sonnenuntergängen mit Mädchen und Fischerbooten entwickeln ein gefährliches Eigenleben, das bald auch Freemantles Familie bedroht… 
„Was ich malte, wirkte nicht nur deshalb, weil es die Nervenenden reizte; es wirkte, weil die Leute wussten – auf irgendeiner Ebene wussten sie es tatsächlich -, dass sie hier etwas betrachteten, das aus einem Reich jenseits allen Talents stammte. Das Gefühl, das diese Duma-Bilder vermittelten, war Horror, kaum im Zaun gehalten. Horror, der darauf wartete, sich ereignen zu können. Mit verrotteten Segeln einlaufend.“ (S. 376) 
Als Ausgangspunkt für Kings wieder mal episch ausgefallenen Roman „Wahn“ dient ein Unfall, wie ihn Stephen King selbst fast zehn Jahre zuvor erlebt hat, und der im Kopf seines Protagonisten, den er als Ich-Erzähler etabliert, außergewöhnliche künstlerische Prozesse freisetzt. 
King verarbeitet so nicht nur erneut das Trauma seiner eigenen Unfall-Erfahrung, sondern verknüpft sie einmal mehr mit einem seiner Lieblingsthemen, mit dem künstlerischen Schaffensprozess. Welch unangenehme Nebenwirkungen das zeitigen kann, haben bereits Romane wie „Stark – The Dark Half“ und „Shining“ dokumentiert. King nimmt sich viel Zeit, die Geschichte von Edgar Freemantle zu erzählen. Der Rückblick auf sein bisheriges Leben fällt recht kurz aus, dafür nehmen im weiteren Verlauf die Beziehungen zu seiner Ex-Frau Pam und den beiden Töchtern ebenso viel Raum ein wie zu seinem neu gewonnenen Freund Wireman und der geheimnisvollen Elizabeth Eastlake, die einen besonderen Bezug zu den Künstlern in ihrem Leben zu haben scheint. 
Während die eigentliche Handlung in wenigen Sätzen zusammengefasst werden kann, nehmen die sukzessive gewonnenen Einblicke in das Leben von Wireman und seiner Herrin genügend Raum ein, dass sie Kings Leserschaft bald wie Menschen aus Fleisch und Blut erscheinen. Auch die zunehmend bedrückende Atmosphäre auf der Insel und die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Prozess sind King sehr eindringlich gelungen, so dass die Spannung fast greifbar ist. 
Allein das Finale, das zumindest die Horror-Fans erfreuen wird, ist etwas zu dick aufgetragen und umständlich konzipiert worden, doch das schmälert den Genuss von „Wahn“ kaum. 

David F. Ross – (Schottland-Trilogie: 1) „Schottendisco“

Donnerstag, 31. Oktober 2024

(Heyne Hardcore, 334 S., Pb.) 
Mit Irvine Welsh („Trainspotting“, „Porno“) und John Niven („Music from Big Pink“, „Gott bewahre“) hat Schottland seit den 1990er Jahren zwei Autoren hervorgebracht, die mit derbem britischem Humor, einem unverblümten, sozialkritischen Blick auf die Gesellschaft und ausgefallenen Plots eine Ausnahmeerscheinung in der britischen Literaturszene darstellten. 2015 wurde dieses Duo um einen weiteren interessanten Namen erweitert. Da veröffentlichte David F. Ross nämlich seinen Debütroman „Last Days of Disco“, der hierzulande von Heyne Hardcore – der langjährigen Heimat von Welsh und Niven – unter dem Titel „Schottendisco“ veröffentlicht wurde und den Auftakt einer Trilogie bildete, die mit „Schottenrock“ und „Schotten dicht“ fortgesetzt worden ist. 
Bobby Cassidy und Joey Miller sind seit ihrer Schulzeit die besten Kumpels, allerdings wissen die beiden Halbwüchsigen Anfang der 1980er Jahre in dem schottischen Kaff Kilmarnock wenig mit sich anzufangen. Während die Thatcher-Regierung mittlerweile drei Millionen Arbeitslose zu verantworten hat und auf den weit entfernten Falkland-Inseln ihr einst erobertes Territorium mit Waffengewalt zu verteidigen sucht, kommen Bobby und Joey auf die Idee, ihren Lebensunterhalt mit einer mobilen Disco zu verdienen. Allerdings ist die Unterhaltungsbranche fest in den Händen von Möchtegern-Corleone Fat Franny Duncan, der jede Art von Party mit seiner skurrilen Truppe beschallt. 
Bobbys Vater Harry, der nach einem Unfall in der Teppichfabrik als Hausmeister in der Schule arbeitet, macht ihn auf einen Aushang am Schwarzen Brett im Lehrerzimmer aufmerksam, mit dem eine mobile Disco für eine private Party gesucht wird. Bobby und Joey nennen sich nach einem alten Soul-Klassiker Heatwave, leihen sich das nötige Equipment und müssen zunächst enttäuscht miterleben, wie ihre ersten Tantiemen nicht in ihre eigenen Taschen wandern. 
Doch nach einem holprigen Start mischen Heatwave die lokale Partyszene dermaßen auf, dass der Geschäftsmann Mickey Martin den beiden Jungs anbietet, den geplanten Mega-Nachtclub-Komplex am Foregate zu bespielen. Doch das kann Fat Franny natürlich nicht zulassen… 
„Fat Franny war clever, und er hatte die zunehmend distanzierte Haltung eines consigliere in den letzten Monaten durchaus bemerkt. Genau genommen hatte er sie sogar ganz oben auf die Liste von Gründen gesetzt, weshalb das Geschäft momentan nicht lief. Michael Corleone hätte ihn schon vor Wochen beseitigen lassen, aber der Don würde eine derart heikle Situation subtiler lösen.“ (S. 188) 
Mit „Schottendisco“ ist dem in Glasgow geborenen David F. Ross ein höchst unterhaltsames Romandebüt gelungen, das zwar vor allem die Musikszene Anfang der 1980er abfeiert (im Anhang findet sich eine Liste von knapp zwanzig Songs, die den Roman inspiriert haben, darunter „Heat Wave“ von The Jam, „Good Times“ von Chic, „Plan B“ von den Dexy’s Midnight Runners und „Don’t You Want Me“ von The Human League), aber bei den humorvoll inszenierten Bemühungen der beiden Protagonisten Bobby und Joey nicht vergisst, in welch desaströs-bedrückender politischer Atmosphäre die Handlung platziert ist. Dazu dienen Ross immer wieder eingestreute Thatcher-Zitate vor allem zur Rechtfertigung des Falkland-Krieges, in den auch Bobbys Bruder Gary involviert wird, der sich aus Frust vor der Perspektivlosigkeit in seinem Leben zum Militärdienst gemeldet hat. 
Dieser Nebenstrang führt vor allem die Sinnlosigkeit von Kriegen an sich und des Falkland-Konflikts im Besonderen vor Augen, erfährt aber eine wenig gelungene Auflösung. Da gibt das Tauziehen zwischen den aufstrebenden Heatwave-Jungs und dem alteingesessenen Fat Franny schon weitaus mehr Unterhaltungswert her, vor allem weil Ross seinen temporeichen Plot mit viel Liebe zum Detail entwickelt und den Zeitgeist zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung authentisch einfängt.

Robert Ludlum – (Jason Bourne: 1) „Die Bourne Identität“

Freitag, 11. Oktober 2024

(Heyne, 640 S., Tb.) 
Als Doug Liman im Jahr 2002 „Die Bourne Identität“ mit Matt Damon und Franka Potente in den Hauptrollen verfilmte, war noch nicht abzusehen, dass er mit dem virtuos inszenierten Spektakel den Maßstab für das Action-Kino neu definierte und damit auch eine realistischere Ausrichtung des vergleichbaren James-Bond-Franchises bewirken sollte. Kaum vorstellbar war auch die Tatsache, dass „Die Bourne Identität“ auf einem Thriller beruht, den der 2001 verstorbene Genre-Spezialist Robert Ludlum bereits 1980 veröffentlicht hatte. 1988 verfilmte bereits Roger Young den Roman als Fernseh-Zweiteiler mit Richard Chamberlain und Jocelyn Smith in den Hauptrollen, wobei er sich weit enger an die Romanvorlage hielt als Liman 14 Jahre später. 
Kurz vor der französischen Küste bei Ile de Port Noir wird ein schwer verletzter Mann durch die Besatzung eines Fischerbootes geborgen und zu einem englischen Arzt auf die Insel gebracht. Geoffrey Washburn kümmert sich aufopferungsvoll um seinen ungewöhnlichen Patienten, versorgt seine Schusswunden und entdeckt dabei ein Stück Zelluloid, das dem Mann unter die Haut an der rechten Hüfte eingesetzt worden war. Die Daten eines Nummernkontos bei der Gemeinschaftsbank in Zürich sind jedoch der einzige Hinweis auf die Identität des Mannes, der sich an nichts vor seinem folgenschweren „Unfall“ erinnern kann, schon gar nicht an seinen Namen. 
Nach seiner Genesung lässt sich der Mann, der sich Jean-Pierre nennt, mit einem gefälschten Pass versorgen und nach Marseille bringen, um von dort nach Zürich zu fliegen, wo er in dem Schließfach der Bank nicht nur ein Guthaben von mehr als fünf Millionen Dollar und den Verweis auf eine Firma namens Treadstone Seventy-One vorfindet, sondern auch seinen Namen: James Charles Bourne! Doch noch bevor Bourne die Bank verlassen kann, wird er von Wachmännern attackiert. Bourne kann jedoch fliehen und sich in einem Hotel verstecken. Dort kidnappt er die kanadische Volkswirtschaftlerin Dr. Marie St. Jacques. 
Anfangs sträubt sich die Regierungsbeamte, Bourne bei seiner Flucht zu unterstützen, doch als sich ihre Wege trennen und Bourne sie später von ihrem Vergewaltiger befreit, verlieben sich die beiden und gehen gemeinsam den Hinweisen nach, die aufklären sollen, wer Jason Bourne wirklich ist. Dabei gibt es nicht nur Verbindungen zu einem weltweit operierenden Auftragskiller namens Cain, sondern dem allseits gefürchteten Killer Carlos, dessen Rang Cain offensichtlich ablaufen will. Die US-amerikanischen Geheimdienste sind mehr als beunruhigt über die Entwicklungen in Zürich und Paris, sehen jedoch eine Chance, Cain zu Carlos zu führen und damit beide unliebsamen Killer auf einen Schlag zu eliminieren. Bourne ist sich bewusst, dass er seine weiteren Schritte ohne seine Geliebte würde unternehmen müssen… 
„Er war wieder in das Labyrinth zurückgekehrt und wusste, dass es kein Entrinnen gab. Aber er würde weiter nach seiner wahren Identität forschen – ohne Marie. Die Entscheidung war unumstößlich. Es würde keine Diskussionen, keine Debatte geben, keine Vorwürfe. Er wusste, wer er war… was er gewesen war; er war schuldig im Sinne der Anklage – wie er das vermutet hatte.“ (S. 311) 
Mit seinem ersten „Bourne“-Roman hat Ludlum einen modernen Klassiker des Agenten-Thrillers geschaffen, der allerdings nur das Grundgerüst für die 22 Jahre spätere Verfilmung durch Doug Liman bildet. Während Liman und seine Drehbuchautoren Tony Gilroy und William Blake Herron den Fokus auf die spektakulär inszenierte Nahkampf-Action, exotische Drehorte und eine zwingende Verschlankung des Plots und Figurenarsenals gelegt haben, hat sich Ludlum in „Die Bourne Identität“ ganz auf das Verwirrspiel der verschiedenen US-amerikanischen Abwehrdienste, die Jagd auf den internationalen Auftragsmörder Carlos (der in der Verfilmung überhaupt nicht vorkommt) und Jason Bournes Suche nach seiner wahren Identität konzentriert. 
Die Liebesbeziehung zwischen Bourne und Marie (die im Gegensatz zur naiv wirkenden Figur in der Verfilmung als aufgeweckte Wissenschaftlerin auf Augenhöhe mit Bourne agiert) ist Ludlum nicht unbedingt glaubwürdig gelungen, dafür bietet die Geschichte eines Agenten, der nur in bruchstückhaften Erinnerungen eine Idee von seiner wahren Natur vermittelt bekommt, genügend Stoff für häufige Ortswechsel, ein irgendwann unüberschaubares Figurenarsenal und moderate Action. 
Und die Auflösung hält ganz bewusst die Möglichkeit für weitere Fortsetzungen offen, die allerdings noch weniger mit den ebenfalls nachfolgenden Verfilmungen zu tun haben. 

Jan Weiler – „Munk“

Samstag, 21. September 2024

(Heyne, 382 S., HC) 
Mit Romanen wie „Maria, ihm schmeckt’s nicht“, „Antonio im Wunderland“, „Das Pubertier“ und „Der Markisenmann“ avancierte der Kolumnist, Drehbuchautor und Schriftsteller Jan Weiler zu einem bemerkenswerten Bestseller-Phänomen, das sich mittlerweile auf Hörbücher und -spiele ebenso erstreckt wie auf die Krimi-Reihe um Kommissar Martin Kühn. Mit seinem neuen Roman „Munk“ hat Weiler die 52 Folgen seines in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Fortsetzungsromans „Die Summer aller Frauen“ zu einem ausführlicheren Roman verarbeitet. 
Nachdem der international bekannte Architekt Peter Munk auf der Zugfahrt seiner Heimatstadt Freiburg nach Zürich seine Handschuhe vergessen hatte, machte er sich nach dem Absolvieren seines Geschäftstermins auf den Weg ins Kaufhaus Globus, um dort neue Handschuhe zu erwerben. Dass er dort glaubte, Nadja wiederzusehen, die ihn wegen eines Perkussionisten verlassen hatte, setzte dem 51-Jährigen offenbar so zu, dass er auf der Rolltreppe einen Herzinfarkt erlitt. 
Nach der Entlassung aus der Herzklinik des Zürcher Krankenhauses befindet sich Munk nun auf dem Weg der Besserung, doch nimmt er sich eine Auszeit und wählt das auch wegen seiner Diskretion gern von Prominenten frequentierte Mönchhof-Resort aus, um sich den Ursachen für den Infarkt zu stellen. Da er mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, sich gesund ernährt, weder raucht noch trinkt und über eine sportliche Figur verfügt, scheinen körperliche Gründe nicht dafür verantwortlich gewesen zu sein. Nach den üblichen Anwendungen, Spaziergängen und viel Zeit zum Lesen macht Munk erst am dritten Tag die Bekanntschaft von Doktor Grenzmann, der dem Architekten nach dem ersten Kennenlernen die Aufgabe stellt, sich über die Beziehungen seines Lebens Gedanken zu machen und eine Liste der wichtigsten Personen anzufertigen. 
Munk denkt an seinen Vater zurück, der ein skrupelloser Bauunternehmer und Nazi war, von dem er sich – auch nach dessen Tod - so weit wie möglich zu entfernen versucht. Doch im Zentrum von Munks Betrachtungen stehen die 13 Frauen, mit denen er im Laufe seines Lebens eine wie auch immer geartete Beziehung unterhielt. Da die Beziehung mit Nadja noch so frisch hinter ihm liegt, rekapituliert er das Kennenlernen in einer Galerie und die unglückselige Verquickung von Privat- und Arbeitsleben als Erstes, um sich dann daran zu erinnern, wie er nach einer Party in den 1980ern ganz unspektakulär seine Jungfräulichkeit mit Judith verlor und wie die Schlittschuhläuferin Nicole seine erste große Liebe wurde. Munk hatte wenig erquickliche Affären im Ausland mit Ana und Harper, aber auch mit der jungen Influencerin Fanny und Claudia, die er in die Flucht schlug, weil er keine Kinder haben wollte, und Andrea… 
„Den anderen ein Wohlgefallen zu sein, war ein Leitspruch des Hermann Munk. Er verwendete ihn häufig, meist als mahnenden Appell in Richtung seiner Kinder. Für ihn selbst galt dieses Credo indes nicht. Aber bei Peter Munk hinterließen diese Worte ihre Wirkung. Er fand die Vorstellung nicht abwegig, dass man sich immer bemühen sollte, der Umwelt gutzutun. Er bemühte sich darum und als er Andrea kennenlernte, wollte er diesen Anspruch doppelt und dreifach gerecht werden, denn er wollte sie heiraten. Die Beziehung mit ihr war dann so, als würde er in ein brennendes Haus laufen.“ (S. 147)
Wenn man ohne jegliche Vorwarnung mit gerade mal 51 Jahren einen Herzinfarkt erleidet oder durch eine ähnlich drastische Zäsur dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen ist, stimmt es einen im Idealfall nachdenklich und begibt sich in die Ursachenforschung. Bei Jan Weilers Protagonisten wird dies durch die Anleitung seines Arztes in einer schicken Reha-Klinik in Gang gesetzt, worauf sich der gutsituierte und beruflich erfolgreiche, in Liebesdingen aber wenig geschickte Architekt Peter Munk vor allem mit den Frauen in seinem Leben auseinandersetzt. Das Spektrum reicht vom unbeholfenen Gefummel in Teenagerjahren über sehr kurze Affären mit diebischen und ehebrecherischen Frauen bis zu heiratswilligen Kandidatinnen mit Kinderwunsch und einer Beziehung am Arbeitsplatz mit einer Influencerin, deren Vater Munk fast hätte sein können. 
Bereits diese vielschichtige Aufzählung macht deutlich, dass Munk mit fast jeder Art von Frau bzw. der klischeehaften Vorstellung solcher Frauen im Bett gewesen ist. Das liest sich zwar kurzweilig, vor allem wenn es mit authentisch wirkenden Details wie der Atmosphäre in dem Eisstadion in den 80ern oder der Streamingprojekte mit dem Gesamtwerk von Regisseuren wie Hitchcock, Kurosawa, Scorsese und Fellini gespickt ist, doch hinterlässt keinen bleibenden, schon gar nicht originellen Eindruck. 
Auch wenn „Munk“ weitgehend aus der Perspektive des Protagonisten erzählt wird, kommen zwischendurch aber auch die Meinungen der beteiligten Frauen zum Ausdruck, allerdings hätte Weiler auf eine Vereinigung der weiblichen Perspektiven am Ende ruhig verzichten können. 

Stephen King – „Ihr wollt es dunkler“

Sonntag, 9. Juni 2024

(Heyne, 736 S., HC) 
Obwohl Stephen King das ausschweifende Format das epischen Romans bevorzugt, um seine Leserschaft mit seinen Geschichten zu fesseln, sind seit Beginn seiner außergewöhnlich erfolgreichen Schriftstellerkarriere immer wieder Sammlungen von Kurzgeschichten erschienen, die ihren ganz eigenen Reiz verströmten – nicht zuletzt für die Filmstudios in Hollywood, die bereits aus Kings erstem, schon 1978 veröffentlichten Sammelband „Night Shift“ ausgewählte Short Stories wie „Manchmal kommen sie wieder“, „Der Rasenmähermann“ und „Kinder des Mais“ zu mehr oder weniger gelungenen Langfilmen verarbeiteten. Bekanntere Beispiele aus späteren Sammlungen sind natürlich „Die Leiche“ (von Rob Reiner unter dem Titel „Stand By Me“ verfilmt) und „Der Nebel“
Neun Jahre nach der letzten Kurzgeschichtensammlung, „Basar der bösen Träume“, ist es nun wieder Zeit für neue Geschichten, die mal zwischen zehn und vierzig Seiten lang sind, gelegentlich aber auch das Ausmaß eines Kurzromans einnehmen. Auf jeden Fall beackert der „King of Horror“ in den zwölf Geschichten in „Ihr wollt es dunkler“ ganz unterschiedliche Sujets und erzeugt ebenso verschiedenartige Stimmungen. 
Eröffnet wird der Reigen mit „Zwei begnadete Burschen“, in der der Sohn eines berühmten, kürzlich verstorbenen Schriftstellers der Frage nachgeht, die auch die Journalistin Ruth Crawford seit einigen Jahren umtreibt: Laird und sein Jugendfreund David „Butch“ LaVerdiere haben nie das Potenzial erkennen lassen, dass aus ihnen irgendwann mal etwas Besonderes werden sollten, und doch sind sie mit einem Schlag in ihren Mittvierzigern berühmt geworden, Laird als Schriftsteller, Butch als Maler. Laird hat Zeit seines Lebens zwar die obligatorischen Interviews absolviert, aber nie Auskunft über den wundersamen Verlauf seiner Karriere gegeben. Erst mit seinem Tod bekommt sein Sohn den Zugang zum Ursprung des „göttlichen Funkens“, der die kreativen Wurzeln der beiden Freunde während eines Jagdausflugs freisetzen sollte… 
In „Der fünfte Schritt“ präsentiert sich King als typischer Horror-Autor, wenn er den Rentner Harold Jamison bei seinem täglichen Spaziergang in den Central Park mit einem normal aussehenden Mann zusammentreffen lässt, der als Alkoholiker gerade die Zwölf Schritte bei den AA durchläuft. Für den jetzt anstehenden fünften Schritt soll der Mann, der sich als Jack vorstellt, einem Fremden von seinen Fehlern erzählen. Jamison lässt sich darauf ein, nicht ahnend, was er mit seinem Einverständnis auslöst… 
Mit „Danny Coughlins böser Traum“ folgt der erste Kurzroman. Die Titelfigur träumt davon, in der Nähe einer „Hilltop Texaco“-Tankstelle einen Hund zu entdecken, der erst eine Hand, dann den dazugehörigen Unterarm aus dem Boden freischarrt. Der Traum ist so real, dass Coughlin sich auf den Weg macht und tatsächlich die teilweise freigelegten Körperteile findet. Doch als er anonym die Polizei informiert, erlebt er sein blaues Wunder. Denn Inspector Franklin Jalbert vom Kansas Bureau of Investigation ist fest davon überzeugt, dass Coughlin den Fund der Leiche von Yvonne Wicker nicht nur geträumt hat, sondern die junge Frau auch selbst ermordet hat. Um das zu „beweisen“ greift Jalbert auch zu unlauteren Mitteln, stellt sich mit seinen Praktiken und Überzeugungen aber auch zunehmend selbst ins Abseits… 
„In meinen Geschichten über das Übernatürliche und Paranormale habe ich mir besonders große Mühe gegeben, die reale Welt so zu zeigen, wie sie ist, und die Wahrheit über das Amerika zu erzählen, das ich kenne und liebe. Manche solcher Wahrheiten sind hässlich, aber wie es in einem Gedicht heißt, werden Narben zu Schönheitsflecken, wo Liebe ist“, schreibt Stephen King im Nachwort zu „Ihr wollt es dunkler“ – einer Hommage an Leonard Cohen
Tatsächlich bekommt Kings Publikum wie so oft in seinen Geschichten den Spiegel vorgehalten, taucht der „King of Horror“ doch immer wieder tief ins kollektive Unterbewusstsein ein, lässt Träume und Erinnerungen lebendig werden, thematisiert Krankheit, Tod und mehr oder weniger schleichenden Wahnsinn. So macht Vic Trenton, der Ich-Erzähler in dem anderen Kurzroman, „Klapperschlangen“, und darüber hinaus auch der Vater des Jungen, der in „Cujo“ einem tollwütigen Bernhardiner zum Opfer gefallen war, die Bekanntschaft einer Frau, die über den Tod ihrer vierjährigen Zwillinge nie hinweggekommen ist und den Kinderwagen mit ihren T-Shirts durch die Gegend kutschiert, als wären die Jungs noch am Leben. 
Nicht alle Geschichten erreichen die Intensität, die die beiden Kurzromane auszeichnet, aber doch die meisten.  

Thomas Harris – „Cari Mora“

Samstag, 18. Mai 2024

(Heyne, 336 S., HC) 
Ein Vielschreiber à la James Patterson, Stephen King, Jeffery Deaver, David Baldacci oder John Grisham ist Thomas Harris mit Sicherheit nicht. Ganz im Gegenteil: Zwischen seinem 1975 veröffentlichten Roman „Black Sunday“ und „Hannibal Rising“, dem 2006 veröffentlichten Prequel zur erfolgreichen „Hannibal Lecter“-Reihe, sind zwar mehr als satte dreißig Jahre vergangen, doch in der Zeit gerade mal die drei Romane der eigentlichen „Hannibal Lecter“-Trilogie erschienen, „Roter Drache“, „Das Schweigen der Lämmer“ und „Hannibal“. Harris darf sich nicht nur rühmen, dass er für „Das Schweigen der Lämmer“ nicht nur mit renommierten Preisen wie dem Bram Stoker Award, dem World-Fantasy-Award und dem Prix Mystère de la critique ausgezeichnet worden ist, sondern dass vom Erstling bis zu „Hannibal Rising“ auch alle Romane verfilmt worden sind, „Roter Drache“ sogar gleich zweifach. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an Harris‘ neuen Roman „Cari Mora“, für den sich der Bestseller-Autor mit dreizehn Jahren so viel Zeit ließ wie noch nie zuvor. 
Der komplett haarlose Deutsche Hans-Peter Schneider verfügt in vielerlei Hinsicht über einen exklusiven Geschmack. Momentan hat er es auf den Goldschatz abgesehen, den der Drogenbaron Pablo Escobar 1989 in seiner Villa an der Biscayne Bay in Miami Beach versteckt hat. Seit dessen Tod wird die Villa vor allem an Film-Crews vermietet, die vor allem die Szenerie mit Filmmonstern, Horrorfilmrequisiten, Jukeboxen, Sex-Möbeln und einem elektrischen Stuhl aus Sing Sing faszinierend finden, aber auch an Playboys und Immobilien-Spekulanten. 
Die 25-jährige Kolumbianerin wird dabei wegen ihrer ausgesprochenen Kenntnisse des Hauses oft als Haushüterin mitgebucht. Solange sie nur über eine Aufenthaltsgestattung verfügt, hält sich die frühere Kinderkriegerin entweder im Haus auf, wo sie sich um einen sprechenden Kakadu, anfallende Reparaturen und gelegentlich um das Catering kümmert, dazu hilft sie als Pflegerin in der Pelican Harbor Seabird Station aus. Um ihren Traum zu verwirklichen, Tierärztin zu werden, fehlt ihr nur die Aufenthaltsgenehmigung und das nötige Kleingeld für das Studium. Als Schneider es durch den Immobilienmakler Felix gelingt, mit seiner Crew vorzeitig in Escobars Villa zu gelangen, ist er noch dabei, dessen alten Weggefährten Jesús Villareal die Informationen abzukaufen, mit denen der geschickt gesicherte Safe geknackt werden kann, ohne dass Schneiders Truppe alles um die Ohren fliegt. Allerdings bleibt Schneider dem im kolumbianischen Barraquilla im Sterben Liegenden die letzte Rate schuldig, weshalb Villareal seine Informationen auch seinem Landsmann Don Ernesto verkauft. 
Als Ernesto, der in seiner Heimatstadt die Diebesschule Ten Bells betreibt, in Miami seine Diebesbande auf den Goldschatz in der Villa ansetzt, nimmt diese auch Kontakt zu Cari auf, die als Insiderin über wesentliche Informationen verfügt. Ernestos Konkurrent Schneider ist jedoch nicht nur an dem Schatz interessiert, sondern auch an der attraktiven Cari, die an den Armen für Schneider interessante Narben aufweist. Denn Schneider ist ein perverser Serienkiller, der Handel mit Frauen und ihren Organen betreibt, mit denen er die Gewaltfantasien einer steinreichen männlichen Klientel bedient… 
Statt eines neuen Hannibal-Lecter-Romans präsentiert Thomas Harris in seinem vielleicht schon letzten Roman einen neuen Serienkiller, doch gibt er sich keine Mühe, den deutschen Hans-Peter Schneider mit einer Hintergrundgeschichte auszustatten. Abgesehen davon, dass Schneider als Junge seine Eltern in einer Kühlkammer eingesperrt hat und ihre gefrorenen Leichen anschließend mit einer Axt in Kleinteile gehackt hat, erfährt man nicht viel aus dem bisherigen Leben des Schatzsuchers und Menschen- und Organhändlers. 
Das trifft allerdings auch – mit Einschränkungen - auf die eigentliche Hauptfigur, die titelgebende Cari Mora zu. Immerhin gewährt Harris hier einen Blick auf ihre Zeit als zwangsrekrutierte Kindersoldatin bei der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), was erklärt, warum sich Cari sehr gut mit Waffen auskennt und sich ihrer Haut zu erwehren versteht. Doch Harris fokussiert sich nicht auf das sich früh abzeichnende Duell zwischen Schneider und Cari, sondern lässt eine fast schon unübersichtliche Vielzahl von Nebenfiguren auftreten, die offenbar keiner näheren Beschreibung bedürfen und oft genug nur dazu dienen, Opfer brutale Tötungen zu werden. 
Harris vernachlässigt aber nicht nur seine Figuren, sondern sträflicherweise auch den Plot. Immer wieder wechselt er die Handlungsorte, Zeiten und Personen, so dass überhaupt kein Erzählfluss zustande kommt. Stattdessen bemüht er ausladende Vergleiche zwischen der Tierwelt und den Menschen, beschreibt ausführlich das Fressverhalten eines Salzwasserkrokodils und die Arbeitsaufteilung in einem Bienenschwarm. 
Zwar fällt es dem Publikum leicht, Cari seine Sympathien zu schenken, doch davon abgesehen berührt der nüchtern geschilderte Ekel kaum, wird keine wirkliche Spannung erzeugt. Als die Geschichte nach 275 Seiten abrupt zu Ende ist und sich als Füllmaterial noch eine 60-seitige Leseprobe von „Das Schweigen der Lämmer“ anschließt, ist die Enttäuschung komplett. „Cari Mora“ wirkt am Ende nicht wie ein Roman aus der Feder von Thomas Harris, sondern eines wenig ambitionierten Ghostwriters, dessen Werk kein Lektorat durchlaufen musste. 

Michael Connelly – (Mickey Haller: 1) „Der Mandant“

Dienstag, 14. Mai 2024

(Heyne, 528 S., HC) 
Als Autor von Kriminalreportagen und später als Polizeireporter für die Los Angeles Times hat Michael Connelly genügend Gerichtssäle von innen gesehen und so genauestens verfolgen können, wie das US-amerikanische Rechtssystem funktioniert. Seit 1992 hat er sein schriftstellerisches Talent und sein Faible für das Justizsystem in packende und preisgekrönte Romane um Detective Hieronymus „Harry“ Bosch gepackt, die schließlich die Grundlage für die mehrere Staffeln umfassende Serie „Bosch“ der Amazon-Studios bilden sollte. Nach zehn Bosch-Romanen und verschiedenen Einzeltiteln wie dem von und mit Clint Eastwood verfilmten „Blood Work“ veröffentlichte Connelly 2005 den Beginn einer neuen Romanreihe, diesmal um den sogenannten „Lincoln Lawyer“. Diesen Namen hat sich der in Los Angeles ansässige Strafverteidiger Michael „Mickey“ Haller durch den Umstand verdient, dass er über kein eigenes Büro verfügt, sondern seine Geschäfte in einem von seinem ehemaligen Mandanten Earl Briggs gesteuerten Lincoln Town Car abwickelt, wobei seine zweite Ex-Frau Lorna ihm die Fälle zuträgt und die Buchhaltung macht. 
Da momentan kaum lukrative Fälle zu verhandeln sind, freut sich Haller, als ihm der Kautionsvermittler Fernando Valenzuela den Fall von Louis Ross Roulet vermittelt. Der Sohn der prominenten Immobilienmaklerin Mary Windsor wird der Vergewaltigung und des versuchten Mordes beschuldigt. Als er das Mandat übernimmt, muss Hallers erste Ex-Frau, die Staatsanwältin Maggie McPherson, als Anklägerin wegen eines Interessenkonflikts den Fall an den noch unerfahrenen Kollegen Minton abgeben. 
Für Haller entwickelt sich der prestigeträchtige Fall zunächst ganz nach seiner Vorstellung, gelingt es ihm doch durch seinen Ermittler Raul Levin, eine Videoaufnahme zu finden, auf der zu sehen ist, wie das vermeintliche Opfer in einer Bar Roulet einen Zettel zugesteckt hat. Außerdem entdeckt Haller eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Campo und der Nachtklubtänzerin Martha Renteria, die vergewaltigt und mit mehreren Messerstichen getötet worden ist. Bei der Verteidigung des angeklagten Jesus Menendez hat sich Haller damals nicht besonders reingehängt, sondern seinen Mandanten nur durch ein Geständnis vor der Todesstrafe bewahren können, obwohl Menendez bis zum Schluss seine Unschuld beteuert hatte. 
Als Haller zur Überzeugung gelangt, dass Menendez tatsächlich für ein Verbrechen verurteilt worden ist, das er nicht begangen hat, und dass Roulet ein Serienmörder und -vergewaltiger ist, muss er sehr behutsam bei seiner Verteidigungsstrategie sein, denn Roulet hat einige Druckmittel in petto, mit denen er glaubt, seinen Verteidiger in der Spur halten zu können… 
„Alles lief darauf hinaus, dass einer meiner Mandanten einen Mord begangen hatte, für den ein zweiter Mandant lebenslänglich einsaß. Ich konnte dem einen nicht helfen, ohne dem anderen zu schaden. Ich brauchte eine Antwort. Ich brauchte einen Plan. Vor allem brauchte ich Beweise.“ (S. 236) 
Mit dem Strafverteidiger Mickey Haller hat Michael Connelly eine interessante Figur erschaffen, die im Gegensatz zu John Grishams Kämpfern für die Gerechtigkeit eher am eigenen Prestige interessiert zu sein scheint als an der bestmöglichen Verteidigung seiner Mandanten, die er aber auch mal – sehr zum Ärger seiner Ex-Frau Lorna – kostenlos vertritt. Während Grishams Protagonisten eher juristische Fachbücher wälzen, um die in der Regel sehr finanzkräftige Gegenpartei in die Knie zu zwingen, ist Mickey Haller definitiv aus anderem Holz geschnitzt. Dass er bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat, spricht natürlich für sich – auch wenn er zu seinen beiden Ex-Frauen nach wie vor ein gutes Verhältnis pflegt und sich gerade darum bemüht, zu seiner Teenager-Tochter Hayley einen besseren Kontakt herzustellen. 
Haller erweist sich in „Der Mandant“ als gewiefter Strafverteidiger, der der Staatsanwalt immer einen Schritt voraus zu sein scheint und selbst in Bedrängnis einen Plan entwickelt, um seine persönlichen Ziele zu wahren. Der Plot ist jedenfalls äußerst stimmig aufgebaut und steigert die Spannung kontinuierlich, doch verläuft das wendungsreiche Finale auf sehr konstruierten Bahnen, was den Gesamteindruck leicht negativ beeinflusst. 
Am Ende bietet „Der Mandant“ aber so viel packende Unterhaltung, dass es nicht verwundert, dass der Roman 2011 mit Matthew McConaughey in der Rolle des Mickey Haller verfilmt wurde und 2022 sogar in der Netflix-Serie „The Lincoln Lawyer“ mündete.


David Baldacci – (Amos Decker: 6) „Open Fire“

Sonntag, 5. Mai 2024

(Heyne, 494 S., HC) 
Mit FBI-Agent Amos Decker, einem ehemaligen Football-Profi, der nach dem Bodycheck eines Gegners nicht nur eine folgenschwere Hirnverletzung davongetragen hatte, sondern dadurch auch ein fotografisches Gedächtnis und synästhetische Fähigkeiten beschert bekam, hat der US-amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci („Der Präsident“, „Die Wächter“) einen seiner faszinierendsten Figuren erschaffen. Mit „Open Fire“ erscheint nun der bereits sechste Fall von Decker und seiner Partnerin, der ehemaligen Journalistin Alex Jamison. 
Der Jäger Hal Parker entdeckt während seiner Jagd auf einen Wolf in den Badlands von North Dakota eine nackte Frauenleiche, der die Schädeldecke abgetrennt und die offenbar bereits obduziert worden ist. Als Decker und Jamison von ihrem Chef Bogart beauftragt werden, den Mord in der Kleinstadt London zu untersuchen, hat dieser sich ungewöhnlich wortkarg gegeben. 
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Opfer um Irene Carter, die in einer Täufergemeinde als Lehrerin arbeitete und offensichtlich nebenbei als Escort-Dame tätig war. Durch seinen Schwager Stan Baker, der durch das florierende Fracking-Geschäft nach London gezogen ist, und Lieutenant Joe Kelly vom hiesigen Police Department bekommen Decker und Jamison schnell einen Überblick über die Lage in London. Demnach sind die beiden Geschäftsleute Hugh Dawson und Stuart McClellan die Platzhirsche in der Kleinstadt, doch sind ihre Geschichten von verschiedenen Tragödien geprägt, zu denen sich bald weitere gesellen, denn offenbar will jemand mit allen Mitteln verhindern, dass die beiden FBI-Agenten hinter die Zusammenhänge zwischen dem Fracking und einer durch eine private Sicherheitsfirma streng bewachten militärischen Anlage kommen, in der einst verbotene Kampfstoffe produziert wurden. 
Als Decker und Jamison selbst zu Gejagten werden, taucht ein geheimnisvoller Mann namens Will Robie auf, der die beiden immer wieder aus brenzligen Situationen befreit. Doch Robies Anwesenheit wirft weitere Fragen auf, vor allem über eine „tickende Zeitbombe“… 
„Hatte das irgendwie mit den Rettungswagen zu tun, die Decker auf dem Gelände gesehen hatte? Und erklärte das vielleicht die mangelnde Bereitschaft des Stationskommandanten, Colonel Sumter, mit ihnen zusammenzuarbeiten? Sie mussten den Mann finden, diesen Ben, der Stan Baker gegenüber die Bemerkung über die tickende Zeitbombe gemacht hatte. Außerdem musste sich Decker mit Bakers Hilfe intensiver mit dem Fracking-Business auseinandersetzen. Nach Deckers Erfahrung waren besonders gewinnträchtige Geschäfte immer für ein Mordmotiv gut.“ (S. 162f.) 
Baldacci hat mittlerweile so viele Thriller-Serien konzipiert, dass es langsam schwerfällt, die Übersicht zu behalten, zumal die einzelnen Reihen selten mehr als fünf Romane umfassen. Dass mit „Open Fire“ bereits der sechste Band um den sogenannten „Memory Man“ Amos Decker veröffentlicht worden ist – ein siebenter namens „Long Shadows“ wartet noch auf seine deutsche Übersetzung -, spricht für das anhaltende Interesse sowohl des Autors als auch des Publikums an der Figur Amos Decker. 
Baldacci rekapituliert für Neueinsteiger noch einmal die Umstände, wie Decker zu seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten gelangt ist, beschreibt dessen Trauer über den Tod seiner Frau und seiner Tochter und das schwierige Verhältnis zu seiner Schwester Renee, die sich gerade von ihrem Mann Stan trennt, der für Deckers neuen Fall eine gute Informationsquelle darstellt. 
„Open Fire“ wartet mit einer Vielzahl von Figuren, merkwürdigen Selbstmorden und Unfällen – bereits in der Vergangenheit – auf sowie lange undurchsichtig erscheinenden Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren. Baldacci erweist sich als sehr geschickt darin, sukzessive die unzähligen Puzzleteile ins Spiel zu bringen und seine Ermittler daranzusetzen, diese Teile so zusammenzusetzen, dass die zunehmenden Todesfälle und merkwürdigen Erscheinungen Sinn ergeben. Dass Decker und Jamison dabei von einem anderen Serien-Helden Baldaccis – Will Robie – Unterstützung bekommen, sorgt vor allem für mehr Action und Geheimdiensthintergrund, macht die Handlung aber gerade im letzten Viertel zunehmend unglaubwürdiger. Dazu zählt die überraschend einfache Befreiung von Ketten und aus einem unterirdischen Verlies – in dem zufällig auch noch Sprengstoff gelagert wird -, aber auch das sehr konstruierte Motiv, das hinter den ganzen Morden steckt. Hier wäre weniger – an Figuren, Action und Zusammenhängen – definitiv mehr gewesen. 

Stephen King – „Langoliers“

Samstag, 27. April 2024

(Heyne, 512 S., Heyne Jumbo) 
Wie Stephen King in seiner Vorbemerkung zu der Novellen-Sammlung „Four Past Midnight“ erwähnt, ist er zu ihrer Veröffentlichung im Jahr 1990 bereits 16 Jahre im Geschäft des Schreibens tätig gewesen. In dieser doch schon bemerkenswerten Zeit sind nach seinem durch Brian De Palma verfilmtes Romandebüt „Carrie“ noch weitere – meist ebenfalls durch namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick, John Carpenter, David Cronenberg, George A. Romero und Rob Reiner verfilmte - Bestseller wie „Shining“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Es“, „Sie“ und „Stark – The Dark Half“ erschienen, darüber hinaus auch Kurzgeschichten-Sammlungen wie „Nachtschicht“ und „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“. Mit „Four Past Midnight“ hat King vier längere Geschichten zusammengefasst, die fast eher in den Bereich des Kurzromans gehen, weshalb der Heyne Verlag je zwei Geschichten in dem Band „Langoliers“ und dann in „Nachts“ veröffentlicht hat, bevor später auch eine Taschenbuchausgabe mit dem Titel „Vier nach Mitternacht“ erschien. Viel interessanter als die Geschichten selbst – dies schon mal vorab – sind die Einführungen des Autors zu den jeweiligen Stories. So entstand die Grundidee für die Titelgeschichte aus dem Bild einer jungen Frau, die eine Hand auf einen Riss in der Hülle eines Linienflugzeugs drückt. 
In „Langoliers“ kommt Flugkapitän Brian Engle nach einem schwierigen Flug aus Tokio auf dem LAX, Amerikas schlimmsten Flughafen, an und erfährt, dass seine Ex-Frau Anne bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen sei. Engle fliegt daraufhin als Passagier von Los Angeles weiter nach Boston, schläft aber auch kurz nach dem Starten des „Schnarchflugs“ ein. Als er aufwacht, sind neben ihm selbst noch zehn weitere Passagiere an Bord, die ebenfalls geschlafen haben, darunter das blinde Mädchen Dinah, die Lehrerin Laura, der Musikhochschüler Albert und der geheimnisvolle Nick. Alle anderen – auch die Piloten und die Flugbegleiter:innen - scheinen auf mysteriöse Weise einfach verschwunden, auf vielen Plätzen liegen noch ihre Uhren, aber auch Herzschrittmacher und Zahnfüllungen. Engle übernimmt zwangsläufig das Kommando, versucht allerdings vergeblich, Funkkontakt zu anderen Flughäfen zu bekommen. 
Überhaupt scheint die Welt außerhalb des Flugzeugs eine komplett andere zu sein. Das bekommen Engle und seine Schicksalsgefährten auf schmerzvolle Weise zu spüren, als es ihnen gelingt, den Flughafen von Maine anzusteuern… 
„Langoliers“ wirkt wie Folge aus Rod Serlings „Twilight Zone“, zählt aber zu den schwächeren Geschichten des „King of Horror“. Das liegt nicht nur an der sehr kurzen Einführung der Figuren, die auch während des weiteren Verlaufs der Geschichte kaum Kontur gewinnen. King stellt eindeutig das aberwitzige Szenario in den Vordergrund und bringt seine Leserschaft ebenso wie die Beteiligten in eine Position, in der es vor allem darum geht, eine Erklärung für das Verschwinden der Menschen sowohl im Flugzeug als auch am Flughafen zu finden. Durch die für King ungewöhnlich große Distanz zwischen den Figuren und dem Publikum stellt sich längst nicht das wohlige Grauen ein, das die besseren Geschichten des Bestseller-Autors hervorrufen. 
Mit „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ bewegt sich King dann auf vertrautem Terrain, thematisiert einmal mehr das Spannungsfeld zwischen Literatur, Leser und Schriftsteller. Stand in dem auch erfolgreich von Rob Reiner verfilmten Bestseller „Sie“ der starke Einfluss im Vordergrund, den Literatur auf die Leserschaft ausüben kann, beleuchtete King in dem (vom renommierten Horror-Regisseur George A. Romero adaptierten) Roman „Stark – The Dark Half“ wiederum den manchmal durchaus zerstörerischen Einfluss, mit dem Literatur den Schriftsteller prägen und verändern kann. 
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ nähert sich eher dem zweiten Phänomen an, wird der frisch geschiedene und unter einer Schreibblockade leidende Schriftsteller Morton Rainey in dem Sommerhaus am Tashmore Lake von einem mysteriösen Mann, der sich als John Shooter vorstellt, mit dem Vorwurf konfrontiert, seine 1982 geschriebene Geschichte „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ gestohlen zu haben, und verlangt im Gegenzug, dass Rainey ihm eine Geschichte schreibt. Rainey fühlt sich zunächst auf sicherem Terrain, schließlich ist seine Geschichte mit dem Titel „Zeit zu säen“ bereits 1980 im Ellery Queens Kriminalmagazin erstmals veröffentlicht worden. 
Shooter will allerdings innerhalb von drei Tagen einen Beweis in Form einer der Originalausgaben des Magazins in der Hand halten. Während Rainey seinen Agenten darauf ansetzt, eine dieser Ausgaben per Express zu ihm schicken zu lassen, geschehen grausame Dinge. Eines Morgens findet Rainey seinen Kater Bump mit einem Schraubendreher am Dach des Müllkastens angenagelt vor, wenig später ist das Haus, in dem seine Ex-Frau Amy lebte, bis auf die Grundmauern abgebrannt. Während der Versicherungsdetektiv nach Hinweisen auf die offensichtliche Brandstiftung sucht, wird Rainey von verdrängten Erinnerungen und düsteren Träumen heimgesucht… 
„Er glaubte, ohne ihre große Kapazität der Selbsttäuschung wäre die menschliche Rasse wahrscheinlich noch verrückter, als sie ohnehin war. Aber manchmal brach die Wahrheit durch, und wenn man bewusst versucht hatte, zu träumen und sich diese Wahrheit nicht einzugestehen, konnten die Folgen verheerend sein: Es war, als wäre man dabei, wenn eine gigantische Flutwelle nicht nur über, sondern regelrecht durch einen Damm raste, der in ihrem Weg lag, und diesen samt einem selbst zerschmetterte.“ (S. 397)
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“, das mit Johnny Depp in der Hauptrolle als „Das geheime Fenster“ verfilmt worden ist, wirkt zwar atmosphärisch stimmiger und ist in der Charakterisierung der zugegebenermaßen wenigen Figuren gelungener als „Langoliers“, kann aber mit Stephen Kings früheren Auseinandersetzungen mit dem eingangs erwähnten Spannungsfeld längst nicht mithalten. Das liegt vor allem an dem sehr vorhersehbaren Ausgang der Geschichte und der nicht wirklich überzeugenden Motivation für die grausamen Taten, die uns im Verlauf der Story begegnen. Fans der großartigen Sammlung „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ dürften hier eher enttäuscht werden.