Claudie Gallay – „Die Brandungswelle“

Donnerstag, 29. September 2011

(btb, 558 S., HC)
Eine ehemalige Biologiedozentin an der Universität von Avignon hat sich nach dem Tod ihres Mannes zwei Jahre lang beurlauben lassen und arbeitet nun seit einem halben Jahr für das Ornithologische Zentrum von Caen. In La Hague, im Nordwesten der Normandie, zählt sie Vögel, ihre Nester und Eier, sucht Gründe für den Rückgang der Zugvögel in der Gegend. Sie liebt die Monotonie der Arbeit, die karge Natur am Ende der Welt, die Leere ihres Seelenlebens.
Doch kurz bevor ein mächtiger Sturm das kleine Fischerdorf heimsucht, taucht Lambert auf, ein geheimnisvoller Mann, der vor vierzig Jahren seine Eltern und seinen jüngeren Bruder bei einem Bootsunglück verloren hat. Er ist zurückgekommen, um das Unglück von damals aufzuklären. Eine Schlüsselrolle kommt dabei Théo zu, dem ehemaligen Leuchtturmwärter, der damals offensichtlich das Leuchtfeuer ausschaltete und damit den Tod von Lamberts Familie verschuldet haben könnte. Die Ornithologin ist fasziniert von dem Fremden, der kein wirklich Fremder ist, aber immer wieder gibt sie sich den Erinnerungen an ihren geliebten Mann hin, dessen Tod auch sie in gewisser Weise sterben ließ.
„Diese Gegend war dir ähnlich. Mich davon abzuwenden, hätte bedeutet, dich nochmal zu verlieren. Ich war wie besessen von deinem Körper gewesen. Ich kannte seine Umrisse, seine Unvollkommenheiten. Ich kannte seine ganze Kraft. Jeden Abend ließ ich dein Gesicht, die Bilder, die ganze Geschichte in einer Endlosschleife vor mir ablaufen. Dein Lächeln. Deine Lippen. Deine Augen. Deine Hände. Deine verfluchten Hände, viel größer als meine.“ (S. 111f.) 
Gallay gelingt es, die Verschrobenheiten ihrer Figuren in einer sehr poetischen, klaren Sprache zu schildern und sie so sehr plastisch dem Leser vor Augen zu führen. Es sind eigensinnige, zuweilen exzentrische Leute, mit denen es die Ich-Erzählerin zu tun hat, die alle ihre Bürden zu tragen haben – wie sie selbst, der Künstler, der auf einmal durch einen Fachartikel berühmt zu werden scheint; die Tochter, die ihren verhassten Vater pflegt, und dann taucht ein Foto auf, das all die sicher geglaubten Dinge in ein neues Licht rückt. Die französische Autorin lässt ihre Figuren in Worten sprechen, wie man sie sonst weniger hört. Aber die Skurrilität der Gespräche fügt sich nahtlos in das ohnehin sonderbare Ambiente der Handlung, Orte und verborgenen Geheimnisse ein, dass es eine Freude ist, die Puzzleteile am Ende wieder zusammengefügt zu wissen.
Leseprobe "Die Brandungswelle"

John Grisham – „Das Geständnis“

Montag, 19. September 2011

(Heyne, 527 S., HC)
Reverend Keith Schroeder staunt nicht schlecht, als eines Tages ein Mann namens Travis Boyette in sein Gemeindebüro kommt und ein ungewöhnliches Geständnis ablegt: Mit einem taubengroßen Tumor im Kopf habe er nicht mehr lange zu leben und sehne sich danach, sein Gewissen zu erleichtern. Was sich der Reverend schließlich anhören muss, ist die detaillierte Schilderung der Entführung, Vergewaltigung und Ermordung der siebzehnjährigen Nicole Barber, für die Boyette zu seinem eigenen Erstaunen nie belangt worden ist.
Obwohl die Leiche des Mädchens nie gefunden wurde, muss der schwarze Donté Drumm seit acht Jahren in der Todeszelle auf die Vollstreckung eines Urteils warten, das auf einem offenbar erzwungenen Geständnis und einer ebenso offensichtlichen Falschaussage eines Zeugen beruht. Obwohl er sich schuldig macht, bei dem Verstoß von Boyettes Bewährungsauflagen zu helfen, macht sich Schroeder nach der Überprüfung einiger seiner Angaben mit Boyette auf die Reise von Kansas nach Texas, wo Drumm in vier Tagen hingerichtet werden soll. Außer Drumms Familie und seinem engagierten Anwalt Robbie Flak ist allerdings niemand interessiert daran, Boyettes Geschichte zu überprüfen, schon gar nicht die Justiz, die den Verurteilten wie geplant hingerichtet sehen will. Selbst Dontés Schwester Andrea ist bei der perfiden Aufführung der Strafverfolger zu der Überzeugung gelangt, dass Donté schuldig sei.
„Wir saßen in diesem großen Gerichtssaal und sahen die neun Richter an, alle weiß und alle so furchtbar wichtig in ihren schwarzen Roben, mit ihrer ernsten Miene und ihrem Getue. Auf der anderen Seite Nicoles Familie und ihre großspurige Mutter, die sich viel zu wichtig nahm. Und dann stand Robbie auf und brachte unseren Fall vor. Er war großartig. Er ging den Prozess noch einmal durch und machte darauf aufmerksam, dass das Beweismaterial äußerst dürftig war. Er machte sich über den Staatsanwalt und den Richter lustig. Er hatte vor nichts Angst. Und er war der Erste, der darauf hinwies, dass die Polizei nichts von dem anonymen Anrufer gesagt hatte, der behauptet hatte, Donté sei es gewesen. Das hat mich schockiert. Wie konnten die Polizei und der Staatsanwalt es wagen, Beweise zurückzuhalten? Das Gericht störte sich nicht im Geringsten daran. Ich weiß noch, wie ich Robbie dabei beobachtete, wie er so voller Leidenschaft für Donté eintrat, und irgendwann wurde mir klar, dass er, der Weiße aus dem reichen Teil der Stadt, nicht den geringsten Zweifel daran hatte, dass mein Bruder unschuldig war. Und in diesem Moment glaubte ich ihm. Ich schämte mich so dafür, dass ich an Donté gezweifelt hatte.“ (S. 223)
Was folgt, ist ein packender Wettlauf gegen die Zeit, bei dem Dontés Anwalt einen Antrag nach dem nächsten bei allen möglichen zuständigen Stellen einreicht und Dontés Freund Joey Gamble zur Rücknahme seiner fatalen Falschaussage bewegen will, während der Gouverneur nicht daran denkt, einen Aufschub des Strafvollzugs zu gewähren und die Justiz sich damit begnügt, sich einzureden, alles richtig gemacht zu haben.
Für „Das Geständnis“ hat sich Bestseller-Autor John Grisham ein extrem heikles Thema ausgesucht, das auch die Befürworter der Todesstrafe arg ins Grübeln bringen dürfte. Mit messerscharfer Präzision und in schnörkelloser Sprache schildert Grisham einen Justizskandal von tragischer Reichweite und demontiert das US-amerikanische Justizsystem, entlarvt deren Amtsinhaber als machtbesessen, uneinsichtig und selbstgerecht. Grisham-Freunde und Thriller-Fans kommen dabei voll auf ihre Kosten!
Lesen Sie im Buch: John Grisham – „Das Geständnis“