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Gay Talese – „High Notes“

Samstag, 31. März 2018

(Tempo, 368 S., HC)
Warum der 1932 in Ocean City geborene Gay Talese zu den Mitbegründern des literarischen Journalismus zählt, haben die deutschen Leser im vergangenen Jahr durch die bei Tempo/Hoffmann und Campe erschienene Reportage „Der Voyeur“ eindrucksvoll nachvollziehen können. Auch wenn sich der Autor mittlerweile wegen Zweifel an seiner Quelle von seinem eigenen Buch distanziert, gelang Talese nicht nur das aufschlussreiche Portrait eines Mannes, der in seinem Motel Vorkehrungen getroffen hat, unbemerkt das Sexualleben seiner Kunden zu beobachten, sondern gewährte auch einen faszinierenden Einblick in das Sexualverhalten der Amerikaner, das sich durch die Pille, Pornofilme und die Hippie-Bewegung nachhaltig gewandelt hat.
In dem nun veröffentlichten Sammelband „High Notes“ sind nun einige von Gay Talese wichtigsten Reportagen zusammengefasst, darunter die berühmteste, im Esquire veröffentlichte „Frank Sinatra ist erkältet“, die deshalb so beeindruckend ist, weil Taleses Story entstanden ist, ohne dass der Autor den berühmten Sänger und Schauspieler getroffen hat, und trotzdem ein sehr intimes Portrait des Stars zeichnet, weil Talese sich die Mühe gemacht hat, nahezu alle wichtigen Leute aus Sinatras Umfeld zu interviewen.
Seit Talese in den frühen 1960er Jahren für die New York Times zu schreiben begonnen hat, hat er seine berühmtesten Reportagen für den Esquire verfasst, dazu Bücher wie „Ehre deinen Vater“ (über einen Mafia-Clan) und „Du sollst begehren“ (über die sexuelle Revolution) veröffentlicht.
Nach einem Vorwort von Lee Gutkind, der anhand einiger Beispiele Taleses außergewöhnliche Qualitäten als Reporter verdeutlicht, erzählt Talese in „Ein Sonntag zu Kriegszeiten“ zunächst von seinen eigenen Kindheitserinnerungen und Erlebnissen als ungeschickter Messdiener und einer ungewöhnlichen Begegnung mit dem berühmten New Yorker Baseball-Schlagmann Joe DiMaggio. Tiefe Einblicke in die Geschichte einer Mafia-Familie gewährt „Das Verschwinden Joe Bonannos“, während „Charlie Mansons Ranch im Westen“ von der Erinnerungen eines gewissen George Spahn erzählt, der auf seiner Ranch immer wieder Hippies zu Besuch hatte, darunter auch zeitweise Charlie Manson mit seinen AnhängerInnen.
Mit der 80-seitigen Reportage „Das Reich, die Macht und die Herrlichkeit der New York Times bringt uns Talese nicht nur die internen Strukturen der einflussreichen Tageszeitung nahe, sondern vor allem die charismatischen Figuren, die die Zeitung geprägt haben und Zeugnis davon ablegen, mit welchem Anspruch sie Journalismus betrieben haben. Besonders aufschlussreich ist der recht kurze Artikel „Über die Arbeit an ‚Frank Sinatra ist erkältet‘“, in der Talese die näheren Umstände seiner Arbeit an der Reportage beschreibt, aber auch verdeutlicht, dass die besten Autoren damals oft Wochen und Monate mit Recherchen, Gliederung, Schreiben und Überarbeiten verbracht haben. Über seine eigene Arbeitsweise schreibt Talese:
 „Was mich seit meinen Anfängen als Journalist schon immer interessierte, sind weniger die genauen Worte, die jemand äußert, als deren tiefere Bedeutung. Wichtiger als das, was Leute sagen, ist das, was sie denken, selbst wenn sie es zunächst kaum auszudrücken vermögen und es dem Interviewten eine Menge Grübelei und Selbstbefragung abverlangen mag – ein Prozess, den ich mit meiner Art zu fragen, ihnen näherzukommen und mich in sie hineinzuversetzen, behutsam anzustoßen versuche.“ (S. 217f.) 
Nicht alle hier versammelten kurzen wie langen Artikel und Reportagen mögen für das deutsche Publikum von Interesse sein, aber sie machen deutlich, wie gut sich Talese in die Menschen einfühlen kann, über die er schreibt. In der abschließenden Titelstory „High Notes“ lässt die Reporterlegende beispielsweise die besondere Atmosphäre in dem Studio spüren, in dem der fast 85-jährige Tony Bennett für sein Album mit Duetten, „Duets II“, mit Lady Gaga den Song „The Lady Is a Tramp“ einsingt.
Wer also den New Journalism von Truman Capote, Hunter S. Thompson und Tom Wolfe schätzt, kommt auch an Gay Talese nicht vorbei.

Gay Talese – „Der Voyeur“

Dienstag, 25. April 2017

(Tempo, 224 S., HC)
Als Gerald Foos erfährt, dass der renommierte Autor Gay Talese („Ehre deinen Vater“) in seinem nächsten Buch „Du sollst begehren“ eine landesweite Studie zum Sexualleben der Amerikaner thematisiert, schreibt er ihm im Januar 1980 einen Brief, in dem er wichtige Informationen zum Thema anbietet. Seit fünfzehn Jahren sei Foos nämlich mit seiner Frau Donna Besitzer eines kleinen Motels in Aurora, Colorado, dessen Kundenstamm als repräsentativer Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung gelten darf. Das Besondere an den einundzwanzig Zimmern des mittelständischen Hauses sind die speziell angefertigten Lüftungsgitter in der Decke, die es Foos erlauben, seine voyeuristischen Neigungen zu befriedigen und dabei die Frage zu beantworten, wie sich Menschen in ihrem ganz privaten Umfeld sexuell verhalten.
Foos hat seit den späten 1960er Jahren präzise Aufzeichnungen über seine Beobachtungen angestellt und diese analysiert. Foos ist fest davon überzeugt, dass seine Notizen von großem Interesse sowohl für die Menschheit im Allgemeinen als auch für Sexualforscher im Besonderen sein könnten.
Talese selbst ist allerdings skeptisch. Ihm ist klar, dass er, wenn er Foos‘ Story veröffentlichen würde wollen, auch dessen tatsächlichen Namen nennen müsste, aber dadurch würde Foos in den Fokus der Strafverfolgung rücken. Tatsächlich trifft sich Talese mit dem Voyeur und lässt sich Foos‘ Aufzeichnungen in kleinen Teilen zukommen. Darin beschreibt Foos ausführlich die Sexualpraktiken seiner von ihm ausspionierten Gäste, konventionellen Sex zwischen Ehepartnern oder Geliebten, gleichgeschlechtlichen Sex, Gruppensex, Masturbation, einen signifikanten Anstieg von Oralsex nach dem Kinoerfolg des Pornofilms „Deep Throat“ (1972).
Bei der Durchsicht von Foos‘ Aufzeichnungen stellt sich Talese aber auch einige Fragen:
„Wieso hat er all das schriftlich festgehalten? Genügt es einem Voyeur nicht, Lust zu verspüren und ein Gefühl der Macht zu empfinden? Wozu der Akt der Niederschrift? War das eine Form der Kontaktaufnahme, indem Voyeure sich anderen offenbarten, wie es Foos zuerst mit seiner Frau und dann mit mir getan hatte, um sich schließlich als anonymer Chronist an ein größeres Publikum zu wenden?“ (S. 91) 
Talese, der in den frühen 1960er Jahren für die The New York Times geschrieben hatte, für seine im Esquire veröffentlichten Portraits über Joe DiMaggio, Dean Martin und Frank Sinatra berühmt geworden ist und als Mitbegründer des literarischen Journalismus zählt, zitiert in seinem Buch „Der Voyeur“ nicht nur ausführlich aus Foos‘ Briefen und Aufzeichnungen, sondern rekapituliert auch den persönlichen Hintergrund von Gerald Foos und muss immer wieder feststellen, dass er seiner Quelle nicht unbedingt glauben kann.
Immer wieder stößt er auf Ungereimtheiten in Foos‘ Darstellungen. Das betrifft vor allem einen Vorfall, der sich 1977 ereignet haben soll, bei dem Foos den Mord an einem seiner weiblichen Gäste beobachtet haben will. Zunächst dachte er, dass die Frau noch lebt, am nächsten Morgen wurde sie allerdings tot aufgefunden. Merkwürdig ist nur, dass Talese bei seinen Recherchen später keine Aufzeichnungen weder in den Medien noch bei den zuständigen Polizeistellen fand. Talese selbst wird, nachdem er in einem „New Yorker“-Artikel über sein geplantes Buch berichtet, vorgeworfen, durch sein Schweigen zu einem Mitverschwörer geworden zu sein.
Das Thema ist bei aller Unsicherheit über die Echtheit aller geschilderten Daten dennoch so interessant, dass Steven Spielberg sich sogleich die Filmrechte sicherte. Man mag von der voyeuristischen Praxis, die hier ausführlich geschildert wird, halten, was man will, aber „Der Voyeur“ bietet tatsächlich einen interessanten, gut geschriebenen Einblick in das Sexualverhalten der Amerikaner und den Wandel, den der Sex durch die Erfindung der Pille, Pornofilme und die Hippie-Bewegung erfahren hat.