Jo Nesbø – (Harry Hole: 2) „Kakerlaken“

Sonntag, 31. Januar 2021

(Ullstein, 410 S., Tb.) 
Als Atle Molne, der norwegische Botschafter in Thailand, mit einem Messer im Rücken auf dem Bett eines eher zwielichtigen Etablissements in Bangkok aufgefunden wird, soll Bjarne Møller, Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen in Oslo, auf Anweisung der Polizeipräsidentin einen seiner besten Männer zur Begleitung der Untersuchung nach Bangkok entsenden. Wie Møller durch den Staatssekretär Askildsen und Verwaltungschef Torhus vom Auswärtigen Amt erfährt, hatte Molne nicht die nötigen Qualifikationen für den Job, dafür aber die wohlwollende Unterstützung des Ministerpräsidenten, der natürlich wenig erbaut wäre, sollte öffentlich werden, dass der verheiratete Molne in einem Bordell zu Tode gekommen ist. 
Auf der Suche nach einem geeigneten Beamten, der bereits viel Erfahrung mit internationaler Polizeiarbeit hat und auf gewisse Erfolge zurückblicken kann, kommt Møller auf Vorschlag der Polizeipräsidentin schließlich auf den 35-jährigen Kommissar Harry Hole, der vor einem Jahr in Australien wertvolle Dienste geleistet hatte. Hole ist wenig begeistert von diesem Auftrag. Seit der Vergewaltigung seiner Schwester Søs hängt Hole an der Flasche, doch das reicht offenbar nicht, um den Job zu verweigern. In Bangkok arbeitet Hole mit der glatzköpfigen Amerikanerin Liz Crumley, Hauptkommissarin beim Morddezernat, zusammen. 
Bei der Besichtigung des Tatorts und des vor dem Motel parkenden Autos des Botschafters entdecken sie Wettscheine, Ampullen für flüssiges Ecstasy und einen verschlossenen Koffer, in dem die Beamten später Fotos finden, die den Botschafter als Pädophilen entlarvten. Bei den weiteren Ermittlungen stößt Hole auf den Banker Jens Brakke und den schwerreichen Bauunternehmer Ove Klipra, der Molnes Geldsorgen gelindert haben könnte. Brakke, der eine Affäre mit der schwerkranken Frau des Botschafters unterhält, kommt in Untersuchungshaft, doch ist Hole alles andere als von dessen Schuld überzeugt. Für die norwegischen Behörden ist der Fall abgeschlossen, Hole soll wieder zurück in die Heimat beordert werden. Doch Hole will die Sache zu einem befriedigenden Ende bringen und begibt sich bei seinen weiteren Nachforschungen in Lebensgefahr … 
„Waren ihm all die Zeitungsartikel und das Schulterklopfen, das er nach seiner Rückkehr aus Australien eingeheimst hatte, wirklich so egal, wie er geglaubt hatte? War die Idee, alles und jeden zu missachten, um sich möglichst bald wieder der Søs-Sache zu widmen, bloß ein Vorwand? Weil es ihm so verflucht wichtig geworden war, Erfolg zu haben?“ (S. 196) 
Nachdem der Norweger Jo Nesbø mit „Der Fledermausmann“ ein beachtliches Debüt und den Startschuss für die bis heute erfolgreiche Reihe um Polizeikommissar Harry Hole abgeliefert hatte, lässt er seinen charismatischen Protagonisten in „Kakerlaken“ diesmal im Land des Lächelns ermitteln. Während seine Vorgesetzten davon ausgehen, dass Hole wenig Wirbel um die Ermordung des norwegischen Botschafters machen und den Fall schnell abhaken würde, erweist sich der norwegische Kommissar doch als hartnäckiger und gewissenhafter, als es die politische Führung in seiner Heimat erwartet hat. Hole gerät in ein immer komplexeres Geflecht aus Korruption, Gier, sexuellen Perversitäten und geschickt inszenierten Intrigen. 
Nesbø bleibt dabei eher an den Ermittlungen des ermordeten Botschafters als an der Persönlichkeit seiner Hauptfigur. Da erfahren wir nur von den Alkoholproblemen, der Vergewaltigung seiner Schwester, für die Hole noch niemanden zur Rechenschaft ziehen konnte, und seinem Ehrgeiz, den Fall in Bangkok um jeden Preis zu lösen. Vor allem im Finale erweist sich Nesbø als raffinierter Krimi-Autor. Wie er seinen Harry Hole die einzelnen Fäden entwirren und den komplexen Fall letztlich lösen lässt, ist einfach packend geschrieben und macht neugierig auf die nachfolgenden Harry-Hole-Abenteuer, in denen es dann hoffentlich auch wieder persönlicher wird.


John Irving – „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“

Sonntag, 24. Januar 2021

(Diogenes, 487 S., Tb.) 
Fred „Bogus“ Trumper leidet unter unspezifischen Problemen beim Wasserlassen. Nachdem ihm sein Vater, der Urologe ist, nicht weiterhelfen konnte, wendet sich Trumper in New York an den Franzosen Dr. Jean-Claude Vigneron, der seinem Patienten letztlich zwei Optionen anbietet, die seinem Leiden mit dem ungewöhnlich schmalen Urogenitaltrakt Abhilfe verschaffen könnten: eine Operation oder die Wassermethode, die vor allem darin besteht, vor und nach dem Geschlechtsverkehr viel Wasser zu trinken. Da Trumper sich nicht auf eine 48-stündige Schmerzphase nach einer Operation einlassen will, entscheidet er sich für die Wassermethode. 
Neben diesem gesundheitlichen Problem muss sich Trumper aber mit ganz existentiellen Nöten herumschlagen, nämlich seiner Doktorarbeit. Der Student der Sprachen an der University of Iowa plant, mit seiner Dissertation eine Übersetzung des Epos „Akthelt und Gunnel“ aus dem Altniedernordischen vorzulegen. Für einen Studienaufenthalt zieht es Trumper nach Österreich, wo er in Kaprun die erfolgreiche Skiläuferin Sue „Biggie“ Kunft kennenlernt. 
Als Biggie von Trumper schwanger wird und mit ihm nach Amerika zurückkehrt, streicht ihm sein Vater seine monetären Zuwendungen, so dass Trumper gezwungen ist, Aushilfsjobs wie das Verkaufen von Wimpeln in Sportstadien auszuüben. Die Beziehung zu Biggie geht in die Brüche, Trumper zieht es wieder nach Österreich, wo er seinen alten Freund Merrill Overturf besuchen will. Zwar findet er seinen Freund nicht, wird dafür aber in eine Drogengeschichte verwickelt. 
Die Rückkehr nach New York gelingt auf abenteuerliche Weise. Mit dem Drogengeld, das Trumper unerklärlicherweise zugesteckt bekommen hat, leistet er sich eine Taxifahrt nach Maine, wo Trumper seinen alten Freund Couth besuchen will. Dabei stellt er fest, dass Biggie und ihr gemeinsamer Sohn Colm bei Couth leben. Enttäuscht kehrt Trumper nach New York zurück. Ralph Tucker, für den Trumper schon früher als Tontechniker gearbeitet hat, will einen Dokumentarfilm über Trumper drehen und ihn „Der Griff in die Scheiße“ nennen. Bei den Dreharbeiten gerät auch Trumpers Beziehung zu seiner Freundin Tulpen ins Trudeln … 
„Er hatte Lust, nach Maine zu gehen, sich das neue Baby anzusehen und seine Zeit mit Colm zu verbringen. Er wusste, dort war er eine Zeitlang ein gerngesehener Gast, wenn er auch nicht bleiben konnte. Er hatte auch Lust, nach New York zu gehen und Tulpen zu besuchen, aber er wusste nicht, wie er ihr entgegentreten sollte. Er stellte sich eine Art Rückkehr vor, die ihm gut gefallen würde: triumphierend, wie ein geheilter Krebskranker. Aber er war sich nicht klar, welche Krankheit er bei seinem Weggang gehabt hatte, und so konnte er auch schwerlich wissen, ob er nun geheilt war.“ (S. 456) 
Mit seinem zweiten, 1972 veröffentlichten Roman, erzählt John Irving („Das Hotel New Hampshire“, „Owen Meany“) die Geschichte eines Mannes, der nie wirklich etwas zu Ende gebracht hatte, der als Ringer schon kurz vor dem Triumph stand und dann doch noch seinen Kampf verlor; der vor den Frauen flüchtet, sobald sie ihm nur die leiseste Ahnung vermitteln, dass sie fremdgehen könnten; der sich letztlich ein Dissertationsthema aussucht, das ebenso uninteressant wie schwierig zu bewältigen ist. Als Leser fällt es einem schwer, Sympathien für diesen wankelmütigen Hallodri namens Fred „Bogus“ Trumper zu entwickeln. Bereits seine Einführung mit dem Problem seines verengten Urogenitaltrakt taugt nicht dazu, eine persönliche Bindung zu dem Protagonisten aufzubauen, der mal als Ich-Erzähler auftritt, dann als zu beobachtendes Objekt in der dritten Person oder auch als Rolle in einem Drehbuch. So munter wie Irving zwischen den Erzählperspektiven hin- und herspringt, so wechselt er auch die Zeitebenen, was es schwierig macht, der Geschichte zu folgen. Dazu lässt der US-Amerikaner immer wieder ausgiebige Zusammenfassungen der (fiktiven) altniedernordischen Saga in den Plot einfließen, die das Lesevergnügen weiter schmälern, was umso schmerzlicher ist, als dass Irving ein wirklich einfallsreicher, sprachlich versierter und witziger Autor mit einem Gespür für seine ungewöhnlichen Figuren ist.


James Patterson – (Women’s Murder Club: 9) „Das 9. Urteil“

Dienstag, 19. Januar 2021

(Limes, 350 S, HC) 
Um sich mit ihrer heimlichen Geliebten Heidi ein neues Leben aufbauen zu können, ist die Highschool-Lehrerin Sarah Wells unter die Juwelendiebe gegangen. Sie bricht dabei so erfolgreich in die Häuser bestens situierter Menschen ein, während diese im Erdgeschoss Partys veranstalten oder ihr Abendessen einnehmen, dass sie bereits von der Presse den Spitznamen „Hello Kitty“ verpasst bekommen hat. Als sie allerdings in das Haus der bekannten Hollywood-Schauspielers Marcus Dowling und seiner Frau Casey eindringt, kommt das Ehepaar allerdings früher ins Schlafzimmer zurück als erwartet, und Sarah muss sich im Kleiderschrank verstecken, wo sie zunächst einen Streit, dann den Versöhnungssex hörte, um dann endlich aus dem Fenster zu klettern, nachdem sie die regelmäßigen Atemgeräusche der Schlafenden wahrgenommen hatte. 
Obwohl sie dabei ein Wandtischchen umwirft und Casey dadurch aufweckt, gelingt Sarah die Flucht. Doch dann erfährt sie aus den Nachrichten, dass Casey erschossen wurde und sie selbst als Tatverdächtige gilt. Detective Lindsay Boxer und ihr Partner Rich Conklin übernehmen die Ermittlungen in diesem Raubmord übernehmen, haben es aber vor allem mit einer viel brutaleren Mordserie zu tun. Ein Mann, der in Parkhäusern belebter Shopping Malls junge Mütter und ihre Kinder tötet, hinterlässt jeweils das mit dem Lippenstift seiner Opfer geschriebene Kürzel FKZ in verschiedenen Kombinationen an den Tatorten. So bekommt Lindsay kaum Zeit, um die glückliche Beziehung mit Joe zu genießen, aber auch ihre Freundinnen, die Staatsanwältin Yuki Castellano, die Reporterin Cindy Thomas und die Pathologin Claire Washburn, bekommt sie kaum zu sehen. Schließlich wendet sich der Lippenstift-Mörder direkt an die Öffentlichkeit, verlangt zwei Millionen Dollar und bringt Lindsay als Überbringerin des Geldes in eine gefährliche Situation … 
„Ich gebe es zu. Für einen irrationalen Augenblick lang zuckte die Wut in mir auf. Das eigene Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, woran man glaubt, das ist eine Sache. Aber von einem Killer als Roboter benutzt zu werden, als Opfer bei einer Aktion, die man selbst für falsch, ja, für Wahnsinn hält … das ist etwas ganz anderes.“ (S. 201) 
Die Thriller-Serien, die James Patterson um den Polizeipsychologen Alex Cross und um den Club der Ermittlerinnen entwickelt hat, sind regelmäßig auf den vorderen Plätzen der internationalen Bestseller-Listen zu finden. Das bedeutet allerdings nicht, dass Patterson mit seinen Co-Autoren stets hochklassigen Lesestoff abliefert. „Das 9. Urteil“ – das Patterson wie seit dem 4. Band der Reihe um den Women’s Murder Club mit Maxine Paetro verfasst hat – baut vor allem auf rasante Action, die in meist zwei- bis dreiseitigen Kapiteln in großer Schrift abgehandelt wird. 
Dass bei zwei Fällen, die natürlich wieder miteinander zusammenhängen und jeweils Seriencharakter besitzen, auf 350 Seiten kaum Raum für die Schilderung detaillierter Ermittlungsarbeit noch feine Figurenzeichnung bleibt, dürfte jedem Leser bewusst sein. Ärgerlich wird es nur, wenn beide hier präsentierten Fallserien so unglaubwürdig in Motivation und Ausführung wirken. Eine verheiratete Highschool-Lehrerin wird auf einmal zu einer raffinierten Juwelendiebin, die in an sich hochgesicherte Privatanwesen eindringt und stets unentdeckt entkommt? Ein Kriegsveteran ist so traumatisiert, dass er Frauen und ihre Kinder umbringt? Allein diese Prämissen machen „Das 9. Urteil“ zu einem äußerst faden Ritt durch einen allein auf Action getrimmten Plot, dessen durchweg fehlende Glaubwürdigkeit durch immer neue abstruse Entwicklungen und Zusammenhänge getoppt wird. 
Kein Wunder, dass „Das 9. Urteil“ das vorletzte Buch der Reihe ist, das hierzulande in der Erstausgabe als Hardcover erschienen ist, ab Fall 11 nur noch als Paperback. 

Dan Simmons – „Das leere Gesicht“

Samstag, 16. Januar 2021

(Heyne, 350 S., Tb.) 
Der Mathematiker Jeremy Bremen verfügt über die seltene Gabe der Telepathie, die er glücklicherweise mit seiner Frau Gail teilt. Die intensive Art, wie sie einander Gedanken und Gefühle teilen, verbindet sie auf fast symbiotische Weise. Allein Gail ist auch in der Lage, mit den von ihr aufgebauten Gedankenschirmen für ihren Mann eine Art Schutzwall vor den unzähligen Gedankenströmen fremder Personen zu errichten, so dass er sich besser auf seine Arbeit konzentrieren kann. Als sie jedoch nach schwerer Krankheit stirbt und Bremen den Schutz durch seine Frau gegen das sogenannte Neurobrabbeln verliert, versinkt Bremen in eine tiefe Depression. 
Er lässt sich von der mathematischen Fakultät in Haverford freistellen, zündet das gemeinsame Haus an und begibt sich auf eine abenteuerliche Odyssee, bei der vor allem mit den fürchterlichen Gedanken und Begierden von Gewalt, Misstrauen, Hass, Neid und Gier in den Gedankenströmen der Menschen konfrontiert wird. Als Bremen in Miami in einer Fischerhütte strandet, beobachtet er, wie der Mafioso Vanni Fucci eine Leiche im Fluss entsorgt. Fucci bringt Bremen in seine Gewalt und will ihn als Zeugen von seinen Kollegen töten lassen, doch gelingt es dem Chaosforscher, in Disney World seinem Peiniger zu entkommen und mit dem Bus weiter nach Denver zu reisen. Dort wird er aber nach seiner Ankunft beraubt und krankenhausreif geschlagen. 
Mit Hilfe eines freundlichen Obdachlosen namens Soul Dad flieht er in einem geklauten 79er Pontiac, nachdem er den Vergewaltiger eines Mädchens fast zu Tode geprügelt hatte. Bremen landet schließlich auf der Farm von Miz Morgan, die ihn als Farmarbeiter anheuert, aber letztlich nur daran interessiert ist, Bremen mit ihrem Metallgebiss zu töten und in das Kühlhaus zu den anderen Leichen zu hängen. Erst als er nach Las Vegas flüchten kann und Dank seiner telepathischen Kräfte beim Pokern satte Gewinne einstreicht, scheint sich das Blatt für Bremen zu wenden. Doch in einem der Casinos erkennt Vanni Fucci den Zeugen aus Miami wieder und unternimmt einen zweiten Anlauf, Bremen unter die Erde zu bringen. Wieder einmal wird Bremen den schrecklich primitiven Gedanken menschlicher Wesen ausgesetzt … 
„Die meisten brutalen Menschen, die Bremen mit seinem Geist berührte, waren dumm – viele erstaunlich dumm, viele unterstützten ihre Dummheit durch Drogen -, aber der Dunstkreis ihrer Gedanken und Gedächtniszentren war nichts im Vergleich mit der blutwitternden Klarheit des Jetzt, der Unmittelbarkeit dieser Sekunden der Gewalt, die sie suchten und genossen, die das Herz schneller schlagen ließen und Erektionen bescherten. Die Erinnerungen an solche Taten waren weniger in den Köpfen als vielmehr in den Händen und Muskeln und Lenden gespeichert. Gewalt bestätigte. Sie schuf einen Ausgleich für die vielen banalen Stunden des Wartens, der Beleidigung und Untätigkeit, die Stunden vor dem Fernseher, wohl wissend, dass man keines der strahlenden Wunder besitzen konnte, die dort vorgeführt wurden …“ (S. 136f.) 
Nachdem sich Dan Simmons mit „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ als preisgekrönter Horror-Autor etabliert hatte, der mit dem zweibändigen Epos um „Hyperion“ auch die Science-Fiction erfolgreich erobern konnte, legte er 1992 mit dem Roman „The Hollow Man“, der zwei Jahre darauf bei Heyne in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das leere Gesicht“ veröffentlicht wurde, ein weitaus schwerer zugängliches Werk vor. Das betrifft nicht nur den ungewöhnlichen Aufbau des Romans, der mit dem Sterben von Bremens Frau Gail beginnt und von der Schilderung von Erinnerungen sowie ungewöhnlichen Erzählperspektiven geprägt wird, sondern auch den sehr ausführlich dargelegten wissenschaftlichen Hintergrund, der Bremens Forschung betrifft. Eine besondere Rolle nimmt dabei die schicksalhafte Begegnung mit dem Neuroforscher Jacob Goldmann ein, dessen Arbeit sich wunderbar mit Bremens eigener Forschung zum menschlichen Gedächtnis als sich fortpflanzende Wellenfront ergänzt. 
Simmons lässt Bremen und Goldmann endlos lange über die Probleme der Quantenmechanik, Parallelwelten, Kartographie des menschlichen Bewusstseins und Wahrscheinlichkeitswellen diskutieren, was den Fluss der Handlung nicht nur ausbremst, sondern in seiner Detailverliebtheit auch nicht unbedingt zum Verständnis der Geschichte nötig ist. So präsentiert sich „Das leere Gesicht“ als extrem heterogenes, höchst komplexes Werk, das sich als Road Trip mit Elementen aus Horror, Fantasy und Science-Fiction erweist, sich aber auch mit grundlegenden spirituellen und philosophischen Fragen beschäftigt. 
Zum Ende hin gewinnt die Handlung an Tempo und Spannung, schließt auch einzelne Handlungsfäden und Überlegungen zusammen, doch erreicht „Das leere Gesicht“ letztlich nicht die bestechende Qualität früherer Simmons-Werke.


Michael Connelly – (Harry Bosch: 9) „Letzte Warnung“

Montag, 11. Januar 2021

(Heyne, 416 S., Tb.) 
Seit Harry Bosch seinen Job beim Los Angeles Police Department hingeschmissen hatte, hat er sich wie die meisten anderen ehemaliger Polizei-Kollegen routinemäßig eine Lizenz als Privatdetektiv zugelegt und ermittelt nun auf eigene Faust, aber ohne offiziellen Status. Dabei widmet er sich einem Fall, der ihn schon vor vier Jahren beschäftigt hat, aber nie abgeschlossen wurde. Damals wurde die 24-jährige Hollywood-Produktionsassistentin Angella Benton vor ihrem Apartmenthaus tot aufgefunden. Sie arbeitete für Alexander Taylors Firma Eidolon Productions, die zu jener Zeit einen Film produzierte, der wegen eines bewaffneten Überfalls ebenfalls für Schlagzeilen sorgte: Da der Regisseur des Films darauf bestand, mit echtem Geld beim Dreh zu arbeiten, ließ er sich von BankLA zwei Millionen Dollar bringen, doch bei der Übergabe erbeuteten Gangster das teilweise registrierte Geld. 
Bosch war zu der Zeit wegen der Ermittlung im Fall der erwürgten Angella Benton am Tatort und konnte einen der Täter niederstrecken, das Geld blieb allerdings verschwunden – bis einer der registrierten Scheine bei einem mutmaßlichen Terrorverdächtigen sichergestellt wurde. Das rief die noch junge ,Rapid Response Enforcement and Counter Terrorism‘-Einheit auf den Plan, so dass der Polizei der Fall entzogen wurde. 
Dabei mussten schon Bosch und seine beiden Kollegen von der Hollywood Division, Kiz Rider und Jerry Edgar, zuvor den Fall bereits an die Robbery-Homicide-Division abgeben. Kaum hatten Jack Dorsey und Lawton Cross den Fall übernommen, wurden sie bei einem Raubüberfall in einer Bar ins Visier genommen. Dorsey erlag noch am Tatort seinen Verletzungen, Cross ist seitdem querschnittsgelähmt an den Rollstuhl gefesselt und wird von seiner Frau gepflegt. Harry Bosch lässt vor allem das Bild der getöteten Produktionsassistentin mit ihrem entblößten Körper, dem absichtlich platzierten Sperma und der wie flehend wirkenden Geste ihrer Hände nicht los. 
Eine weitere Spur seiner Ermittlungen führt zu der nach wie vor vermissten FBI-Agentin Martha Gessler, die ein Computer-Programm entwickelt hatte, um registrierte Geldscheine zu dokumentieren, bis sie in einem anderen Zusammenhang wieder auftauchten. Bosch muss sich zunächst auf die langsam zurückkehrenden Erinnerungen des damals ermittelnden Beamten Lawton Cross verlassen, da sowohl die Polizei als auch das FBI Bosch drängen, die Finger von der Sache zu lassen. Aber Bosch wäre nicht Bosch, wenn er sich durch solche Drohungen einschüchtern lassen würde. Schließlich kommt er auf einen Verdächtigen, den bislang niemand so recht auf dem Zettel hatte … 
„Ich hatte das Gefühl, dass Bewegung in die Sache kam, und das machte mich ganz kribbelig, denn instinktiv wusste ich, dass ich der Lösung des Rätsels ganz dicht auf der Spur war. Ich hatte zwar nicht alle Antworten, aber aus Erfahrung wusste ich, sie würden sich irgendwann von selbst ergeben. Was ich allerdings hatte, war die Richtung. Es war mehr als vier Jahre her, dass ich auf Angella Bentons Leiche hinabgeblickt hatte, und endlich hatte ich einen richtigen Verdächtigen.“ (S. 329) 
In seinem neuen Dasein als Privatdetektiv merkt Hieronymus „Harry“ Bosch sehr schnell, wie schwierig sich die Ermittlungen gestalten, wenn man bei Befragungen von Zeugen und Beamten anderer Dienststellen nicht mit seinem Abzeichen und Dienstausweis die entsprechende Befugnis bezeugen kann. Doch in seiner langjährigen Karriere als Detective beim LAPD hat Bosch eine Hartnäckigkeit entwickelt, die ihm auch bei dem noch unaufgeklärten Mord an einer jungen Filmproduktionsassistentin dienlich ist. 
Zwar legt sich Bosch nicht nur mit seinen ehemaligen Kollegen beim LAPD, sondern vor allem mit dem FBI an, doch kommt er nach und nach verschiedenen Umständen auf die Spur, die den Mord an Angella Benton mit den Raubüberfällen am Set und in der Bar sowie dem Verschwinden der FBI-Agentin Marty Gessler in Verbindung bringen. Dabei gerät Bosch sogar ins Visier der Täter und kann am Ende von Glück sagen, dass er lebend aus seinem Haus in Hollywood gekommen ist. 
Aber auch seine geschiedene Frau Eleonor, die mit offensichtlich großem Erfolg in Las Vegas professionell pokert, lässt Bosch nicht los. Michael Connellys neunter Band um Harry Bosch zählt zu den besten der langlebigen Thriller-Reihe, die ebenso erfolgreich als Serie von Amazon produziert worden ist. 
„Letzte Warnung“ enthält nämlich alles, was einen guten Cop-Thriller ausmacht, vor allem einen faszinierenden Fall, der immer weitere Komponenten und Querverweise auf andere Fälle aufweist, so dass sich ein komplexes Gerüst an Verwicklungen ergibt, die Bosch mit ebenso viel Geduld wie Hartnäckigkeit zu entwirren versteht. Dabei bringt Connelly gut zum Ausdruck, was die nach 9/11 auf den Weg gebrachten Antiterrormaßnahmen nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für andere Strafverfolgungsmaßnahmen für Folgen hat. Neben dem absolut packenden Plot mit vielschichtigen Wendungen bringt Connelly auch Boschs Privatleben gut zum Ausdruck, was sich zum einen in dessen Vorliebe für guten Jazz und seine nach wie vor tiefen Gefühle für seine Ex-Frau widerspiegelt.


Håkan Nesser – (Van Veeteren: 5) „Der Kommissar und das Schweigen“

Donnerstag, 7. Januar 2021

(btb, 318 S., HC) 
In dem idyllischen Touristenort Sorbinowo ist Polizeichef Malijsen gerade in den Urlaub gegangen, als sein Vertreter, Polizeianwärter Merwin Kluuge, Mitte Juli einem anonymen Hinweis auf ein verschwundenes Mädchen aus dem Lager des Reinen Lebens in Waldingen nachgehen muss. Doch die Nachfragen bei dem Sektenführer Oscar Jellinek und seinen Helferinnen und den meist sehr jungen Mädchen ergeben nichts. Kluuge beschleicht allerdings das Gefühl, dass mehr an der Sache dran ist, und erhält Unterstützung von Kommissar Van Veeteren, der nicht nur kurz davor steht, seinen geplanten Urlaub auf Kreta anzutreten, sondern mal wieder mit dem Gedanken spielt, den Polizeidienst zu beenden und sich stattdessen auf eine Stellenanzeige eines Antiquariats zu bewerben. 
Kaum ist er in Sorbinowo eingetroffen, wird ein zweites Mädchen als vermisst gemeldet, dann beide vergewaltigt und erwürgt im Wald aufgefunden. Bevor Jellinek zu den beiden Morden befragt werden kann, verschwindet auch er. Den Polizisten gelingt es allerdings nicht, brauchbare Informationen von den im Lager verbliebenen Frauen und Mädchen zu erhalten, so dass Van Veeteren mit Jung und Reinhart, die er als Verstärkung kommen ließ, die Nachforschungen auf die Nachbarschaft ausdehnt. Doch auch hier machen die Ermittler kaum Fortschritte … 
„Also: insgesamt gesehen fühlte Van Veeteren sich nicht sehr viel schlauer, als er schließlich nach dem letzten Gespräch wieder ins befreiende Menschengewimmel tauchen durfte. Aber auch nicht sehr viel dümmer, und was lag da näher, als den ganzen Nachmittag einfach in Klammern zu setzen und ihn zu den Akten zu legen. Eine unter vielen.“ (S. 232) 
Van Veeteren will einfach nur weg, seinen zynischen Gedanken zu seiner Exfrau und seinem Beruf entfliehen, und so folgt er notgedrungen dem Hilferuf aus einem benachbarten Revier, mit dessen Leiter er Mitte der 1970er Jahre Bekanntschaft gemacht hat. Zunächst gibt es ja keinen wirklichen Fall, den Van Veeteren und der durchaus fähig erscheinende Polizeianwärter Kluuge da zu bearbeiten haben, aber als sich die unbestätigten Vermisstenanzeigen von anonymer Seite als abscheuliche Morde erweisen, kommt die immer größer werdende Ermittlertruppe überhaupt nicht weiter, weil alle möglichen Zeugen entweder ganz schweigen oder nur sehr wortkarg auf die Befragungen der Ermittler reagieren. 
Leider dümpelt der Plot deshalb auch eher nichtssagend vor sich hin. Van Veeteren paddelt mit dem Kanu durch die Gegend, probiert die fünf Möglichkeiten zu essen im Ort aus, unterhält sich mit dem Chefredakteur der Zeitung, der sich zudem als Cineast entpuppt. 
Als Krimi taugt Nessers fünfter Van-Veeteren-Fall nur bedingt. Die Ermittlung kommt eigentlich nie so recht in Gang, der einzig Verdächtige im Fall der beiden ermordeten Mädchen ist selbst verschwunden, und so gibt sich der berufsmüde Kommissar vor allem den anregenden Gesprächen und kulinarischen Genüssen mit dem Redakteur Przebuda hin. Selbst die sporadisch eingeführte Perspektive des zunächst namenlosen Täters verleiht dem Roman keine Tiefe. 
Wenn am Ende letztlich ein Schreibfehler - und damit laut Van Veeteren der Zufall - dabei hilft, den Täter zu identifizieren, passt das zu dem seltsam lustlos konstruierten Roman, der den beiden schrecklichen Morden, die es zunächst aufzuklären gilt, überhaupt nicht gerecht wird. Aber diese Agonie ist es wahrscheinlich auch, die Van Veeteren nach einer anderen Berufung Ausschau halten lässt. 

Dan Simmons – (Hyperion: 2) „Das Ende von Hyperion“

Sonntag, 3. Januar 2021

(Heyne, 636 S., Tb.) 
M. Joseph Severn, ein vom TechnoCore künstlich geschaffener Cybrid, wird von Meina Gladstone, der Präsidentin der Hegemonie, nach Esperance auf Tau Ceti Center eingeladen, um an der wohl wichtigsten Party im Netz teilzunehmen, die den offiziellen Beginn des Krieges zwischen der Hegemonie und den Ousters feiert. Innerhalb der illustren Runde, zu denen neben der Präsidentin auch der Verteidigungsminister, zwei Stabschefs von FORCE, vier Senatoren und die Projektion des TechnoCor-Ratgebers Albedo zählen, soll Severn die Perspektive des Künstlers einbringen. Er ist nämlich ein Cybrid von John Keats‘ besten Freund Joseph Severn, der ihn in Rom bis zu seinem frühen Tod durch Schwindsucht pflegte. Indem er in der Lage ist, die Träume seines vorangegangenen Cybriden John Keats zu träumen, dessen Implantat die Privatdetektivin Brawne Lamia in sich trägt, kann er die Pilger ausspionieren, die sich auf dem Weg nach Hyperion befinden. 
Mit seiner Ansicht, dass es töricht wäre, die Stabilität der Hegemonie, die seit ihrer Gründung vor siebenhundert Jahren an keinem Krieg teilgenommen hat, durch den geplanten Schlag gegen die Ousters auf die Probe zu stellen, erntet Severn allerdings fast ausschließlich Spott und Unverständnis. Allein Gladstones engster Vertrauter Leigh Hunt ist an Severns Gedanken interessiert. Severn berichtet der Präsidentin, dass alle Pilger - außer vielleicht der verschwundene Tempelritter Het Masteen – noch am Leben seien, auch wenn Pater Hoyt durch das Tragen der Kruziform große Schmerzen erleidet, der Dichter Martin Silenus ständig betrunken ist, weil er seine an der Merlin Krankheit leidende und dadurch umgekehrt alternde Tochter Rachel dem Shrike opfern soll, und Oberst Kassad von der Suche nach der geheimnisvollen Frau namens Moneta besessen ist, und der Konsul damit klarkommen muss, dass er durch sein geheimes Treffen mit den Ousters die Hegemonie verraten hat, indem er dafür sorgte, dass die Zeitgräber geöffnet wurden. Aber ebenso wie der Konsul folgt auch Meina Gladstone ihren eigenen geheimen Plänen. 
„Gladstone dachte zum hunderttausendsten Mal, dass es noch Zeit war, alles aufzuhalten. Im derzeitigen Zustand war der totale Krieg nicht unvermeidlich. Die Ousters hatten noch nicht auf eine Weise zurückgeschlagen, die die Hegemonie nicht außer Acht lassen konnte. Das Shrike war nicht frei. Noch nicht. Wenn sie hundert Milliarden Leben retten wollte, musste sie nur in den Senat zurückkehren, drei Jahrzehnte Täuschung und Doppelspiel enthüllen, ihre Ängste und Unsicherheit bloßlegen …“ (S. 189f.) 
Mit „Hyperion“, dem 1989 veröffentlichten, nach einem Gedicht von John Keats benannten, mit einem Hugo Award und einem Locus Award ausgezeichneten Science-Fiction-Roman, feierte der US-amerikanische Bestseller-Autor Dan Simmons („Göttin des Todes“, „Terror“) sein anspruchsvolles Debüt als Science-Fiction-Autor. Ein Jahr später ließ er mit „The Fall of Hyperion“ ein imponierendes Finale folgen, das sich in der Struktur gänzlich von dem ersten Roman unterscheidet. Während in „Hyperion“ die sieben Pilger im Fokus standen, indem jeder Teilnehmer der Fahrt nach Hyperion zum Tempel des Shrike seine Lebensgeschichte erzählte, lässt Simmons in „Das Ende von Hyperion“ den Blick in die ganze Welt der Hegemonie schweifen, wechselt die Perspektiven zwischen der Präsidentin und M. Joseph Severn auf der einen Seite, verfolgt durch die Träume des Künstler-Cybriden aber auch die Pilger auf ihrer Reise nach Hyperion. 
Ähnlich wie im ersten Teil des insgesamt über 1200-seitigen Epos bringt Simmons religiöse, philosophische, politische und literarische Themen in die Handlung einfließen, beschreibt unzählige Welten und Formen von Menschen, aber auch so viele Figuren, dass der Fluss der Handlung und die Spannungsdramaturgie immer wieder ins Stocken geraten und durch unnötig erscheinende Nebenhandlungen ausgebremst werden. 
Trotz der komplexen Struktur und der gelegentlichen Längen ist „Das Ende von Hyperion“ eine spannende Space Opera geworden, die den Blick auch darauf wirft, wie Menschen durch den Fortschritt der Technologie versklavt werden können. Insofern ist die „Hyperion“-Saga heute so aktuell wie nie zuvor.