Jim Thompson – „Gefährliche Stadt“

Freitag, 30. Juli 2021

(Diogenes, 240 S., Tb.) 
Ragtown ist eines dieser öden ehemaligen Viehtreiberkaffs im tiefsten Westen von Texas, wo einst Mike Hanlon mit seiner klapprigen Bohrausrüstung auf Öl gestoßen und zu Reichtum gekommen war. Mittlerweile sitzt der Ölbaron nach einem Unfall im Rollstuhl und ist Besitzer des vierzehnstöckigen Hanlon Hotels, zudem mit der attraktiven Joyce verheiratet, die er damals eigentlich als Empfangsdame einstellen wollte und der er gestattete, ihre Bedürfnisse auch anderweitig zu befriedigen, wenn es denn diskret vonstattengehe. Trotz des großzügigen Arrangements wird Hanlon den Verdacht nicht los, dass Joyce es auf mehr anlegt und ihn endgültig aus dem Weg räumen will. 
Mit seinem vagen Verdacht erreicht er bei dem vermeintlich korrupten Chief Deputy Lou Ford allerdings nicht viel. Als der mehrfach wegen Mordes und Gewalttätigkeiten verurteilte David „Bugs“ McKenna in die Stadt kommt, vermittelt Ford ihm eine Stelle als Hoteldetektiv bei Mike Hanlon, dessen Offenheit ihm sympathisch ist. Doch wie in seinem bisherigen Leben zieht McKenna auch hier die Probleme an. Er lässt sich nicht nur auf eine Affäre mit Joyce und der Hotelangestellten Rosalie Vara ein, sondern hat sich vor allem in die attraktive Lehrerin Amy Standish verguckt, die allerdings mit dem Chief Deputy liiert ist. 
Als der meist betrunkene Hotelmanager Westbrook Bugs ins Vertrauen zieht, dass er einen weiteren Hotelangestellten namens Dudley, den der Manager selbst für einen Job im Hotel empfohlen hat, verdächtigt, 5000 Dollar unterschlagen zu haben, soll Bugs dem Verdächtigen einen Besuch abstatten. Zu seinem Pech verunglückt Dudley in McKennas Anwesenheit tödlich, was den Hoteldetektiv nicht nur in Erklärungsnöte bringt, sondern auch eine Erpressung unbekannter Herkunft um gerade die 5000 vermissten Dollar. Bugs versucht, die Identität des Erpressers herauszufinden und weiß nicht, wem er noch trauen kann. Dabei hängt er trotz aller Schwierigkeiten an seinem Job … 
„Er wusste, dass es ihm schwer fallen würde, hier wieder wegzugehen. Ein Aufstieg in einen besseren Job wäre natürlich nicht schlecht, aber wenn das nicht ging, würde er sich auch nicht beklagen. Er würde ihm schon genügen, so weiterzumachen wie bisher. Und dazu war er fest entschlossen. Noch einmal würde er sich nicht unterbuttern lassen. Er würde bleiben. Irgendwie. Um jeden, wortwörtlich um jeden Preis.“ (S. 161) 
Zwei Jahre vor dem durch Sam Peckinpahs Kultverfilmung berühmt gewordenen Roman „The Getaway“ veröffentlichte Jim Thompson 1957 mit „Wild Town“ einen Krimi, in dem es ein Wiedersehen mit Sheriff Lou Ford gibt, dem Ich-Erzähler aus Thompsons vierten Roman „Der Mörder in mir“ (1952), allerdings spielt Ford hier nur eine – wenn auch undurchsichtige – Nebenrolle, die allerdings die Dinge für McKenna erst ins turbulente Rollen bringt. 
Noir-Ikone Thompson gelingt es einmal mehr, auf gerade mal 240 Seiten die Physiognomie einer Stadt zu umreißen, die durch Ölvorkommen über Nacht „einen Umfang wie eine Frau, die im achten Monat mit Drillingen schwanger geht“, bekam und allerlei zwielichtige Gestalten anzog. Von denen wimmelt es auch in „Gefährliche Stadt“. McKenna wird als Noir-typischer Antiheld eingeführt, der sein Leben lang mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist und auch kurz nach seiner Ankunft in Ragtown eingebuchtet wird, nur um von Deputy Sheriff Ford einen aussichtsreichen Job angeboten zu bekommen. 
Was die nachfolgende Handlung so spannend macht, sind die Menschen, mit denen McKenna folglich beruflich und privat zu tun bekommt. Ohne ersichtlichen Grund verdient er sich nicht nur die Gunst seines an den Rollstuhl gefesselten Bosses, sondern zieht auch ganz unterschiedliche Frauen an, doch gestaltet sich der jeweilige Umgang mit ihnen schwierig, bis McKenna nicht mehr weiß, was er von wem halten soll. Bis also die Umstände von Dudleys Tod und der verschwundenen 5000 Dollar aufgeklärt sind, tappen McKenna und mit ihm die Leser lange Zeit im sprichwörtlichen Dunkeln. Thompsons lakonischer Humor und seine präzise Sprache sorgen in diesem Wirrwarr der Gefühle und herrlich unmoralischen Fallstricken durchweg für prickelnde Unterhaltung. 

 

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 17) „Keine Ruhe in Montana“

Sonntag, 25. Juli 2021

(Pendragon, 572 S., Pb.) 
Nachdem der 1936 in Louisiana geborene Schriftsteller James Lee Burke beim Bielefelder Pendragon Verlag seine deutsche Heimat gefunden hat, bemüht man sich dort, nach und nach die zum Glück nur noch wenigen Lücken in der schon legendär gewordenen Dave-Robicheaux-Reihe zu füllen. Mit der deutschen Erstveröffentlichung des 17. von mittlerweile insgesamt 23 Bänden um den charismatischen Detective aus dem New Iberia Parish präsentiert Burke ein weiteres Meisterwerk der Kriminalunterhaltung mit dem ihm typischem Südstaaten-Flair. 
Nachdem der Hurrikan Katrina in New Orleans eine vernichtende Schneise der Verwüstung hinterlassen hat, nimmt sich Detective Dave Robicheaux eine Auszeit und fährt mit seiner Frau Molly und seinem besten Freund, dem Privatermittler Clete Purcel, zum Fischen auf eine Ranch in Montana, die ihr Freund Alber Hollister dort besitzt. 
Als Clete, der von dort aus auf einen zweitägigen Trip zu Swan River Country aufgebrochen war, eines Morgens aus seinem Zelt steigt, wird er von zwei unangenehmen Zeitgenossen, Lyle Hobbs und Quince Wigley, darauf hingewiesen, dass er sich auf dem Privatbesitz von Ridley Wellstone befinde. Als sie seine Personalien überprüfen, stellen sie zudem fest, dass er früher als Fahrer für den Mafioso Sally Dio gearbeitet habe, der bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben kam. 
Doch nicht nur für Clete bedeutet der Trip nach Montana Ärger. Robicheaux wird von seinem Kollegen im Missoula County, Joe Bim Higgins, um Mithilfe bei den Morden an der Studentin Cindy Kershaw und ihrem Freund Seymour Bell gebeten. Es dauert nicht lange, da haben es Clete und Dave mit einer ganzen Reihe von unangenehmen Zeitgenossen und merkwürdigen Begegnungen und Ereignissen zu tun. Da findet der entflohene Häftling Jimmy Dale Greenwood unter neuem Namen einen Job bei Daves Freund Albert und wird von dem Gefängnisaufseher Troyce Nix verfolgt, den Greenwood fast tödlich verletzt hatte, nachdem ihn Nix vergewaltigt hatte. 
Greenwood, der ein begnadeter Gitarrist und Sänger ist, will mit Jamie Sue Wellstone durchbrennen, seiner ehemaligen Freundin und ehemals prominenten Country-Sängerin, die es in der Ehe mit dem völlig entstellten Leslie Wellstone nicht mehr aushält. Dass Clete mit der ebenfalls ermittelnden FBI-Agentin Alicia Rosecrans ins Bett steigt, macht die Sache nicht einfacher. Und schließlich mischt noch ein Fernsehprediger mit, der längst nicht so fromm ist, wie er es nach außen hin erscheinen lässt … 
„Unser Leben war untrennbar mit Gewalt und Blutvergießen verbunden. Wir hatten unsere Jugend in Vietnam verloren und ein Souvenir nach Hause gebracht, das uns Albträume bis ans Lebensende bescherte. Wir hatten aus der Vergangenheit nichts gelernt, sondern waren verdammt, unsere Fehler zu wiederholen. Dieser Parkplatz hier war vielleicht nur ein weiterer Zwischenstopp auf unserer deprimierenden Odyssee.“ (S. 370f.) 
Mit seinem 17. Band, der unter dem Originaltitel „Swan Peak“ bereits 2009 erschienen war, legt der mehrfach preisgekrönte Autor James Lee Burke ein ungewöhnlich handlungsintensives Krimi-Drama vor, das mit dem Mord an einem Studentenpärchen beginnt, aber sehr schnell weite Kreise zieht, in denen auch Cletes Vergangenheit mit dem Mafioso Sally Dio wieder aufgewärmt wird. 
Vor allem ist es eine weit verzweigte Geschichte um Sex, Gewalt, Korruption und Verrat, in der viele, oft undurchsichtige Typen mitmischen. Bei so vielen Nebenschauplätzen, die allerdings alle miteinander verknüpft sind, bleiben einige Figuren allerdings ziemlich auf der Strecke, vor allem Daves Frau Molly, aber auch die für Burke typischen atmosphärisch dichten Landschaftsbeschreibungen kommen etwas zu kurz. 
Dafür bietet er einen durchweg packenden Plot, bei dem zwar viele Zufälle für immer neue Konstellationen und Begegnungen führen, der aber den Leser bis zum furiosen Finale in Atem hält. 

Jim Thompson – „Es war bloß Mord“

Sonntag, 18. Juli 2021

(Diogenes, 246 S., Tb.) 
Joe Wilmot unterhält mit seiner Frau Elizabeth in der Kleinstadt Stoneville mit 7500 Einwohnern das größere von zwei Kinos, wobei ihnen auch das zweite, allerdings leerstehende Filmtheater gehört. Durch seinen geschickten, durchaus manipulativen Umgang mit seinem Vermieter Andy Taylor, den Filmverleihern, Konkurrenten und seinen Angestellten hat er das Kino zum erfolgreichsten Kleinstadtkino im ganzen Staat gemacht. Doch die Fassade eines erfolgreichen Unternehmers fängt an zu bröckeln, als Elizabeth, die Joe damals beileibe nicht aus Liebe geheiratet hat, mit der unscheinbaren Carol Farmer eine Haushaltshilfe einstellt, die eigentlich nicht notwendig ist. Gerade als Joe mit Carol eine Affäre beginnt, wird er in flagranti von seiner Frau ertappt. 
Joe kann nicht genau sagen, wann sein Leben die verkehrte Richtung einschlug, ob die Affäre mit Carol der Auslöser war oder schon die Tatsache, dass er das Kino seines Konkurrenten Bower dichtmachte oder er und Elisabeth nach der Heirat für sich je eine Versicherung über zwölftausendfünfhundert Dollar abschlossen. Möglicherweise lag die Wurzel allen Übels auch in Joes Aufenthalt in Waisenhäusern und Besserungsanstalten oder in der kriminellen Vergangenheit von Carols altem Herrn. Elizabeth will aber nicht die Scheidung, sondern schmiedet einen Plan, der ihr 25.000 Dollar einbringt, was exakt die Summe ist, die bei dem Unfalltod eines der Versicherten ausgezahlt wird. So wird ein Plan geschmiedet, bei dem Elizabeth spurlos untertaucht und ein Brand in dem Kino inszeniert wird, bei dem eine Frau von außerhalb ums Leben kommt, die für Elizabeth gehalten wird. Nach Auszahlung der Versicherungssumme würden sowohl Elizabeth als auch Joe mit Carol die Gelegenheit bekommen, ein ganz neues Leben anzufangen. 
Doch dann beginnen ihm nicht nur der Kinokettenbesitzer Sol Panzer, sondern auch sein Vermieter, der Filmverleiher Hap Chance und Appleton, der Mann von der Versicherungsgesellschaft, ordentlich zuzusetzen. Aber für Joe gibt es da schon keinen Weg mehr zurück. 
„Ich musste weitermachen. Ich musste den Wert des Barclay erhalten, damit ich mir Haps und Andys Schweigen erkaufen konnte. Wenn ich Schwein hatte, sprang am Ende doch noch was für mich raus. Wenn ich Pech hatte – nur ein klein wenig -, tja … Es war nicht gerecht. Es war verrückt. Dieser ganze Ärger, nur wegen einer Frau, die ich nicht kannte, nie gesehen hatte; einer Frau, die, wenn man’s richtig betrachtete, absolut nichts hermachte.“ (S. 130) 
James Myers „Jim“ Thompson (1906-1977) zählt heute zu den besten Noir-Krimi-Autoren, die das Erbe von Dashiell Hammett, Raymond Chandler und James M. Cain angetreten haben. Nach „Jetzt und auf Erden“ (1942) und „Fürchte den Donner“ (1946) war „Es war bloß Mord“ (1949) Thompsons dritter Roman und ein Paradebeispiel für die menschlichen Abgründe, in die sich der Autor mit seinen Romanen bewegte. 
Nicht eine Figur in „Es war bloß Mord“ erweckt beim Leser auch nur einen Hauch von Sympathie. Stattdessen darf man verfolgen, wie jeder und jede einzelne nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und dafür auch vor Mord nicht zurückschreckt. Erpressung stellt dabei noch das geringste Vergehen dar. Mit scharfzüngigen, knackigen Dialogen, die später auch Regisseure wie Stanley Kubrick (der Thompson an den Drehbüchern zu „Die Rechnung ging nicht auf“ und „Wege zum Ruhm“ mitwirken ließ) oder Schriftsteller wie Stephen King zu schätzen lernten, kreiert der zum Ende seines Lebens völlig verarmte Autor hier eine bitterböse Atmosphäre, die die Figuren schnurstracks ins Verderben rennen lassen. 
Die feinen Beobachtungen über das Studiosystem in Hollywood der 1940er Jahre und der lakonische Schreibstil macht „Es war bloß Mord“ zu einem kurzweiligen, düster-makabren Krimi-Vergnügen, das Thompson zwar noch nicht auf der Höhe seiner Schaffenskraft zeigt, aber beweist, wie sehr Habgier, Gewalt und Korruption bei Thompson in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt sind. 

 

Tom Franklin – „Wilderer“

Sonntag, 11. Juli 2021

(Pulp Master, 256 S., Tb.) 
Der in der Kleinstadt Dickinson, Alabama, geborene Tom Franklin hat kurz nach seinem Studium an der University of Southern Alabama in Mobile und dem 1998 erhaltenen Master of Fine Arts an der University of Arkansas mit „Poachers“ seine erste Sammlung mit Kurzgeschichten veröffentlicht, die 2020 vom Berliner Verlag Pulp Master unter dem programmatischen Titel „Wilderer“ auch hierzulande herausgebracht wurde und den Weg weist auf Franklins nachfolgenden Romane „Smonk“ und „Krumme Type, krumme Type“. 
In den zehn Geschichten widmet sich Franklin ausnahmslos und wie in seinen Romanen den Menschen am unteren Rande der Gesellschaft. Es sind die noch tief im Rassismus verwurzelten verkrachten Existenzen in Alabama, die eher schlecht als recht über die Runden kommen und entweder aus Zufall oder Not auf die kriminelle Spur gelangen. Mit dem Prolog „Jagdzeit“ gibt Franklin zunächst einen Einblick in sein eigenes Leben, in die Jugend, als er im Dezember mit seinem Bruder Jeff zu jagen ging, wie er im Alter von dreißig Jahren zu einem weiterführenden Studium nach Fayetteville, Arkansas, ging, aber sich stets in Alabama zu Hause fühlte, wo auch seine Geschichten spielen. 
„Mein Süden – der mir bis heute im Blut liegt und meine Vorstellungswelt bestimmt, der Süden, in dem diese Geschichten spielen – ist das südliche Alabama, üppig, grün und voller Tod, die waldreichen Countys zwischen dem Alabama und dem Tombigbee River.“ (S. 5) 
Nach diesem Einblick in das besondere Verhältnis zu seiner Heimat legt Franklin mit „Kies“ seine erste eindrucksvolle Geschichte vor, in der der zweiundvierzigjährige Glen als Geschäftsführer eines Kieswerks nördlich von Mobile von den beiden in Detroit lebenden Besitzern Ernie und Dwight angewiesen wird, der Zweimannnachtschicht zu kündigen. Für Roy Jones bedeutet das keinen Beinbruch. Schließlich verdient er als Buchmacher nicht schlecht nebenher, auch Glen steckt bei ihm mit über viertausend Dollar in der Kreide. Roy kann den halben Alkoholiker und notorischen Spieler Glen dazu überreden, mehrmals in der Woche schwarz Black-Beauty-Sandstrahlgut an einen „unabhängigen Abnehmer“ zu liefern. Roy hat zudem gute Verbindungen nach Detroit, ist über unangekündigte Besucher von Ernie und Dwight rechtzeitig informiert und versorgt diese mit Prostituierten und Alkohol, so dass sie sich im Kieswerk nur kurz blicken lassen. Doch als sich Glen nicht mehr von Roy bevormunden lassen will, findet er zunehmend Gefallen an dem Gedanken, selbst das Spiel von Intrigen, Gewalt und Korruption zu spielen … 
In „Shubuta“ beschreibt Franklin eine Welt voller stillgelegter Traktoren, trockener Felder, Häuser auf Betonhohlblöcken, erzählt von dem schwarzen Wassermelonen-Farmer Willie Howe, der sich durch das Auge schoss, weil seine Alte ihn verlassen hatte, von Onkel Dock, der seine fette Nachbarin dabei beobachtet, wie sie regelmäßig Besuch von einem dürren Hippie bekommt, mit dem sie auf der Veranda Joints durchzieht und ihn dann ins Haus bittet, um sich mit ihm zu vergnügen. „Die Ballade von Duane Juarez“ beschreibt der unscheinbare, mittellose und geschiedene Ich-Erzähler, wie sehr er seinen reichen Bruder Ned beneidet, der ständig die intelligentesten und hübschesten Frauen abschleppt. Als Ned ihm eines Tages eine Tüte mit einer silbernen Pistole und 22er-Patronen überreicht, sieht er die Chance auf ein besseres Leben für sich. 
Mit der abschließenden Titelgeschichte „Wilderer“, mit gut 80 Seiten die längste und stärkste Story, präsentiert Franklin ein packendes Southern-Noir-Drama, das von den drei Gates-Brüdern handelt, die zunächst einen Wildhüter töten, der sie beim Wildern erwischt hat, und dann nacheinander selbst unter mysteriösen Umständen sterben. Der alte Kirxy, Tankstellenbetreiber und Ladenbesitzer, hat sich stets als Ersatzvater für die Jungen betrachtet und glaubt, dass Frank David, der neue Wildhüter, für die Morde an den Gates-Jungen verantwortlich ist. 
Es ist eine harte, unbarmherzige Welt, in der Franklins Figuren ums Überleben kämpfen und unter psychischem oder finanziellem Druck schnell zu gewalttätigen und endgültigen Lösungen tendieren, die ihre Situation letztlich nicht verbessern. Franklin beschreibt nicht nur eindringlich die außergewöhnliche Natur, sondern zeichnet auch sehr fein die Charakterzüge seiner Figuren, die sich zwischen Spielschulden, Alkohol, Verbrechen, Krankheit, Einsamkeit und Prostitution aufreiben und früher oder später daran zugrunde gehen. Das gelingt dem Autor gerade mit der letzten Geschichte auf so unnachahmlich faszinierende und packende Weise, dass es bedauerlich ist, dass Franklin bislang so wenig veröffentlicht hat. Zuletzt erschien mit „Das Meer von Mississippi“ ein Roman, den er mit seiner Frau Beth Ann Fennelly geschrieben hat.  

Simon Beckett – (Jonah Colley: 1) „Die Verlorenen“

Donnerstag, 8. Juli 2021

(Wunderlich, 416 S., HC) 
Zwar veröffentlichte der in Sheffield geborene und lebende Schriftsteller Simon Beckett auch schon seit Mitte der 1990er Jahre einige Romane, doch erst mit „Die Chemie des Todes“, dem 2006 inszenierten Auftakt seiner Reihe um den Forensiker David Hunter, gelang Beckett der internationale Durchbruch. Nach fünf weiteren Hunter-Romanen und dem davon unabhängigen Bestseller „Der Hof“ markiert „Die Verlorenen“ nun den Beginn einer neuen Reihe des britischen Erfolgsautors. 
Vor zehn Jahren geriet das Leben von Jonah Colley, Mitglied einer bewaffneten Spezialeinheit der Londoner Polizei, völlig aus den Fugen, als sein damals vierjähriger Sohn Theo spurlos von dem Spielplatz verschwindet, den Colley mit ihm aufsuchte. Die Polizei vermutete, dass Theo durch ein Kanalgitter gerutscht und ertrunken sei, und schloss den Fall mangels weiterführender Hinweise ab. Über den Verlust ihres gemeinsamen Sohnes trennte sich Jonah von seiner Frau Chrissie, auch der Kontakt zu Jonahs bestem Freund Gavin McKinney - ebenfalls im Polizeidienst, aber in einer anderen Einheit – brach abrupt ab. 
Umso überraschter ist Colley, als sich Gavin nach so langer Zeit bei ihm meldet und um ein dringliches Treffen bittet, um Mitternacht am Slaughter Quay. Doch als Colley dort mit mulmigem Gefühl auftaucht, ist von seinem ehemals besten Freund nichts zu sehen, sein auf dem Boden liegender Dienstausweis und der unverkennbare Geruch von Blut lassen aber das Schlimmste befürchten. Tatsächlich findet Colley eine völlig entstellte Leiche, dann bei näherer Untersuchung der Umgebung drei weitere in Plastikfolie eingewickelte Körper. Bei einem der Plastikkokons entdeckt Colley sogar noch Lebenszeichen, doch erfährt er nur den Namen der Frau – Nadine -, bevor er selbst niedergeschlagen wird. 
Als Colley später im Krankenhaus wieder zu sich kommt und von Detective Inspector Jack Fletcher befragt wird, erfährt er, dass Gavins mutmaßliche Leiche verschwunden ist, die Frau nicht überlebt hat und die anderen beiden, männlichen Opfer ebenfalls noch nicht identifiziert werden konnten. Während Colley selbst in Verdacht gerät, etwas mit den Morden am Slaughter Quay zu tun zu haben, ermittelt Colley mit zertrümmerter Kniescheibe und Krücken auf eigene Faust. 
Er stellt fest, dass der damals 34-jährige, vielmals vorbestrafte Owen Stokes, den die Cops nach Colleys Beschreibung als Verdächtigen aus dem Park identifiziert haben, auch in den aktuellen Fall verwickelt zu sein scheint, denn offenbar haben Gavin und Stokes Kontakt miteinander gepflegt. Mit der Hilfe von Gavins ehemaligem Partner, dem abgehalfterten Ex-Detective Wilkes, versucht Colley, Hinweise auf Gavins Verwicklungen in die Morde am Slaughter Quay zu finden, doch erst die attraktive Journalistin Corinne Daly kann ihm Namen nennen, die Colley auf die richtige Spur bringen. Als er in einer geheimen Absteige von Gavin McKinney eine vollgestopfte Geldtasche entdeckt, fragt sich Colley, wie tief sein alter Freund wohl in diese Sache verwickelt gewesen ist … 
„Eine Dreiviertelmillion Pfund war ein handfestes Motiv. Es waren schon Menschen für weit weniger gestorben. Das ließ lauter neue und beunruhigende Schlussfolgerungen zu. Falls Gavin mit Stokes gemeinsame Sache gemacht hatte, war es dann nicht möglich, dass er dabei über irgendetwas gestolpert war, das ihn die Ereignisse vor zehn Jahren in einem neuen Licht hatte sehen lassen? Also etwas, das mit Theo zu tun hatte? Womit sich der Kreis schloss und Jonah erneut vor der Frage stand, warum ihn Gavin an jenem Abend angerufen hatte.“ (S. 253) 
Mit dem forensischen Anthropologen David Hunter hatte Beckett Mitte der 2000er Jahre einen Protagonisten geschaffen, der durch den Unfalltod seiner Frau und seiner Tochter schwer traumatisiert aus London wegzog, um als Assistenz eines Landarztes ein neues Leben zu beginnen. Sein neuer Seriencharakter Jonah Colley trägt eine ähnlich schwere Last mit sich herum. Dabei hat er nicht nur das Verschwinden seines Sohnes vor zehn Jahren, die Trennung von seiner Frau und das Ende seiner Freundschaft mit Gavin zu verkraften, sondern auch die Ungewissheit, ob Theo vielleicht noch lebt. Beckett mag dieser Hintergrund genügen, um seinem Helden eine tiefgründige Persönlichkeit zu verleihen, doch außer harten Fakten bekommt der Leser kein wirkliches Gefühl für Colleys seelische Nöte. Statt seinen Protagonisten sorgfältig einzuführen, legt Beckett gleich mit der Action los und lässt seine auf Dauer zunehmend überkonstruiert wirkende Geschichte auch eher vom Tempo als von psychologischer Tiefe bestimmen. 
So fällt es einem als Leser schwer, eine Beziehung zu Colley aufzubauen, und auch die Nebenfiguren, von dem trinksüchtig-schmuddeligen Ex-Cop über die attraktive Journalistin bis zu den skeptischen Ermittlern, wirken erschreckend eindimensional und wie ausgelutschte Klischees. Es ist einzig dem ausgeklügelten, nicht immer glaubwürdigen, aber mit durchgängig straffem Tempo inszenierten Plot zu verdanken, dass „Die Verlorenen“ nicht ganz in die Mittelmäßigkeit abrutscht. Für die Fortsetzungen ist auf jeden Fall sehr viel Luft nach oben.  

Tom Franklin – „Krumme Type, krumme Type“

Montag, 5. Juli 2021

(Pulp Master, 402 S., Tb.) 
Larry Ott, 41, ledig, lebt allein im Haus seiner Eltern im ländlichen Mississippi, kümmert sich um seine Hühner, betreibt eine schlecht gehende Werkstatt und besucht regelmäßig seine an Alzheimer erkrankte Mutter im Pflegeheim, die zunehmend weniger gute Tage hat als schlechte. Seit Larry vor 25 Jahren verdächtigt worden ist, für das Verschwinden von Cindy Walker verantwortlich gewesen zu sein, da er offenbar der Letzte gewesen war, der sie lebend sah, wird er vor allem „Scary“ Larry genannt und von allen Menschen gemieden. 
Als er eines Abends nach Hause kommt, steht ihm ein Mann mit einer Zombiemaske gegenüber und schießt auf ihn. Larry wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht, fällt ins Koma, kommt aber durch. Chief French übernimmt die Ermittlungen, stellt einen Wachposten vor Larrys Krankenzimmer und hofft auf ein Geständnis, sobald Larry wieder ansprechbar ist, denn es scheint klar, dass der Mann, der sich offenbar selbst erschießen wollte, auch für das Verschwinden der kleinen Rutherford, der Tochter des Sägewerkbesitzers, vor acht Tagen verantwortlich gewesen ist. 
Nur Silas Jones, seit zwei Jahren – der einzige – Gesetzeshüter von Chabot, weiß, dass Larry Ott nicht der Täter gewesen sein kann. In ihrer Kindheit in den 1970er Jahren waren Larry und Silas nämlich so etwas wie geheime Freunde und so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Larry, weiß, dicklich, unsportlich und eine Leseratte mit einer besonderen Vorliebe für Stephen King, war der typische Nerd und Außenseiter, während der schwarze Silas ein grandioser Baseballspieler mit Zukunft ist, es aber mit seiner alleinerziehenden Mutter schwer hat, über die Runden zu kommen. Nur Silas und Larry wissen, was sie einander verbindet, doch gingen sie irgendwann getrennte Wege, behielten ihre jeweiligen Geheimnisse über die Jahre für sich. Doch als Silas bemerkt, dass nur er allein dafür sorgen kann, dass Larry nicht für zwei Morde belangt wird, die er nicht begangen hat, bringt er Klarheit in die Geschichte, während Larry unabhängig davon plant, seine Geschichte zu erzählen … 
„Larry beschloss zu reden, sobald French ins Krankenhaus käme. Erzählen, woran er sich erinnerte. Dass er zunächst eine Art Beschützerinstinkt gegenüber dem Mann empfunden hatte, der auf ihn geschossen hatte. Der sein Freund gewesen war. Aber er hatte ja auch geglaubt, Silas wäre sein Freund gewesen, oder? Vielleicht täuschte er sich ja, was das Wort Freund anging, vielleicht war er schon so lange von allen weggestoßen worden, dass er nur noch ein Schwamm für die Untaten war, die andere begingen.“ (S. 347) 
Schon mit seinem bei Heyne als Hardcover veröffentlichten Debütroman „Die Gefürchteten“ hat sich Tom Franklin als großartiger Erzähler in der Tradition von Cormac McCarthy, William Faulkner, Flannery O’Connor, James Lee Burke oder Joe R. Lansdale erwiesen. Nach „Smonk“ präsentierte er mit „Krumme Type, krummer Type“ einen vielschichtigen Kriminalroman über zwei Verlierer-Typen, die im rassistischen Milieu der Südstaaten der 1970er Jahre fast so etwas wie Freunde geworden wären, wenn die Umstände es erlaubt hätten. Franklin erzählt die Geschichte der beiden Männer aus unterschiedlichen Perspektiven, beleuchtet mal Silas‘, dann Larrys Geschichte, springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her, bis sich die Puzzleteile des Dramas allmählich zusammenfügen. Der Autor bleibt stets dicht bei seinen Figuren, charakterisiert sie mit all ihren persönlichen Facetten und entwickelt gerade in der sukzessiven Enthüllung der tragischen Nacht vor 25 Jahren einen Sog, der den Leser bis zum packenden Finale souverän in seinen Bann zieht. Es ist aber auch eine berührende Geschichte über Rassismus und die Art und Weise, wie Männer mit Geheimnisse umgehen. Kein Wunder, dass „Crooked Letter, Crooked Letter“ – so der Originaltitel - in Baden-Württemberg im Fach Englisch zum Abiturstoff zählt, Platz 1 der Krimibestenliste belegte und 2019 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde.