Gerhard Henschel – (Martin Schlosser: 8) „Erfolgsroman“

Sonntag, 30. September 2018

(Hoffmann und Campe, 602 S., HC)
Nachdem sich Martin Schlosser vier Jahre als Hilfsarbeiter in einer Spedition durchgeschlagen hat und erste Erfolge als Autor für das Stadtmagazin „Diabolo“ und die Literaturzeitschrift „Der Alltag“ feiern durfte, ist er friesischen Schortens-Stadtteil Heidmühle sesshaft geworden, wo er sich eine Vierzimmerwohnung mit zwei tamilischen Flüchtlingen teilt.
Zwar hilft er nach wie vor in einer Kneipe aus, versucht sich aber mit seinen Aufsätzen, Glossen und Reportagen als freier Autor zu etablieren. Seine Reportage „Wer kennt eigentlich Meppen?“ in dem Satire-Magazin „Kowalski“ lässt seine in Oldenburg lebende Ex-Freundin Andrea wieder Kontakt zu ihm aufnehmen, aber wirklich erfüllend gestaltet sich Martin Schlossers Liebesleben Anfang der 1990er noch nicht. Ab und zu besucht er seinen verwitweten Vater in Meppen, um sich Vorhaltungen über seine verpfuschte Karriere anzuhören, Briefe an Ämter und öffentliche Anstalten diktieren zu lassen oder diverse Besorgungen für ihn zu machen.
Bei einem Tantra-Workshop lernt er die Gartenarchitektin Bettina kennen, doch die Beziehung ist nicht von Dauer. Interessanter gestaltet sich da schon das Verhältnis zur gerade mal zwanzigjährigen, wortgewandten und humorvollen Studentin Kathrin Passig aus Regensburg.
Schlossers Aufträge für „Kowalski“, „konkret“, „Der Alltag“ häufen sich und sorgen zunehmend für schwarze Zahlen auf seinem Girokonto.
„Ich trug den Scheck zur Sparkasse. Endlich wieder Filterzigaretten, Bier und Futter: Heringe und Pellkartoffeln mit Gurken und Dill. Und als Lektüre wieder die Zeit. Die Damenröcke, behauptet darin die Essayistin Silvia Bovenschen, würden immer kürzer:
Der Trend zur Verkleinerung dieser Textilie ist nicht aufzuhalten, ihre Verkürzung bis knapp unters Schambein ist unübersehbar. 
Aber nicht in Heidmühle. Wo lebte denn diese Autorin? An der Reeperbahn?“ (S. 254) 
Schlosser freundet sich mit dem Illustrator Eugen Egner und Max Goldt an, zieht nach Berlin und beginnt dort, auch für das Stadtmagazin „Tip“ zu schreiben. Selbst ein Buchvertrag scheint in Aussicht …
Seit Gerhard Henschel 2004 mit „Kindheitsroman“ den Grundstein für die autobiografische Chronik seines Alter Egos Martin Schlosser gelegt hat, erfreut uns der ehemaliger Autor für Magazine und Zeitschriften wie „Der Alltag“, „Kowalksi“, „konkret“, „Titanic“ und „Merkur“ alljährlich mit einem neuen Band der außergewöhnlichen Lebensgeschichte eines Mannes, der am Ende des mittlerweile achten Romans in Berlin gelandet ist und 1992 seinen 30. Geburtstag feiert.
Bis dahin werden wir nicht nur Zeuge von Schlossers familiären Bindungen, sondern auch seiner amourösen Abenteuer und zunehmend erfolgreicherer Abnahmen seiner Artikel und Reportagen. Was die Schlosser-Romane und so auch den „Erfolgsroman“ aber besonders auszeichnet, sind die ebenso lose wie konsequent eingeschobenen Kommentare zum gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Geschehen jener Zeit, die Henschel gerade in der Biografie seines Protagonisten abhandelt. So erleben wir aus Schlossers Perspektive den Streik der Bankangestellten, Saddam Husseins Massaker, Bob Dylans Bootleg-Serien, Monty Python’s Flying Circus, Twin Peaks, The Singing Detective, Stephen-King-Romane und die Aufarbeitung der Stasi-Akten, um nur einige Anekdoten zu nennen, die Henschel auf gewohnt knackige, lakonisch humorvolle Art kommentiert. Wir dürfen gespannt sein, wie es nächstes Jahr mit Martin Schlosser weitergeht!

William Boyd – „All die Wege, die wir nicht gegangen sind“

Samstag, 29. September 2018

(Kampa: Edition Gatsby, 174 S., HC)
Während ihr derzeitiger Freund Sholto den ganzen Tag lang zwischen irgendwelchen Nachrichtensendungen mit abgeschaltetem Ton hin- und herschaltet und dabei im Hintergrund Bob Dylan laufen lässt (was er für eine neue Kunstform erklärt), geht Bethany Mellmoth wie jeden Tag eines Jahres in ihre Stamm-Sushi-Bar. Ihren Wunsch, Sushi-Köchin zu werden und eine Sushi-Bar in London zu eröffnen, gibt sie jedoch sofort auf, als sie erfährt, dass dazu eine zweijährige Lehrzeit notwendig ist, in der man nichts anderes tut, als dem Sushi-Meister bei der Arbeit zuzusehen, ehe man selbst ein Messer in die Hand nehmen darf.
Mit ihrer beruflichen Karriere verhält es sich bei der 22-Jährigen wie im Liebesleben: Sie hat ihr Literaturstudium abgebrochen, nach sechs erfolglosen Vorsprechterminen ihre Ambitionen, Schauspielerin zu werden, abgeschrieben und will nun Schriftstellerin werden. Bis sie ihren ersten Roman bei einem Verlag untergebracht hat, jobbt sie in einem kleinen Laden, wo es antike Füllfederhalter und erlesene Papiersorten zu kaufen gibt.
Zwar hat sie schon einen Titel, aber mit ihrem Plot kommt sie nicht recht voran – bis sie im Green Park den Schriftsteller Yves Hill kennenlernt, der ihr ein paar gute Tipps gibt – auch dazu, wie sie am besten über die Trennung von Sholto hinwegkommt. Doch in der Folge hat Bethany weder Glück mit ihrer Statistenrolle bei einem Film über John Milton, noch bei den verschiedenen Männerbekanntschaften.
„Warum, fragt sie sich, ist es bloß so schwierig, sein Leben so hinzubekommen, dass alles läuft, wie man es sich wünscht? Immerzu Überraschungen, immerzu Sachen, die einem unerwartet in die Quere kommen. Sie wünscht sich nur eins, ein Leben ohne Überraschungen, zumindest mal einen Monat lang.“ (S. 88) 
In Anlehnung an F. Scott Fitzgeralds Klassiker „Der große Gatsby“ hat der gerade neu gegründete Schweizer Kampa Verlag mit der Edition „Der kleine Gatsby“ eine Reihe für leichtere Erzählungen ins Leben gerufen, für die William Boyds („Ruhelos“, „Die Fotografin“) Geschichte „All die Wege, die wir nicht gegangen sind“ einen wunderbaren Einstieg bildet.
In der humorvollen, mit leichter Hand geschriebenen Story begleitet der Leser die junge Protagonistin Bethany bei ungewöhnlich vielen Stolpersteinen ins Erwachsenendasein. Ohne ihre Rast- und Ziellosigkeit zu kritisieren, schildert der routinierte Autor, wie schnell sich Bethany in neue Beziehungen stürzt (und dabei immer sofort überlegt, wie sich der Nachname des potentiell Auserwählten mit ihrem Vornamen verträgt), ohne dabei auch nur im Ansatz glücklich zu werden. Aber auch in beruflicher Hinsicht schwebt der jungen Frau nichts Konkretes vor, außer etwas irgendwie Künstlerisches wie Malerei, Fotografie oder Schauspielerei, doch sobald die ersten Hürden auftreten, nimmt sie schon wieder Abstand davon.
Das ist einfach flott und mit sarkastischen Untertönen geschrieben und wartet mit humorvollen Wendungen auf, die Bethany nach all den Rückschlägen zum Glück immer wieder aufstehen lassen.

James M. Cain - „Der Postbote klingelt immer zweimal“

Freitag, 21. September 2018

(Kampa, 190 S., HC)
Der mehrfach vorbestrafte Herumtreiber Frank Chambers landet in den 1930er Jahren während seiner Reise von Tijuana im Diner Twin Oaks Tavern, wo er sich ein ordentliches Mittagessen erschleicht. Der griechische Tankstellen- und Restaurantbesitzer Nick Papadakis bietet Frank daraufhin einen Job als Mechaniker an, doch erst als er Nicks attraktive Frau Cora erblickt, beschließt er zu bleiben. Cora findet ebenfalls Gefallen an dem Fremden und lässt sich auf eine Affäre mit Frank ein, als Nick zu Besorgungen aufbricht. Da Cora aber keine Möglichkeit sieht, wie sie aus dem Gefängnis ihrer Ehe ausbrechen kann, schmieden die beiden Frischverliebten einen Mordplan.
Selbst nach einem missglückten Versuch lassen Cora und Frank nicht von ihrem Vorhaben ab, unternehmen einen Ausflug mit dem bald volltrunkenen Nick, erschlagen ihn während der Rast an einer Böschung und lassen den Wagen mit der Leiche den Steilhang hinunterstürzen. Doch der angezeigte Unfall ruft nicht nur den Staatsanwalt auf den Plan, sondern auch die Versicherung, die alles daransetzt, die Lebensversicherung über zehntausend Dollar nicht an die Witwe auszahlen zu müssen. Der windige Verteidiger Katz wiederum heckt einen eigenen Plan aus, wie er die Frank und Cora aus der Angelegenheit herauspaukt …
„,Da Sie nun gegen die Frau aussagen, kann keine Macht auf Erden verhindern, dass umgekehrt die Frau gegen Sie aussagt. Das ist also der Stand der Dinge, als ich mich mit ihm zum Abendessen hinsetze. Er macht sich lustig über mich. Er bemitleidet mich. Er wettet um hundert Dollar mit mir. Und ich sitze die ganze Zeit mit einem Blatt da, mit dem ich ihn schlagen kann, wenn ich nur richtig spiele.‘“ (S. 120) 
Gleich mit seinem Debütroman „The Postman Always Rings Twice“ avancierte der amerikanische Journalist und Schriftsteller James M. Cain 1934 neben Dashiell Hammett und Raymond Chandler zu einem der Gründerväter des Roman noir. Zwar wurden von Cain auch spätere, weniger populäre Werke verfilmt (u.a. „Mildred Pierce“), aber Cains Debüt brachte es seit 1939 auf bislang sieben Leinwand-Adaptionen, die berühmteste von Bob Rafelson (1981) mit Jack Nicholson und Jessica Lange in den Hauptrollen.
In der Neuübersetzung von Alex Capus, der das Büchlein auch mit einem informativen Nachwort versehen hat,  ist aus dem bisherigen „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ das wortwörtliche „Der Postbote klingelt immer zweimal“ geworden, wobei der Titel eher metaphorisch auf eine zweite Chance anspielt. Für die desillusionierten Antihelden der vorliegenden Geschichte besteht diese Chance in dem wiederholten Mordversuch an Coras Ehemann. Zwar setzen die beiden Ehebrecher den Plan im zweiten Versuch erfolgreich um, doch glücklich können sie nach diesem Mord aus Gier und Leidenschaft nicht werden.
Cain lässt seine Geschichte aus der Ich-Perspektive Frank Chambers erzählen und hält sich nicht groß mit gefühlsduseligen Beschreibungen auf. Auf nüchterne, schmucklose Art beschreibt Chambers sein Vagabundieren, das Ausschöpfen günstiger Möglichkeiten, ob beim Prellen der Zeche, beim Glücksspiel oder in der Liebe. Alles scheint erlaubt, solange es seinem eigenen Wohlbefinden, für wie flüchtig auch immer, dienlich ist. Wenn Frank etwas gefällt, nimmt er es sich ohne Rücksicht auf Verluste. Sex, Geld und Gewalt sind die Triebfedern in einem existentialistischen Stück, das in der Großen Depression angesiedelt ist und an keiner Stelle Sympathien für das Liebes- und Mörderpaar aufkommen lässt. Doch die flotte Action, die ungeschminkte Grausamkeit, der harte Sex, die Tricksereien zum Gerichtsprozess und die unerwarteten Wendungen machen „Der Postbote klingelt immer zweimal“ zu einem düsteren, aber eindringlichen Lesevergnügen.

Colin Harrison – „Die Zügellosen“

Sonntag, 16. September 2018

(Droemer, 416 S., Pb.)
Paul Reeves ist nicht nur ein New Yorker Anwalt für Einwanderungsrecht, sondern auch ein Sammler von seltenen New Yorker Stadtplänen. Mit seiner schönen Nachbarin Jennifer Mehraz besucht er eine Auktion bei Christie’s, wo er einen ungefähr hundertfünfzig Jahre alten Stadtplan von Manhattan zu ersteigern hofft. Doch Jennifers Aufmerksamkeit gilt einem jungen Mann im sandfarbenen Tarnanzug, mit dem sie kurzerhand verschwindet. Wenig später beobachtet Paul, wie sich die beiden im Bett der Nachbarwohnung miteinander vergnügen, während Jennifers Ehemann, der schwerreiche Exil-Iraker Ahmed, in der Weltgeschichte unterwegs ist, auf der Jagd nach dem nächsten großen Deal.
Allerdings hat der eifersüchtige Geschäftsmann durch seine Verwandtschaft Jennifer stets unter Beobachtung, so dass ihm das Verhältnis zwischen Jenifer und dem Mann namens Bill Wilkerson nicht lange vorenthalten bleibt. Während Jennifer Paul bittet, ihren Lover in seinem unbewohnten Elternhaus vorübergehend unterzubringen, lässt Ahmed durch seinen Onkel Hassan bereits Killer auf seinen Nebenbuhler ansetzen. Doch der erste Versuch scheitert kläglich. Billy taucht unter, und auf einmal ist das Leben von Jennifer, Paul und Ahmed ein reines Chaos.
„Für die Presse wäre die Geschichte ein gefundenes Fressen, und binnen weniger Tage wäre seine Karriere – sein Leben! – gelaufen. Ein amerikanischer Soldat im Auftrag eines gelackten, stinkreichen iranischen Geschäftsmanns wegen einer Affäre seiner blonden Frau von zwei lybischen Schlägern attackiert. Es würde den Anschein erwecken, als seien die Männer in Ahmeds Auftrag über Wilkerson hergefallen und er habe sie heldenhaft abgewehrt.“ (S. 133) 
Colin Harrison ist nicht nur Cheflektor des New Yorker Verlags Scribner, sondern selbst Autor mehrerer Spannungsromane und kennt New York wie seine Westentasche. Mit seinem neuen Roman „Die Zügellosen“ zeichnet er ein ungewöhnliches Bild der Metropole, denn durch die Sammelleidenschaft seines Protagonisten Paul Reeves erfährt der Leser viel darüber, wie sich New York über die Jahrhunderte entwickelt hat. Harrison nimmt sich in der Einleitung viel Zeit, die Natur von Paul Reeves‘ Faszination zu dokumentieren, indem er ausführlich die zur Versteigerung stehende Privatsammlung eines alten britischen Kapitäns zur See beschreibt.
Auch im weiteren Verlauf gelingt es Harrison immer wieder, seltene Karten dem Leser so eindrücklich vor Augen zu führen, dass dieser einen Sinn dafür bekommt, wie besonders und wertvoll diese Zeugnisse für die Geschichte einer Stadt sind. In diese Sammelleidenschaft eingebettet ist ein geschickt konstruierter Thriller-Plot, der gerade zum Ende hin den Touch eines John-Grisham-Justizthrillers bekommt, vor allem aber die Beziehungen zwischen Jennifer, Paul, Billy und Ahmed stets neu austariert.
Trotz einiger Längen bietet „Die Zügellosen“ stilistisch fein inszenierte Spannung, bei der die Beteiligten sorgfältig charakterisiert werden und immer wieder für eine Überraschung gut sind.
Leseprobe Colin Harrison - "Die Zügellosen"

Ned Beauman – „Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist“

Samstag, 15. September 2018

(Tempo, 476 S., HC)
Ende der 1930er Jahre bekommt der sechsundzwanzigjährige Elias Coehorn jr. von seinem übermächtigen Vater den Auftrag, für die Coehorn Missionsstiftung eine Expedition zu einem bislang unentdeckten Maya-Tempel im Nordosten von Spanisch-Honduras zu organisieren, der sich in seiner Architektur von allen bisher bekannten Maya-Tempeln unterscheidet. Die Tempelruine soll von einheimischen Arbeitern demontiert und Stein für Stein nach New York gebracht, ausgebessert und in Braeswood wieder aufgebaut werden.
Coehorn jr. nimmt den Auftrag nur deshalb an, weil er sonst befürchten muss, keine finanzielle Unterstützung mehr zu erhalten. Zur gleichen Zeit engagiert der mächtige Hollywood-Studioboss Arnold Spindler den bislang eher auf dem Bildungssektor tätigen Regisseur Jervis Whelt damit, Q. Bertram Lees Roman „Herzen in der Finsternis“ für Kingdom Pictures zu verfilmen.
Da die Geschichte größtenteils im Dschungel spielt, schickt ihn Spindler ebenfalls zu dem gerade entdeckten Maya-Tempel, weil dieser keinen Pfennig kostet. Als beide Expeditionen im Dschungel aufeinandertreffen, entsteht eine über fast zwanzig Jahre andauernde Patt-Situation, in der die Journalisten Meredith Vansaska, Leland Trimble und Zonulet (der auch noch für die CIA tätig ist) vom „New York Evening Mirror“ ebenso beteiligt sind wie die Naturkundlerin Joan Burlingame und die Assistenzgarderobiere Gracie Calix, die ihrer in einer Nervenheilanstalt untergebrachten Nichte und Geliebten Emmy Briefe schreibt, die sie nie abschickt.
Der Film wird nie fertiggestellt, von allen Expeditionsteilnehmern fehlt jede Spur, so dass die Familie der Hauptdarstellerin Adela Thoisy zwei Jahre nach Drehbeginn einen Suchtrupp losschickt, der jedoch nie sein Ziel erreicht. Dafür hat Burlingame im Coehorn-Lager die Führung übernommen und steuert auf eine blutige Schlacht zu.
„Burlingame dachte an jenen Tag vor elf Jahren, als sie mit dem Megafon in der Hand hier oben auf diesen Stufen gestanden und zu Trimbles Verbannung aufgerufen hatte. Sie hatte den Tempel vor ihm gerettet und in der Nacht darauf zum ersten Mal Liebe erfahren. Jetzt war ihr die Liebe entglitten, war vielleicht die ganze Zeit nur ein Trick gewesen, aber der Tempel stand so unumstößlich wie eh und je, und wieder einmal war es an der Zeit, ihn zu retten, die Verantwortung auf sich zu nehmen, alles zu verteidigen, wofür sie gearbeitet hatten.“ (S. 449) 
Der 1985 in London geborene Schriftsteller Ned Beauman legt nach „Der Boxer“ (2010), „Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu Ort“ (2013) und „Glow“ (2014) im Tempo Verlag sein viertes Werk in deutscher Übersetzung vor und erweist sich als vor absurd-genialen Ideen übersprudelnder, sprachgewandter Erzähler, der in „Warum der Wahnsinn einer Niederlage vorzuziehen ist“ virtuos Abenteuer-Roman, Spionage-Thriller, Film-Dokumentation und Kriegs-Drama miteinander verbindet.
Wie er die beiden Expeditionen mit ihren konträr ausgeprägten Missionen im abgeschiedenen Mikrokosmos des Dschungels aufeinandertreffen lässt, sprüht vor intelligentem Witz, feinsinnigen Dialogen und ausgefeilten Charakterisierungen der außergewöhnlichen Figuren. Allerdings wird das Lesevergnügen durch die vielen Zeitsprünge, Erzählperspektiven, komplexen Strategien in den jeweiligen Lagern und all die involvierten Figuren auch beeinträchtigt.  
Beauman ist fraglos ein begnadeter Geschichten-Erzähler, verliert sich in seinem neuen Werk aber auch in seiner absolut entfesselten Vorstellungskraft, unter der die Stringenz der Dramaturgie leidet.

Benedict Wells – „Die Wahrheit über das Lügen“

Freitag, 14. September 2018

(Diogenes, 244 S., HC)
Um mehr Zeit mit seiner Familie zu verbringen, hat sich der erfolgreiche Geschäftsmann Henry M. ein Ferienhaus in den Bergen gekauft, weitab vom Stress der Stadt, doch auch in der Naturidylle hängt der Familienvater mit den Gedanken beim gerade abgeschlossenen Zurbriggen-Deal und feiert den Erfolg lieber mit einer einsamen Wanderung zur Bergspitze und schafft es nicht rechtzeitig zur Geburtstagsfeier seines achtjährigen, migränekranken Sohnes zurück. Tatsächlich findet der Mann in nach seiner Rückkehr ein anderes Leben vor. „Die Wanderung“ ist eine von insgesamt zehn Geschichten, die Bestseller-Autor Benedict Wells nach den vier Romanen „Becks letzter Sommer“, „Spinner“, „Fast genial“ und „Vom Ende der Einsamkeit“ in „Die Wahrheit über das Lügen“ versammelt.
Die Geschichten haben etwas Märchenhaftes, Verträumtes und Phantastisches. So muss die verzweifelte neunundzwanzigjährige Schriftstellerin Margo Brodie zwischen der Liebe zu ihrer männlichen Muse und dem Abschließen ihres erfolgsversprechenden Romans entscheiden, spielen zwei unter ungeklärten Umständen in einem Raum eingesperrte Männer beim Tischtennis um ihr Leben, trauert eine einsame Frau um ihren Kater Richard.
Das Herzstück der Sammlung bildet allerdings die 70-seitige Titelgeschichte, in der der Filmemacher Adrian Brooks seinem Interviewer die abenteuerliche Geschichte erzählt, wie er als Pizzabote einst in den Fahrstuhl einer Krawattenfabrik stieg und sich per Knopfdruck ins Jahr 1973 katapultierte, wo er den waghalsigen Plan fasste, George Lucas die Idee zu „Star Wars“ zu stehlen.
„Jeder Kreative, nicht nur George Lucas, braucht Inspiration und stiehlt hier und da bei anderen. Das ist völlig okay, denn für den wahren Künstler steht seine eigene Schöpfung im Zentrum. Ich dagegen stahl Schöpfungen. Ich war nur ein gerissener, mieser Dieb, nichts weiter.“ (S. 176) 
In dieser gut recherchierten, wendungsreichen und atmosphärisch dichten Story führt Wells dem Leser das Kino des New Hollywood äußerst lebendig vor Augen und lässt das Schaffen von Steven Spielberg, George Lucas und Francis Ford Coppola den Rahmen für seine eigene wunderbare Geschichte bilden.
Abgerundet wird die Story-Sammlung durch zwei Geschichten, die aus dem Umfeld von Wells‘ letzten Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ stammen, wobei „Die Nacht der Bücher“ auch losgelöst von der Romanhandlung auf märchenhafte Weise unterhält, „Die Entstehung der Angst“ aber einen ganz konkreten Bezug zum Roman aufweist.
Abgerundet wird „Die Wahrheit über das Lügen“ von der nostalgieschwangeren Geschichte „Das Grundschulheim“, Wells‘ Beitrag zur Anthologie „Unbehauste“, deren Erlöse an die Flüchtlingshilfe gingen, und den einfühlsamen Storys „Die Fliege“ und „Hunderttausend“, mit denen der Autor eindrucksvoll unterstreicht, warum er zu den wichtigsten jungen Autoren der deutschen Gegenwartskultur zählt.
Leseprobe Benedict Wells - "Die Wahrheit über das Lügen"

Philippe Djian – „Marlène“

Donnerstag, 13. September 2018

(Diogenes, 280 S., HC)
Seit die beiden Kindheitsfreunde Dan und Richard nach verschiedenen Kriegseinsätzen in die französische Provinz zurückgekehrt sind, haben sie Probleme, wieder ins reale Leben zurückzufinden. Während Dan immerhin einen Aushilfsjob in der Bowlingbahn hat und sich um strukturierte Tagesabläufe bemüht, landet der draufgängerische Richard mit seinen kleinkriminellen Aktivitäten und Gewaltausbrüchen immer wieder im Knast.
So hat er nicht nur seine 18-jährige Tochter Mona aus dem Haus und zu Dan getrieben, sondern auch seine Frau Nath, die einen Friseursalon für Hunde und Katzen unterhält, in die Arme des gutaussehenden Vincent getrieben, der ihr nicht mehr von der Pelle rücken will. Noch komplizierter wird es, als Naths schwangere Schwester Marlène vorbeikommt, die auch schon was mit Richard hatte, nun aber Dans Leben durcheinanderwirbelt, der sonst wenig Umgang mit Frauen pflegt. Richard und Nath sind gar nicht davon begeistert, wie sehr Dan von Marlène eingenommen wird, aber auch Mona bleibt von den Ereignissen nicht unberührt …
„Marlène. Du musst durchgedreht sein. Wenn Richard davon erfährt. Nein, Dan, ich fasse es nicht. Das ist ein Witz. Er trat einen Schritt zurück und sah sie erwartungsvoll lächelnd an. Oh, oh, ich date deine Schwester, was es nicht alles gibt. Ich will sie ja nicht heiraten, beruhig dich, was hast du denn. Dan, bevor sie da war, waren wir eine Familie, und sie wird alles zerstören, was davon noch übrig ist, das habe ich.“ (S. 260f.) 
Philippe Djian („Erogene Zone“, „Die Leichtfertigen“, „Oh …“) braucht scheinbar immer weniger Worte, um die Katastrophen heraufzubeschwören, in die seine oft zum Scheitern verurteilten Figuren ohne großes eigenes Zutun schlittern. Auch in seinem neuen Roman „Marlène“ nimmt das Unheil recht schnell seinen Lauf. Djian hält sich nicht lange damit auf, sein reduziertes Figurenensemble vorzustellen. Wenige Sätze reichen aus, um die desolaten Seelenzustände von Dan, Nath, Mona und Richard zu beschreiben. Durch die mysteriöse Marlène wird das ohnehin empfindliche Gleichgewicht zum Kippen gebracht.
Dabei erfährt der Leser recht wenig über die fast vierzigjährige Frau, die vor allem in Dans Leben so unvermittelt auftaucht und für emotionale Ausnahmezustände sorgt. Während sie selbst immer mal wieder einfach so zusammensackt und tollpatschig Bier über ihr Kleid schüttet, Dans Motorrad zu Schrott fährt und Gläser zerdeppert, reagieren vor allem Richard und Nath mit Wut, Eifersucht und Gewalt auf Marlènes Gegenwart. Djian beschränkt sich bei der Inszenierung der Gefühlsausbrüche ganz auf die scharfzüngigen Dialoge und unüberlegt wirkenden Handlungen, statt seine Figuren zu charakterisieren. Durch die Intensität seiner Worte zieht der Autor den Leser mitten in die Handlung hinein, versperrt ihm aber den Blick auf die inneren Kämpfe, die vor allem Dan, Nath und Richard ausfechten, so dass die folgenschweren Handlungen, zu denen sie sich hinreißen lassen, einfach nur beschrieben werden. Besonders glaubwürdig wirkt das Szenario der ganzen amourösen Verflechtungen mit ihren brutalen Konsequenzen allerdings nicht. Dafür springt Djian zu sehr von einer kurzen Episode zur nächsten und überspannt den Bogen der Effekthascherei dann doch zu oft.
Leseprobe Philippe Djian - "Marlène"

Mick Herron – (Jackson Lamb: 1) „Slow Horses“

Mittwoch, 12. September 2018

(Diogenes, 472 S., HC)
Nachdem der junge MI5-Agent River Cartwright bei einem Übungseinsatz eine folgenschwere Verwechslung unterlief, bei der im Ernstfall einhundertzwanzig Menschen getötet oder verletzt worden wären, ist er zu dem von Jackson Lamb geleiteten Slough House versetzt worden, jenem Sammelbecken von MI5-Versagern, die wegen ihrer mangelnden Agenten-Eignung von ihren Kollegen im Regent’s Park spöttisch „Slow Horses“ – lahme Pferde – tituliert werden.
Während Jackson Lamb aber wenigstens auf eine Karriere zurückblicken kann, haben Cartwrights LeidensgenossInnen nur wenig Hoffnung, jemals von diesem unrühmlichen Abstellgleis zurück den Weg in die Zentrale zu finden. Das ist schließlich noch nie vorgekommen. Doch während sich die Slow Horses insgeheim danach sehnen, wieder einen richtigen Auftrag zu erhalten, verbringen sie ihre eintönigen Tage damit, die Mülltüten anderer Leute zu durchwühlen und die Aufzeichnungen alter Telefongespräche auszuwerten.
Als in einem BBC-Blog ein Video läuft, in dem einem maskierten Pakistani angedroht wird, innerhalb von 48 Stunden geköpft zu werden, sehen sie ihre Chance auf Wiedergutmachung. Bei ihren eigenmächtigen Ermittlungen stoßen Lambs Leute aber auf Hinweise, dass die Entführung vom MI5 nur inszeniert worden ist, worauf sich ein vertracktes Katz- und Maus-Spiel zwischen den beiden Lagern entwickelt. Denn aus der inszenierten Entführung ist eine echte geworden, und Diana „Lady Di“ Tavener, Vizechefin des MI5, sucht nach einem Sündenbock.
„Wenn Moskauer Regeln bedeuteten, dass man für Rückendeckung sorgen musste, bedeuteten Londoner Regeln, dass man seinen Arsch retten musste. Die Moskauer Regeln waren auf den Straßen geschrieben, doch Londoner Regeln in den Korridoren von Westminster ausgetüftelt worden, und die Kurzversion besagte: Irgendjemand muss immer bezahlen. Schau zu, dass nicht du es bist. Niemand wusste das besser als Lamb. Und niemand beherrschte das Spiel besser als Lady Di.“ (S. 366) 
Der rasante Prolog in Mick Herrons bereits 2010 begonnenen Reihe um den Slough-House-Leiter Jackson Lamb liest sich wie ein typischer Agentenroman à la John Le Carré, Frederic Forsyth oder Robert Ludlum, nur steht erst einmal der junge River Cartwright im Zentrum der Geschichte, wie er seinen Einsatz vermasselt und nur aufgrund seines einflussreichen Großvaters, der einst eine große Nummer beim MI5 gewesen ist, überhaupt noch einen Job hat – wenn auch nur bei den wenig glorreichen Slow Horses. Nach der kurzweiligen Einführung nimmt sich Herron viel Zeit, um auch die anderen Versager in Lambs Truppe vorzustellen, bevor durch die Entführung des Pakistani, der sich als Neffe eines hochrangigen Vertreters des pakistanischen Geheimdienstes entpuppt, etwas Schwung in den resignierten Haufen im Slough House kommt.
Wie sich Cartwrights KollegInnen in den Job reinhängen und wie sich Lamb und seine Widersacherin beim MI5 einander auszuspielen versuchen, ist nicht nur unterhaltsam und spannend geschrieben, sondern auch mit herrlich sarkastischem Humor gespickt. Darüber hinaus sind Figuren toll gezeichnet und die Dialoge wunderbar spritzig gelungen. Auf die weiteren Bänder der preisgekrönten Agenten-Thriller-Reihe darf man sich nun auch hierzulande freuen! 
Leseprobe Mick Herron - "Slow Horses"

David Baldacci – (John Puller: 4) „No Man’s Land“

Montag, 10. September 2018

(Heyne, 526 S., HC)
Chief Warrant Officer John Puller, Ermittler beim CID, der Militärstrafverfolgungsbehörde der United States Army, besucht nach einem Einsatz in Deutschland gerade seinen an Demenz erkrankten Vater, den Drei-Sterne-General John Puller senior, als er von zwei Militärermittlern informiert wird, dass es neue Hinweise zum Verschwinden von Pullers Mutter vor dreißig Jahren gibt. Eine sterbenskranke Freundin der Puller-Familie beschuldigt Pullers Vater, seine Frau damals umgebracht zu haben.
Tatsächlich war Puller senior einen Tag früher als erwartet von einem Militäreinsatz nach Fort Monroe zurückgekommen. Da sich ihr dementer Vater zu den Vorwürfen nicht äußern kann, ermitteln John und sein älterer Bruder Bobby auf eigene Faust. Bobby, der erst vom Vorwurf des Hochverrats freigesprochen und aus dem Militärgefängnis in Leavenworth entlassen worden ist, nutzt seine Kontakte ebenso wie Johns mit Geheimdienstverbindungen gesegnete Freundin Veronica Knox, die wie aus dem Nichts wieder in Pullers Leben auftaucht.
Puller kann es sich nicht erklären, warum seine Mutter damals an einem gewöhnlichen Samstagabend in Sonntagskleidung noch einmal das Haus verlassen hatte. Was das CID und das ebenfalls hinzugezogene FBI damals aber nicht in Betracht zogen, waren vier Morde an jungen Frauen, die jeweils in irgendeiner Weise für das Verteidigungsministerium gearbeitet hatten.
„Er hatte ein ungutes Gefühl. Der ganze Fall roch verdächtig nach Vertuschung. Und er wusste immer noch nicht, ob das Verschwinden seiner Mutter mit der Mordserie in Zusammenhang stand. Möglicherweise verschwendete er seine Zeit an einen Fall, der rein gar nichts mit seinem eigenen Anliegen zu tun hatte.“ (S. 218) 
Doch bevor Puller tiefer in die Materie einsteigen kann, wird ihm von höchster Stelle befohlen, die Finger vom Fall zu lassen. Puller will schon seinen Abschied vom Militärdienst einreichen, als er an einer Bar den Türsteher Paul Rodgers kennenlernt. Rodgers ist mit übermenschlichen Kräften ausgestattet und sinnt nach zehn Jahren im Gefängnis auf Rache an der Person, die ihn zu einer Killermaschine gemacht hat. Wie sich zeigt, führt die Suche von Puller und Rodgers zu denselben Personen …
Mit dem CID-Ermittler John Puller hat Bestseller-Autor David Baldacci eine Figur geschaffen, die sehr stark an Lee Childs Kinohelden Jack Reacher angelehnt ist, doch bleibt Puller im Vergleich zu Reacher auch in seinem vierten Abenteuer recht blass. Zwar punktet der neue Roman mit neuen Hintergründen zur faszinierenden Familiengeschichte der Pullers, doch der Plot wirkt sehr konstruiert, von der zufälligen Begegnung zwischen Puller und Rodgers an den Schauplätzen der Frauenmorde über die Geschäfts- und persönlichen Verbindungen der im Zentrum der Ermittlungen stehenden Atalanta Corporation bis zu den plumpen Vertuschungsversuchen der Militäroberen, die Entwicklungen des Plots nichts schlüssig. Zwar vermag Baldacci ähnlich wie James Patterson in schlicht gehaltener Sprache und ohne große Investition in die Charakterzeichnung seiner Figuren flotte Spannung zu erzeugen, aber die Mischung aus Jack Reacher und Jason Bourne in „No Man’s Land“ will nach wirklich interessantem Beginn einfach nicht zünden. 
Leseprobe David Baldacci - "No Man's Land"

James Lee Burke – (Aaron Holland Broussard: 1) „Dunkler Sommer“

Sonntag, 9. September 2018

(Heyne, 556 S., Pb.)
Aaron Holland Broussard steht im Frühling 1952 am Ende seines Junior-Jahrs an der Highschool in Houston, als er an einem Frühlingssamstag im fünfzig Kilometer entfernten Galveston mit seinen Freunden am Strand abhängt. Wenig später lernt er vor einem Drive-in die siebzehnjährige Valerie Epstein kennen und verliebt sich augenblicklich in sie.
Grady Harrelson, mit dem sie vor Aarons Augen gerade Schluss gemacht hat, ist von Aarons Benehmen alles andere als begeistert und setzt seinem Kontrahenten ordentlich zu. Schließlich ist sein Vater nicht nur fett im Ölgeschäft, sondern unterhält auch Beziehungen zur Mafia in Galveston.
Doch weder Aaron noch sein unbesonnener Freund Saber Bledsoe lassen sich von Grady, seinem Kumpel Vick Atlas und dessen Vater zur Raison bringen. Als erst eine mexikanische Prostituierte mit gebrochenem Genick aufgefunden wird und dann Gradys pinkfarbener Cadillac gestohlen wird, in dem sich fast eine Million Dollar Mafia-Kohle befindet, ist das erst der Anfang einer Reihe von gewalttätigen Auseinandersetzungen, Morddrohungen und Todesfällen.
Aaron lässt allerdings nicht locker, um die Hintergründe der Gräueltaten in Erfahrung zu bringen, muss aber auch um das Leben seiner Liebsten fürchten …
„Ich hatte geglaubt, dass die Menschen, die so viel Leid über uns gebracht hatten, irgendwann dafür zur Verantwortung gezogen würden. Tatsache war aber, dass Valerie beinahe bei lebendigem Leib verbrannt worden war, aber niemand deswegen im Gefängnis saß. Ich bezweifelte sogar, dass die Polizei die richtigen Personen befragt hatte, um die Tat aufklären zu können.“ (S. 330) 
Mit seinen Reihen um Dave Robicheaux, Hackberry Holland und Billy Bob Holland hat sich der aus Louisiana stammende Schriftsteller James Lee Burke in die Herzen anspruchsvoller Krimifans geschrieben. Mit seinem neuen Roman bewegt sich Burke weiterhin im Terrain des Holland-Clans, denn der mittlerweile verstorbene Hackberry Holland war der Vater von Aarons Mutter und hatte als Texas Ranger immerhin John Wesley Hardin hinter Schloss und Riegel gebracht.
Das familiäre Erbe aus dem gewalttätigen Potenzial und Bekanntschaften mit der Mafia ist auch an dem jungen Aaron nicht spurlos vorübergegangen. Mit dem rechten Herz am Fleck, viel Mut und jugendlichem Übermut begibt er sich immer wieder in Situationen, von dem ihm nicht nur seine Eltern und der krebskranke Detective Merton Jerks abraten, sondern auch die Leute, mit denen sich Aaron lieber nicht anlegen sollte.
Burke beschreibt dieses eindringliche, gewalttätige Coming-of-Drama vor dem Hintergrund des Koreakrieges und lässt in seinen Plot immer wieder die militärische Vergangenheit einiger Protagonisten einfließen, thematisiert aber vor allem die weiter aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich, den anhaltenden Rassismus und die undurchsichtigen Mafia-Geschäfte, die die Auflösung vor allem der jüngsten Morde so knifflig machen.
„Dunkler Sommer“ ist aber auch ein wunderbarer Roman über die Liebe und den unerschütterlichen Willen, das Richtige zu tun – auch wenn die Mittel dazu nicht immer christlicher Nächstenliebe entspringen. Dazu sorgen die atmosphärisch stimmige Gesellschaftsstudie und die fein gezeichneten Charakterisierungen auch der weiblichen Figuren dafür, dass „Dunkler Sommer“ zweifellos zu den besten Werken des preisgekrönten Autors zählt.

Leseprobe James Lee Burke - "Dunkler Sommer"

Jo Nesbø – „Macbeth“

(Penguin, 624 S., HC)
In der zweitgrößten und wichtigsten Industriestadt des Landes hat Chief Commissioner Kenneth fünfundzwanzig Jahre lang mit eiserner Hand ohne Rücksicht auf die Regierung in Capitol geschickt die Strippen gezogen und seine Macht auf Kosten von Fabrikschließungen, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Chaos zementiert. Seinen Posten übernahm überraschend der Bischofssohn Duncan, der zuvor in der Hauptstadt das Dezernat für Organisierte Kriminalität geleitet hatte und sich nun anschickte, die heruntergekommene Stadt von dem Morast aus Korruption, Drogen und Gewalt zu befreien. Dagegen haben nicht nur die beiden rivalisierenden, von Sweno und Hecate geführten Gangsterbanden etwas, sondern auch die durch die Korruption begünstigten Cops.
Macbeth, allseits geachteter Kommandant des SWAT-Teams, sieht plötzlich die Möglichkeit, in der Hierarchie des Polizeiapparats aufzusteigen und selbst die Geschicke der Stadt zu leiten. Dabei wird er von seiner Geliebten Lady, einer ehemaligen Prostituierten und nun Geschäftsführerin des noblen Casinos Inverness, angetrieben, bei seinem Weg nach oben auch über Leichen zu gehen. Nachdem er seinen Boss Duncan heimtückisch ermordet hat, verschont er nicht mal seine engsten Vertrauten. Doch während sein heimlicher Unterstützer Hecate ihn mit immer härterem Stoff versorgt, verliert Macbeth zunehmend die Kontrolle über sein Leben.
„Sie waren von ihrem Weg abgekommen, aber es musste einen Rückweg geben, zurück dorthin, von wo sie aufgebrochen waren. Ja, natürlich gab es ihn, er konnte ihn nur gerade nicht sehen. Er musste mit ihr reden, sie musste ihm den Weg weisen, wie sie es immer getan hatte.“ (S. 570) 
Der norwegische Bestseller-Autor Jo Nesbø hat bereits mit seiner „Blood on Snow“-Reihe und „Der Sohn“ bewiesen, dass er außer seinem Ermittler-Star Harry Hole auch andere starke Figuren erschaffen kann. Im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projekts, das internationalen Autoren die Möglichkeit bietet, ihre ganz eigene Neuerzählung eines Shakespeare-Werkes zu präsentieren, hat sich Nesbø des ebenso kurzen wie blutigen Dramas „Macbeth“ angenommen, das den Aufstieg des Heerführers Macbeth zum schottischen König schildert.
In seiner Version des bekannten Shakespeare-Stückes zeichnet Nesbø ein sehr stimmiges Bild einer von Drogen- und Bandenkriminalität, sozialer Verwahrlosung, Korruption und Verfall gezeichneten Industriestadt, in der nur die gewissenlosen Machtmenschen ein angenehmes Leben führen können. Eindringlich beschreibt der Autor, wie auch der bislang (nahezu) unbescholtene Macbeth von einem zuverlässigen Team-Kommandanten zu einem skrupellosen Killer mutiert, der von seiner ebenso machthungrigen wie psychotischen Geliebten angetrieben wird.
Schon das Cover lässt Vergleiche zu Frank Millers Graphic Novel „Sin City“ aufkommen, und der dunkle Morast aus Drogen, Lügen, Verrat und Mord ist auch das tödliche Elixier, das in Nesbøs düsterer Industriestadt den Treibstoff für den packenden Plot bildet, mit dem Nesbø seine Leser in Atem hält. Die Charakterisierungen vieler Figuren bleiben zwar recht vage, aber irgendwie scheint jeder der Beteiligten Leichen im Keller zu haben, die zwar schon mal für schlechte Träume sorgen, aber letztlich nur den Anfang einer weiteren Reihe von Gräueltaten darstellen.  
Nesbø liegt nicht daran, dem Leser eine Identifikationsfigur oder Sympathieträger zu präsentieren. Stattdessen liefert er eine überaus packende, düstere und leider immer noch hochaktuelle Neuerzählung des klassischen Shakespeare-Dramas, das erst zum Ende hin auch einen Hoffnungsschimmer gegen die moralische Verrohung präsentiert. 
Leseprobe Jo Nesbo - "Macbeth"

Daniel Woodrell – „Zum Leben verdammt“

Samstag, 8. September 2018

(Liebeskind, 256 S., HC)
Der deutschstämmige Jake Roedel schließt sich im Alter von 19 Jahren der Bushwhacker-Truppe First Kansas Irregulars unter Führung von Black John Ambrose an, Rebellen, die im Jahr 1861 im Grenzland zwischen Missouri und Kansas auf Seiten der Konföderierten kämpfen und mit brutaler Gewalt gegen Unionstruppen und ihre Sympathisanten vorgehen.
Im Kreise seiner Kameraden Black John, Pitt Mackeson, Coleman Younger, Jack Bull Chiles, George Clyde und dessen treuen schwarzen Gefährten Holt wird Roedel immer wieder kritisch beäugt, doch als Roedel einen deutschen Jungen hinterrücks erschießt, der seinen am Baum aufgeknüpften Vater retten will, hat er sich den Respekt seiner Mitstreiter verdient, zumal er mit seiner Schönschrift dazu auserwählt war, Briefe für seine Kameraden zu verfassen.
In den blutigen Auseinandersetzungen mit den Föderalisten stirbt schließlich Roedels Kumpel Jack Bull Chiles, der mit Sue Lee gerade erst ein Kind gezeugt hat. Als Roedel nahegelegt wird, die Stelle seines toten Kameraden einzunehmen und Sue Lee zur Frau zu nehmen, beginnt er die zunehmend willkürlichen Gräueltaten der Rebellen zu hinterfragen.
„Viele Qualen fanden ohrenbetäubenden Ausdruck. Die Frauen klagten. Kinder schrien. Weit und breit war keine Armee in Sicht. Die Bürger gaben nicht mal einen Schuss ab, um sich zu wehren. Viele von ihnen standen auf den Straßen und gafften uns sprachlos an, als könnten sie nicht glauben, dass wir genau das waren, wonach wir aussahen.“ (S. 199) 
Nach seinem 1986 veröffentlichten Debüt „Under the Bright Lights“ (das 1994 unter dem Titel „Cajun Blues“ in deutscher Übersetzung erschien) legte der 1953 in Springfield, Missouri, geborene Schriftsteller Daniel Woodrell ein Jahr später mit „Woe to Live On“ an und präsentierte damit die literarische Vorlage für den Ang-Lee-Western „Ride With the Devil“ aus dem Jahre 1999, an dessen Drehbuchfassung der Autor ebenfalls mitwirkte. Gleich zu Beginn des nun durch den Liebeskind Verlag neu aufgelegten Titels beschreibt Woodrell, wie erbarmungslos brutal die Rebellen während des amerikanischen Bürgerkriegs unterwegs waren, wobei der junge Ich-Erzähler Jake Roedel recht nüchtern über das Aufknüpfen eines unbescholtenen Deutschen, der mit seiner Familie nach Utah unterwegs ist, und seinen eigenen Mord an dem zur Rettung seines Vaters eilenden Sohn berichtet. Schließlich ist Roedel eher per Zufall zu den Freischärlern gekommen und versucht, sich als einer der ihren zu etablieren. Doch je brutaler Black John und seine Gefolgsleute gegen die andere Seite vorgehen, desto mehr beginnt sich Roedel von dem zweckentfremdeten brutalen Vorgehen seiner Truppe zu distanzieren.
Woodrell beschreibt Jake Roedels Teilnahme an den entsetzlichen Massakern der Rebellen zunächst recht nüchtern, so dass es dem Leser gar nicht in den Sinn kommt, dessen Aktivitäten besonders verwerflich zu finden. So waren eben die Zeiten damals. Doch Woodrell lässt auch immer wieder trockenen Humor in die pointierten Dialoge und Beschreibungen einfließen, vor allem, als die kecke Sue Lee eine immer größere Rolle in Roedels Leben einzunehmen beginnt. Der zuweilen lakonische Ton lockert die Geschichte immer wieder auf, täuscht aber eben nicht darüber hinweg, dass Woodrell hier ein ganz düsteres Kapitel der US-amerikanischen Geschichte thematisiert.  Die Geschehnisse aus der Sicht eines unbedarften 19-Jährigen zu schreiben, erweist sich als geschickter Schachzug, denn so erhält auch der Leser einen ganz unverfälschten persönlichen Blick auf die schrecklichen Ereignisse und muss sich nicht mit den möglichen Motivationen der Rebellen herumschlagen, die auch Roedel nicht so ganz begreifen kann.
Leseprobe Daniel Woodrell - "Zum Leben verdammt"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 19) „Die Verlorene“

Freitag, 7. September 2018

(Droemer, 444 S., HC)
Seit Harry Bosch das LAPD verklagt hatte, weil es ihn seiner Meinung nach unrechtmäßig aus der Einheit für kalte Fälle entlassen hatte, arbeitet er in Teilzeit in der Reserveeinheit des San Fernando Police Department, wo er sich gerade mit dem Screen-Cutter-Fall befasst, einem Serientäter, der nach einem bestimmten Schema in die Wohnung von jungen Frauen eindringt, sie vergewaltigt und schließlich tötet.
Nebenbei bietet Bosch seine Dienste allerdings auch als Privatermittler an. Als er von dem milliardenschweren Unternehmer Whitney Vance damit beauftragt wird, einen möglichen Erben für sein Vermögen ausfindig zu machen, wird Bosch schnell fündig: Aus der Verbindung mit einer jungen Mexikanerin, die der junge Vance als Student kennengelernt hat und die sich mittlerweile erhängt hat, ist ein Junge namens Dominick hervorgegangen, der von einer Familie in Oxnard adoptiert worden ist.
Doch als Bosch seinen Auftraggeber über seine Fortschritte informieren will, erfährt er, dass der alte Mann plötzlich verstorben ist. Bosch glaubt allerdings nicht an einen natürlichen Tod. Offenbar versuchen die mächtigen Teilhaber des Vance-Imperiums, mit allen Mitteln ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Damit befindet sich auch der mögliche Erbe des Vance-Vermögens in Lebensgefahr. Zusammen mit seinem Halbbruder Mickey Haller versucht Bosch, den letzten Willen des Verstorbenen durchzusetzen.
„Er hielt hier ein Dokument in den Händen, das mehrere Milliarden Dollar wert war, ein Dokument, das die weitere Entwicklung eines riesigen Unternehmens und einer Industrie verändern konnte, nicht zu reden vom Leben und der Familie einer nichts ahnenden Frau, die vor sechsundvierzig Jahren geboren worden war und ihren Vater nie kennengelernt hatte.
Vorausgesetzt, sie lebte noch und Bosch konnte sie ausfindig machen.“ (S. 228) 
Egal, in welcher Funktion Harry Bosch ermittelt, ob nun beim LAPD oder als Teilzeit-Reservist für das SFPD – immer wieder hat er einen schweren Stand bei seinen Vorgesetzten, aber eben auch den richtigen Riecher bei den ihm anvertrauten Fällen. In seinem 19. Fall steht zunächst sein privater Auftrag für den schon sehr gebrechlich wirkenden Milliardär Whitney Vance im Vordergrund, der als junger Mann auf Druck seiner Familie seine große Liebe verlassen musste und nie erfahren sollte, ob aus der kurzen Liaison eventuell ein Nachkomme hervorgegangen ist. Akribisch beschreibt Connelly die Spurensuche, die Harry Bosch über verschiedene Ämter, Heime und natürlich die Instrumente führt, die ihm als (Reserve-)Polizist zur Verfügung stehen. Spannend wird es allerdings erst mit dem Tod von Boschs Auftraggeber auf der einen Seite, mit dem Verschwinden seiner SFPD-Kollegin Bella Lourdes beim Screen-Cutter-Fall auf der anderen Seite.  
Connelly schreibt wie gewohnt flott, wechselt geschickt zwischen den beiden Fällen hin und her und hält so die Spannung gekonnt aufrecht. Besonders sympathisch ist natürlich die erneute Zusammenarbeit mit dem Lincoln Lawyer, Boschs Halbbruder Mickey Haller, während die Kontakte mit seiner Tochter Maddie sehr kurz ausfallen.
Am Ende bietet „Die Verlorene“ souverän, aber eben auch konventionell strukturierte und spannungsreiche Thriller-Kost mit einem charismatischen Ermittler, den man einfach mögen muss.
Leseprobe Michael Connelly - "Die Verlorene"

Astrid Rosenfeld – „Kinder des Zufalls“

Donnerstag, 6. September 2018

(Kampa, 270 S., HC)
Seit sie mit einem Schiff aus Deutschland nach Amerika kam, ist Charlotte Foreman auf der Suche nach dem ultimativen Abenteuer, denn sie will, dass ihr Herz „schnell schlägt“. Sie landet in dem texanischen 1300-Seelen-Dorf Myrthel Spring und kommt zunächst auf der Farm von Terry Finsher unter, der dort mit seiner Frau Diana und den beiden einjährigen Zwillingen Sullivan und Allan lebt. Zuvor lernte sie Collin Goodwin kennen, der in Long Beach aufwuchs, nach Los Angeles gezogen war und in den Küchen unzähliger Diners gearbeitet hatte.
Nachdem er bislang bei fremden Menschen untergekommen war und zuletzt bei der verzweifelten, großen und dicken Mary gewohnt hatte, empfand er den Umzug zu Ozzy geradezu als Aufstieg, durfte er doch allein in dessen Garage wohnen und ein Auto sein Eigen nennen. Außerdem verschaffte ihm Ozzy einen Job als Nachtportier in einem Hotel in Downtown, wo sich Collin schließlich in Charlotte verliebte.
Seine polnische Mutter Agnieszka kam wie Charlotte einst mit dem Schiff nach Amerika. Nach einer Kneipenschlägerei drohte Collin eine Gefängnisstrafe, die er allerdings gegen den Militärdienst in Vietnam eintauschte. Die schwangere Charlotte kam dann bei Collins Anwalt unter und brachte ihren Sohn Maxwell auf der Finsher-Ranch zur Welt, unterhielt mit Terry eine heimliche Affäre.
Auf der anderen Seite des Atlantiks, bringt die in Stuttgart lebende 43-jährige Annegret Büttner am 11. März 1977 ihre Tochter Elisabeth zur Welt, die wie Maxwells Mutter nach Amerika geht und eine Karriere als Tänzerin macht, bis ein kaputtes Knie diesem Teil ihres Lebens ein Ende setzt. In Myrthel Spring lernt sie schließlich Maxwell kennen, der durch seine Darstellung des Cowboys Jill in einer Fernsehserie bekannt geworden ist, nach Absetzung der Serie aber keine anderen Rollen mehr angeboten bekam. Zusammen versuchen sie, mit einem Saloon gemeinsam glücklich zu werden …
„Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn liebte. Dass sie, seit sie nicht mehr tanzen konnte, nicht wusste, wer sie war. Tanzen war ihr Leben gewesen. Und in ihr, in diesem Körper mit dem kaputten Knie und den etwas zu dicken Schenkeln, lebte die Ballerina weiter. Versuchte es zumindest. Sie war nur noch ein Schatten. Aller Abschied ist grausam.“ (S. 235) 
Nach ihren drei bei Diogenes erschienenen Romanen „Adams Erbe“, „Elsa ungeheuer“ und „Zwölf Mal Juli“ legt die 1977 in Köln geborene, nun im texanischen Marfa lebende Astrid Rosenfeld ihr neues Werk im neu gegründeten Kampa Verlag vor. In „Kinder des Zufalls“ erzählt sie nicht nur von Maxwell und Elisabeth, die beide um ein Haar am 11. März 1977 gestorben wären – der Junge im Alter von zehn Jahren an einem Baum im texanischen Myrthel Spring, das noch ungeborene Mädchen im Bauch ihrer in Stuttgart lebenden Mutter. Virtuos beschreibt die Autorin auch die Biografien ihrer Eltern, vor allem ihrer Mütter. Deren Streben nach Liebe und Glück stellt auch die Antriebskraft für den Lebenslauf ihrer Kinder dar, die sich eines Tages in Myrthel Spring begegnen, nachdem sie sich ebenso wie ihre Mütter durch ein Leben gekämpft haben, das von Höhenflügen und Entbehrungen geprägt gewesen ist.
Obwohl Rosenfeld sehr anekdotisch vorgeht und sprunghaft zwischen Zeiten und Orten wechselt, taucht der Leser durch die einfühlsam vorgetragenen, zwischen lakonischem Humor und tragischem Ernst pendelnden Episoden sehr schnell in die Gefühlswelt der jeweiligen Figuren ein, von denen man am Ende gern mehr erfahren hätte.

Stephen King – „Der Outsider“

Sonntag, 2. September 2018

(Heyne, 752 S., HC)
Als die Polizei von Flint City im Mordfall des elfjährigen Frank Peterson ermittelt, der furchtbar geschändet im Stadtpark aufgefunden wurde, meinen nicht nur verschiedene Zeugen ausgerechnet den beliebten Englischlehrer und Trainer der Jugendbaseballmannschaft Terry Maitland in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben, auch die forensischen Beweise weisen auf Maitland als Täter hin. Detective Ralph Anderson ordnet eine öffentlichkeits- und medienwirksame Verhaftung mitten in einem Spiel an. Zwar kann Maitland ein glaubwürdiges Alibi für den fraglichen Tatzeitpunkt vorweisen, weil er mit seinen Englischlehrer-Kollegen auf einer Sommertagung in Cap City gewesen und bei einem Vortrag des Gastredners Harlan Coben sogar gefilmt worden ist.
Die Bevölkerung hat den bislang unbescholtenen Mann längst als Kindermörder abgestempelt. Als auch noch Frank Petersons Mutter an einem Herzinfarkt stirbt, sein Bruder Ollie Terry Maitland auf dem Weg zum Gericht erschießt und dabei selbst von Detective Anderson niedergestreckt wird, befindet sich die Stadt im Ausnahmezustand. Maitlands Anwalt Howie Gold engagiert Alec Pelley, einen Reservisten der Highway Patrol, um herauszufinden, wie Terry Maitland offenbar an zwei Orten gleichzeitig gewesen sein kann. Dazu holt er sich die Unterstützung der Ermittlerin Holly Gibney, die einst mit ihrem inzwischen verstorbenen Partner Bill Hodges bei „Finders Keepers“ einige außergewöhnliche Fälle gelöst hatte.
Offenbar gab es in der Vergangenheit ähnliche Fälle, bei denen Männer scheußliche Verbrechen begangen hatten und zu den Tatzeiten auch an anderen Orten gesehen worden waren. Die Verweise auf eine mythische, mexikanische Gestalt namens el Cuco, einen Outsider, bringen Detective Anderson fast um den Verstand.
„Ralph konnte an keine Erklärung glauben, die gegen die Gesetze der Natur verstieß, nicht nur als Detective, sondern auch als Mensch. Frank Peterson war von einer echten Person getötet worden, nicht von einer Schauergestalt aus einem Comicheft. Was blieb dann übrig, egal, wie unwahrscheinlich es war?“ (S. 276) 
Stephen Kings neuer Roman kommt gleich zur Sache: Ein grausamer Mord an einem elfjährigen Jungen führt schnell zu einem scheinbaren Ermittlungserfolg, wird aber durch ein ebenso stichhaltig wirkendes Alibi des vermeintlichen Täters zu einer sehr komplizierten Angelegenheit, die leider weitere Todesfälle nach sich zieht. Bis zur Hälfte des Romans findet sich der Leser in einem nahezu klassischen Krimi wieder, der durch immer wieder eingestreute Niederschriften von Vernehmungsprotokollen an Form gewinnt, aber erst mit dem Verweis auf Edgar Allan Poes Geschichte von William Wilson und seinem Doppelgänger beginnt eine übernatürliche Komponente in die Ermittlungsarbeit einzufließen und diese immer mehr zu bestimmen. Daran hat vor allem Holly Gibney einen großen Anteil, die zuletzt in dem dritten und abschließenden Bill-Hodges-Abenteuer „Mind Control“ einen Fall mit übersinnlichen Fähigkeiten lösen konnte. Die gemeinsame Zusammenarbeit zwischen der weltoffenen Ermittlerin und dem skeptischen Detective zählt zu den Höhepunkten eines meisterhaft erzählten Thrillers, wie er nur aus der Feder des „King of Horror“ stammen kann, der in den Plot immer wieder Verweise auf ein durch Donald Trump zunehmend verunsichertes Land einstreut. Während der streitbare amerikanische Präsident sein Land immer mehr in die Isolation treibt und die Grenzen nach außen abschottet, können die US-amerikanischen Bürger nicht mehr sicher sein, welchen Nachrichten und welchen Nachbarn sie noch vertrauen können …
Vielleicht ist mit „Der Outsider“ der Grundstein zu einer neuen Mini-Reihe gelegt, in der die sympathische Holly Gibney eine Hauptrolle spielt. Mit Ralph Anderson gibt sie nämlich ein ebenso interessantes wie effektives Gespann ab. 
Leseprobe Stephen King - "Der Outsider"