James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 19) „Die Tote im Eisblock“

Samstag, 30. Juli 2022

(Pendragon, 684 S., Pb.) 
Detective Dave Robicheaux kuriert im Krankenhaus gerade seine Verletzungen von der fast tödlichen Schießerei aus, der sein bester Kumpel Clete Purcel im letzten Moment ein glückliches Ende beschert hatte, als er Besuch von dem Cajun-Mädchen Tee Jolie Melton bekommt, die ihm einen bestückten iPod mitbringt und davon erzählt, dass sie mit einem verheirateten, sehr berühmten Mann zusammen sei. Aus einem Gespräch habe sie mitbekommen, dass er von „Zentrierkörben bei Bohrrohren“ sprach. Für Robicheaux ist diese Information nicht nur von Bedeutung, weil sein eigener Vater Big Aldous selbst bei einem Bohrturm-Unglück ums Leben kam, sondern weil gerade erst die Explosion einer Ölbohrinsel vor der Küste Louisianas eine Umweltkatas¬trophe unvorstellbaren Ausmaßes zur Folge hatte. 
Clete hat indes eigene Probleme. Vor seinem Ableben hatte der Gangster Didi Giacano einen Schuldschein von Clete in seinem Safe, der nun an Bix Golightly verkauft worden ist. Golightly taucht schließlich mit einem punkigen Teilzeitkiller namens Waylon Grimes in Cletes Büro auf und verlangt 30.000 Dollar innerhalb einer Woche. Als Clete in die Wohnung seines Erpresser einsteigt, stößt er auf Geschäfte, die der Mann mit gefälschten Gemälden betreibt. 
Wenig später werden Grimes, Frankie Giacano und Golightly erschossen, wobei Clete Zeuge des Mordes an Golightly wird. Besonders brisant ist die Angelegenheit deshalb, weil er seine uneheliche Tochter Gretchen für die Täterin hält, die unter dem Namen Caruso Auftragsmorde ausführt. Wenig später wird die Leiche von Tee Jolie Meltons Schwester Blue in einem Eisblock treibend im St. Mary Parish aufgefunden, von Tee Jolie fehlt jede Spur. 
Für Robicheaux liegt es auf der Hand, dass Pierre Dupree mit der Sache zu tun hat, doch dass Clete eine Affäre mit seiner schönen, aber verhassten Ehefrau Varina Leboeuf anfängt, machen die Ermittlungen nicht leichter. Während immer mehr Tote in diesem verworrenen Netz aus Lügen und Geldgier zu beklagen sind, gerät auch Robicheaux ins Visier der geheimnisvollen Killer, die offenbar beste Beziehungen zu den höheren Gesellschaftskreisen in Louisiana unterhalten. 
Als Gretchen und Cletes Adoptivtochter Alafair entführt werden, gibt es für die beiden Kriegskameraden kein Zurück mehr… 
„Man darf seinem Feind keine Macht einräumen, man darf ihm nicht erlauben, das Spiel nach seinen Regeln zu spielen. Ich nahm einen Kiefernzapfen in die Hand und warf ihn in hohem Bogen ins Wasser. Es war ein Gefühl, als sei ich am Ende eines langen Tunnels angekommen. Und doch war mein Herz noch immer so schwer wie ein Amboss. Ich wusste, dass ich meinen Frieden erst finden würde, wenn ich die Mörder von Blue Melton aufgespürt – und Tee Jolie in ihre Heimat am Bayou Teche zurückgebracht hatte.“ (S. 391) 
Es ist schon so etwas wie ein Opus Magnum, das der Südstaaten-Schriftsteller James Lee Burke in seinem 2012 als „Creole Belle“ veröffentlichten 19. Band seiner grandiosen Reihe um den Vietnam-Veteran, Alkoholiker und Detective Dave Robicheaux vorgelegt hat und der nun unter dem nicht ganz so poetischen Titel „Die Tote im Eisblock“ auch hierzulande das Licht der Welt erblickt. 
Burke präsentiert hier nicht nur einen ungewöhnlich hohen Bodycount, sondern auch eine komplexe, undurchschaubare Geschichte, in der die Strippenzieher der Verbrechen, mit denen es Clete, Dave, seine Chefin Helen Soileau und ihr Kollege Dana Magelli vom NOPD es hier zu tun haben. 
Wer am Ende für die unzähligen Morde, Attentate, Entführungen und die Umweltkatastrophe durch das ausgetretene Öl verantwortlich ist und die treibende Kraft hinter den ausgeklügelten Operationen darstellt, wird erst zum actionreichen Finale aufgedeckt. 
Bis dahin erweist sich vor allem die Beziehung zwischen Clete und seiner Tochter Gretchen als interessanteste Konstellation, denn wenn sie tatsächlich hinter den Morden an den drei Gangstern steckt, kann das Cletes Kumpel schwerlich ignorieren. Das sorgt zwar für etwas Knatsch zwischen den beiden Freunden, aber im Kampf gegen das Verbrechen werden sie natürlich wieder zusammengeschweißt. Da bringt Burke Nazi-Verbrechen, Folter mit der Eisernen Jungfrau, mitgefilmte Schäferstündchen, die Varina mit ihren prominenten Gästen unterhielt, und Mafia-Killer mit ins Spiel, so dass es in dem knappen 700-Seiten-Wälzer nie langweilig wird. 
Burke nimmt sich wie gewohnt viel Zeit für die Charakterisierung seiner Figuren, überzeugt mit wunderbar knackigen Dialogen und erweist sich als Meister der Spannung und der Atmosphäre. „Die Tote im Eisblock“ wartet mit allen Finessen und Stärken auf, die ein literarisch anspruchsvoller Krimi nur in sich vereinen kann.  

Dan Simmons – „Fiesta in Havanna“

Freitag, 22. Juli 2022

(Goldmann, 574 S., Pb.) 
Dan Simmons hat seine Schriftsteller-Karriere mit von Beginn an preisgekrönten Werken im Bereich des Horror- und Science-Fiction-Genres begonnen, ehe er 1999 mit „The Crook Factory“ (dt. „Fiesta in Havanna“) nochmals sein Spektrum erweiterte und sein Faible für Geschichten entdeckte, die auf historisch verbürgten Ereignissen basieren. Lange vor seinen Bestsellern „Terror“, „Drood“ und „Der Berg“ entstand mit „Fiesta in Havanna“ ein packendes Spionage-Drama um Ernest Hemingway und prominenten Weggefährten wie dem späteren James-Bond-Autor Ian Fleming und den Schauspielern Marlene Dietrich, Gary Cooper und Ingrid Bergman
Ende April 1942 wird FBI-Special-Agent Joseph „Joe“ Lucas von Direktor J. Edgar Hoover zu sich ins Büro bestellt, offensichtlich weil er zu den wenigen der rund viertausend Special Agents zählt, die bereits Menschen getötet haben. Er wurde im legendären Camp X in der Nähe von Toronto am Ontariosee ausgebildet, wo überwiegend britische Guerillas und britische Spionageagenten – aber eben auch einige wenige FBI-Agenten – auf ihren weltweiten und meist gefährlicheren Einsatz vorbereitet wurden. Nun soll Lucas nach Kuba fliegen, um den vom berühmten Schriftsteller Ernest Hemingway ins Leben gerufenen Spionage-Abwehr-Ring zu infiltrieren. 
Offiziell wird Lucas als von der Botschaft eingesetzter Verbindungsmann zu Hemingway und seiner Geheimdienstorganisation fungieren, soll aber vor allem Hoover Bericht darüber erstatten, was für eine Person Hemingway wirklich ist, von dem gesagt wird, dass er den Kommunisten nahestehe. Lucas erhält Zugang zu der Finca, auf der Hemingway mit seiner dritten Frau Martha Gellhorn in der Nähe von Havanna lebt und stellt schnell fest, dass Hemingway ein waschechter Patriot ist, der ambitionierte Pläne verfolgt, die Japaner und vor allem die Nazis zu jagen. 
Seine sogenannte „Gaunerbande“ ist schnell zusammengestellt. Tatsächlich sticht Hemingways Boot, die „Pilar“ in See, um Jagd auf deutsche U-Boote zu machen, doch dabei decken sie auch einen Ring von Saboteuren auf. Zu diesem Zeitpunkt hat Lucas längst beschlossen, seinem undurchsichtigen Mittelsmann Delgado nur unvollständige Berichte für Hoover auszuhändigen. Statt sich um seine wahrscheinlich schon beendete FBI-Karriere zu kümmern, versucht Lucas mit Hemingway, abgefangene Nachrichten der Nazis zu decodieren und eine Invasion Kubas zu verhindern. Doch damit bringen sich beide Männer ins Lebensgefahr… 
„Was genau war meine Aufgabe? Natürlich Hemingway auszuspionieren. Festzustellen, was er mit seiner idiotischen Gaunerbande im Schilde führte, dem Direktor über Delgado Meldung zu machen und auf weitere Befehle zu warten. Ich sollte den Ratgeber, den Spionageabwehrexperten spielen. Aber sollte ich Hemingway und seinem Team Informationen zukommen lassen? Diesbezüglich hatte mir niemand Anweisungen gegeben. Offenbar war niemand auf die Idee gekommen, die Gaunerbande könnte auf echte Geheimdienstinformationen stoßen.“ (S. 161) 
Als Dan Simmons beschloss, eine fiktive Schilderung von Hemingways Spionageaktivtäten zu schreiben, fiel ihm auf, dass die Zeit zwischen Mai 1942 und April 1943 nur unzureichend dokumentiert war. Also sammelte Simmons alle relevanten Fakten, nahm reale Ereignisse, Geheimdienste und Personen und füllte die besagten Lücken mit spannender Fiktion. Viele Namen wie Ian Fleming und die eingangs erwähnten Hollywood-Schauspieler, mit denen Hemingway eine langjährige Freundschaft unterhielt und die regelmäßig Gast auf seine Finca waren, sind dem Leser natürlich sehr vertraut, aber sie in diesem Kontext wiederzufinden macht einfach Spaß. 
Simmons versteht es, eine komplexe Spionage-Geschichte zu konstruieren, die eines Jason Bourne oder James Bond zur Ehre gereichen, nur spielt diese Geschichte weitaus früher und verströmt eher die Atmosphäre eines Film noir – Femme fatale in Gestalt der Prostituierten Maria inklusive. 
Bei aller Komplexität nimmt sich Simmons jedoch auch viel Zeit für seine Figuren, wobei vor allem der Ich-Erzähler Lucas und natürlich Hemingway wunderbar charakterisiert werden. Allein die Dialoge zwischen den beiden Protagonisten machen „Fiesta in Havanna“ zu einem literarischen Highlight, aber Simmons gelingt es darüber hinaus, die von Paranoia und Kriegsangst geprägte Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens einzufangen – immer auch wieder mit amüsanten Seitenhieben auf das Establishment. So hebt sich „Fiesta in Havanna“ wunderbar von den üblichen Genre-Werken ab und darf als eines von Simmons Höhepunkten seines literarischen Schaffens gelten. 

 

Dean Koontz – (Jane Hawk: 5) „Sühne“

Mittwoch, 13. Juli 2022

(HarperCollins, 575 S., Tb.) 
In den 1980er Jahren avancierte Dean Koontz mit Romanen wie „Unheil über der Stadt“, „Zwielicht“, „Schwarzer Mond“, „Schattenfeuer“, „Mitternacht“ und „Tür ins Dunkel“ neben Stephen King, Clive Barker und Peter Straub zu einem der populärsten Vertreter im Horror-Genre. Es ist nicht nur ein Asteroid nach Dean Koontz benannt, sondern auch einige seiner Werke verfilmt worden (u.a. „Des Teufels Saat“, „Hideaway“, „Phantoms“, „Odd Thomas“). Mittlerweile ist Koontz hierzulande nicht mehr so prominent in den Bücherregalen vertreten, aber produktiv ist er wie eh und je. Zuletzt ist von ihm die Reihe um die ehemalige FBI-Agentin Jane Hawk erschienen, die nach „Suizid“, „Gehetzt“, „Gefürchtet“ und „Rache“ nun mit dem fünften Band „Sühne“ zu einem weitgehend überzeugenden Abschluss kommt. 
Nach dem unerklärlichen Selbstmord ihres Mannes Nick ist die FBI-Agentin einer ganzen Reihe von mysteriösen Selbstmorden auf die Spur gekommen, die nicht nur auf eine mächtige Verschwörung bis in höchste Regierungskreise hindeutete, sondern sie selbst bald zur gesuchtesten Person in den USA machte. Doch die zwangsläufig abtrünnige Agentin gibt nicht klein bei. 
Statt sich von der elitären Gruppe namens Arkadier vereinnahmen zu lassen, sagt sie der weit verzweigten, bestens vernetzten Organisation den Kampf an. Doch das ist aus dem Untergrund heraus schwieriger als geplant, denn in ihrem Plan, die USA nach ihren Vorstellungen umzugestalten, greifen die Arkadier auf Nano-Kontrollmechanismen zurück, die ihren Opfern den freien Willen rauben und sie zu „Angepassten“ machen, die alle Befehle ihrer Führer bedenkenlos ausführen. 
Als einer der Architekten der „größten Revolution der Geschichte“ lädt Wainwright Warwick Hollister den vielversprechenden Filmemacher Thomas Buckle auf sein fünftausend Hektar großes Anwesen auf der Hochebene von Denver ein, um vorgeblich mit ihm über ein neues Filmprojekt zu sprechen. Doch in Wirklichkeit steht Buckle auf einer sogenannten „Hamlet“-Liste, wo charismatische Persönlichkeiten aufgeführt sind, die die Kultur mit falschen Ideen beeinflussen könnten und deshalb ausgemerzt werden müssen. Buckle gelingt jedoch die Flucht bei der von Hollister angesetzten Jagd auf ihn und wird von einem Kriegsveteran mitgenommen, der Buckle die unglaubliche Geschichte über die Techno-Arkadier und ihre Methoden sogar abnimmt und ihm Unterschlupf gewährt. 
Währenddessen hat Jane tatkräftige Unterstützung von ihrem ehemaligen Kollegen Vikram Rangnekar erhalten, der als Hacker-Spezialist versucht, an die Liste mit Namen aller Arkadier zu gelangen und die Kontrollmechanismen auszuschalten. Auch Tom Buckle versucht durch schlichtes Überleben dazu beizutragen, Janes Mission zu unterstützen. 
„Manchmal qualifizierte ein Film sich als Kunst, weil er von Wahrheit handelte. Kunst war nur Kunst, wenn sie bleibende Wahrheiten verkündete; sonst war sie nur Schund oder Propaganda. Jetzt erschien Jane Hawk ihm als lebendige Kunst, die der Wahrheit so verpflichtet war, dass sie ihr Leben für sie riskierte.“ (S. 166) 
Allerdings wird für Jane Hawk die Mission nicht einfacher, als ein Mafia-Boss aus Vegas ihren Sohn Travis in ihre Gewalt bringt… 
Dean Koontz weiß spannende Geschichten in einer fesselnden Sprache zu erzählen. Auch wenn man die vorangegangenen vier Bände nicht gelesen hat, gelingt dem Autor mit der einführenden Episode des Zusammentreffens zwischen Hollister und Buckle eine gelungene Einführung in die Thematik rund um die Techno-Arkadier und ihre per Injektion verabreichten Nano-Kontrollmechanismen. 
Nachdem dieser Einstieg Hollisters Skrupellosigkeit unterstrichen hat, entwickelt sich die Jagd nach Jane Hawk zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Leider verliert sich Koontz immer wieder in unnötigen Nebenhandlungen, führt zu viele Figuren ein, bläht so den Thriller unnötig auf und entwickelt die beiden Haupterzählstränge um Hollister und seine Anhänger auf der einen Seite und Jane mit ihren Verbündeten auf der anderen nicht immer kohärent weiter. 
Doch abgesehen von der holprigen Dramaturgie bietet „Sühne“ gehobene Thriller-Unterhaltung mit gut gezeichneten Figuren und interessanter, wenn auch nicht besonders origineller Thematik. 
Das vorhersehbare Finale fällt allerdings fast unspektakulär aus.  

Bella Mackie – „How to kill your family“

Dienstag, 5. Juli 2022

(Heyne Hardcore, 432 S., HC) 
Wie heißt es so schön: Seine Freunde kann man sich aussuchen, seine Familie nicht! Die britische Journalistin Bella Mackie („Vogue“, „Guardian“) erzählt in ihrem Romandebüt „How to kill your family“ die Geschichte einer Londoner Frau, die sich der kompromisslosen Ausmerzung ihrer Familie verschrieben hat. Als die 28-jährige Grace Bernard erfährt, dass ihre arme Mutter Marie sich wortwörtlich zu Tode schuften musste, weil ihr Vater, der schwerreiche Simon Artemis, die Affäre mit ihrer Mutter verschwiegen hatte und ihr nicht die notwendige Unterstützung beim Aufziehen ihrer gemeinsamen Tochter zukommen ließ, schmiedet sie einen teuflischen Plan: Der gesamte Artemis-Plan soll für das schändliche Ignorieren von Simons Vaterschaft mit dem Tod bezahlen. 
 
Den Anfang macht Grace mit ihren Großeltern Jeremy und Kathleen, die ihren Lebensabend in einer exklusiven Wohngegend in Marbella verbringen. Also fliegt Grace nach Marbella, leiht sich von ihrem Flug-Nachbarn Amir einen protzigen Hummer und rammt damit ihre Großeltern mühelos von der Straße. Während Kathleen beim Aufprall in der Schlucht gleich der Kopf abgetrennt wird, ist Jeremy noch so lange am Leben, dass Grace ihm mitteilen kann, warum er sterben musste. Er hatte nämlich Jeremys Ansinnen, für Maria und Grace zu sorgen, von vornherein abgelehnt. 
Für ihre weiteren Pläne sind allerdings aufwendigere Vorbereitungen nötig. Da treibt sich Grace in Sexclubs herum, um eine Vorrichtung zu installieren, mit dem sie Simons Bruder Lee ins Jenseits befördern kann, und erfährt von einem exotischen Froschsekret, mit dem Lees Sohn Andrew in seiner Funktion als Naturschützer experimentiert. Während sich Grace allmählich durch den Artemis-Clan mordet, wird sie allerdings ausgerechnet für einen Mord angeklagt und verurteilt, den sie nicht begangen hat. Cora, die Verlobte ihres besten Freundes Jimmy, wurde nämlich nicht von Grace von der Balkonbrüstung in die Tiefe geschubst, sondern ist durch eigenes Verschulden zu Tode gekommen. Während sie im Gefängnis von Limehouse auf das Ergebnis ihres Berufungsverfahrens wartet und ihre nervige Zellennachbarin Kelly ertragen muss, lässt Grace ihre Geschichte Revue passieren… 
„Im Verlauf meiner Bemühungen, die Welt von dieser schrecklichen Familie zu erlösen, musste meine Würde einiges einstecken. Das Resultat würde das alles wert sein, da hatte ich keine Zweifel. Aber in Marbella rumhängen, in einem Umweltzentrum Unkraut ausrupfen und jetzt auch noch mit meinem Onkel über Sex reden … das waren echte Herausforderungen.“ (S. 155) 
Eventuell inspiriert von Israel Ranks „Autobiographie eines Serienkillers“, der im edwardianischen England seine Familie aus Rache ermordet hat, schickt Bella Mackie ihre 28-jährige Ich-Erzählerin Grace los, es ihm in der heutigen Zeit nachzutun. Akribisch beschreibt die Protagonistin nicht nur, wie sie die einzelnen Morde an ihren kaum bekannten Familienmitgliedern plant und ausführt, sondern gibt dazu auch sarkastische Kommentare zum Lifestyle neureicher Nichtsnutze, skrupelloser Geschäftemacher und verblödeter Influencer zum Besten. Dabei zeichnet sich allerdings weder eine Spannungskurve noch eine persönliche Entwicklung der nicht unbedingt sympathischen Serienkillerin ab, weshalb die Geschichte von „How to kill your family“ recht schnell ihren Reiz verliert. 
Die ungewöhnlichsten Rollenspiele und Tötungsszenarien sind teilweise recht amüsant zu lesen, aber eine besondere Raffinesse kommt dabei nicht zum Ausdruck, und erst am Ende wird der Story noch eine interessante Perspektive hinzugefügt, die immerhin für einen netten Überraschungseffekt sorgt. Doch insgesamt wird der Inhalt der außerordentlich gelungenen, aufmerksamkeitsheischenden Verpackung nicht gerecht.  

John Katzenbach – „Die Komplizen“

Freitag, 1. Juli 2022

(Droemer, 622 S., Pb.) 
Als Sohn einer Psychoanalytikerin und des ehemaligen US-Justizministers Nicholas Katzenbach hat John Katzenbach die Voraussetzungen für eine spätere Karriere als international erfolgreicher Thriller-Autor quasi in die Wiege gelegt bekommen. Einen weiteren bedeutenden Baustein hat er durch seine Tätigkeit als Gerichtsreporter erworben. Gleich sein erster, 1982 veröffentlichter Thriller „In the Heat of the Summer“ wurde 1985 mit Kurt Russell unter dem Titel „Das mörderische Paradies“ verfilmt und 1988 erstmals auf Deutsch veröffentlicht. Seither veröffentlicht Katzenbach regelmäßig Bestseller, die weitere Vorlagen für Filme wie „Im Sumpf des Verbrechens“ und „Das Tribunal“ boten und auch hierzulande eine große Lesergemeinde für sich gewinnen konnten. 
Allerdings konnte der US-Amerikaner nicht immer die hohe Qualität von Thrillern wie „Die Anstalt“ und „Der Patient“ aufrechterhalten. Teilweise wirken die Plots zu konstruiert, dann schleichen sich allzu viele Längen ein, und die Figurenzeichnung ist nicht so sorgfältig, wie es Katzenbachs Vorkenntnisse nahelegen würden. Mit seinem neuen Roman „Die Komplizen“ nimmt uns der Autor auf die dunklen Seiten des Internets, in dem auf einmal für eine ganze Reihe von Protagonisten tödliche Gefahren lauern. 
Ein im Darknet kursierender Chatroom, dessen fünf anonyme Mitglieder sich einfach als Alpha, Bravo, Charlie, Delta und Easy bezeichnen und ihren virtuellen Treffpunkt nach ihrem berühmten Vorbild Jack the Ripper „Jack’s Boys“ nennen, tauschen sich gerade über neueste Erkenntnisse zur Erkennung von Fingerabdrücken aus, als sie die Nachricht erhalten, dass ein User namens Socgoal02 dem Chat beigetreten ist. Doch der Unbekannte belässt es nicht nur bei dem unbefugten Eintreten in die an sich streng gesicherte Privatsphäre der hier versammelten Serienkiller, sondern macht sich auch noch über ihr krankes Verhalten lustig. 
Dabei sucht der Collegestudent Connor Mitchell, der seine Freizeit vorzugsweise als Torwart einer Fußballmannschaft und mit seiner Freundin Niki Templeton verbringt, in den Tiefen des Internets eigentlich nur nach Spuren des Mannes, der vor Jahren als betrunkener Autofahrer den Unfalltod seiner Eltern verursacht hat. Jack’s Boys kennen in dieser Hinsicht allerdings keinen Spaß und finden schnell heraus, wer sich hinter dem großmäuligen Eindringling verbirgt. Schon hecken sie einen minutiösen Plan aus, wie sie sowohl Socgoal02 und seine zwei Häuser weiter wohnende Freundin, eventuell auch deren Alt-Hippie-Eltern und Socgoal02s Großeltern töten können. Der zur Ausübung der Tat auserkorene Bravo schafft es zwar, das junge Paar zu überrumpeln, zu fesseln und Niki einen tödlichen Medikamenten-Cocktail zu verabreichen, doch dann betritt Connors Großvater gerade noch rechtzeitig die Szenerie. Der ehemalige Marine löscht das Leben des Eindringlings mit drei Schüssen aus seiner Magnum aus und lässt seine Kameraden, die das Geschehen per Videokamera verfolgten, entsetzt zurück. Zu allem Überfluss wird auch noch Easy, der die Aktion vor Ort vorbereitet hat, verhaftet, nachdem er im Motel mit der Kreditkarte eines seiner Opfer bezahlen wollte. 
Während die Polizei anschließend im Dunkeln tappt, da Connor und Niki nur einen Teil der Geschichte erzählt haben, treffen Connor, Niki und Ross Vorbereitungen, sich nicht noch einmal so überrumpeln zu lassen, denn ihnen ist schmerzlich bewusst, dass sie nur vorläufig mit dem Leben davongekommen sind. 
„In diesem Moment wäre Alpha am liebsten ein wild um sich schießender Selbstmordattentäter gewesen. Texas Tower. Columbine. Las Vegas. Ein Amokläufer an einer Schule mit einem Manifest. Ein verdrossener, gut bewaffneter Angestellter, der über den Laden herfällt, der ihn gefeuert hat. Oder ein religiöser Fanatiker, von dem Gedanken besessen: Jesus will, dass ich alle töte. Oder Allah. Welcher Gott gerade zupasskommt.“ (S. 331) 
Für „Die Komplizen“ hat Katzenbach an sich einen interessanten Plot entwickelt, der zum einen die allseits lauernden Gefahren thematisiert, die im Internet potentiell die Identität all jener bedrohen, die sich dort bewegen, zum anderen einen von seiner Anonymität geprägten Killer-Club ins Spiel bringt, deren Mitglieder in „Jack’s Special Place“ ihren belanglosen Alltag vergessen und sich den besonderen Kick verschaffen können. 
Katzenbach wechselt immer wieder die Perspektiven zwischen den einzelnen bzw. immer wieder miteinander vernetzten Killern und ihren vermeintlichen Opfern, wobei Nikis Eltern nahezu außen vor bleiben und der Fokus immer wieder zwischen Connor und Niki, dem im Oktober von Depressionen geplagten Vietnam-Veteran Ross und seiner Frau, der Krankenschwester Kate, wechselt. Allerdings krankt der umfangreiche Thriller nicht nur an Längen (von denen Katzenbachs Lektor offensichtlich schon einige entfernt hat, wie der Autor in seiner Danksagung erwähnt), sondern an der kaum überzeugenden Charakterisierung gerade der Killer. Vor allem die ständig eingeflochtenen Monologe und teilweise auch die Dialoge wirken so banal und gestelzt, dass die Figuren wie Karikaturen von Killern wirken. Auf der anderen Seite stellen Connor, Niki und ihre jeweiligen Familien natürlich die Sympathieträger dar, die in Todesgefahr über sich hinauswachsen. Bei der Konfrontation zwischen Jack’s Boys und ihren Opfern sorgt Katzenbach zwar für Spannung, überspannt aber immer wieder den Bogen der Glaubwürdigkeit, was vor allem im Finale deutlich zum Ausdruck kommt.