John Katzenbach – „Die Grausamen“

Sonntag, 30. April 2017

(Droemer, 570 S., Pb.)
Seit Gabriel „Gabe“ Dickinson bei einem Segelausflug unverschuldet seinen Schwager verloren hat, weil dieser gegen jede Vernunft schwimmend das scheinbar rettende Ufer erreichen wollte, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst und dem Alkohol verfallen, als er auch noch von seiner Frau verlassen worden ist. Von seinem Chef wird er kurzerhand in die eigens für ihn eingerichtete Abteilung „Cold Cases“ abgeschoben. Im sogenannten „Verlies“ wühlt er sich zusammen mit seiner neuen und ebenfalls traumatisierten Kollegin Marta Rodriguez-Johnson durch nicht abgeschlossene Fälle aus der Vergangenheit, wobei das angeschlagene Duo Weisung erhalten hat, bei Hinweisen die entsprechenden Akten in die Hände der Kollegen von der Mordkommission zu übergeben.
Überraschenderweise stoßen Gabe und Marta nach kurzer Zeit tatsächlich auf einen Fall, der sie nicht zur Ruhe kommen lässt. Vor zwanzig Jahren ist die dreizehnjährige Tessa Gibson auf dem kurzen Heimweg von ihrer Freundin nicht zuhause angekommen. Ausgedehnte Suchaktionen in dem noblen Viertel fördern nur ihren blutbefleckten Rucksack zutage, von Tessa selbst fehlt bis heute jede Spur.
Besonders merkwürdig ist allerdings der Umstand, dass kurze Zeit nach Tessas Verschwinden vier brutale Morde an jungen Männern verübt worden sind, die ebenfalls nicht aufgeklärt worden sind – obwohl die damaligen Top-Detectives O’Hara und Martin die Ermittlungen geleitet haben.
Als Gabe und Marta die beiden pensionierten Detectives aufsuchen, wecken sie schlafende Hunde und werden immer wieder von ihren aufgebrachten Vorgesetzten zurückgepfiffen. Doch gerade der einstige Bürohengst Gabe mutiert zu einem forschen Ermittler, der kein Blatt mehr vor den Mund nimmt.
„Wenn er zusammen mit Marta unterwegs war und mit den Leuten über Tessa oder die toten Vier sprach, wenn er den Ermittler spielte, der er eigentlich nicht war, schlüpfte er in eine andere Haut. Er war wie ein unbeschriebenes Blatt und konnte für ein paar Stunden seine quälende Vergangenheit hinter sich zu lassen. Auch wenn ich mich nicht gerade wie ein Profi dabei anstelle, Leute zu befragen, gibt es mir wenigstens das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun.“ (S. 281)
Mit Psycho-Thrillern wie „Der Patient“, „Die Anstalt“ und „Der Psychiater“ hat sich der ehemalige Polizeireporter John Katzenbach einen Stammplatz auf internationalen Bestseller-Listen gesichert. Mit seinem neuen Roman „Die Grausamen“ liefert er nun seinen ersten Krimi ab und folgt dabei den erfolgreichen Spuren von Jussi Adler-Olsens Reihe um das Kopenhagener „Sonderdezernat Q“, das sich wie Gabe Dickinson und Marta Rodriguez-Johnson um alte ungeklärte Fälle kümmert.
Dabei sind ihm mit den psychisch labilen Protagonisten ganz starke Figuren gelungen, die ihre tragischen menschlichen Verluste einfach nicht verwinden können, hier der auf See umgekommene Schwager, dort der versehentlich in Ausübung des Dienstes im dunklen Keller erschossene Partner. Wie sich das „Cold Cases“-Duo aber schnell zusammenrauft und Gefallen an der zunächst unliebsamen neuen Aufgabe findet, ist ebenso stark von Katzenbach in Szene gesetzt wie das Erwachen des Ermittler-Instinktes, mit dem Gabe und Marta ordentlich Staub aufwirbeln.
Die kalten Fälle sind dazu packend geschrieben und erhalten durch gelegentliche Rückblenden immer wieder eine neue Perspektive. „Die Grausamen“ bietet so fesselnde Spannung, dass man nur hoffen kann, dass Katzenbach Gabe und Marta eine ganze Reihe widmet, denn selten hat die Kriminalliteratur so eindringlich gezeichnete Ermittler gesehen.
Leseprobe John Katzenbach - "Die Grausamen"

Gay Talese – „Der Voyeur“

Dienstag, 25. April 2017

(Tempo, 224 S., HC)
Als Gerald Foos erfährt, dass der renommierte Autor Gay Talese („Ehre deinen Vater“) in seinem nächsten Buch „Du sollst begehren“ eine landesweite Studie zum Sexualleben der Amerikaner thematisiert, schreibt er ihm im Januar 1980 einen Brief, in dem er wichtige Informationen zum Thema anbietet. Seit fünfzehn Jahren sei Foos nämlich mit seiner Frau Donna Besitzer eines kleinen Motels in Aurora, Colorado, dessen Kundenstamm als repräsentativer Querschnitt der amerikanischen Bevölkerung gelten darf. Das Besondere an den einundzwanzig Zimmern des mittelständischen Hauses sind die speziell angefertigten Lüftungsgitter in der Decke, die es Foos erlauben, seine voyeuristischen Neigungen zu befriedigen und dabei die Frage zu beantworten, wie sich Menschen in ihrem ganz privaten Umfeld sexuell verhalten.
Foos hat seit den späten 1960er Jahren präzise Aufzeichnungen über seine Beobachtungen angestellt und diese analysiert. Foos ist fest davon überzeugt, dass seine Notizen von großem Interesse sowohl für die Menschheit im Allgemeinen als auch für Sexualforscher im Besonderen sein könnten.
Talese selbst ist allerdings skeptisch. Ihm ist klar, dass er, wenn er Foos‘ Story veröffentlichen würde wollen, auch dessen tatsächlichen Namen nennen müsste, aber dadurch würde Foos in den Fokus der Strafverfolgung rücken. Tatsächlich trifft sich Talese mit dem Voyeur und lässt sich Foos‘ Aufzeichnungen in kleinen Teilen zukommen. Darin beschreibt Foos ausführlich die Sexualpraktiken seiner von ihm ausspionierten Gäste, konventionellen Sex zwischen Ehepartnern oder Geliebten, gleichgeschlechtlichen Sex, Gruppensex, Masturbation, einen signifikanten Anstieg von Oralsex nach dem Kinoerfolg des Pornofilms „Deep Throat“ (1972).
Bei der Durchsicht von Foos‘ Aufzeichnungen stellt sich Talese aber auch einige Fragen:
„Wieso hat er all das schriftlich festgehalten? Genügt es einem Voyeur nicht, Lust zu verspüren und ein Gefühl der Macht zu empfinden? Wozu der Akt der Niederschrift? War das eine Form der Kontaktaufnahme, indem Voyeure sich anderen offenbarten, wie es Foos zuerst mit seiner Frau und dann mit mir getan hatte, um sich schließlich als anonymer Chronist an ein größeres Publikum zu wenden?“ (S. 91) 
Talese, der in den frühen 1960er Jahren für die The New York Times geschrieben hatte, für seine im Esquire veröffentlichten Portraits über Joe DiMaggio, Dean Martin und Frank Sinatra berühmt geworden ist und als Mitbegründer des literarischen Journalismus zählt, zitiert in seinem Buch „Der Voyeur“ nicht nur ausführlich aus Foos‘ Briefen und Aufzeichnungen, sondern rekapituliert auch den persönlichen Hintergrund von Gerald Foos und muss immer wieder feststellen, dass er seiner Quelle nicht unbedingt glauben kann.
Immer wieder stößt er auf Ungereimtheiten in Foos‘ Darstellungen. Das betrifft vor allem einen Vorfall, der sich 1977 ereignet haben soll, bei dem Foos den Mord an einem seiner weiblichen Gäste beobachtet haben will. Zunächst dachte er, dass die Frau noch lebt, am nächsten Morgen wurde sie allerdings tot aufgefunden. Merkwürdig ist nur, dass Talese bei seinen Recherchen später keine Aufzeichnungen weder in den Medien noch bei den zuständigen Polizeistellen fand. Talese selbst wird, nachdem er in einem „New Yorker“-Artikel über sein geplantes Buch berichtet, vorgeworfen, durch sein Schweigen zu einem Mitverschwörer geworden zu sein.
Das Thema ist bei aller Unsicherheit über die Echtheit aller geschilderten Daten dennoch so interessant, dass Steven Spielberg sich sogleich die Filmrechte sicherte. Man mag von der voyeuristischen Praxis, die hier ausführlich geschildert wird, halten, was man will, aber „Der Voyeur“ bietet tatsächlich einen interessanten, gut geschriebenen Einblick in das Sexualverhalten der Amerikaner und den Wandel, den der Sex durch die Erfindung der Pille, Pornofilme und die Hippie-Bewegung erfahren hat.

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck 7) „Selfies“

Sonntag, 23. April 2017

(dtv, 576 S., HC)
Die Sozialarbeiterin Anne-Line Svendsen hat schon so einige schlechte Entscheidungen in ihrem Leben getroffen, auch in beruflicher Hinsicht. Da sie bei Männern stets die falsche Wahl getroffen hat, lebt sie als übergewichtiger Single in Kopenhagen und übt ihren Job zunehmend mit Widerwillen aus. Bei Sozial-Schmarotzern wie Michelle Hansen, Denise F. Zimmermann und Jazmine Jørgensen, die nicht bereit sind, für ihren Lebensunterhalt etwas zu tun und sich immer dreistere Tricks einfallen lassen, um das System zu hintergehen, dreht sich ihr der Magen um.
Nachdem ihr bei einer Routineuntersuchung Brustkrebs diagnostiziert wurde, scheint Anneli, wie sich selbst gern nennt, nichts mehr zu verlieren zu haben, und schmiedet einen perfiden Plan, die drei durch gemeinsames Schicksal geschmiedete Freundinnen, mit geklauten Autos zu überfahren. Auf der anderen Seite beschließen die drei jungen Frau, sich ebenfalls ihrer ätzenden Sachbearbeiterin zu entledigen …
Währenddessen steht Vizepolizeikommissar Carl Mørck unter besonderem Druck. Scheinbar sind unerklärlich niedrige Aufklärungsquoten des Sonderdezernats Q zum Polizeipräsidenten gelangt, so dass das im Keller untergebrachte Dezernat für ungelöste alte Fälle davorsteht, aufgelöst oder zumindest personell reduziert zu werden. Da erhält Mørck einen Anruf seines ehemaligen, mittlerweile pensionierten Kollegen Marcus Jacobsen, der einen Zusammenhang zwischen dem jüngsten Mord an der 67-jährigen Rigmor Zimmermann und einem ganz ähnlichen Fall erkennt, als vor zwölf Jahren die Lehrerin Stephanie Gundersen unter ähnlichen Umständen ums Leben kam. Interessanterweise war die Zimmermann die direkte Nachbarin von Rose Knudsen, der psychisch angeschlagenen, aber sehr geschätzten Kollegin in Mørcks kleinen Team. Als der vermeintliche Unfalltod ihres herrschsüchtigen und sadistischen Vaters wieder aufgerollt wird, geht es Rose so schlecht, dass sie sich das Leben nehmen will …
„Er seufzte. Ein unerträglicher Gedanke, dass diese Frau, die sie alle so gut zu kennen glaubten, mit so zerstörerischen, alles überschatteten Gefühlen zu kämpfen hatte. Gefühlen, die sie nur durch harsches Auftreten in den Griff zu bekommen glaubte.
Und trotz all der Düsternis in ihrem Innern hatte sie immer noch die Kraft gefunden, ihn, Carl, zu trösten, wenn er selbst niedergeschlagen war.“ (S. 191f.) 
Seit 2007 begeistert der dänische Schriftsteller Jussi Adler-Olsen die internationale Krimileserschaft mit seiner Reihe um Carl Mørck und dem von ihm geleiteten Sonderdezernat Q – allerdings in unterschiedlicher Qualität. Dass der siebte Band „Selfies“ leider der bislang unausgereifteste ist, liegt nicht nur an dem ambitionierten, aber missglückten Unterfangen, gleich fünf Mordfälle auf unterschiedlichen Ebenen aufzuklären, sondern gleich zu Anfang an der wenig überzeugenden und sehr klischeehaften Einführung der drei Unterschicht-Schlampen mit den dafür typischen Namen Michelle, Denise und Jazmine.
Wie die drei jungen Frauen zu Freundinnen werden und ebenso wie ihre Sachbearbeiterin gegenseitig Mordgelüste entwickeln, hat Adler-Olsen sehr oberflächlich inszeniert. Der Fokus auf diese unglaubwürdige Konstellation führt leider dazu, dass die anderen vom Sonderdezernat Q – teilweise in Zusammenarbeit mit der regulären Mordkommission aus dem zweiten Stock – bearbeiteten Fälle nur angerissen werden.
Vor allem das plötzliche Verschwinden von Rose und die Beschäftigung mit ihrem im Stahlwerk umgekommenen Vater erhält so nicht die Aufmerksamkeit, die die sympathische Rose mit ihren massiven psychischen Problemen verdient hätte. Zu allem Überfluss müssen sich Carl Mørck und Co. auch noch mit dem übereifrigen Fernsehteam von Station 3 herumplagen.
So bleiben nicht nur die übrigen Mitstreiter des Dezernats Q eher blass, sondern finden die einzelnen Fälle eher im Galopp ihre Auflösung.
Adler-Olsen würde sich in Zukunft sich selbst und seinen Lesern wie Kritikern sicher einen Gefallen tun, wenn er sich mehr auf seine sympathischen Ermittler des Sonderdezernats und auf weniger als eine Handvoll Fälle konzentrieren würde, um so mehr erzählerische Tiefe und Spannung zu erzeugen.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen - "Selfies"

Carlos Ruiz Zafón – „Das Labyrinth der Lichter“

Freitag, 21. April 2017

(S. Fischer, 944 S., HC)
Als im Dezember 1959 der Bildungsminister Don Mauricio Valls y Echevarría mit seiner Frau Doña Elena Sarmiento de Fontalva in ihrer Villa einen Maskenball veranstaltet und in derselben Nacht spurlos verschwindet, beauftragt der Leiter des Nationalen Polizeikorps, Don Manuel Gil de Partera, den routinierten Leondro Montalvo mit der Suche nach dem Minister, der von 1939 bis 1944 als Gefängnisdirektor im Castell de Montjuïc in Barcelona gedient hatte.
Montalvo wiederum setzt seine mit außergewöhnlichen Talenten gesegnete Ermittlerin Alicia Gris auf den Fall an, die er aus Madrid nach Barcelona schickt und entgegen ihrer Gewohnheit diesmal nicht im Alleingang agieren lässt, sondern ihr den Offizier Vargas an die Seite stellt.
In Valls‘ Schreibtisch findet Alicia das Buch „Das Labyrinth der Lichter VII. Ariadna und der Scharlachprinz“ von Victor Mataix, das zu einer achtbändigen Reihe gehört, die der Autor 1931 begonnen hatte und unter Sammlern mittlerweile horrende Preise erzielt.
Über den Buchhändler Gustavo Barceló und den Rechtsanwalt Fernando Brians erhält Alicia schließlich Kontakt zum Journalisten Sergio Vilajuana, der Mataix im Herbst 1938 kennengelernt hatte. Schließlich führen ihre Ermittlungen zur Buchhandlung Sempere & Söhne und den Autor Daniel Martin.
„Sie erinnerte sich an die vielen Nächte, die sie schlaflos verbracht hatte im Glauben, der Organist Maese Pérez streiche um Mitternacht vor ihrer Zimmertür herum, und mit dem Wunsch, wieder zu dem verzauberten Buchladen zurückzukehren, wo tausendundeine zu erlebende Geschichten auf sie warteten.“ (S. 369) 
Alicia kommt einem raffinierten Komplott auf die Spur, das bis in die höchsten Kreise des Franco-Regimes reicht. Ehe sie die Zusammenhänge zwischen Valls‘ mysteriösen Verschwinden und ihrem eigenen Schicksal erkennt, müssen etliche Beteiligte noch sterben und um ihr Leben bangen …
Nachdem der aus Barcelona stammende Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón zwischen 1993 und 1995 eine Fantasy-Trilogie und 1999 den alleinstehenden Roman „Marina“ veröffentlicht hatte, gelang ihm mit dem 2001 erschienenen und zwei Jahre später auch ins Deutsche übersetzten Roman „Der Schatten des Windes“ der internationale Durchbruch. Mit dem Auftakt einer Reihe, die sich um den „Friedhof der Vergessenen Bücher“ in Barcelona dreht, verknüpfte er auf fesselnde Weise die düstere Epoche der Franco-Herrschaft mit der Magie der Literatur und einer vielschichtigen Kriminalgeschichte.
Nach den Folgebänden „Das Spiel des Engels“ und „Der Gefangene des Himmels“ schließt Zafón seinen eindrucksvollen Zyklus mit dem epischen „Das Labyrinth der Lichter“ auf komplexe, aber doch nach wie vor fesselnde Weise ab. Der Leser begegnet vertrauten Figuren aus den vorangegangenen Bänden, mit der geheimnisvollen Alicia Gris aber eine seit ihrer Kindheit grausam gezeichnete, unnahbare wie verführerische Femme fatale, die in Montalvo einen Mentor gefunden hatte und unter ihm ihre unorthodoxen Fähigkeiten als Ermittlerin entwickeln konnte.
Ähnlich wie in den drei vorangegangenen Bänden gibt es in „Das Labyrinth der Lichter“ viel zu entdecken und zu entwirren, stellenweise sicher auch mehr, als zum vollen Genuss der geistreichen Lektüre vonnöten gewesen wäre.  
Zafón erweist sich nach wie vor als Meister der atmosphärisch dichten Schilderung sowohl der düsteren Milieubefindlichkeiten in den vierzig Jahren der Franco-Diktatur als auch den Straßen und Vierteln seiner geliebten Heimatstadt sowie den meist sehr sympathischen Charakteren, die oft über eine besondere Beziehung zur Literatur verfügen.
Zwar betont der Autor im Vorwort, dass jeder der vier Bände unabhängig von den anderen gelesen werden könne, doch für den Gesamteindruck macht die chronologische Lesefolge schon Sinn. An die Klasse des Weltbestsellers „Der Schatten des Windes“ kommt „Das Labyrinth der Lichter“ nicht heran. Allzu sehr verliert sich Zafón immer wieder in Nebenhandlungen und sprachlich zu verspielten Sequenzen und Dialogen, aber am Ende wird auch noch mal eine Linie zwischen den vier Bänden gezogen, die in ihrer Gesamtheit ein profundes Stück moderner spanischer Literatur darstellen. 
Leseprobe Carlos Ruiz Zafón - "Das Labyrinth der Lichter"

Richard Laymon – „Die Tür“

Mittwoch, 12. April 2017

(Heyne, 256 S., Tb.)
Bevor Richard Laymon in den 1990er Jahren mit Schockern wie „Das Treffen“, „Die Jagd“, „Das Spiel“ und „Rache“ zumindest in seiner Heimat zum Horror-Star avancierte, erschien 1980 mit „Haus der Schrecken“ nicht nur sein Debütroman, sondern gleichzeitig auch der Auftakt der „Keller“-Trilogie, die Heyne 2008 mit den dazugehörigen Romanen „Das Horrorhaus“ und „Mitternachtstour“ veröffentlicht hat. In Laymons Todesjahr 2001 erblickte schließlich mit „Friday Night in the Beast House“ ein abschließender vierter Band das Licht der Öffentlichkeit. Allerdings umfasst diese Story gerade mal gute 120 Seiten und wurde für die Heyne-Veröffentlichung unter dem Titel „Die Tür“ noch um die ebenso kurze Story „Die Wildnis“ (1998) ergänzt.
Der 16-jährige Mark Matthews überwindet endlich seine Schüchternheit und bittet seinen Schwarm Alison um ein Rendezvous. Die sagt überraschenderweise zu – allerdings nur unter der Bedingung, dass er ihr nachts Zugang zum legendären Horrorhaus in Malcasa Point verschafft. In diesem legendären Haus wurde 1903 nicht nur Ethel Hughes brutal ermordet, sondern über die Jahre hinweg viele weitere Menschen, deren schreckliches Ableben nun naturgetreu nachempfunden und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Tatsächlich gelingt es Mark, sich außerhalb der Öffnungszeiten in dem Haus zu verstecken und Alison später einzulassen. Doch sehr bald müssen die beiden Teenager bei ihrem Abenteuer feststellen, dass sie nicht allein sind. Offensichtlich treibt sich die legendäre Bestie, die für die brutalen Morde verantwortlich gemacht worden ist, noch immer in den Räumen des Horrorhauses herum.
„Bevor er einen Warnruf ausstoßen konnte, bevor er sich überhaupt bewegen konnte, hatte das Ding die Windjacke vor Alisons Brust gepackt und sie von den Knien gerissen. Sie schrie. Die Kerze fiel ihr aus ihrer Hand. Sie verschwand mit dem Kopf voraus im Loch, als würde sie hineingesogen. Im Nu steckte sie bis zur Hüfte in der Öffnung.“ (S. 111) 
Der Plot von „Die Tür“ gestaltet sich dabei ebenso konventionell wie die beschriebenen Horrorszenen. Die Figuren sind erschreckend eindimensional, die Spannung vorhersehbar gestaltet. Im Finale wird es sogar so absurd unglaubwürdig, dass man Laymon vorwerfen muss, dass er seiner voyeuristischen Fantasie etwas zu viel Auslauf gelassen hat.  
Jack Ketchum weist in seinem Vorwort zu „Die Tür“ zwar darauf hin, dass Laymon nie ein großer Stilist gewesen sei, aber von der sonst so lebendigen und authentisch wirkenden Sprache der besten Laymon-Titel ist „Die Tür“ ganz weit entfernt.
Das trifft leider auch auf „Die Wildnis“ zu, in der Ned Champion seinen Reisebericht von seinem Ausflug nach Lost River vorlegt. Der war eigentlich als Campingabenteuer mit seiner geliebten Cora geplant, doch nach dem Ende der Beziehung macht sich Ned allein auf den Weg durch die Wildnis. Nach anfänglicher Todesangst in der Nacht beginnt Ned schließlich sogar Gefallen an dem Alleinsein zu finden und beobachtet ahnungslose Wanderer. Vor allem die beiden Mädchen Gloria und Susie haben es ihm angetan. Als Ned allmählich der Proviant ausgeht, wird er mutiger und sucht die Schlafstätten seiner ausgekundschafteten „Opfer“ auf und kidnappt eines der Mädchen …
„Die Wildnis“ ist stilistisch ähnlich einfach gehalten, mit einem nicht sehr glaubwürdigen Plot versehen, der allenfalls als dünnes Gerüst für abartige Brutalitäten und Fantasien herhalten darf. Hier macht der Horror auch vor Hässlichen und Dicken nicht Halt! Um das ohnehin schmale Bändchen noch aufzublähen, liefert „Die Tür“ nicht nur das bereits erwähnte, aber wenig aussagekräftige Vorwort von Laymons Kollegen Jack Ketchum („Evil“, „The Lost“), sondern auch eine immerhin 25-seitige Leseprobe aus „Der Keller“ und das obligatorische kommentierte Werkverzeichnis der bei Heyne erschienenen Laymon-Titel.
Für die nächsten beiden Romane „Das Auge“ (1992) und „Das Ende“ (1999), die Heyne noch dieses Jahr veröffentlichen will, dürfen Laymon-Fans hoffentlich wieder bessere Geschichten erwarten …

Marlon James – „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“

Dienstag, 11. April 2017

(Heyne, 858 S., HC)
Am 3. Dezember 1976 stürmen sieben bewaffnete Männer in der Hope Road das Haus des jamaikanischen Reggae-Stars Bob Marley, das im noblen Viertel von Kingston liegt, und eröffnen das Feuer. Während Marleys Manager und Frau jeweils schwer verwundet werden, erleidet der Musiker selbst nur leichte Wunden an Arm und Brust. Scheinbar völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen nimmt er wenige Tage später an einem Friedenskonzert der PNP (People’s National Party) teil.
Die Attentäter selbst und die Hintergründe der Tat konnten bis heute nicht aufgeklärt werden.
Mit seinem dritten, 1985 sogar mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Roman „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ hat der aus Jamaika stammende und von Schriftstellern wie William Faulkner und James Ellroy beeinflusste Marlon James einen epischen Krimi inszeniert, der aufgehängt an dem Attentat auf Bob Marley vor allem über mehrere Jahrzehnte die komplexen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse auf der karibischen Insel vor Augen führt.
Allerdings bedient er sich dabei nicht der chronologischen Schilderung eines allwissenden Erzählers, sondern der sehr subjektiven Ich-Perspektive von gut siebzig fiktiven Zeitzeugen, die jeweils verschiedene Puzzlestücke zum Gesamtbild beitragen.
Interessanterweise wird Bob Marley stets nur als „der Sänger“ bezeichnet, auch das politisch-gesellschaftliche Umfeld, das Jamaika in den 1970er Jahren und danach geprägt hat, wird nicht eingehend beschrieben, sondern erschließt sich nur im Gesamtkontext durch hier und da eingestreute Bemerkungen, in denen es um den Konflikt zwischen der kommunistisch orientierten PNP und der pro-westlichen, ultrakonservativen rechten und von US-Präsident Ronald Reagan unterstützten Jamaican Labor Party (JLP).
Es geht aber auch um Drogen und den Einfluss der CIA, so dass Drogenkuriere, Gangsterbosse, Ghetto-Kids, Prostituierte, Agenten, ein Journalist vom „Rolling Stone“ und Auftragsmörder zu Wort kommen.
Bob Marley wird in diesem Kontext einerseits mythisch als Volksheld überhöht, andererseits als Mischling diffamiert, der sein Volk verraten, an gefälschten Pferdewetten beteiligt gewesen und nur nach Reichtum und Ruhm gestrebt haben soll.
„Da haben wir also den Sänger und zwei Gangster von einer politischen Partei, die er angeblich nicht unterstützt, und sie scheinen so dick befreundet zu sein wie alte Schulkumpel. In den nächsten Tagen wird er gesehen, wie er mit Shotta Sherrif herumhängt, dem Paten der Eight Lanes, der für die andere Partei arbeitet, die andere Seite. Die beiden Oberbosse in einer Woche, zwei Männer, die mehr oder weniger die sich bekämpfenden Hälften von Downtown-Kingston kontrollieren. Vielleicht gibt er ja einfach den Friedensstifter, schließlich ist er bloß ein Sänger. Aber so langsam versteh ich, dass in Jamaika niemand einfach nur irgendwas ist. Da ist was im Busch, ich kann’s schon riechen. Hab ich bereits erwähnt, dass in zwei Wochen gewählt wird?“, lässt beispielsweise der „Rolling Stone“-Journalist Alex Pierce verlauten, der vor allem im 1991 angesiedelten abschließenden Kapitel „Sound Boy Killing“ die Zusammenhänge etwas deutlicher werden lässt. (S. 92)
Bis dahin erlebt der Leser eine wahre Tour de Force an Grausamkeiten jeder Art, an derben Sprüchen und deftigem Humor, an (homo)sexuellen Fantasien und Praktiken, den unterschiedlichsten Sprechweisen und Slang-Ausdrücken wie Bombocloth, Battyman, Brethren, Busha, Naigger, Jamdown und Hataclaps.
Erst in der Gesamtschau entsteht ein ebenso thematisch wie gesellschaftlich vielschichtiges Jamaika-Portrait, dem einige grundlegende Hintergrunderläuterungen für das Verständnis sicher gutgetan hätten, aber durch die unmittelbare, ungeschminkte und facettenreiche Weise, die Hintergründe des Attentats aus unzähligen sehr persönlichen Perspektiven eher unzusammenhängend darzustellen, wirkt „Eine kurze Geschichte von sieben Morden“ sehr authentisch, verwirrend, bewegend, brutal, komisch und lässt damit Jamaika damit in einem Licht erscheinen, das mit bisherigen Vorstellungen über den karibischen Staat gründlich abrechnet. 
Leseprobe Marlon James - "Eine kurze Geschichte von sieben Morden"

Ian McEwan – „Kindeswohl“

Mittwoch, 5. April 2017

(Diogenes, 224 S., HC)
Die 59-jährige Fiona Maye ist eine angesehene Familienrichterin am High Court in London und seit dreißig Jahren mit dem 50-jährigen Geschichtsprofessor Jack verheiratet. Weil er noch einmal die große Leidenschaft und Ekstase erleben will, bahnt er eine Affäre mit der 29-jährigen Statistikerin Melanie an, will seiner Ehe aber zuvor noch die Chance geben, das alte Feuer wiederzubeleben. Fiona fühlt sich durch diese Konfrontation nur gedemütigt und stürzt sich umso mehr in ihre Arbeit. Insofern trifft es sich ganz gut, dass sie mit einem außerordentlich dringenden Fall betraut wird.
Der 17-jährige Adam Henry ist schwer an Leukämie erkrankt und könnte gerettet werden, wenn er neben der obligatorischen Medikamenteneinnahme auch eine Bluttransfusion bekäme.
Doch das lehnen seine Eltern aus religiösen Gründen streng ab. Bei den Zeugen Jehovas ist es verboten, fremdes Blut „in den Körper aufzunehmen“, wie es ihrer Meinung im griechischen und hebräischen Originaltext der Bibel heißt.
Zwar kann Adam in drei Monaten, wenn er 18 wird, selbst über seine ärztliche Behandlung entscheiden, doch bis dahin liegt es an Fiona, eine Entscheidung zu fällen, ob den Eltern gestattet werden darf, ihren Sohn aus religiösen Gründen qualvoll sterben zu lassen, oder ob dem Krankenhaus als klagende Partei gestattet werden darf, die erforderlichen lebensrettenden Maßnahmen einzuleiten.
„Entweder, dachte Fiona, während ihr Taxi auf der Waterloo Bridge im Stau stand, geht es hier um eine Frau am Rande eines Nervenzusammenbruchs, die sich von ihren Gefühlen zu einer beruflichen Fehlentscheidung hinreißen lässt, oder darum, ob ein Junge durch das Einschreiten eines weltlichen Gerichts dem Glaubenssystem seiner Sekte entrissen wird oder nicht. Beides zugleich schien ihr nicht möglich.“ (S. 99) 
Um sich selbst ein Urteil darüber zu bilden, ob sich der junge Mann der Konsequenzen seiner Entscheidung (und damit auch der Eltern) in Gänze bewusst ist, besucht Fiona den Patienten im Krankenhaus …
Wie gewissenhaft Fiona Maye mit den Scheidungen, Unterhalts- und Sorgerechtsfällen umgeht, die sie zu verhandeln hat, macht der in London lebende Bestseller-Autor Ian McEwan („Abbitte“, „Am Strand“) in seinem kurzen Roman „Kindeswohl“ mit vielen eindrucksvollen Beispielen deutlich, die die renommierte Juristin in der Vergangenheit verhandelt hat.
Besonders knifflig sowohl in juristischer als auch moralischer Hinsicht gestaltet sich die zeitlich drängende Entscheidung zum Kindeswohl bei dem Zeugen Jehovas Adam, bei dem die gewissenhafte Richterin sogar selbst mit dem todkranken Patienten spricht, um herauszufinden, wie sehr seine Einstellung von der religiösen Erziehung seiner Eltern abhängt, auch wenn sie sein eigenes Todesurteil bedeutet. Fiona fällt schließlich eine Entscheidung, die ungeahnte Konsequenzen mit sich bringt.
Die Stärken von „Kindeswohl“ liegen vor allem in der umfassenden Darstellung der Frage, wie zwischen säkularem und kirchlichem Recht entschieden werden soll, vor allem die minutiös beschriebene Gerichtsverhandlung mit der Argumentation beider Parteien stellt einen außergewöhnlichen Höhepunkt des Romans dar. Dagegen erscheint die weniger tiefgehende Ehekrise eher nebensächlich und weicht die Intensität des lebensbedrohlichen Dramas auf.
Auch die scheinbar wahllose Aneinanderreihung anderer an sich interessanter Fälle aus Fionas Gerichtspraxis wirkt der Dramaturgie der Erzählung etwas entgegen, aber ohne dieses aufbauschende Begleitmaterial wäre „Kindeswohl“ eben nur eine Kurzgeschichte geworden.
Leseprobe Ian McEwan - "Kindeswohl"

Andrea De Carlo – „Zwei von zwei“

Sonntag, 2. April 2017

(Diogenes, 449 S., HC)
Im November 1968 lernt Mario auf einem Gymnasium in Mailand Guido Laremi kennen, doch nach der ersten Begegnung, nach der Mario den ungefähr gleichaltrigen Jungen auf seinem Mofa nach Hause gebracht hat, sehen sich die beiden neun Monate lang nicht, in denen Mario sich in der niederdrückenden Stadt einfach nur langweilt und mit dumpfen Empfindungen ohne Antrieb und Interessen die Zeit an sich vorüberziehen lässt. Als Guido zu Beginn der Quinta allerdings in Marios Klasse versetzt wird und sich zu ihm an den Tisch setzt, freunden sich der schüchterne Mario und der von seinen Klassenkameraden so ganz verschiedene Guido schnell an.
Mit seinem außergewöhnlichen, romantischen Aussehen zieht Guido sofort die Aufmerksamkeit der Mädchen auf sich, Mario hofft in seinem Schlepptau auch auf die eine oder andere Liebelei. Gemeinsam erleben sie das Aufbegehren der Schüler und Studenten gegen das verkrustete Bildungswesen und gehen nach dem Abitur getrennte Wege. Mario studiert Philosophie und geht eine bürgerliche Beziehung ein, Guido lässt sich rastlos durch die Welt treiben, wechselt von einer Frau zur anderen und schreibt schließlich an seinem ersten Roman „Canemacchina“, in dem er voller Abscheu, Verzweiflung und Rachgier mit dem verhassten Mailand abrechnet.
Das Buch wird überraschenderweise ein voller Erfolg, von den Kritikern allerdings als Selbstportrait einer Lost Generation missverstanden. Nachdem sich Mario mit den Mitteln einer kleinen Erbschaft mit seiner Frau Martina auf dem Land eine autark lebende Gemeinschaft aufgebaut hat, treten die unterschiedlichen Lebensentwürfe der beiden Jugendfreunde immer deutlicher zutage.
„Zehn ganze Jahre lang waren Martina und ich in Le Due Case geblieben, hatten immer an ein und demselben Ort gearbeitet, Beziehungen hergestellt und Probleme gelöst, so sehr mit seiner Atmosphäre verwachsen, dass wir – abgesehen von der Stadt, aus der wir geflüchtet waren – ganz vergessen hatten, dass es auch noch andere Orte gab.“ (S. 369) 
Andrea De Carlo hat sich mit seinen ersten Büchern „Creamtrain“ und „Vögel in Käfigen und Volieren“ zum Sprachrohr seiner Generation gemacht und vor allem die sozialen und gesellschaftlichen Missstände in seiner Mailänder Heimatstadt seziert. Mit „Zwei von zwei“ knüpft er nahtlos an diese Thematik an, beschreibt zu Anfang minutiös die Bildungsmisere in der Stadt, die in lautstarken Protesten der Studenten mündete, und benutzt die zwei konträren Lebensentwürfe seiner Protagonisten Mario und Guido dazu, die Konsequenzen dieser zermürbenden Atmosphäre auf das Leben der Städter aufzuzeigen.
Während der Ich-Erzähler Mario sich radikal vom Stadtleben abwendet und eine Art selbstverwaltete Kommune auf dem Land ins Leben ruft, findet der rastlose Guido keinen Halt, weder in örtlicher noch persönlicher Hinsicht. Das Auseinanderdriften der beiden Freunde und ihrer Daseinsformen wirkt in der ersten Hälfte noch sehr interessant und spannend, reduziert sich dann aber zunehmend auf die allzu detaillierte Lebensweise auf dem Land, während Guidos Reisen durch die Welt und Entwicklung immer mehr in den Hintergrund geraten und nur noch durch seine sporadischen Briefe an seinen alten Freund thematisiert werden.
Die Lost Generation hat sich dann irgendwann auch auf dem Land verloren …