Dennis Lehane – „Am Ende einer Welt“

Freitag, 30. Oktober 2015

(Diogenes, 394 S., HC)
Mit seinen zwei Destillerien, einer Phosphatmine und Anteilen an verschiedenen Firmen in seiner Heimatstadt Boston zählt Joe Coughlin Anfang der 1940er Jahre in seiner Wahlheimat Ybor City nicht nur als einer größten Arbeitgeber und Investoren, sondern auch gütiger Spender und Wohltäter. Seine von ihm veranstalteten Partys sind legendär und vereinen wie selbstverständlich die prominenten Größen der halblegalen und legalen Gesellschaft.
Seit seine Frau verstorben ist, agiert Joe nur noch im Hintergrund als consigliere der Familie Bartolo, stellt aber so den Mittelsmann für das gesamte Verbrechersyndikat Floridas dar und kontrolliert darüber hinaus mit Meyer Lansky Kuba und den Transportweg für Rauschgift von Südamerika bis nach Maine.
Doch sein Leben als anerkannter Geschäftsmann und Vater des kleinen Tomas gerät in starke Turbulenzen, als er durch die wegen Mordes an ihrem Mann inhaftierte Theresa Del Fresco die Botschaft übermittelt bekommt, dass ein Killer auf ihn angesetzt ist. Da sich Joe überhaupt nicht vorstellen kann, wer ein Interesse daran haben könnte, sein Licht auszublasen, beginnt eine zermürbende Suche nach dem Killer …
„Natürlich hatte man schon früher versucht, ihn umzubringen, aber damals hatte es gute Gründe gegeben – ein Mentor war zu dem Schluss gekommen, dass Joe größenwahnsinnig geworden sei; davor waren es Mitglieder des Klan gewesen, denen es nicht besonders gefiel, dass ein bleicher Yankee ihnen im eigenen Revier zeigte, wie man richtig Geld machte; und davor war es ein Gangster gewesen, in dessen Freundin er sich verliebt hatte. All das waren gute Gründe gewesen.
Warum ich?“ (S. 138) 
Nach „In der Nacht“ erzählt der amerikanische Bestseller-Autor Dennis Lehane mit „Am Ende einer Welt“ die Geschichte der Coughlin-Familie, die in „Im Aufruhr jener Tage“ ihren Anfang nahm, weiter. Während es im Auftakt der Coughlin-Reihe um den aus dem Polizeidienst ausgeschiedenen Thomas Coughlin ging, der sein Glück in Hollywood versuchte, thematisierte „In der Nacht“ den Aufstieg seine jüngeren Bruders Joe zur Unterweltgröße in Lehanes Heimatstadt Boston.
In dem neuen Werk ist es nicht mehr Coughlin, der die Fäden in der Unterwelt zieht, sondern Dion Bartolo, aber in dem existentiellen Drama steht Coughlin einmal mehr ganz im Mittelpunkt des Geschehens. Wie Lehane die Fallstricke der mächtigen italienischen Familien knüpft, bietet einmal mehr ganz großes Kino, wie Lehanes Hollywood-Vorlagen „Gone, Baby, Gone“, „Mystic River“, „Shutter Island“ und die Drehbücher zu drei Folgen der gefeierten Serie „The Wire“ bereits dokumentiert haben.
Der preisgekrönte Bestseller-Autor trifft auch in „Am Ende einer Welt“ immer den richtigen Ton, beschreibt die unheilschwangere Atmosphäre der bleigetränkten Unterwelt von Ybor City so eindrücklich, als wäre man mittendrin. Das liegt nicht nur an der packenden Handlung, die ohne überflüssige Nebenplots auskommt, sondern auch an der feinen Charakterisierung der Figuren und der engen Familienbindungen, die im Ehrenkodex der Italiener tief verwurzelt sind.
Fortsetzung folgt – hoffentlich …
Leseprobe Dennis Lehane - "Am Ende einer Welt"

Jason Starr – „Phantasien“

Sonntag, 25. Oktober 2015

(Diogenes, 393 S., Pb.)
Auf der Dinnerparty im neuen, 2,6 Millionen Dollar teuren Haus der Lerners in Bedford Hills beobachtet Deb Berman, wie ihr Mann Mark – wenn auch nur kurz – die Hand ihrer gemeinsamen Nachbarin Karen Daily hält. Auf der Heimfahrt nach South Salem macht sie ihm eine Szene, verlangt, dass er sich von der geschiedenen Frau, die bereits durch ihre verschiedenen Internet-Bekanntschaften einen gewissen Ruf genießt, fernhalten soll, obwohl sie eine gemeinsame Freundin ist und ihre Kinder Elana und Matthew mit ihren eigenen, Riley und Justin, ebenfalls miteinander befreundet sind.
Unausgesprochen zwischen beiden bleibt, dass Mark sich tatsächlich nichts sehnlicher wünscht, als mit Karen zusammen zu sein, und auch fest davon überzeugt ist, dass Karen seine Gefühle erwidert. Deb wiederum unterhält eine Affäre mit dem 18-jährigen Highschool-Abbrecher Owen Harrison, der in dem örtlichen Country Club jobbt, wo die Bermans und Karen natürlich auch Mitglied sind.
Als Deb dort wenige Tage nach dem Streit Mark wieder mit Karen sieht, fliegen diesmal zwischen Karen und Deb die Fetzen. Auf einmal wird sich Deb aber auch bewusst, dass sie die Scheidung will und dass es keine gute Idee gewesen ist, eine Affäre mit Owen anzufangen …
„Zum ersten Mal, wurde ihr klar, sah sie ihn so, wie Riley und wahrscheinlich alle anderen ihn sahen – er hatte eindeutig etwas Abseitiges an sich. Er studierte nicht, wohnte bei seinen Eltern und hatte einen Aushilfsjob ohne Aufstiegschancen. Schlimmer noch, er hatte weder echte Interessen noch Ehrgeiz, und seine Persönlichkeit war nicht sonderlich interessant. Er war weder witzig noch klug, noch ein amüsanter Gesprächspartner. Aus ihrer neuen Perspektive als getrennte Frau konnte sie nichts besonders Faszinierendes an ihm erkennen.“ (S. 119) 
Der 1966 in Brooklyn geborene, immer noch in New York lebende Autor Jason Starr („Panik“, „Dumm gelaufen“) blickt mit seinem neuen, sehr humorvollen Thriller-Drama „Phantasien“ hinter die schillernden Kulissen eines wohlhabenden Vororts in New York, wo keine freundschaftliche wie amouröse Beziehung das ist, wonach sie aussieht.
Hinter den leuchtenden Statussymbolen schicker Häuser, teurer Autos, exklusiver Club-Mitgliedschaften und traditioneller familiärer Bindungen tobt in der Savage Lane nicht nur ein Zickenkrieg. Hier werden vor allem verbotene und gefährliche Begierden geweckt, verwirklicht, verheimlicht und abgetan, schließlich auch mit tödlicher Gewalt beendet.
Starr beschreibt die liebestollen Verwicklungen zwischen Teenagern und Erwachsenen in lockerem Ton, lässt zwischen den Zeilen aber jede Menge Sarkasmus durchsickern, der die großen Lebens- und Liebes-Lügen als zerstörerischen Selbstbetrug enttarnt.
Dass am Ende kaum jemand ohne Schaden aus dieser liebestollen Geschichte herauskommt, ist da nur konsequent.
Leseprobe Jason Starr - "Phantasien"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 16) „Sturm über New Orleans“

Dienstag, 20. Oktober 2015

(Pendragon, 576 S., Pb.)
Der in New Orleans als Polizist arbeitende Vietnam-Veteran und trockener Alkoholiker Dave Robicheaux hat bereits 1957 erlebt, wie Hurrikan Audrey über die Küste von Louisiana hereingebrochen war, und 1964 befand er sich im Auge von Hilda, die den Wasserturm von Delcambre aufs Rathaus stürzen ließ. Aber was Katrina mit seiner Stadt anrichtet, übersteigt jedes Grauen, das er bisher in seinem bewegten Leben erfahren musste. In diesem Chaos hat Robicheaux die Vergewaltigung an der 15-jährigen Thelma Baylor aufzuklären. Die Annahme, dass die Tat von den beiden Melancon-Brüdern und Andre Rochon begangen worden ist, scheint sich während der polizeilichen Ermittlungen zu verfestigen. Doch bevor die drei Kleinkriminellen dem Gesetz überführt werden können, rauben sie das Haus des schweren Ganoven Sidney Kovlick aus, der dafür bekannt ist, nicht gerade zimperlich mit den Leuten umzugehen, die ihm in die Suppe spucken.
Schließlich gibt Thelmas Vater, der Versicherungsvertreter Otis Baylor, zwei Schüsse auf die Verdächtigen ab, als sie gerade versuchen, ihr Diebesgut auf seinem Grundstück zu verstecken. Doch niemand will diesen Vorfall bezeugen, schon gar nicht Thelma.
Zu allem Überfluss hat Robicheaux noch die ehrgeizige FBI-Agentin Betsy Mossbacher an den Fersen und muss den verschwundenen Priester Jude LeBlanc auffinden, der zuletzt dabei gesehen wurde, wie er mit einer Axt ein Loch in das Dach einer Kirche schlug, um die darin eingesperrten Menschen zu befreien. Dazu kommen Blutdiamanten, al-Qaida und Falschgeld ins Spiel – und ein unheimlich wirkender Typ namens Ronald Bledsoe, aus dessen Poren das pure Böse zu strömen scheint.
„Angeblich sind wir eine christliche Gesellschaft oder zumindest eine, die von Christen begründet wurde. Unserem selbstgestrickten Mythos zufolge verehren wir Jesus, Mutter Teresa und den heiligen Franz von Assisi. Aber ich glaube, in Wahrheit sieht es anders aus. Wenn wir uns gemeinsam bedroht fühlen oder verletzt sind, wollen wir die Gebrüder Earp samt Doc Holliday holen, und wir wollen, dass die üblen Kerle abgeknallt, umgelegt, kaltgemacht und mit Bulldozern untergepflügt werden.“ (S. 377) 
James Lee Burke, einer der ganz Großen und Beständigen der Kriminalliteratur, der seit einigen Jahren in Deutschland nicht mehr veröffentlicht und erst durch den Heyne- und nun auch durch den Pendragon-Verlag wiederentdeckt worden ist, äußert bereits in seinem Gruß an seine deutschen Leser, dass „Sturm über New Orleans“ sein wütendstes Buch ist.
Indem er seinen beliebten wie sperrigen Protagonisten Dave Robicheaux diverse Fälle in dem von Hurrikan Katrina zerstörten New Orleans bearbeiten lässt, legt er in seiner präzise geschliffenen Prosa auch deutlich noch einmal den Finger in eine nach wie vor schwärende Wunde. Burke lässt in dem epischen Roman, der das Elend, das die keineswegs überraschende Naturkatastrophe über die Bevölkerung in New Orleans gebracht hat, keinen Zweifel daran, dass die Regierung für dieses unvorstellbare Ausmaß des Grauens verantwortlich gewesen ist, dass sich weiterhin die Wohlhabenden schadlos am Wiederaufbau halten werden.
In die eindringliche Schilderung der bedrückenden Atmosphäre der Verwüstung webt Burke eine vielschichtige Handlung, die er mit ganz unterschiedlichen Figuren bevölkert, die sich wiederum nur selten in schablonenhafte Kategorien einordnen lassen. Selbst die ehrenhaftesten Typen werden von schlimmen Träumen und Gelüsten geplagt. Burke, der selbst in Louisiana an der Ostküste aufgewachsen ist, versteht es, mit seinem gleichbleibend bedachten Erzählfluss die niederschmetternde Atmosphäre der Stadt, die Robicheaux‘ Freund Clete Purcel gern als „die Große Schmuddlige“ bezeichnet, in filmreifer Qualität abzubilden und dabei auch den mehr oder weniger latenten Rassismus ebenso zu thematisieren wie die Bösartigkeit unter den Menschen, die sich auch unter den Besten von uns einzunisten droht.
Dass der Pendragon Verlag ankündigt, in den kommenden Jahren weitere Robicheaux-Krimis des mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichneten Autors zu veröffentlichen, zählt wohl zu den schönsten Versprechen, die dieses Jahr in der literarischen Landschaft zu vernehmen gewesen sind.
Leseprobe James Lee Burke - "Sturm über New Orleans"

Jeffery Deaver - (Lincoln Rhyme: 11) "Der Giftzeichner"

Sonntag, 11. Oktober 2015

(Blanvalet, 573 S., HC)
Lincoln Rhyme denkt gerade über einen letzte Woche verübten Mord in Downtown nach, als er über den Tod zu sinnieren beginnt und über die Betrachtungsweisen über den Tod. Dass sein bislang schärfster Widersacher, der als „Uhrmacher“ bekannte Richard Logan, in seiner Haft an einem schweren Herzinfarkt gestorben ist, erfüllt Rhyme mit Trauer, denn nun blieb ihm die Möglichkeit verwehrt, Logans scharfen Intellekt und die präzisen Strukturen seiner Taten ergründen zu können. Doch dann wird Ryhmes Intellekt bei einem neuen Fall gebunden: Eine junge Frau wurde in einem Versorgungstunnel unterhalb des Modegeschäfts, in dem sie arbeitete, tot aufgefunden, das Wort „zweiten“ wurde ihr in ungewöhnlicher Fraktur-Schrift meisterhaft auf den Bauch tätowiert, allerdings nicht mit Tinte, sondern mit dem aus dem Wasserschierling gewonnenen Gift Cicutoxin.
Ein Motiv können Rhyme, Sachs und der ermittelnde Detective Lon Sellitto vom NYDP nicht ausmachen, aber als die nächsten Toten mit ähnlich rätselhaften wie todgiftigen Tätowierungen entdeckt werden, wird Rhyme klar, dass er persönlich von dem Täter herausgefordert wird, denn die Spuren am ersten Tatort führen zu dem kriminalsachlichen Buch „Serienstädte“, in dem Rhyme ein Kapitel gewidmet ist.
Offensichtlich scheint sich der Täter vom Knochenjäger inspiriert zu fühlen, der Rhyme und Sachs damals in die Schlagzeilen gebracht hat.
„Während Billy mit der American Eagle den überaus hübschen Bauch seines neuen Opfers bearbeitete, dachte er darüber nach, wie fasziniert er von Gottes persönlicher Leinwand war.
Haut.
Sie war auch Billys Leinwand, und er war so sehr auf sie fixiert, wie der Knochenjäger auf das Skelettsystem des Körpers fixiert gewesen war – was Billy interessiert bei der Lektüre von Serienstädte festgestellt hatte. Er respektierte die Besessenheit des Knochenjägers, aber ehrlich gesagt konnte er sie nicht ganz nachvollziehen. Haut war bei Weitem der aufschlussreichere Aspekt des menschlichen Körpers. Sehr viel zentraler. Viel wichtiger.“ (S. 243) 
Billy Haven wird mit seiner American-Eagle-Tätowiermaschine bereits im zweiten Kapitel als Täter eingeführt, erscheint im Vergleich zu früheren Serienmördern, mit denen es Lincoln Rhyme und Amelia Sachs in den zehn Fällen zuvor zu tun hatten, allerdings ziemlich blass. Das trifft leider auch auf den Plot zu, den Thriller-Bestseller-Autor Deaver auf den ersten 300 Seiten entwickelt.
Wenn der Leser Lincoln Rhyme und Amelia Sachs noch nicht aus früheren Büchern kennen sollte – was zugegebenermaßen sehr unwahrscheinlich ist -, wird er wenig über ihre Hintergründe und Geschichte erfahren. Auf der anderen Seite gibt es für langjährige Fans wenig Neues zu entdecken. Mit der Charakterisierung seiner Figuren hält sich Deaver wenig auf, stattdessen entwirft er eine routiniert strukturierte, aber wenig packende Mordserie, die einzig etwas über die Intention des Killers und die Wirkungsweisen pflanzlicher Gifte offenbart.
Seine Meisterschaft demonstriert Deaver erst im letzten Drittel von „Der Giftzeichner“, wenn sich die ach so überraschenden Wendungen förmlich überschlagen. Hier trägt Deaver dann doch etwas dick auf, wenn er die Handlung und Rhymes Schlussfolgerungen geradezu Purzelbäume schlagen lässt. Das ergibt wie gewohnt flüssig geschriebene, wendungsreiche Thriller-Unterhaltung, zählt aber mit den fast schon lieblos gezeichneten Figuren und dem arg konstruierten Finale sicher zu Deavers schwächeren Werken.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Giftzeichner"

Chris Carter – (Robert Hunter: 7) „Die stille Bestie“

Samstag, 10. Oktober 2015

(Ullstein, 445S., Tb.)
Sheriff Walton und sein Deputy Bobby Dale stillen wie jeden Mittwochmorgen in Noras Truck Stop Diner am Stadtrand von Wheatland im südöstlichen Wyoming ihren Hunger auf Süßes, als ein Pick-up auf das Diner zurast und dabei das Heck eines dunkelblauen Ford Taurus streift. Als sie das Unglück aus der Nähe betrachten, entdecken sie im aufgesprungenen Kofferraum des Fords die aus einer Kühlbox herausgekullerten Köpfe zweier Frauen.
Als Fahrzeugführer wird ein Liam Shaw ausgemacht, der wenig später vom FBI gefasst wird, aber nach seiner Festnahme kein einziges Wort von sich gibt. Schließlich verlangt er nach Robert Hunter, der nach seiner Dissertation mit dem Titel „Psychologische Deutungsansätze krimineller Verhaltungsmuster“ massiv vom FBI umworben wurde, aber schließlich als einfacher Detective beim LAPD seinen Dienst angetreten hat.
Als Adrian Kennedy, Leiter des Nationalen Zentrums für die Analyse von Gewaltverbrechen (NCAVC), Hunter zu sich nach Quantico bestellt, erfährt er bei der Gegenüberstellung mit dem Gefangenen, dass es sich dabei um seinen alten Studienfreund Lucien Folter handelt, mit dem er sich in Stanford an der psychologischen Fakultät ein Zimmer teilte. Zusammen mit Special Agent Courtney Taylor verhört Hunter seinen alten Freund und muss feststellen, dass sich dieser zu einem psychopathischen Killer entwickelt hat, der die Geheimnisse seiner Taten nur im Gegenzug von persönlichen Bekenntnissen seines Gegenübers zu lüften bereit ist. Zwischen den früheren Freunden entwickelt sich ein psychologisches Duell, das Hunter allzu bittere Wahrheiten über sein eigenes Leben offenbart. Doch wenn er Gerechtigkeit für all die Opfer von Lucien Folter will, muss er das Quid-pro-quo-Spiel nach den zermürbenden Regeln des Killers spielen …
„Hunter hatte seinen alten Freund schweigend beobachtet, seit er und Taylor bei der Zelle angekommen waren. An diesem Morgen wirkte Lucien noch siegessicherer und selbstherrlicher als tags zuvor, allerdings war das kaum verwunderlich. Er wusste eben genau, dass er am längeren Hebel saß. Er wusste, dass alle bis auf weiteres nach seiner Pfeife tanzen mussten, und das schien ihm eine enorme Genugtuung zu bereiten. Aber das war noch nicht alles. Da war etwas Neues zu Luciens Persönlichkeit hinzugekommen – eine brennende Leidenschaft, ja sogar Stolz, als sei es sein aufrichtigster Wunsch, dass alle Welt die Wahrheit über seine Taten erfuhr.“ (S. 149) 
Zählt man die ePub-Veröffentlichung „One Dead“ mit, stellt „Die stille Bestie“ den bereits siebten Fall des genialen Profilers Robert Hunter dar, dessen Dissertation, die er im Alter von 23 Jahren verfasst hat, zum Standardwerk an der FBI-Akademie zählt. Zugleich steht er in „Die stille Bestie“ vor seiner bislang größten Herausforderung, nämlich seinem ehemals besten Freund nicht nur das Handwerk zu legen und die Grabstätten seiner Opfer zu finden, sondern auch die schmerzlichen Offenbarungen zu verarbeiten, die während des Verhörs zutage treten und Hunters Leben auf den Kopf zu stellen drohen.
Von der Dramaturgie her erinnert „Die stille Bestie“ ein wenig an Thomas Harris‘ Meisterwerk „Das Schweigen der Lämmer“. Auch hier sitzt ein hochgradig intelligenter Killer, der keine Emotionen nach außen sichtbar werden lässt, bereits im Gefängnis und versucht durch sein Täterwissen etwas für sich auszuhandeln. Gegen Lucien Folter wirkt Hannibal Lecter allerdings wie ein Waisenknabe.
Chris Carter inszeniert mit „Die stille Bestie“ ein extrem dramatisches Psycho-Duell der Extraklasse, das seine Spannung nicht nur aus der ganz persönlichen Beziehung zwischen den Kontrahenten bezieht, sondern vor allem aus der unvorstellbaren Bösartigkeit, mit der Folter seine Taten geplant und durchgeführt hat.
Leseprobe Chris Carter - "Die stille Bestie"

Jo Nesbø – (Blood On Snow: 1) "Der Auftrag“

Sonntag, 4. Oktober 2015

(Ullstein, 187 S., Pb.)
Für vier Arten von Jobs ist der in Oslo lebende Olav nicht zu gebrauchen, wie er selbstkritisch einräumt. Demnach kann er weder Fluchtwagen fahren, noch Raubüberfälle ausüben, mit Drogen arbeiten oder mit Prostitution zu tun haben. Dafür hat er sich als Auftragsmörder einen Namen gemacht, der für den Gangster Daniel Hoffmann unliebsame Leute aus dem Weg räumt. Als Olav nach der erfolgreichen „Expedierung“ eines Mannes bei den verlassenen Lagerhäusern am Kai gleich den nächsten Auftrag von Hoffmann erhält, kommt es zu schwerwiegenden Komplikationen – denn das nächste Opfer soll ausgerechnet Hoffmanns Frau Corina sein.
Olav legt sich einige Tage gegenüber von Hoffmanns Wohnung auf die Lauer und beobachtet das schöne Objekt seines Auftrags dabei, wie es regelmäßig Besuch von einem jungen Mann bekommt, der Corina erst brutal schlägt und anschließend vergewaltigt. Olav nimmt daraufhin eine eigenständige Planänderung vor, die ihn teuer zu stehen kommt …
„Warum also war sie – die junge Ehefrau des größten Lieferanten von Ekstase – bereit, alles für eine billige Affäre mit jemandem zu riskieren, der sie noch dazu schlug?
Erst am vierten Nachmittag verstand ich es, und ich fragte mich, wieso ich so lange gebraucht hatte, um darauf zu kommen. Ihr Lover hatte etwas gegen sie in der Hand.
Etwas, womit er zu Daniel Hoffmann gehen konnte, wenn sie nicht tat, was er wollte.
Als ich am fünften Tag aufwachte, hatte ich einen Entschluss gefasst. Ich wollte auf Nebenstraßen ins Ungewisse fahren.“ (S. 36) 
Mit „Blood On Snow“ hat der norwegische Thriller-Bestseller-Autor Jo Nesbø eine neue Reihe ins Leben gerufen, die im Gegensatz zu den komplexen Fällen des Polizisten Harry Hole ebenso kurz wie prägnant und packend inszeniert sind. Im Auftakt der unzusammenhängenden Reihe um harte Männer, die folgenschwere Entscheidungen treffen müssen, erzählt Nesbø die Geschichte eines Auftragsmörders, dessen Gedanken immer wieder zu den Frauen in seinem Leben abschweifen, zu seiner Mutter, der taubstummen Maria und eben der geheimnisvollen Corina, der aber auch zusehen muss, wie er aus der kniffligen Lage, in die er sich durch seine Planänderung manövriert, heil herauskommt.
Nesbø hält sich in dem nicht mal 200 Seiten langen „Blood On Snow: Der Auftrag“ weder lang mit einer Einleitung noch mit ausführlichen Charakterisierungen auf. Das hat den Vorteil, die Handlung schnell vorantreiben und überraschende Wendungen einführen zu können, ohne auf die psychologische Stimmigkeit achtgeben zu müssen.
Leonardo DiCaprio hat sich bereits die Filmrechte an dem rasanten Stoff gesichert.
Leseprobe Jo Nesbø – „Blood On Snow: Der Auftrag“

James Carlos Blake – „Pistolero“

(Liebeskind, 431S., HC)
Als am 19. August 1895 im Acme Saloon in El Paso der Polizist John Selman die Waffe auf den Hinterkopf von John Wesley Hardin richtete und abdrückte, ist das Leben des wohl berüchtigsten Revolverhelden in Texas zu Ende gegangen. Darauf weist der einen Tag später im El Paso Daily Herald erschienene Artikel hin, der zur Einstimmung auf die Lebensgeschichte von Wes Hardin den Augenzeugenberichten vorangestellt ist, die chronologisch in einzelnen Episoden, die sie mit Hardin verbracht haben, die aufregende Geschichte eines Mannes erzählen, der seine Waffe gegen jeden zückte, der sein Leben bedroht hat – und nur dann!
Beginnend mit dem Bericht der Hebamme, die Hardin „in einem blutigen Sturzbach“ im Jahr 1853 zur Welt gebracht hat, erfährt der Leser zunächst, wie die Familie von Reverend Hardin ungefähr 1855 vom Red River nach Polk County gezogen ist, wo der Reverend nicht nur das Wort Gottes predigte, sondern auch in der Schule lehrte und als Anwalt praktizierte.
Gregor Holtzman, der die Familiengeschichte auf zwei Seiten zusammenfasst, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Hardins eine stolze Familie von guter Herkunft seien. Schon der Vater des Reverend, Benjamin Hardin, hat im Kongress von Texas gesessen und Augustine, ein Onkel des Reverends, hat die Unabhängigkeitserklärung mit unterschrieben.
In dieser geschichtsträchtigen Familie entwickelte auch Wes einen außerordentlichen Familien- und Gerechtigkeitssinn. Der wissbegierige Junge entwickelte früh ein Talent für die Arbeit der Cowboys, machte auch als Lehrer eine gute Figur und faszinierte die Frauen. Vor allem war er unglaublich schnell mit seinen Pistolen. Doch als er den Deputy Sheriff Morgan in DeWitt County tötet, wird aus dem geachteten Revolverhelden ein gesuchter Mann, der sich schließlich vor Gericht verantworten muss.
„Die Geschichte von Wes‘ Kampf mit der San-Antonio-Bande verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Sie stand in allen Zeitungen. Manche Leitartikel nannten ihn einen Helden, weil er sich der verhassten State Police und den feigen Vigilanten, den Bürgerwehrlern, die das Recht selbst in die Hand nahmen, gestellt hatte – andere hielten ihn für einen blutigen Desperado, der wie ein räudiger Hund abgeknallt oder an der größten Eiche in Texas aufgehängt gehöre.“ (S. 207) 
Nachdem der Münchener Liebeskind Verlag bereits den mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnete Buch „Das Böse im Blut“ des in Mexiko geborenen und in Texas lebenden Autors James Carlos Blake erstmals der deutschen Leserschaft bekannt gemacht hatte, erscheint dort nun auch das 1995er Debüt „Pistolero“.
Obwohl diese fiktionale Biografie aus der Perspektive von gut fünfzig Zeitzeugen des berüchtigten Revolverhelden erzählt wird, wirkt die Collage aus Erinnerungen, Zeitungsberichten und autobiografischen Bemerkungen wie aus einem Guss. Blake lässt in den Ausführungen von Verwandten, Prostituierten, Lehrern, Richtern, Anwälten, Barkeepern, Freunden und Verwandten das lebendige Portrait eines Mannes entstehen, der seine außergewöhnlichen Begabungen vor allem zum Wohl seiner Mitmenschen einsetzte und jedem Streit möglichst ohne Einsatz von Waffen aus dem Wege ging. In diesen Beschreibungen wird aber nicht nur das abenteuerliche Leben des Protagonisten dargelegt, sondern auch das raue Leben im Texas des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit den beschwerlichen Trecks, den Glücksspielen in den Hinterzimmern der Saloons und den Freuden, die Prostituierte den Männern bereiten konnten, facettenreich dokumentiert. Daran werden nicht nur Western-Fans ihre Freude haben.
Leseprobe James Carlos Blake - "Pistolero"

Richard Laymon – „Die Spur“

Freitag, 2. Oktober 2015

(Heyne, 464 S., Tb.)
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Rick den Urlaub mit seiner Freundin Bert(ha) im MGM Grand in Las Vegas oder im Hyatt in Maui auf Hawaii verbracht, auch eine Irland-Tour, eine Luxus-Kreuzfahrt nach Acapulco oder eine Dampferfahrt auf dem Mississippi standen zur Diskussion, doch Bert wollte unbedingt eine Wandertour in den Bergen der Sierra Nevada unternehmen. Als das junge Paar an einem Samstagmorgen aufbricht, weiß Bert noch nichts davon, dass Rick in seiner Kindheit miterleben musste, wie seine attraktive Stiefmutter Julie bei einem solchen Ausflug vergewaltigt und ermordet worden ist.
Und so beäugt Rick während des Wanderns jeden männlichen Fremden, denen sie unterwegs begegnen, mit übervorsichtigem Argwohn. Das ändert sich auch nicht, als neben den drei jungen Kerlen Jase, Luke und Wally, die sich Rick und Bert kurzzeitig anschließen, auch die beiden Mädchen Andrea und Bonnie ihre Wege kreuzen. Den Revolver, den Rick für den Notfall ohne Berts Wissen mitgenommen hat, sorgt schließlich für eine mehr als brenzlige Situation.
Währenddessen unternimmt die waghalsige Gillian O’Neill, selbst Eigentümerin einer zwanzig Wohneinheiten umfassenden Apartment-Anlage, einmal mehr eine Tour, die sie durch Häuser führt, deren Besitzer offensichtlich verreist sind. Nachdem sie das Objekt ihrer Begierde ausgekundschaftet hat, macht es ihr besonders viel Spaß, ein ausgiebiges Bad in dem verlassenen Haus zu nehmen und die persönlichen Dinge des Besitzers zu fotografieren.
Als sie das Haus von Frederick Holden in Beschlag nimmt, stellt sie sich seinem Nachbarn Jerry als Holdens Nichte vor und verbringt einen anregenden Nachmittag im Pool des attraktiven Nachbarn. Doch als Gillian beginnt, Holdens Videosammlung näher zu betrachten und schließlich ein mehr als verstörendes Fotoalbum findet, nimmt ihr Nervenkitzel eine bedrohliche Wendung …
„Entgegen ihrer besseren Einsicht ließ sie die Wanne mit Wasser volllaufen. Die Dampfwolken, die in ihr Gesicht stoben, ließen sie vor Erregung glucksen. Gillian wählte einen voluminösen Badeölspender, zog den Stöpsel und goss den Zusatz ins Badewasser. Fasziniert beobachtete sie, wie sich die amethystfarbene Flüssigkeit mit den blubbernden Strudeln vereinigte.
Zarter Fliederduft stieg in ihre Nasenflügel. Mmmm …
Als sie in das wohlriechende Wasser stieg, summte sie eine Melodie:
‚Keep young and beautiful …‘
Ja. Ganz klar. Das war die spektakulärste, faszinierendste, luxuriöseste, unvergesslichste, denkwürdigste Wanne gewesen, in der jemals ein Bad genommen hatte. Es war in jeglicher Hinsicht ihr bislang spektakulärstes, faszinierendstes und denkwürdigstes Eindringen gewesen.
Und das kürzeste, wie sich herausstellen sollte.“ (S. 126f.) 
Mit „Die Spur“ veröffentlicht Heyne Hardcore das letzte noch zu Lebzeiten des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon erschienene Werk „No Sanctuary“. Hier demonstriert der versierte Autor noch einmal seine Qualitäten als erstklassiger Spannungslieferant, dessen Werke sich mit ihren lebendigen Dialogen und attraktiven jungen Menschen wie Drehbücher zu Hollywood-Schockern lesen. Bei „Die Spur“ bekommt der Leser sogar zwei absolut parallel zueinander laufende Geschichten präsentiert, deren Handlungsstränge erst zum Finale zusammenlaufen. Bis dahin wechselt Laymon immer wieder geschickt von dem Wandertrip in den Bergen, den Rick und Bert unternehmen, zum Nervenkitzel, den Gillian im leeren Haus eines offensichtlichen Psychopathen erlebt.
Natürlich ist „Die Spur“ wie bei Laymon gewohnt mit einer Reihe erotischer Tagträumereien und tatsächlicher Handlungen ebenso gespickt wie mit brutaler Gewalt, doch nehmen sie nicht die exzessive Gestalt an, wie man es aus früheren Werken des produktiven Amerikaners kennt. Stattdessen beschränkt sich Laymon diesmal ganz auf die beiden Erzählstränge und den geschickten dramaturgischen Spannungsaufbau, was diesem Quasi-Testament gut zu Gesicht steht.
Leseprobe Richard Laymon - "Die Spur"