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Ray Bradbury – „Die goldenen Äpfel der Sonne“

Freitag, 15. März 2024

(Diogenes, 242 S., Tb.) 
Seit Ray Bradbury (1920-2012) im Jahr 1938 in der Zeitschrift Imagination! seine erste Geschichte veröffentlichte, folgten viele weitere Kurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften, bis 1947 sein erstes Buch erschien. Mit dem Erfolg der sozialkritischen „Mars-Chroniken“ (1950), mit denen Bradbury die Kolonialisierung des Planeten Mars und die Ängste der Amerikaner in den 1950er Jahren thematisierte, wuchs auch das Interesse an seinen Erzählungen. 
Eine der ersten Sammlungen veröffentlichte Doubleday 1953 mit „The Golden Apples of the Sun“, die 22 zwischen 1945 und 1953 entstandene Science-Fiction-Geschichten enthielt, die 1970 erstmals in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Geh‘ nicht zu Fuß durch stille Straßen“ erschienen und 1981 von Diogenes unter Verwendung des Originaltitels neu veröffentlicht worden ist. 
Die Geschichte „Der Fußgänger“ ist im Jahr 2053 angesiedelt und spielt in einer Dreimillionenstadt, die nur noch von einem Polizeiauto patrouilliert wird. Der Wagen fährt durch die verlassenen Straßen und gabelt mit Leonard Mead einen einsamen Mann auf, dessen Lieblingsbeschäftigung das Hinauswandern in die Stille ist. Da Mead über keinen Beruf verfügt, auch nicht über eine Frau, die ihm ein Alibi verschaffen könnte, soll er ins Psychiatrische Forschungszentrum für regressive Tendenzen gebracht werden… 
„Die Aprilhexe“ ist ein siebzehnjähriges Mädchen namens Cecy, die einer wundersamen Familie mit Zauberkräften entstammt und die Fähigkeit besitzt, ihren Körper zu verlassen und ihren Geist auf jedes erdenkliche Abenteuer zu entsenden. Sie schlüpft in den Geist von Ann Leary und lässt sie sich in den Jungen Tom verlieben, doch Tom bemerkt die Veränderung, die Ann durchmacht, und verliert das Interesse an ihr, was Cecy verzweifeln lässt. 
„Die Wildnis“ erzählt von den beiden Schwestern Janice und Leonora, die sich im Jahr 2003 darauf vorbereiten, die sechzig Millionen Meilen von Independence, Missouri, zum Mars zurückzulegen. Während Leonora voller Furcht ist, freut sich Janice darauf, endlich ihren Will wiederzusehen. Mit einem Anruf will sie ihren Liebsten über ihren Plan informieren, doch die Verbindung bricht schnell ab… 
In „Die Früchte am Grund der Schale“ versucht William Acton den Mord an Donald Huxley zu vertuschen, indem er systematisch alle Gegenstände und Flächen in Huxleys Haus zu säubern versucht. Währenddessen rekapituliert er, wie es zu diesem Mord gekommen ist… 
In „Die Flugmaschine“ wird im Jahr 400 Kaiser Yuan von einem Diener darüber informiert, dass er über der Chinesischen Mauer einen fliegenden Menschen gesehen habe. Als er den Mann vom Himmel herunterrufen lässt, will ihn der Kaiser vom Henker töten lassen… 
Die beste Geschichte präsentiert uns Bradbury aber mit „Das Nebelhorn“. An einem Novemberabend erzählt McDunn von dem Nebelhorn, das sie am Meeresufer hören, davon, wie seit drei Jahren einmal im Jahr zu ebendieser Zeit ein Ungeheuer aus den Tiefen des Meeres auftaucht und das Nebelhorn anschreit. 
„Das Nebelhorn blies. Das Ungeheuer antwortete. Ich begriff das alles, ich kannte das alles – die Million Jahre einsamen Wartens, dass jemand wiederkäme, der nie wiederkam. Die Million Jahre der Abgeschiedenheit am Meeresgrund, der Wahnsinn Zeit dort unten, während die Reptilien-Vögel von den Himmeln verschwanden, die Sümpfe auf den Kontinenten austrockneten, die Faultiere und Säbelzahntiger ihre Zeit erlebten und in Teergruben sanken und die Menschen wie weiße Ameisen über die Hügel liefen. Das Nebelhorn blies.“ (S. 17) 
Mit „Das Nebelhorn“, das noch im Erscheinungsjahr 1953 unter dem Titel „Panik in New York“ verfilmt worden ist, hat Ray Bradbury eine seiner poetischsten Geschichten geschrieben und damit auch seiner Faszination für die ausgestorbenen Dinosaurier zum Ausdruck gebracht, die er immer wieder mal in seinen Geschichten thematisierte. 
Neben der berührenden Vorstellung, wie ein Millionen von Jahren altes Meeresungeheuer mit einem Nebelhorn kommuniziert, ist es vor allem die magische, alle Vorstellungskraft befeuernde Sprache, die Bradbury wie kaum ein Zweiter beherrscht. Die übrigen Geschichten kommen allerdings selten an diese Qualität von „Das Nebelhorn“ heran. Oft sind es nur kurze Gedankenspielereien, fantastisch oder märchenhaft anmutende Episoden, die auch mal ohne richtige Pointe beendet werden, als hätte Bradbury am Ende die Lust verloren, die Geschichte weiterzuspinnen.


Ray Bradbury – „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“

Mittwoch, 6. März 2024

(Diogenes, 344 S., Tb.) 
Mit seinen verfilmten Werken „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und vor allem „Fahrenheit 451“ machte sich der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury (1920-2012) unsterblich und hinterließ seine Spuren in der Kriminalliteratur ebenso wie im Horror-Genre, am eindringlichsten aber sicher im weiten Raum der Phantastik und Science-Fiction. Neben seinen bekannten Romanen erwiesen sich gerade Bradburys Kurzgeschichten als reicher Fundus an originellen Ideen und überbordender Sprachkunst. 1988 erschien mit „The Toynbee Convector“ eine späte Sammlung, die in der deutschen Ausgabe von Diogenes nach der besten Geschichte des Buches betitelt wurde: Vorhang auf für „Die Laurel & Hardy-Liebesgeschichte“ und 22 weitere Geschichten. 
In der eröffnenden Titelgeschichte der Originalsammlung, „Der Toynbee-Konvektor“ bittet der Reporter Roger Shumway den einzigen Zeitreisenden Craig Bennett Stiles zum exklusiven Interview und erlebt eine erstaunliche Überraschung. 
In der leicht gruseligen Geschichte „Die Falltür“ entdeckt Clara Peck nach zehn Jahren, die sie in dem alten Haus schon lebt, plötzlich eine Falltür, die zu einem unbekannten Dachboden führt – und zu unheimlichen Geräuschen, die sie erst Mäusen, dann Ratten zuordnet, bis sie selbst nachsehen muss, was sie allmählich in den Wahnsinn zu treiben droht. Im „Orientexpress Nord“ wird die alte Miss Minerva Halliday auf der Fahrt von Wien über Paris nach Calais auf einen bleichen Mann aufmerksam, der an einer furchtbaren Krankheit dahinzusiechen scheint. Als gelernte Krankenschwester erkennt sie sofort, an was der gebrechliche Mann leidet – an Menschen. Nach zweihundert Jahren, die er in einem Dorf bei Wien im Schutz von Bücherregalen vor den Atheisten lebte, sei er nun auf dem Weg nach England, wo die Menschen nicht zweifeln, sondern noch glauben, an Mythen und Grablegenden und Erscheinungen aus dem Reich des Unsichtbaren. Die Krankenschwester beschließt, den Mann auf seiner Reise zu begleiten… 
„Eine Nacht im Leben“ begleitet einen Mann auf seiner Reise nach New York, wo er über ein Stück für den Broadway sprechen soll, das nicht schreiben will, eigentlich aber davon träumt, in einer Frühlingsnacht mit einem Mädchen Hand in Hand irgendwohin spazieren zu gehen und in die Sterne zu sehen. 
„Es gibt keine Worte für so eine Nacht. Wir würden uns nicht einmal anschauen. Wir würden in der Ferne die Lichter der Stadt sehen und wissen, dass andere vor uns auf andere Hügel gestiegen sind, und dass es auf der Welt nichts Besseres gibt. Man könnte auch nichts Besseres machen; alle Häuser und Bräuche und Sicherheiten der Welt sind gar nichts gegen eine solche Nacht. Die Städte, die Menschen bei Nacht in den Zimmern der Häuser dieser Städte, die sind das eine; die Hügel und die freie Luft und die Sterne und das Händehalten, das ist das andere.“ (S. 64) 
In der Titelgeschichte der deutschen Ausgabe stehen die Comedy-Stars Stan Laurel und Oliver Hardy nur als Pate für eine außergewöhnliche Geschichte über einen Mann und eine Frau, die sich plötzlich auf einer Cocktail-Party begegnen und sich durch ihre gemeinsame Vorliebe für die beiden Komiker ebenfalls Laurel und Hardy nennen. 
Und so schafft Bradbury mit jeder weiteren Geschichte neue Welten, in der das Phantastische, das Ungeheuerliche, das Unvorstellbare einzieht und die Protagonisten zu kühnen Unterfangen und furchtlosen Träumen animieren. Nicht immer sind die Pointen überzeugend geglückt, und immer mal wieder gefällt sich Bradbury zu sehr in seiner grenzenlos erscheinenden Fabulierkunst, aber oft genug gelingt es ihm, bei seinem Publikum ein Tor in andere Welten zu öffnen, der Fantasie ihren freien Lauf zu lassen.


Ray Bradbury – „Das Kind von morgen“

Mittwoch, 7. Februar 2024

(Diogenes, 368 S., Tb.) 
Mit teils auch großartig verfilmten, zu Klassikern avancierten Werken wie „Fahrenheit 451“, „Der illustrierte Mann“, „Die Mars-Chroniken“ und „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ hat sich Ray Bradbury (1920-2012) weit über die Grenzen der Science-Fiction hinaus einen Namen als brillanter, sprachgewaltiger Erzähler gemacht. Auch in der 1969 im Original als „I Sing the Body Electric!“ veröffentlichten und hierzulande zunächst als „Gesänge des Computers“ und „Die vergessene Marsstadt“, zuletzt als „Das Kind von morgen“ erschienene Sammlung von 17 zwischen 1948 und 1969 entstandenen Kurzgeschichten erweist sich Bradbury als Meister fantasievoller Gedankenspiele, die sich letztlich auf die tiefsten Emotionen eines Menschen zurückführen lassen. 
Mit der ersten Geschichte „Das Kilimandscharo-Projekt“ lädt der Ich-Erzähler einen Jäger ein, seine Zeitmaschine zu nutzen und damit nach Afrika ins Jahr 1954 zu reisen. „Die schreckliche Feuersbrunst drüben im Landhaus“ erzählt von vierzehn Männern, die sich mitten in den gesellschaftlichen Unruhen auf den Weg zum Anwesen von Lord Kilgotten machen, um sein Haus niederzubrennen. Allerdings gehen sie dabei viel zu höflich vor, um ihr Vorhaben auch umzusetzen. Sie verhalten sich leise, um nicht die Dame des Hauses zu wecken, ziehen die Schuhe aus, um die wertvollen Teppiche nicht zu verschmutzen, und lassen sich sogar dazu überreden, das Haus erst abzufackeln, wenn der Lord mit seiner Gemahlin zur Premiere eines Stückes nach Dublin abgereist ist. Als auch noch einige wertvolle Kunstwerke zur Sprache kommen, die der Brand zerstören würde, gerät das Vorhaben der Freiheitskämpfer endgültig ins Wanken. Zu den eindrucksvollsten Geschichten zählt die Titelgeschichte der von Diogenes herausgegebenen Ausgabe mit dem Titel „Das Kind von morgen“. Hier müssen sich Peter Horn und seine Frau mit der Tatsache anfreunden, dass ihr von Dr. Walcott entbundenes Kind die Form einer blauen Pyramide hat. Durch eine Distruktur der Dimensionen ist das Kind in eine andere Dimension hineingeboren worden, aber ansonsten ganz normal – nur dass es seine Eltern als weiße Würfel wahrnimmt. Als der Versuch der Wissenschaftler scheitert, das Kind aus seiner Dimension herauszuholen, müssen sich die Eltern entscheiden, ob sie stattdessen in die Dimension ihres Kindes überwechseln. 
„Die Frauen“ handelt von dem Urlaub eines Ehepaars am Strand, das durch im Meer erwachte Wesen auf eine harte Probe gestellt wird. Während es den Mann am letzten Tag des Urlaubs noch einmal ins Wasser zieht, lässt sich seine Frau allerhand Dinge einfallen, ihn davon abzuhalten, weil sie Sorge trägt, dass er ihrer überdrüssig geworden sein könnte und sich zu sehr den vermeintlich weiblichen geheimnisvollen Wesen im Wasser hingezogen fühlt. 
Die wahrscheinlich bekannteste Geschichte des Bandes ist die durch ein Gedicht von Walt Whitman inspirierte Titelgeschichte der amerikanischen Originalausgabe. „Ich singe den Leib, den elektrischen“ handelt von dem Einzug der Großmama von Timothy, Agatha und Tom, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Der Vater der drei Kinder bestellt eine Oma bei der Fantoccini GmbH, die damit wirbt, die erste humanoide mikro-elektrische wiederaufladbare Elektrische Großmutter perfektioniert zu haben. Während die beiden Jungs die neue Großmutter schnell ins Herzu schließen, ist Agatha noch zu sehr vom Verlust ihrer Mutter gepeinigt, um die neue Oma akzeptieren zu können. Doch mit ihrer weisen Art findet die Elektrische Oma schließlich auch einen Zugang zu Agatha. 
„,Und obwohl der Streit noch hunderttausend Jahre weitergehen mag: Was ist Liebe? werden wir vielleicht herausfinden, dass Liebe die Fähigkeit von jemandem ist, uns uns selbst zurückzugeben. Vielleicht ist es Liebe, wenn jemand begreift und sich daran erinnert, uns wieder an uns selbst auszuhändigen, eine Kleinigkeit besser, als wir zu hoffen oder träumen gewagt hätten.‘“ (S. 228f.) 
In „Die verschwundene Marsstadt“ macht sich ein Trupp von ausgesuchten Gästen auf Einladung von I.V. Aaronson auf den Weg zu einer 4-Tage-Reise zum Mars, um das Geheimnis einer verschwundenen Stadt zu lüften… 
Ray Bradbury entführt uns mit seinen Geschichten einmal mehr in vermeintlich fremde Welten, doch egal, in welche Zeiten und an welche Orte er uns entführt, geht es doch immer um zutiefst menschliche Sehnsüchte und Emotionen. Durch seine bildhafte Sprache entzündet der begnadete Autor den Funken der Fantasie bei seinem Publikum, konfrontiert ihn mit betörenden Märchen, die die Melancholie der Trauer und des Erinnerns ebenso lebendig werden lässt wie das Gefühl größter Zärtlichkeit, inniger Liebe und ganz natürlichen Wünschen. 
„Bradburys Stärke liegt darin, dass er über die Dinge schreibt, die uns wirklich wichtig sind – nicht die Dinge, für die wir uns angeblich interessieren: Wissenschaft, Ehe, Sport, Politik, Verbrechen“, wird Damon Knight auf der Rückseite des Buches zitiert. „Er schreibt über die fundamentalen Ängste und Sehnsüchte: die Wut, geboren zu sein; der Wunsch, geliebt zu werden; das Verlangen, sich mitzuteilen; der Hass auf Eltern und Geschwister; die Angst vor Dingen, die nicht wir selber sind…“ 
Besser kann man Bradburys Werk kaum zusammenfassen. 

 

Robert Bloch/Ray Bradbury – „Der Besucher aus dem Dunkel“

Samstag, 24. Oktober 2020

(Heyne, 126 S., Tb.) 
Robert Bloch hat sich in den 1950er Jahren als Autor von Krimis wie „Die Psycho-Falle“, „Werkzeug des Teufels“, „Shooting Star“ und natürlich durch die Verfilmung von Alfred Hitchcock berühmt gewordenen „Psycho“ einen Namen gemacht, aber auch immer wieder Beiträge zum Horror-Genre abgeliefert – wie „Der Ripper“ oder seine Geschichten, die auf H.P. Lovecrafts bekannten Cthulhu Mythos aufbauen. Ray Bradbury wiederum hat ebenfalls beginnend in den 1950er Jahren seinen Ruf als herausragender Autor auf dem Gebiet der Science Fiction, aber auch des Krimis und der Phantastik aufgebaut und 1951 mit „Fahrenheit 451“ einen modernen Klassiker geschaffen, der bis heute Pflichtlektüre in den Schulen geblieben ist. 
1972 hat der Heyne Verlag mit „Der Besucher aus dem Dunkel“ insgesamt zehn Storys der beiden Großmeister der Phantastik veröffentlicht, wobei die vier Geschichten aus den Jahren 1945 bis 1948 stammen, die Herkunft der sechs Beiträge von Robert Bloch ist nicht näher ausgewiesen, abgesehen von der eröffnenden Titelgeschichte, die Bloch 1950 im Zuge seiner Verehrung für H.P. Lovecraft veröffentlicht hat. Darin begibt sich Edmund Fiske von Chicago nach New York, wo seine fünfzehnjährigen Nachforschungen ihr Ende finden sollen. Sein enger Freund Robert Harrison Blake war im August 1935 verstorben, nachdem er einer losen Gruppe von Lovecraft-Verehrern angehört hatte, die gelegentlich im Hause Lovecrafts in Providence zusammengekommen waren. Blake hatte damals eine verfallene schwarze Ruine auf dem Federal Hill untersucht und ist dabei – wie zuvor schon ein Reporter des Providence Telegram - unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Blake fand in den halbverfaulten Kleidern des Reporters allerdings ein Notizbuch, in dem von Professor Bowen die Rede gewesen ist, der in der Grabkammer des „vergessenen Pharao“ Nefren-Ka auf ein ungewöhnliches Fundstück gestoßen war und nach seiner Rückkehr aus Ägypten in Providence 1844 eine frühere Baptistenkirche erwarb und eine religiöse Kultgemeinde gründete, die „den Besucher aus dem Dunkel“ verehrten. Fiskes Spurensuche findet bei dem mysteriösen Dr. Dexter ein unrühmliches Ende … 
Ray Bradbury erzählt in „Der Besucher“ die Geschichte des Naturforschers und Zoologen William Tinsley, der wie besessen Insekten mit Fliegenklatsche und Gift vernichtete, weil 99 Prozent des Lebens auf der Erde das Leben von Insekten sei. Doch seine Angst, dass die Milliarden von Insekten ihre Objekte überprüfen und die Menschheit kontrollieren würden, macht einer viel erschreckenderen Erkenntnis Platz. In Blochs „Der grinsende Ghul“ berichtet ein erfolgreicher Psychiater, wie er eines Tages von einem College-Professor konsultiert worden ist, der nachts von schrecklichen Alpträumen geplagt wird, in der eine große, alte Gruft im zentralen Teil des Friedhofs die zentrale Rolle spielt. In seinen nächtlichen Visionen betritt der Mann die Gruft, bewegt sich durch die labyrinthartigen Gänge und stößt auf sogenannte Leichenfresser, Ghuls. Der Psychiater nimmt seinem Patienten das Versprechen ab, gemeinsam mit ihm den unheilvollen Ort seiner Träume aufzusuchen. 
„Reihen kolossaler Stalaktiten hingen von der Decke, und von unten wuchsen ihnen Stalagmiten entgegen, deren Basen Durchmesser von eineinhalb Metern und mehr aufwiesen. Jenseits führten schwarze Öffnungen in andere Höhlen und Spalten. Eine beklemmende Faszination überkam mich, ein langsames kriechendes Entsetzen gemischt mit Neugier. Es schien mir, dass wir mit unserem Eindringen Geheimnisse entweihten, die besser verborgen geblieben wären.“ (S. 42) 
Mit ihren zehn Geschichten entführen Robert Bloch und Ray Bradbury ihre Leser in Abgründe des Grauens, lassen ihre Protagonisten mit einem Toten, dem niemand glaubt, dass er tot ist (Ray Bradburys „Der tote Mann“), Werwölfen (Robert Blochs „Der Werwolf“) und Hexen (Robert Blochs „Eine Frage der Etikette“) zusammentreffen und rufen allzu menschliche Ängste vor dem Unerklärlichen, dem Sterben und den Mächten der Finsternis wach. Diese Kunst beherrscht kaum jemand so glaubwürdig und packend wie diese beiden Ausnahme-Autoren.


Ray Bradbury – „Fahrenheit 451“

Samstag, 13. Juni 2020

(Diogenes, 228 S., HC)
In einer unbestimmten Zukunft leben die Menschen in einer totalitären Gesellschaft, in der die Feuerwehr nicht mehr damit beauftragt wird, Feuer zu löschen, sondern Bücher zu verbrennen. Die darin vermittelten Gedanken wurden vom politischen System nämlich dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Menschen ihrer Individualität bewusst geworden sind, so dass Andersartige und -denkende diskriminiert, ausgebeutet und in Kriegen bekämpft wurden. Diese Entwicklung hat man nicht nur durch das Verbot des Besitzes von Büchern in den Griff bekommen, sondern auch durch die massenhafte Verbreitung von Rauschmitteln und Videoleinwänden, die für unangestrengte Zerstreuung sorgen. Einer dieser Feuerwehrmänner ist der 30-jährige Guy Montag, der mit seinen Kollegen immer dann ausrückt, wenn irgendwo in der Stadt verbotene Bücher ausfindig gemacht worden sind. Während sich die Feuerwehr um die Bücher kümmert, sorgen mechanische Spürhunde dafür, dass die bücherbesitzenden Staatsfeinde aufgespürt und festgesetzt bzw. sofort getötet werden.
Doch als er eines Nachts beim Spazierengehen die 17-jährige Clarisse McClellan kennenlernt, gerät sein systemkonformes Denken ins Wanken. Nicht nur ihr weltoffenes, neugieriges Wesen irritiert Montag, sondern letztlich die Frage, ob er glücklich sei, denn er kann sich weder erinnern, wie er seine Frau Mildred überhaupt kennengelernt hat, noch was an ihr besonders liebenswert sein soll, da sie über keine nennenswerte Eigenschaften verfügt.
Als Mildred auch noch an einer vermeintlich versehentlichen Überdosis Beruhigungspillen beinahe stirbt und Montag bei einem seiner Einsätze erleben muss, wie eine Frau sich lieber mit ihren Büchern verbrennen lässt, als sich dem System zu unterwerfen, lässt sich Montag krankschreiben und wird von seinem Captain Beatty besucht, der ihn darüber aufklärt, wie das rapide Bevölkerungswachstum mit den zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden Massenmedien wie die Fotografie, das Fernsehen und der Rundfunk dafür sorgten, dass sich die Medien auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner einigen mussten und literarische Klassiker wie politische Diskurse auf Zusammenfassungen von Zusammenfassungen reduziert wurden. Unter der Last des Beruflebens wurde das Lernen vernachlässigt, Vergnügungen in Form von Sportveranstaltungen, Cartoons in Buchform und Filmen in Massen produziert. Da das Unvertraute Grauen verursachte und ‚intellektuell‘ zu einem Schimpfwort wurde, musste jeder gleich gemacht und damit glücklich gemacht werden, denn wo es nichts mehr Überragendes gab, musste man sich nicht mehr miteinander messen.
Doch Montag gibt sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden und beginnt, Bücher in seine Wohnung zu schmuggeln, um sie mit Mildred zu lesen. Doch Mildred ist alles andere als davon angetan, so dass sich Montag Unterstützung bei dem pensionierten Literaturprofessor Faber holt. Als seine Frau ihn schließlich denunziert und Montag seinen Vorgesetzten in Brand setzt, wird er zur Flucht in die nahe gelegenen Wälder gezwungen, wo er auf eine Gruppe von Dissidenten stößt, die Montag in ihre Mitte nehmen.
„In der kommenden Woche werden wir eine Menge einsamer Menschen treffen, und den ganzen nächsten Monat und das ganze nächste Jahr. Und wenn man uns fragt, was wir eigentlich tun, könnt ihr sagen: ‚Wir erinnern uns.‘ Damit werden wir uns auf Dauer durchsetzen. Und eines Tages erinnert sich der Mensch an so viel, dass er den größten Bagger aller Zeiten herstellt und das größte Grab aller Zeiten aushebt und den Krieg hineinbefördert und das Ganze zuschüttet.“ (S. 213) 
In der Neuausgabe zum 50. Jubiläum dieses dystopischen Klassikers der Science-Fiction-Literatur hat Ray Bradbury sowohl im neuen Vorwort als auch im Nachwort eindringlich geschildert, wie er natürlich durch die Bücherverbrennung im Hitler-Deutschland, die Gerüchte über Stalins Streichholzmänner und die Hexenjagd von Salem einerseits, von der römischen, griechischen und ägyptischen Mythologie andererseits zu „Fahrenheit 451“ inspiriert wurde, einem Konglomerat aus den fünf Kurzgeschichten „Scheiterhaufen“, „Strahlender Phönix“, „Die Verbannten“, „Usher II“ und „Der Fußgänger“, das zunächst als 25.000 Wörter umfassende Novelle „The Fire Man“ 1951 in Galaxy Science Fiction veröffentlicht wurde und nach der Verdoppelung der Wortanzahl schließlich 1953 als Roman „Fahrenheit 451“ das Licht der Welt erblickt.
Auch wenn das Streben des politischen Systems nach in jeder Hinsicht betäubten Gesellschaft in Bradburys Klassiker thematisiert wird, geht es dem 2012 verstorbenen Schriftsteller vor allem um die Gefahr, die den Büchern durch niveaulose Massenmedien droht, wie er im Nachwort betont. Seit der früh eingeführten Begegnung zwischen Montag und dem aufgeweckten Mädchen Clarisse macht Bradbury in „Fahrenheit 451“ (bekanntermaßen ist der Titel der Temperatur abgeleitet, bei der Papier Feuer fängt und verbrennt) deutlich, welch mannigfaltige Gefühle und Denkweisen und Geschichten Romane, Gedichte und auch Sachbücher beim Leser erwecken und so dazu anleiten, einen eigenen Sinn im Leben zu finden und sich selbst und sein Denken im Spiegel anderer Menschen und ihren Gedanken und Gefühlen zu reflektieren. Dabei findet Bradbury stets selbst wunderschön poetische Worte, um auf der einen Seite die trostlose Welt der konturlosen Menschen in einem totalitären System und auf der anderen Seite die mannigfaltigen Sinneseindrücke und Gedankengänge weltoffener und nachdenkender Bürger darzustellen. Ein Blick auf die geopolitische Weltkarte zeigt, dass Bradburys Werk leider nach wie vor sehr aktuell ist.

Ray Bradbury – „Der illustrierte Mann“

Montag, 8. Juni 2020

(Diogenes, 317 S., Tb.)
Während seiner zweiwöchigen Wanderschaft durch Wisconsin begegnet dem namenlosen Ich-Erzähler an einem warmen Nachmittag Anfang September auf einer einsamen Landstraße ein großer Mann mit langen Armen und dicken Händen. Er sei auf der Suche nach einem Job, eröffnet der Unbekannte dem Erzähler, seit vierzig Jahren habe er keinen dauerhaften Job mehr gehabt. Wenig später erfährt der Erzähler auch den Grund: Als sich der Mann mit dem kindlichen Gesicht seiner viel zu warmen Kleidung entledigt, kommen Tätowierungen ans Tageslicht, die den ganzen Körper des Mannes bedecken. Das Problem sei, erklärt der Tätowierte, dass sich die Bilder nachts zu bewegen beginnen, die ihm vor fünfzig Jahren von einer alten Hexe gemacht worden waren.
Letztlich sind achtzehn Geschichten in den Tätowierungen verborgen. So leben die Menschen in der Zukunft in schalldichten Lebensglück-Häusern, die die Aufgaben der Hausfrau, Mutter und Kindermädchen übernehmen und dessen zwölf mal zwölf Meter großes und neun Meter hohes Kinderzimmer das Prunkstück darstellt. George Hadley und seine Frau Lydia sind beunruhigt, dass ihre Kinder Peter und Wendy mittels telepathischer Gedankenströme eine lebensechte afrikanische Steppe haben entstehen lassen, der sie sich nicht mehr entziehen wollen, seit ihre Eltern ihnen verboten hatten, mit der Rakete nach New York zu fliegen. Dafür rächen sich sie sich jetzt auf ihre Weise …
Vor allem geht es aber um Reisen in den Weltraum. In „Kaleidoskop“ werden Raumfahrer, nachdem ihr Schiff von einem Kometen getroffen und aufgeschlitzt worden ist, in den Weltraum hinausgeschleudert und in verschiedene Richtungen getrieben. Während sie immer schneller auseinandertreiben, bleiben sie zunächst noch über Funk verbunden. Zwischen dem Kommandanten Hollis und Applegate werden lange währende Animositäten ausgesprochen. Lespere wiederum blickt zufrieden auf sein Leben zurück, der auf dem Mars, der Venus und dem Jupiter jeweils reiche Frauen hatten, die ihn verwöhnten. Als Stone von einem Meteorenschwarm mitgerissen wird, beginnt Hollis mit Reue auf seine Verfehlungen zurückzublicken …
Andere Geschichten wie die Apartheit thematisierende Story „Die andere Haut“, die religiös motivierte Erzählung „Der Mann“, „Der Raumfahrer“, „Die Feuerballons“ oder „Der Besucher“ entwickeln verschiedene Szenarien, die Bradbury bereits in seinem gefeierten Debüt „Die Mars-Chroniken“ thematisiert hat, so das sinnlose Morden aus Angst oder Gier, das Einschleppen von Seuchen, die die Urbewohner eines Planeten dahinraffen, Atomkriege, vor denen die Menschen auf andere Planeten flüchten, aber auch das Verbannen und Zerstören von Büchern unbequemer Autoren wie Hawthorne, Blackwood, Poe, Lovecraft, Machen und Bierce in „Die Verbannten“ sind aus Bradburys Debüt und seinem nachfolgenden berühmten Meisterwerk „Fahrenheit 451“ bekannt.
„Diese sauberen jungen Raumfahrer mit ihren antiseptischen Pumphöschen und Aquariumshelmen, mit ihrer neuen Religion. Um ihre Hälse tragen sie Skalpelle an goldenen Kettchen, auf ihren Köpfen Diademe von Mikroskopen. In ihren geheiligten Fingern halten sie dampfende Weihrauchgefäße, die in Wirklichkeit nur Sterilisatoren sind, im mit ihnen die Keime des Aberglaubens abzutöten.“ (S. 170) 
Mit „Der illustrierte Mann“ hatte Ray Bradbury 1951 seinen Ton gefunden und die Science Fiction vom ihrem eher trockenen technisch-wissenschaftlichen Ton befreit und ihr eine einfühlsame poetische Note verliehen. Die stilistisch ausgefeilte, bilderreiche und assoziative Sprache, die Bradbury wie kein zweiter Vertreter seiner Zunft zu verwenden versteht, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter seinen einfallsreichen Weltraummärchen eine zutiefst pessimistische Weltsicht steckt. In seiner Vorstellung schleppen die Menschen nicht nur ihre Krankheiten und ihre Sucht nach Besitz und Macht auf andere Planeten ein, sondern auch Rassenprobleme und die Angst vor subversiven Schriften, Andersaussehenden und Andersdenkenden.
Der ewige Traum des Menschen, den Weltraum zu erkunden und andere Planeten zu besiedeln, wird bei Bradbury zum Symbol, die ungelösten Probleme und unerfüllten Sehnsüchte, aber auch Urängste einfach auszulagern. In der Weite und Leere ausgestorbener Marsstädte werden die vertrauten Probleme auf ihren Kern zurückgeführt. Allein Bradburys verehrungswürdige Fabulierkunst lässt in den Pointen seiner Geschichten die Hoffnung am Leben, dass der Mensch doch noch aus seinen Fehlern lernt und sich auf das Wesentliche zu besinnen vermag.

Ray Bradbury – „Die Mars-Chroniken“

Donnerstag, 4. Juni 2020

(Diogenes, 262 S., Tb.)
Bereits seit zwanzig Jahren leben Yll und Ylla K auf dem Mars am Rande eines leeren, toten Meeres in einem Haus, das bereits ihre Vorfahren seit zehn Jahrhunderten bewohnten. Als sie ihrem Mann von einem Traum erzählt, in dem sie einen riesigen Mann mit schwarzen Haaren, blauen Augen und weißer Haut namens Nathaniel York geküsst habe, nachdem er mit einem Raumschiff vom Himmel herabgekommen sei. Als das Raumschiff tatsächlich landet, erschießt Yll aus purer Eifersucht zwei Raumfahrer der ersten Mars-Mission.
Im August 1999 landet die zweite Expedition von der Erde auf dem Mars, der bei den telepathisch kommunizierenden Einheimischen als Tyrr bekannt ist. Captain Williams ist nach der erfolgreichen Landung nach Feiern zumute, doch bei den Marsianern stößt er auf völliges Desinteresse, bis er feststellt, dass die menschenähnlichen Wesen, denen er begegnet und die behaupten, sowohl von der Erde als auch vom Saturn und Jupiter zu stammen, an einer Geisteskrankheit leiden, mit denen die Leute ihre eigenen Trugbilder erschaffen.
In der Nervenheilanstalt ist der behandelnde Arzt Herr Xxx fasziniert von dem Phänomen, dass Captain Williams sogar eine Rakete mit Besatzung erschaffen könne, sieht aber als einzige Möglichkeit, ihn zu heilen, dessen Tötung an. Da diese „Halluzinationen“ aber danach nicht verschwinden, glaubt auch der Psychologe, sich infiziert zu haben, und erschießt auch sich selbst. Nachdem die ersten beiden Expeditionen erfolglos verliefen, landet im April 2000 eine dritte Expedition unter dem Kommando von Captain John Black auf dem Mars. Die 16-köpfige Crew landet in der Nähe einer Stadt, die kurioserweise einer amerikanischen Kleinstadt aus dem Jahr 1926 gleicht und in der die Raumfahrer längst verstorbene Verwandte und Bekannte treffen, bei denen sie übernachten. Während die Männer noch überlegen, ob sie irrtümlich wieder auf der Erde gelandet sind oder eine Zeitreise unternommen haben, werden sie allesamt einer von den Marsianers erschaffenen Halluzination, die aus den Erinnerungen der Expeditionsteilnehmer erschaffen worden ist, und überleben die Nacht nicht.
Im Juni 2001 landet schließlich die vierte Expedition auf dem Mars, doch der Archäologe Jeff Spender muss durch den mitgereisten Arzt feststellen, dass die Marsianer Opfer der von den Menschen eingeschleppten Windpocken geworden sind. Da er befürchtet, dass die Menschen auf dem Mars ähnlich gewalttätig wie auf der Erde aufgetreten sind, will er die Ankunft weiterer Expeditionen hinauszögern, doch schon im August kommen die ersten Siedler …
„Der Weltraum war ein Betäubungsmittel – siebzig Millionen Meilen leeres All hatten eine lähmende Wirkung, sie ließen Erinnerungen einschlafen, entvölkerten die Erde, löschten die Vergangenheit aus und erlaubten es den Menschen, hier ihr Leben zu leben. Doch heute abend, ganz plötzlich, waren die Toten wiederauferstanden, die Erde war wieder bewohnt, die Erinnerungen meldeten sich, und eine Million Namen wurden ausgesprochen: Was wohl der und der heute abend macht auf der Erde?“ (S. 210) 
Gleich mit seinem ersten, 1950 durch Doubleday veröffentlichten Roman „Die Mars-Chroniken“ gelang dem US-amerikanischen Schriftsteller Ray Bradbury ein bahnbrechender Erfolg. Die in Romanform zusammengeführten Kurzgeschichten, die Bradbury zwischen 1946 und 1950 in verschiedenen Science-Fiction-Magazinen veröffentlicht hatte, zählen mittlerweile zu den klassischen literarischen Dystopien und zur Standardlektüre in den Schulen. Auch wenn das Buch verschiedene Mars-Expeditionen zwischen 1999 und 2026 thematisiert, geht es Bradbury nicht so sehr um die Begegnung zwischen Menschen und außerirdischen Lebensformen, wie sie besonders populär Steven Spielberg in Filmen wie „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ (1977) und „E.T. – Der Außerirdische“ (1982) in märchenhaft-verklärter Form präferierte, sondern um die Auseinandersetzung des Menschen mit fremden Lebensformen an sich, wozu bereits andere Rassen als die eigene zählen. Offensichtlich sind die Parallelen zur Eroberung von Amerika, bei der die Ureinwohner durch die eingeschleppten Krankheiten der Invasoren dahingerafft wurden, aber auch die gerade in den 1950er Jahren vorherrschende Angst der US-Amerikaner vor einem Dritten Weltkrieg. Der Mars dient Bradbury also nur als Projektionsfläche für die Sehnsüchte und Ängste der Menschen, die immer wieder mit Mord und Krieg auf mehr oder weniger diffuse Bedrohungen reagieren und dabei ganze Landstriche, Städte, Kontinente, ja Planeten zerstören. Dabei findet Bradbury jedoch immer einen wunderbar poetischen Ton, der die letztlich nüchtern aufgezählten Schrecken und Katastrophen noch furchtbarer erscheinen lassen, als hätte der Mensch kein Bewusstsein für die zerstörerischen Dämonen in seinem Herzen. Auch wenn „Die Mars-Chroniken“ von Morden, Einsamkeit und unerfüllten Sehnsüchten handelt, verleitet dieser Klassiker ebenso zum reflektierten Nachsinnen wie zum Träumen.

Ray Bradbury – „Der Tod ist ein einsames Geschäft“

Freitag, 1. März 2019

(Diogenes, 320 S., Tb.)
Während im Jahr 1949 in der kalifornischen Kleinstadt Venice das große Vergnügungsviertel abgerissen wird, findet ein siebenundzwanzigjähriger Schriftsteller im Kanal die Leiche eines Mannes. Später erinnert sich der Autor, der mit seinen gelegentlich verkauften Kurzgeschichten gerade so über die Runden kommt, dass der Tote zu den netten alten Männern gehörte, die immer in dem Fahrkartenladen am Bahnhof für die Vorortzüge sitzen.
Der Kriminalkommissar Elmo Crumley übernimmt die Ermittlungen und hat es bald mit weiteren mysteriösen Todesfällen zu tun, hier eine alte Dame, die einst Kanarienvögel zu verkaufen hatte, dort die umfangreiche Diva Fannie Florianna. Der Schriftsteller fühlt sich nun inspiriert, seinen vor drei Monaten begonnenen Roman in Angriff zu nehmen. Er nennt ihn nach einem flüsternden Stöhnen, das er im Zug in der Nacht gehört hatte, als er die Leiche fand, „Der Tod ist ein einsames Geschäft“. Der Schriftsteller beginnt ein Muster bei der Auswahl der Opfer beim Täter zu erkennen und erstellt eine Liste mit weiteren potentiellen Opfern. Der Kommissar, in dem auch ein verhinderter Schriftsteller steckt, mag den Ahnungen des jungen Mannes nicht so recht trauen, doch dann werden weitere Namen auf der Liste tot aufgefunden …
„Manche Menschen werden fünfunddreißig, vierzig Jahre alt, aber weil niemand je von ihnen Notiz nimmt, brennt ihr Leben so schnell ab wie eine Kerze, ist es winzig, praktisch unsichtbar.
Dieses Mietshaus beherbergte eine ganze Reihe solcher überhaupt nicht oder kaum sichtbarer Menschen, Menschen, die hier lebten, und die eigentlich doch nicht lebten.“ (S. 143) 
Mit seinem 1985 (und zwei Jahre später auch hierzulande) veröffentlichten Roman „Der Tod ist ein einsames Geschäft“ verbeugt sich der amerikanische Autor Ray Bradbury (1920-2012) vor den „Hardboiled“-Krimiautoren Raymond Chandler, Dashiell Hammett, James M. Cain und Ross McDonald, mischt seine eigenwillige Kriminalgeschichte aber mit der Nostalgie der goldenen Jahre in Hollywood und den düsteren Stimmungen von Edgar Allan Poe, den der Ich-Erzähler immer wieder auch namentlich erwähnt.
Die Jagd nach dem Mörder gerät hier allerdings fast zur Nebensache. Weitaus lesenswerter sind die beeindruckend poetischen, einfühlsamen und irgendwie sonderbar melancholischen Stimmungen, die der Schriftsteller nicht nur wegen der räumlichen Trennung von seiner geliebten Peg empfindet, die in beruflicher Mission gerade in Mexiko unterwegs ist, sondern auch angesichts der beunruhigenden Serie von Todesfällen, bei dessen Opfern keine äußerliche Gewalt anzusehen ist.
Zwar wird das „Whodunit“-Rätsel am Ende wie in den klassischen Hardboiled-Krimis ebenfalls gelöst, doch Bradbury sind die emotionalen Auswirkungen der Ereignisse auf die Protagonisten viel wichtiger als die Kriminalfälle und deren Auflösung. Bradbury geht es eher um die Beschreibung von Verfall und Zerrüttung, beginnend mit dem Abriss des Vergnügungsviertels, dann der Thematisierung von Hollywoods Niedergang und der pessimistischen Lebenseinstellung der Figuren, die Crumley und seinem Hobby-Detektiv-Gefährten so über den Weg laufen. Liebhaber klassischer Hardboiled-Detektivromane werden hier nicht unbedingt auf ihre Kosten kommen, weil Bradbury einer eher gefühlsmäßigen Logik folgt und ihm ohnehin mehr an der Schilderung von Seelenlandschaften und feinsinnigen Empfindungen gelegen ist. Das ist ihm so gut gelungen, dass er fünf Jahre später mit „Friedhof für Verrückte“ noch eine Fortsetzung folgen ließ.

Ray Bradbury – „Geisterfahrt“

Dienstag, 23. August 2016

(Diogenes, 265 S., HC)
Seit den 1950er Jahren, als er mit „Die Mars-Chroniken“ (1950) und „Fahrenheit 451“ (1953) Klassiker der Literaturgeschichte und Pflichtlektüre in den Schulen veröffentlichte, zählt der 1920 geborene und 2012 verstorbene amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury zu den fantasiebegabtesten und versiertesten Geschichtenerzählern der Welt. Vor allem in unzähligen Story-Sammlungen wie „Der illustrierte Mann“, „Medizin für Melancholie“ und „Die Mechanismen der Freude“ dokumentierte Bradbury seinen schier unerschöpflichen Vorrat an geradezu magischen Geschichten, mit denen er seine Leser ebenso in die Vergangenheit wie in die Zukunft mitnahm.
„Geisterfahrt“ aus dem Jahre 1997 ist leider schon eine der letzten Geschichtensammlungen aus seiner Hand, aber auch im Alter von 77 Jahren sind dem Visionär noch beeindruckende Einfälle aus der Feder gesprudelt. In „Nachtzug nach Babylon“ beobachtet der Zauberlehrling James Cruesoe in einem Zug fasziniert, wie ein Trickspieler die Aufmerksamkeit seines Publikums fesselt, während es in „Wenn es MGM erwischt, wer kriegt dann den Löwen?“ um eine herrlich witzige Spielerei aus dem Zweiten Weltkrieg geht, bei der die fast benachbarten Gelände der MGM-Studios und Howard Hughes‘ Flugzeugfabrik zur Täuschung des Feindes die Beschilderung vertauschten.
„Guten Tag, ich muss fort“ ist die Geschichte des vor vier Jahren verstorbenen Henry Grossbock, der nicht darüber hinwegkommt, dass seine geliebte Frau nicht mehr so oft sein Grab besucht und schon gar keine Tränen mehr verdrückt, weshalb er sich aus seinem Grab heraus auf den Weg zu seinem Freund Steve Ralphs macht, um ihm sein Leid zu klagen. Die vielleicht schönste Geschichte, „Haus zweigeteilt“, dreht sich um das sexuelle Erwachen von Teenagern. Der zwölfjährige Chris kann es kaum fassen, dass sich die drei Jahre ältere Vivian an seiner Hose zu schaffen macht.
„Es war so seltsam. Chris konnte nur daliegen und sich von Vivian alles erklären lassen mit dieser dunklen, unglaublichen Pantomime. Von so etwas wird einem im ganzen Leben nichts gesagt, dachte er. Gar nichts wird einem gesagt. Vielleicht ist es zu gut zum Weitersagen, zu seltsam und wunderbar, um es in Worte zu fassen.“ (S. 45) 
In „Schwerer Diebstahl“ erleben die beiden Schwestern Rose und Emily Wilkes noch einmal den Zauber ihrer ersten Liebe, als eines Nachts die Liebesbriefe an Emily aus den Jahren 1919 bis 1921 gestohlen werden und mit unbekanntem Namen unterschrieben wieder in ihrem Briefkasten landen. „Kennen Sie mich wieder?“ beschreibt das unerwartete Aufeinandertreffen des Fleischers Harry Stadler mit einem seiner Kunden in Florenz, wo sie bei einem gemeinsamen Abendessen feststellen, dass sie gar keine Gemeinsamkeiten haben. Die Titelgeschichte erzählt von einem Jungen, der mit Staunen erlebt, wie ein Fremder mit völlig verdunkelnder Gesichtsmaske in der Stadt auftaucht und versucht, seine Studebakers, die er in Gurney verkauft, an den Mann zu bringen, was ihm durch sein Aufsehen erregendes Auftreten auch gelingt.
Aber im Grunde genommen geht es um die Dinge und Erfahrungen, die Menschen verändern, und vor allem um die Menschen, die andere Menschen verändern. Einen ähnlichen Subtext gibt es in „Es verändert sich nichts“, wo ein Mann in einer Buchhandlung am Meer alte Jahrbücher durchstöbert und dabei erst auf ein Foto seines alten Freundes Charlie Nesbitt stößt, allerdings in einem Jahrbuch von 1912, 26 Jahre vor seinem eigentlichen Schulabschluss und unter anderem Namen. Danach findet er unzählige weitere Beispiele in anderen Jahrbüchern, bis er seinem eigenen, jüngeren Ich im aktuellen Jahrbuch von Roswell High begegnet.
Immer wieder geht es um Erinnerungen, Träume und Identität, um die großen Mysterien des Lebens und des Todes, um Religion, Freundschaft und Liebe. Bradbury gelingt es, diese existentiellen Themenschatz in immer wieder neue, erfrischende, magische und verführerische Geschichten zu weben, dass man immer ein wenig oder meist sogar viel länger bei seinen sympathischen Helden verbleiben möchte.

Ray Bradbury – „Friedhof für Verrückte“

Samstag, 7. März 2015

(Diogenes, 455 S., Tb.)
In der Halloween-Nacht des Jahres 1954 erhält ein junger Drehbuchautor die schriftliche Einladung, sich um Mitternacht in der rückwärtigen Mauer am Green Glades Park einzufinden, wo eine große Offenbarung auf ihn warten würde, eine einmalige Gelegenheit für einen Bestseller-Roman oder ein entsprechendes Drehbuch. Obwohl sich der junge Schreiber eher als Angsthase sieht, kann er der Verlockung nicht widerstehen und begibt sich zum genannten Ort, um dort eine Gestalt von der Leiter fallen zu sehen, den der Autor als James Charles Arbuthnot identifiziert, den vor zwanzig Jahren bei einem Autounfall umgekommenen ehemaligen Studiochef von Maximus Films.
Wenig später ist die mutmaßliche Leiche verschwunden. Doch mit diesem unheimlichen Vorfall nimmt die Halloween-Geschichte erst so richtig Fahrt auf. Mit seinem Freund Roy Holdstrom, der ein wahres Special-Effects-Genie ist, soll er für den derzeitigen Studioboss Manny Leiber ein furchterregendes Monster schaffen, dessen Vorbild sie in einem Restaurant begegnen. Tatsächlich gelingt es Roy, eine schreckliche Kreatur zu modellieren, doch der Studiochef ist überhaupt nicht begeistert und lässt erst das Monster zerstören, dann baumelt auch Roys Leiche von einem Galgen in dem Studio.
Zusammen mit dem Privatdetektiv Crumley versucht der Ich-Erzähler den unheimlichen Ereignissen auf den Grund zu gehen …
„Ich starrte den langen Tunnel hinunter, erstaunt darüber, wie weit wir gerannt waren, von einem Land zum anderen, von einem Geheimnis zum anderen, durch zwanzig Jahre hindurch, von Halloween zu Halloween. Der Tunnel senkte sich durch Lagerhallen voll aufgestapelter Filmbüchsen hinab zu den Lagerhallen voller Reliquien der Namenlosen. Hätte ich diesen Weg zurücklegen können, wenn Crumley und Henry mir nicht geholfen hätten, die Schreckgespenster niederzuknüppeln, während mein Atem gegen die Wände stieß?“ (S. 327) 
Vierzig Jahre nach seinen legendären „Mars-Chroniken“ veröffentlichte der 2012 verstorbene amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury 1990 mit seinem Spätwerk „Friedhof für Verrückte“ eine Hommage an Filmemacher, die nachweislich großen Einfluss auf sein eigenes Werk ausübten: Rouben Mamoulian („Dr. Jeckyll & Mr. Hyde“, 1931, „Im Zeichen des Zorro“, 1940 – und Namensgeber meines Bücher-Blogs …), George Cukor („Das Haus der Lady Alquist“, 1944), John Huston („Die Spur des Falken“, 1941, „Moby Dick“, 1956), Fritz Lang („Dr. Mabuse, der Spieler“, 1922, „Metropolis“, 1927) und natürlich Ray Harryhausen („Herr der drei Welten“, 1960, „Sindbads siebente Reise“, 1958).
So wirkt der namenlose Ich-Erzähler wie Bradburys Alter ego. Mit ehrfurchtsvollem Staunen bewegt sich der junge Drehbuchautor durch die Kulissen des Maximus Filmstudios und die Geschöpfe, die sein Freund Roy zu erschaffen versteht. Der Plot, durch den der junge Mann gleichermaßen treibt und getrieben wird, beginnt wie ein liebevoller wie desillusionierender Blick hinter die Kulissen des Filmgeschäfts in den 50er Jahren, um dann rasant die Genres Geistergeschichte, Detektivstory und philosophisches Traktat zu durchschreiten, in dem die Grenzen zwischen Schein und Sein, Fiktion und reellen Ereignissen, Wahrheit und Täuschung ebenso verschwimmen wie zwischen dem Filmgelände und dem benachbarten Friedhof.
So faszinierend dieses Geflecht auch scheint, hat sich der Altmeister des Fantastischen doch etwas an dem verwirrenden Genre-Mix verhoben. Wie sein ganz spezieller, sehr reifer und bildhafter Schreibstil wirken Bradburys Figuren in „Friedhof für Verrückte“ eher wie schlecht skizzierte Schauspieler, die durch ein unausgereiftes Drehbuch und planlos von einer Wendung zur nächsten stolpern. Erfreuen darf sich der Bradbury-Fan allerdings nach wie vor an der unnachahmlich kreierten Atmosphäre, die das Studiogelände bildlich vor den Augen des Lesers erscheinen lässt. Aber die poetische Wucht und die psychologisch fein gezeichneten Figuren seiner Frühwerke hat „Friedhof für Verrückte“ leider nicht mehr in dem Maße zu bieten, wie wir es von dem großartigen Schriftsteller gewohnt sind.

Ray Bradbury – „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“

Samstag, 14. Februar 2015

(Diogenes, 272 S., Tb.)
Kurz vor ihrem jeweils 14. Geburtstag fällt den beiden benachbarten Freunden James Nightshade und William Halloway ein Handzettel in die Hände, der für den morgigen 24. Oktober den Zirkus von Cooger & Dark ankündigt, einen bunten Rummelplatz und vielen Attraktionen wie der schönsten Frau der Welt, Mademoiselle Tarot, dem schwebenden Menschen, der Dämonen-Guillotine, Mr. Elektriko und dem illustrierten Mann. In der Nacht trifft der Zirkus mit dem Zug ein, wie Jim und Will mit freudiger Erregung beobachten, doch sie merken schnell, dass ungewöhnliche Dinge in der Stadt vorgehen: Der Friseur hat sein Geschäft wegen Krankheit geschlossen, auf dem Weg zum Zirkus entdecken sie die herrenlose Tasche des Blitzableiterverkäufers, der Jim zuvor noch einen Blitzableiter geschenkt hatte.
Besonders fasziniert sind sie von einem Karussell, das je nachdem in welche Richtung es sich dreht, die darauf fahrenden Menschen jünger oder älter macht. Allerdings werden Jim und Will bei ihrer Entdeckung selbst bemerkt und müssen nun um ihr Wohl fürchten. Wills Vater Charles entdeckt in der Bibliothek im Zeitungsarchiv Berichte über den Zirkus, wie er nachweisbar ab 1848 alle dreißig, vierzig Jahre im Oktober in die Stadt gekommen ist.
Schon hat Mr. Dark, der illustrierte Mann, die Spur der neugierigen Jungen aufgenommen und bietet ihnen Freikarten an. Zusammen mit Wills Vater versuchen die beiden Jungen, das Böse, das mit dem Zirkus in die Stadt gekommen ist, zu besiegen.
„Der Tod existiert nicht. Es hat ihn nie gegeben, es wird ihn nie geben. Aber wir haben von ihm so viele Bilder gemalt, all die Jahre hindurch, haben versucht, ihn festzuhalten, zu verstehen, dass wir ihn als Wesenheit ansehen, seltsam lebendig und gierig. Aber er ist nichts weiter als eine stehengebliebene Uhr, ein Verlust, ein Ende, Dunkelheit. Nichts. Und der Zirkus ist klug genug zu wissen, dass wir uns vor dem Nichts mehr fürchten als vor dem Etwas. Gegen ein Etwas kann man kämpfen. Aber … das Nichts?“ (S. 194). 
Kaum einer hat es je so eindringlich, einfühlsam und fantasiereich das Staunen von Kindern und Jugendlichen über die Wunder der Welt und des Lebens in Worte und Geschichten zu verpacken wie der amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury („Die Mars-Chroniken“, „Fahrenheit 451“) in der Blütezeit seiner auch produktivsten Schaffensperiode zwischen den 50er und 60er Jahren.
In seinem auch von Disney verfilmten Roman „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ (1962) erzählt er eine wunderbare Halloween-Geschichte von zwei abenteuerlustigen Jungen, die unverhofft mit dem Bösen konfrontiert werden, das sich zunächst nur in Andeutungen und unheilvollen Hinweisen manifestiert, dann aber zunehmend bedrohlichere Formen annimmt. Hier verbindet Bradbury geschickt den Reifungsprozess heranwachsender Jungen mit der fantastischen Geschichte eines unheimlichen Zirkus, wobei Wills Vater die Jungen immer wieder mit faszinierenden Monologen über die großen Themen verzaubert und sie so zur Schwelle zum Erwachsenensein befördert.
Der 2012 verstorbene Schriftsteller verblüfft dabei mit einer wunderbar poetischen Sprache, bildgewaltigen Beschreibungen und wundersamen Assoziationen, die zum Träumen und Fantasieren einladen und Erinnerungen an jene goldenen Tage weckt, als man selbst noch unbeschwert und neugierig durch die Sommer und Herbste tanzte.

Ray Bradbury – „Löwenzahnwein“

Sonntag, 29. September 2013

(Diogenes, 280 S., Tb.)
Mit einem Fingerschnippen an einem Junimorgen begrüßt der zwölfjährige Douglas Spaulding in Green Town, Illinois, den Sommer 1928. Es ist ein Sommer, in dem Doug wie jedes Jahr mit seinem Statistiken erstellenden Bruder Tom und seinem Großvater säckeweise Löwenzahn pflückt, um ihn zu Wein zu verarbeiten, in Ketchupflaschen abgefüllt und feinsäuberlich nummeriert. Es ist ein Sommer, der nach neuen Tennisschuhen schreit und in dem Leo Auffmann eine Glück-Maschine baut, die ihre Anwender mit unerfüllbaren Träumen konfrontiert und weinend zurücklässt. Es ist aber vor allem auch ein Sommer, der Doug mit seiner eigenen Sterblichkeit vertraut macht.
Der alten Mrs. Bentley nehmen die Mädchen Jane und Alice nicht ab, dass auch sie mal jung und hübsch gewesen ist. Die Jungs unternehmen mit dem alten Colonel Freeman eine Reise in die Vergangenheit, wenn er lebendig von den Schlachten des letzten Jahrhunderts erzählt. Es ist es das Ende der Straßenbahn, die von Bussen abgelöst wird, es ist das Lebensende von einigen Mädchen, die von dem „Einsamen“ in der alten Schlucht ermordet werden. Und der junge Billy Forester sitzt Nachmittag für Nachmittag mit der alten Miss Helen Loomis zusammen, um sich von ihren Erzählungen an die entferntesten Orte entführen zu lassen. All diese Episoden spielen sich in einem wahrhaft denkwürdigen Sommer ab, den der kleine Douglas auf ungewohnt bewusste Weise erlebt.
„Oh, dieser Luxus, in der Farnnacht zu liegen, in der Grasnacht und der Nacht der murmelnden, schlummrigen Stimmen, die das Dunkel zusammenwoben. Die Großen hatten vergessen, dass er da war, so reglos, so still lag Douglas da und hörte von den Plänen, die sie für seine und für ihre eigene Zukunft schmiedeten. Und die Stimmen sangen, trieben dahin, in monderhellten Wolken aus Zigarettenrauch, währen die Motten wie verspätete, wieder lebendig gewordene Apfelblüten die fernen Straßenlaternen antippten, und die Stimmen trieben voran, voran in die kommenden Jahre …“ (S. 40) 
Ray Bradbury erweist sich in dem Roman „Löwenzahnwein“, der schon in Teilen zwischen 1946 und 1957 in verschiedenen Publikationen erschienen ist, einmal mehr als betörender Zauberer, der aus Worten zeitlose Märchen zu formen versteht. Im Grunde genommen ist „Löwenzahnwein“ die Geschichte eines Zwölfjährigen, der durch verschiedene Erlebnisse mit dem Tod konfrontiert wird und dadurch sein eigenes Leben bewusster zu leben versucht. Die Reise zu dieser Erkenntnis schildert Bradbury mit episodenhaften Geschichten, die jede für sich einen eigenartigen Zauber versprühen, wie es nur Bradbury vermag, und so entführt er den Leser in seine eigene Kindheit, weckt Erinnerungen und entzündet bestenfalls einen Lebensfunken, der unter der Last des Alltags manchmal zu ersticken droht.

Ray Bradbury – „Medizin für Melancholie“

Dienstag, 22. Februar 2011

(Diogenes, 223 S., Tb.)
Mit Meisterwerken wie „Fahrenheit 451“ oder den „Mars-Chroniken“ hat sich der amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury bereits zu Lebzeiten unsterblich gemacht. Quer durch die Genres der Fantasy, der Science-fiction oder des Horrors hat er vor allem herausragende Kurzgeschichten verfasst, von denen 22, die zwischen 1948 und 1959 entstanden sind, in dem kleinen Band „Medizin für Melancholie“ versammelt sind.
Als George und Alice Smith in Biarritz absteigen und vor allem George ganz begeistert ist, sich in „Picasso-Land“ aufzuhalten, begegnet er wenig später seinem großen Idol am Strand, wie er mit einem Eisstiel etliche Figuren in den Sand zeichnet („Zur warmen Jahreszeit“). In „Der Drache“ lauern zwei berittene Männer einem Ungetüm auf, von dem gesagt wird, dass es alle Menschen frisst, die allein von der Stadt in die nächste reisen:
„Über das düstere Land, voll Nacht und Leere, aus der Tiefe des Moores sprang der Wind auf, voll Staub von Uhren, die die Zeit mit Staub anzeigten. Schwarze, brennende Sonnen waren im Herzen dieses neuen Windes und Millionen verbrannter Blätter, die er von Herbstbäumen hinter dem Horizont herabgeschüttelt hatte. Dieser Wind schmolz Landschaften, zog die Gebeine wie Wachs in die Länge und trübte und verdickte das Blut zu einer schlammigen Ablagerung im Hirn. Der Wind war tausend sterbende Seelen und die ganze verworrene, vorübergehende Zeit. Es war ein Nebel in einer Dunkelheit, und dieser Ort hier gehörte niemandem, und es gab kein Jahr und keine Stunde, sondern nur diese Männer in der gesichtslosen Leere mit ihrem plötzlichen Frost, Sturm und weißen Donner, der hinter der großen fallenden Scheibe des Blitzes rollte. Ein nasser Windstoß fuhr über das Torfmoor, und alles verging, bis nichts mehr war als die Stille ohne Atem und die beiden Männer, die mit ihrer Wärme allein in der kalten Jahreszeit warteten.“ (S. 17f.)
In diesem wunderbar fabulierenden Ton geht es weiter, und so fantastisch die Sprache über die Seiten schwebt, so fantasievoll sind auch all die Geschichten geraten, die Ray Bradbury aus seinem wunderbaren Hut zaubert. Er lässt ein krankes Mädchen, dem keine Medizin helfen will, bei Vollmond draußen verweilen, bis ihm die einzig wahre Medizin begegnet („Medizin für Melancholie“). Sechs Mexiko-Amerikaner erstehen zusammen einen eiscremefarbenen Anzug und wechseln sind mit dem Tragen stündlich ab, um endlich ihr Glück zu erleben, eine Familie fliegt zum Mars und hängt dort fest, ein Mann hängt in der Dachkammer seines Hauses den Erinnerungen an jede erdenklichen Zeiten nach:
„Hier im irisierenden Glas der Kronleuchter schimmerten Regenbögen, Morgen und Mittage hell wie frische Bäche, die unaufhörlich durch die Zeit zurückflossen. Das zuckende Licht seiner Taschenlampe fing sie ein und weckte sie, die Regenbogen sprangen auf und drängten die Schatten mit Farben zurück, mit Farben wie Pflaumen, Erdbeeren und Trauben, mit Farben wie Zitronen und wie der Himmel, wenn nach dem Sturm die Wolken fortziehen und das Blau wieder hervorkommt. Und der Staub der Dachkammer war brennender Weihrauch und brennende Zeit, und man brauchte nur in die Flammen zu schauen. Sie war wirklich eine große Zeitmaschine, diese Dachkammer, das wusste und fühlte er …“ (S. 100)
In gewisser Weise geht es dem Leser ähnlich wie Mr. Finch in „Der Duft von Sarsaparilla“; Ray Bradbury lässt mit wunderbar poetischen Geschichten vergangene Zeiten und ihren ganz besonderen Zauber wiederauferleben, was für seine Sci-fi-Geschichten ebenso gilt wie für seine „Märchen“, die tief in die Ängste und Sorgen und Hoffnungen und Träume der Menschen eintauchen und sie zu zauberhaften Analogien webt.

Ray Bradbury - „Feuersäule“

Donnerstag, 21. Januar 2010

(edition phantasia, 148. S., HC)
Mit seinen verfilmten Sci-Fi- und Grusel-Klassikern „Fahrenheit 451“, „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“ und „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ avancierte Ray Bradbury zu den berühmtesten und besten Sci-Fi- und Horror-Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Mit „Feuersäule“ liegt nun ein wunderbarer Band mit zwölf Horror-Geschichten vor, die zwischen 1944 und 1951 entstanden sind und in der Übersetzung von Joachim Körber überwiegend erstmalig in deutscher Sprache. In „Die schreiende Frau“ erzählt die zehnjährige Margaret Leary, wie sie eine schreiende Frau aus der Erde im heimischen Garten hört, doch niemand ihr glauben will, bis sie ihrem Vater sagen kann, was sie genau gehört hat. „Kulissen in der Nacht“ handelt von einer seltsamen Begegnung zwischen Paul und dem seit Monaten verschollenen Matt, der einfach nicht mehr nach Hause gehen will, während „Das schwarze Riesenrad“ die Geschichte des skurrilen Jahrmarktdirektors Mr. Cooger erzählt, dessen dunkles Geheimnis von den beiden Freunden Hank und Paul gelüftet wird. Und in „Der See“ wird Harald auf tragische Weise mit seiner im See verschwundenen Jugendliebe Tally konfrontiert, als er mit seiner Braut Margaret in den Flitterwochen an den See zurückkehrt.
Ray Bradbury vermochte in diesen und anderen kurzen Geschichten bereits seine Stärke, das Kind in uns wieder zum Leben zu erwecken, eindrucksvoll zu demonstrieren. Es sind Geschichten, die uns auf magische Weise mit einem wohligen Schauer auf dem Rücken an die Träume und Erlebnisse unserer eigenen Kindheit denken lassen. Das in Samt eingebundene Buch wurde von Lillian Mousli wunderschön illustriert, die ersten hundert Exemplare der auf 250 limitierten Edition sogar vom Autor und der Künstlerin signiert.

Ray Bradbury - „Vom Staub kehrst du zurück“

(Edition Phantasia, 171 S., Pb.)
Bislang machte der sympathische wie engagierte Kleinverlag Edition Phantasia allein von wertvollen limitierten Werken und Vorzugsausgaben von Schriftstellern wie Stephen King, Clive Barker, H.P. Lovecraft oder Philip K. Dick von sich reden. Nun startet auch eine Horror- und eine Fantasy-Paperback-Reihe, die mit der wundervollen neuen Geschichte von Ray Bradbury, „Vom Staub kehrst du zurück“, ihren poetischen Anfang nimmt.
Bradbury, der für so unvergessliche Bücher wie „Fahrenheit 451“, „Die Mars-Chroniken“, „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt aus leisen Sohlen“ und „Halloween“ verantwortlich zeichnet, widmet sich darin einmal mehr dem traditionellen Halloween-Fest, der Zeit des Geschichtenerzählens. Er verarbeitet darin vor allem eigene Kindheitserinnerungen an diese ausgelassene Zeit und erzählt in seiner unnachahmlich bildhaften, zauberhaften Sprache von einem Haus mit neunundneunzig oder einhundert Kaminen auf einem einsamen Hügel in Illinois, wo sich Jahr für Jahr die merkwürdigsten Gestalten und Wesen zu einem ganz besonderen Familienfest zusammenfinden: die Tausendmal-Ur-Grandmère, die als Mutter von Nofretete bereits nur noch flüsternder Staub und Papyrus ist; die junge Hexe Cecy, die nach Belieben in den Geist anderer Menschen fliehen kann und sich in Gestalt Anderer zu verlieben sucht; Onkel Einar und Mademoiselle Angelina Marguerite, ein Rätsel verkehrten Lebens, das mit jedem Tag immer jünger wird. Der Junge Timothy ist ganz fasziniert von dieser magischen Welt auf dem Dachboden des Hauses. Er wurde einst in einem Korb vor der Tür des Hauses gefunden, mit Shakespeare als Stütze und Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ als Kopfkissen. Ihm ist aufgetragen, die Geschichte dieser Familie zu bewahren… Ein märchenhaft schönes Buch über die Macht der Fantasie und der Sprache und der unheimlichen Geschichten, die man sich zu Halloween erzählt.

Ray Bradbury - „Der Katzenpyjama“

Mittwoch, 20. Januar 2010

(Edition Phantasia, 184 S., Pb.)
Durch die Verfilmungen seiner Romane/Story-Sammlungen „Fahrenheit 451“, „Die Mars-Chroniken“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ und „Der illustrierte Mann“ wurde der 1920 geborene amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury weltberühmt. Bis heute fühlt er sich in den Genres Horror, Fantasy, Science-Fiction und Kriminalroman zuhause und verblüfft seine Leser mit seiner unnachahmlichen Fabulierkunst und grenzenlosen Fantasie. Nun legt der Bellheimer Kleinverlag in seiner noch jungen Paperback-Reihe „Science Fiction“ einen kleinen, feinen Band mit 22 bislang hierzulande unveröffentlichten Short Storys des Genre-Meisters vor, die Bradburys Golden Retriever Don Albright in dessen Keller aufgestöbert hat.
Sie stammen überwiegend aus den 40er Jahren und aus jüngerer Zeit und konfrontieren den Leser mit vergnüglichen wie absurden Geschichten. So erzählt „Chrysalis“ von einer kurzen Sommerfreundschaft eines weißen und schwarzen Jungen, in „Das Haus“ sucht eine unverhofft zur Besitzerin eines uralten, verstaubten Hauses gewordene Frau nach ihrer Lebensfreude, während in „Heil, Häuptling!“ dreizehn amerikanische Senatoren in einem Indianer-Casino die gesamten Vereinigten Staaten beim Glücksspiel verloren haben. „Ganz natürlich“ beschreibt das Warten einer schwarzen Nanny auf den angekündigten Besuch des weißen Jungen, den sie aufgezogen hat und der jetzt ein berühmter Schriftsteller geworden ist. In „Alle meine Feinde sind tot“ verzweifelt jemand, der die Todesanzeige seines letzten noch verbliebenen Feindes entdeckt, erhält dann aber überraschenden Nachschub … So wandert der Autor mit seinen Lesern ganz entspannt mit leicht melancholischen Tönen und anregend lyrischer Sprache durch faszinierende Geschichten, von denen man bald noch mehr verschlingen möchte.

Ray Bradbury - „Bringen wir Constance um!“ + „Schneller als das Auge“

Dienstag, 19. Januar 2010

Ray Bradbury, der große Fabuliermeister der amerikanischen Literatur, der für verfilmte Meisterwerke wie „Der illustrierte Mann“, „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“, „Die Mars-Chroniken“ und natürlich „Fahrenheit 451“ verantwortlich ist, hat sich mal wieder dem Krimi-Genre zugewandt. Ein namenloser Schriftsteller hat im kalifornischen Venice das Strandhaus seiner Freundin, der alternden Schauspielerin Constance Rattigan, aufgesucht, um dort seinen Roman zu beenden.
In einer stürmisch-verregneten Nacht des Jahres 1960 steht plötzlich seine Freundin vor der Tür und erzählt völlig aufgelöst, dass sie vom Tod verfolgt worden sei, und holt ein Telefonbuch von Los Angeles aus dem Jahre 1900 aus ihrer Handtasche. Für die Rattigan ist es ein Totenbuch, denn kaum ein Name dürfte noch unter den Lebenden weilen. Ein zweites Telefonbuch fand sie zuhause nach einem Spaziergang, ein sehr persönliches, das sie vor Jahren den Hollywood Helpers überlassen hatte, und nun sind die noch lebenden Personen in dem Buch mit roten Kreuzen versehen, zum Sterben auserkoren. Zusammen mit seinem Freund Crumley, seinem persönlichen Dr. Watson, macht sich der Schriftsteller auf die Suche nach den markierten Personen. Schon der erste Besuch unter dem Eintrag „Rattigan, Kathedrale St. Vibiana“ birgt eine Überraschung, der etliche weitere folgen sollen. Es sind dabei nicht nur Leichen, die den Weg der beiden Ermittler kreuzen. Sie – und der Leser – erhalten auch einen Blick in die goldene Ära Hollywoods mit all den exzentrischen Persönlichkeiten, die nicht alle den Ruhm geerntet haben, nach dem sie strebten. Gefühlvoll und atmosphärisch dicht geschrieben, fesselt die Geschichte von Anfang bis Ende und beweist, dass Bradbury auch mit über 80 Jahren noch ein wunderbarer Erzähler ist.
(Edition Phantasia, 204 S., Pb.)
Das beweist er auch mit den 21 erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Storys, die Ende der 90er entstanden und in dem Band „Schneller als das Auge“ versammelt worden sind. In der eröffnenden Titelgeschichte verfolgt ein Zuschauer gespannt, wie ein ihm überraschend ähnlicher Mann auf der Bühne bei einer Zaubervorführung ausgenommen wird, in „Sanfte Morde“ versucht ein altes Ehepaar, sich gegenseitig ins Jenseits zu befördern, „Ein schöner Schlamassel“ lässt noch einmal die goldene Ära Hollywoods aufleben, „Dorian in Excelsis“ dagegen die unsterbliche Magie großer Schriftsteller. Man kommt aus dem Staunen kaum noch heraus, wenn man sich erst einmal der unerschöpflichen Fantasie dieses großartigen Autors hingibt! (Diogenes, 320 S., HC)