Lemony Snicket – „Gift zum Frühstück“

Freitag, 29. Dezember 2023

(Nagel und Kimche, 160 S., HC) 
Der Name Lemony Snicket klingt viel zu skurril, um echt zu sein. Tatsächlich handelt es sich dabei um das Pseudonym des US-amerikanischen Schriftstellers Daniel Handler, der unter seinem Namen, beginnend mit dem 1998 veröffentlichten Debütroman „The Basic Eight“, bislang sieben Romane veröffentlicht hat, während seine Jugendbücher unter dem ungewöhnlichen Pseudonym erscheinen. 1999 startete er die 13-teilige Serie „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“, deren erste drei Teile 2004 unter dem Titel „Lemony Snicket – Rätselhafte Ereignisse“ mit Jim Carrey in der Hauptrolle verfilmt und dann ab 2017 als Netflix-Serie mit drei Staffeln umgesetzt wurde. Nun erscheint mit „Gift zum Frühstück“ ein davon unabhängiger Kurzroman, der sowohl für lesebegeisterte Jugendliche als auch jung gebliebene Erwachsene geeignet scheint. 
Lemony Snicket beteuert, dass die von ihm erzählte Geschichte wahr sei. Sie beginnt mit der fassungslos machenden Notiz, die er unter seiner Tür vorfindet: „Sie hatten Gift zum Frühstück.“ Nachdem der erste Schock verdaut ist, macht sich Lemony Snicket daran, das Rätsel um seinen bevorstehenden Tod zu lösen. Da sein Frühstück wie gewöhnlich aus Tee mit Honig, einer Scheibe Toast mit Käse, einer aufgeschnittenen Birne und einem perfekt zubereiteten Ei bestand, macht sich Lemony Snicket auf den Weg zu den Orten, an denen er die Zutaten für die Mahlzeit erstanden hat, doch bringt ihn das kaum weiter. Einen verdächtig erscheinenden Mann verliert der Detektiv wider Willen schnell aus den Augen. Dafür erweist sich der Besuch in der Bibliothek in vielerlei Hinsicht als erkenntnisreich. 
Sie hatten Gift zum Frühstück. Den ganzen Tag war ich diesem Satz nachgegangen, weil ich, wie ich der Bibliothekarin erklärte, lieber nicht sterben wollte. Aber das zu sagen war lächerlich. Ich wusste, dass ich sterben würde. Erst am Morgen hatte ich darüber nachgedacht, dass wir alle sterben werden. Das Ende unseres Lebens ist wie ein offener Kanalschacht, in dem man eines Tages beim Herumlaufen hineinfällt, dieser eine entsetzliche Schritt, mit dem man von der Bildfläche verschwindet, und dann kommt das Dunkel und dann das Nichts.“ (S. 145) 
Bereits mit der Eröffnung seines neuen Romans „Gift zum Frühstück“ entführt Lemony Snicket seine Leserschaft in eine Welt, die der aus „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ sehr ähnlich ist, vor allem in sprachlicher Hinsicht. Die Notiz – „Sie hatten Gift zum Frühstück.“ - die die folgenden Ereignisse in Gang setzt, würde im Normalfall der Auftakt für einen Kriminalroman bilden, doch davon ist „Gift zum Frühstück“ weit entfernt. 
Tatsächlich verläuft die Suche nach dem Urheber der Nachricht schnell im Sand, regt den wachen Verstand des Ich-Erzählers aber immer wieder zu Vergleichen, Fabeln, Paradoxons, Geschichten und Gedichten an, die er auf verschlungenen Wegen mit seinem eigenen Schicksal assoziiert. Dabei gerät Lemony Snicket immer wieder ins Philosophieren, natürlich in erster Linie über den Tod und das Sterben, über die Rolle eines Übersetzers bei der Kommunikation zwischen dem Autor und des Lesers, über das Leben und die Literatur. 
Dabei wirkt der schmale Band eher wie eine wilde Ansammlung unterschiedlichster Gedanken, in die sich immer wieder Beschreibungen gerade verwendeter Begriffe einschleichen - und eben der typische Lemony-Snicket-Humor. Wer sich darauf einlassen mag, wird mit einer von Margaux Kent hübsch illustrierten Geschichte belohnt, die einen ganz eigenen Weg geht und sich erfolgreich gegen bewährte Genre-Strukturen behauptet. 

 

Walter Tevis – „Die Partie seines Lebens“

Mittwoch, 27. Dezember 2023

(Diogenes, 256 S., HC) 
Manchmal braucht es schon eine Netflix-Serie, dass ein hierzulande kaum beachteter Autor endlich die wohlverdiente Anerkennung erfährt. So geschehen bei dem leider schon 1984 verstorbenen US-amerikanischen Schriftsteller Walter Tevis. Der 1928 geborene Zweiter-Weltkriegs-Veteran und ehemaliger Universitätsdozent für Englische Literatur schaffte bereits mit seinem 1959 veröffentlichten Debütroman „The Hustler“ den Durchbruch, wurde das Werk zwei Jahre später von Robert Rossen mit Paul Newman, Jackie Gleason und Piper Laurie erfolgreich verfilmt. Doch erst mit dem Erfolg der preisgekrönten Netflix-Serie „Das Damengambit“ wurde Tevis‘ Schaffen auch im deutschsprachigen Raum entdeckt. Nachdem Diogenes bereits die Romanvorlagen zu der Erfolgsserie und zu Nicolas Roegs „Der Mann, der vom Himmel fiel“ (1976) mit David Bowie veröffentlicht hatte, erscheint nun mit „Die Partie seines Lebens“ eine Neuübersetzung von „The Hustler“. Die Verfilmung ist wie die erste Übersetzung bislang unter dem Titel „Haie der Großstadt“ bekannt geworden. 
Als die Chicagoer Billardlegende Minnesota Fats geflüstert bekommt, dass ein junges Talent namens „Fast Eddie“ Felson unterwegs wäre, um mit ihm zu spielen, nimmt er die Ankündigung mehr als entspannt zur Kenntnis. Schließlich ist er in seiner Heimatstadt seit zwanzig Jahren unangefochtener Meister in dieser Disziplin und unzählige Möchtegern-Emporkömmlinge in die Schranken verwiesen. Auf dem Weg von Hot Springs nach Chicago machen Eddie und sein Manager Charlie Halt in Watkins, Illinois, wo Eddie einen unbekümmerten Spieler und einen Barkeeper um einige Hunderter erleichtert. Es ist nicht mehr als ein leichtes Aufwärmen für Eddies großen Auftritt in Bennington’s Billard Hall am nächsten Morgen in Chicago, wo sich Minnesota Fats nicht lange bitten lässt, mit dem Talent der Stunde zu spielen.
Nachdem der routinierte Platzhirsch erwartungsgemäß die ersten Runden für sich entscheiden konnte, zeigt Eddie endlich, was in ihm steckt, und nimmt Minnesota Fats zunächst einen Tausender nach dem anderen ab, doch dann wendet sich das Blatt und Eddie verlässt das Bennington’s nach vierzig Stunden ebenso enttäuscht wie entkräftet. Er gibt Charlie den Laufpass und lernt in einer Bahnhofskneipe die alleinlebende Sarah kennen, die Eddie zunächst etwas Halt gibt. Doch dann packt Eddie wieder das Spielfieber. In Bert findet er einen neuen Manager, der Eddie vor allem etwas über Charakterbildung beibringt. 
„… nach diesem spannenden, knappen Spiel begann er, die leise Stimme der Vernunft zu hören, die ihm sagte, du kannst dich jetzt zurücklehnen, es ist nicht mehr so wichtig, doch er brachte diese Stimme zum Schweigen. Und indem er seinen Gegner damit immer stärker unter Druck setzte, sich immer mehr konzentrierte, wurde ihm allmählich klar, dass das, was Bert über den Charakter gesagt hatte, nur die halbe Wahrheit war. Es gab noch etwas, das Bert nur teilweise begriffen und ihm vermittelt hatte, und das war das feste, unveränderliche Wissen um den Zweck des Spiels – nämlich zu gewinnen.“ (S. 219) 
Mit der deutschen Übersetzung des Originaltitels („The Hustler“) als „Der Schwindler“ oder „Der Betrüger“ ist der Kern von Walter Tevis‘ Debütroman bereits definiert, denn der Protagonist, das junge Billard-Talent Eddie Felson, verdient seinen Lebensunterhalt damit, seinen Gegnern im Billard-Salon zunächst vorzugaukeln, nur ein mittelmäßiger Spieler zu sein, sie ein paar Partien gewinnen zu lassen, bevor er sie am Ende mit leeren Taschen dastehen lässt und weiterzieht. 
Tevis erweist sich als Meister darin, die Atmosphäre in verrauchten, schweiß- und alkoholgeschwängerten Billard-Hallen so zu beschreiben, als sei man mittendrin im Geschehen und würde die überlegten Stöße mit den Queues, das Klacken und Einlochen der Kugeln beobachten und hören. Aber „Die Partie seines Lebens“ ist weit mehr als nur ein Billard-Roman. Mit Eddie Felson hat der Autor eine Figur geschaffen, die zwar talentiert, aber nicht über alle Maße ehrgeizig zu sein scheint, weil sie im entscheidenden Moment versagt. Er sei der geborene Verlierer, muss sich Fast Eddie in einer langen Ansprache von seinem Manager sagen lassen, und diese Konfrontation mit der eigenen Charakterschwäche hallt lange in Eddie nach. Er lässt sich auf eine Beziehung mit einer Frau ein, die sich für eine Alkoholikerin hält und eine leichte Beute für den charmanten Eddie zu sein scheint. 
Aus dieser Konstellation heraus beginnt Eddie an sich zu arbeiten. Wer den eindrucksvollen Film mit Paul Newman in der Hauptrolle einmal gesehen hat, wird bei einzelnen Szenen im Buch auch immer die entsprechenden Bilder auf der Leinwand im Kopf haben, und wie im Film überwiegt auch im Roman eher die Entwicklung, die Eddie durchmacht, als seine Spiele gerade gegen gute bis sehr gute Spieler, die mit Pool ihren Lebensunterhalt verdienen. Die schlichte, aber bildhafte Sprache macht „Die Partie seines Lebens“ zu einem leicht fließenden Lesevergnügen, und man kann nur hoffen, dass Diogenes auch die kurz vor Tevis‘ Tod erschienene Fortsetzung, „The Colour of Money“ (wiederum erfolgreich verfilmt, diesmal mit Paul Newman und Tom Cruise in den Hauptrollen), ebenfalls in einer Neuübersetzung von Diogenes wiederveröffentlicht wird.  

Bernhard Schlink – „Das späte Leben“

Montag, 25. Dezember 2023

(Diogenes, 240 S., HC) 
Mit seiner Krimi-Trilogie um den alternden Privatdetektiv Gerhard Selb, vor allem aber mit dem international erfolgreich verfilmten Bestseller „Der Vorleser“ ist Bernhard Schlink zu einem der bedeutendsten deutschen Schriftsteller avanciert, dessen letzte Werke wie „Die Frau auf der Treppe“ (2014), „Olga“ (2018) und „Abschiedsfarben“ (2020) jeweils wochenlang Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste belegten. Nun legt der in Berlin und New York lebende Autor mit „Das späte Leben“ einen neuen Roman mit einem unbequemen Thema vor. 
Nach seiner jährlichen Routineuntersuchung erfährt der 76-jährige emeritierte Professor Martin Brehm, dass er Bauchspeichelkrebs und nur noch wenige Monate, längstens ein halbes Jahr zu leben hat. Eine Behandlung durch eine Chemo oder experimentelle Therapien kommen für Martin nicht in Frage. Stattdessen will er die ihm verbleibende Zeit möglichst intensiv mit seiner noch sehr jungen Frau Ulla, die als Malerin und in einer Galerie arbeitet, und mit ihrem gemeinsamen, sechsjährigen Sohn David verbringen. 
Zunächst geht es dem Krebskranken noch so gut, dass er die Diagnose des Arztes anzweifelt und eine Zweitmeinung durch einen früheren Universitätskollegen einholt, doch dann kehrt die Müdigkeit zurück und auch das Bewusstsein über die Notwendigkeit, seine Angelegenheiten zu regeln. Dabei beschäftigt ihn vor allem die Frage, was er seiner geliebten Frau und vor allem seinem Sohn noch mit auf den Weg geben kann. Die Idee, eine Videobotschaft für David aufzunehmen, wie es Ulla ihm nahegelegt hat, entspricht nicht Martins Vorstellungen, aber schreibt ihm einen Brief über die wichtigen Themen, die ihn bewegen und die seinem Sohn vielleicht als moralischen Kompass dienen könnten. 
Er schreibt über Liebe und Gerechtigkeit, über den Anteil der Arbeit in einem Leben und natürlich über den Tod, aber auch über die Erbstücke, wie den Schreibtisch und die Taschenuhr, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. 
„Ja, man konnte im Hier und Jetzt leben, nicht nur im Augenblick, der so voll und satt war, dass es nichts sonst gab, sondern tagein, tagaus. Er kannte Menschen, die so lebten. So oft er sie beneidete, öfter noch bedauerte er sie. Aber David würde seine Vergangenheit haben und mit ihr leben, ob Martin ein Teil von ihr wäre oder nicht. Martin begriff, dass es nicht um den Reichtum des Lebens mit der Vergangenheit ging, sondern um etwas ganz anderes. Die Jahre mit ihm und die Erinnerung an die Jahre mit ihm sollten David ein Grundstock an Gewissheit werden, dass er geliebt war.“ (S. 93) 
Bernhard Schlink ist mit „Das späte Leben“ ein großer Wurf gelungen. Einfühlsam beschreibt er aus der Perspektive eines 76-jährigen Mannes, der auf ein erfülltes Leben mit einer sehenswerten Karriere, einer jungen Frau und einem liebenswerten Sohn zurückblicken kann, wie er seinen Abschied vom Leben vorbereitet. Dabei spielen zwar auch praktische Überlegungen wie die Unterbringung in einem Hospiz eine Rolle, aber den Kern der letztlich schlichten, schnörkellos geschriebenen Erzählung bilden die Gedanken und Gefühle eines Sterbenden. 
Wie Martin mit einem langen Brief, den sein Sohn erhalten soll, wenn er sein 16. Lebensjahr vollendet, seine eigenen Überlegungen zu den Bausteinen des Lebens und moralischen Einstellungen niederschreibt, wird sehr deutlich, dass es für Martins Hinterbliebenen ein Leben nach seinem Tod gibt, dass sie ohne ihn zurechtkommen werden, so oder so. Obwohl der nahende Tod, das schmerzvolle Sterben im Mittelpunkt von „Das späte Leben“ stehen, ist die Stimmung des kurzen Romans jedoch recht unbeschwert, denn Schlink lässt seinen Protagonisten nicht in Selbstmitleid versinken. 
Stattdessen sorgt gerade der große Altersunterschied zwischen Martin, seiner Frau und seinem Sohn dafür, dass es eher darum geht, wie man sein eigenes Leben möglichst sinnvoll und erfüllt gestaltet. Dass Martin in den letzten Wochen seines Lebens auch zur Übergriffigkeit neigt, macht ihn nur menschlicher und zeigt, dass man sich nicht sicher sein kann, ob Gutgemeintes auch Gutes bewirkt.  
„Das späte Leben“ ist berührender, wichtiger Roman über die Bedeutung des Lebens, über Freiheit und Grenzen, über Liebe und Verantwortung, aber auch über die Schwierigkeit, loslassen zu können. 

Henning Mankell – „Der Verrückte“

Sonntag, 24. Dezember 2023

(Zsolnay, 506 S., HC) 
Als 1993 mit „Mörder ohne Gesicht“ und „Hunde von Riga“ hierzulande die ersten beiden Krimis um den schwedischen Kriminalkommissar Kurt Wallander von Henning Mankell veröffentlicht wurden, brach schnell ein regelrechtes Skandinavien-Krimi-Fieber aus, in dessen Sog Autoren die Karrieren von Autoren wie Håkan Nesser, Stieg Larsson, Jussi Adler-Olsen, Arne Dahl und Jo Nesbø beflügelt wurden. Neben den vielfach verfilmten Romanen um den sympathischen Kurt Wallander machte Mankell auch mit seinen Afrika-Romanen („Das Auge des Leoparden“, „Der Chronist der Winde“) Furore, doch nach Mankells Tod im Jahr 2015 ebbten die Veröffentlichungen des schwedischen Bestseller-Autors naturgemäß ab. Umso erstaunlicher wirken Mankells Frühwerke aus den 1970er Jahren, die erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurden. Nach den Kurzromanen „Der Sprengmeister“ und „Der Sandmaler“ widmet sich Mankell in dem 1977 im Original veröffentlichten Roman „Der Verrückte“ einem äußerst dunklen Kapitel der schwedischen Geschichte. 
Der Mittdreißiger Bertil Kras hat kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs genug von Stockholm, wo er bei einem Botendienst beschäftigt war, und landet im September 1947 in der kleinen Ortschaft in Norrland, wo er sich in der Pension des Witwers Helmer Gustafson für „eine Zeit lang“ ein Zimmer nimmt und als überzeugter Kommunist bald von Gleichgesinnten erfährt, dass es im Wald ein Lager, eine „Arbeitskompanie“ gegeben habe, in der in den letzten Kriegsjahren Kommunisten und andere politische Oppositionelle interniert waren. Nachdem das Lager abgefackelt worden war, haben sich zwar Fichten auf der Brandstelle ausgebreitet, doch in den Felsspalten sind immer noch Müllreste von kaputten Spaten, Ölfässern, Stiefeln und Konservendosen zu sehen. 
Zu den im Oktober 1940 von Polizeikommissar Lönngren und seinen Kollegen festgenommenen und internierten Kommunisten zählten Svante Eriksson, der nach seiner Freilassung mit seinen Genossen auf Wiedergutmachung drängt. Kras, der schnell Arbeit in dem örtlichen Sägewerk findet und sich in die alleinerziehende Kellnerin Margot verliebt, unterstützt das Anliegen seiner Genossen, in einem offenen Brief an das Lokalblatt auf das Vorgehen der Nazi-Sympathisanten hinzuweisen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Brief sorgt schließlich für Unruhe in dem Dorf. Als das Sägewerk abbrennt und Direktor Rader tot aufgefunden wird, gerät Kras unter Verdacht. Auch wenn es dafür keine Beweise gibt, geraten Kras und Margot zunehmend unter Druck… 
„Sie erlauben es ihrer Beziehung nicht zu wachsen, sich nach innen zu öffnen. Sie essen zusammen, kümmern sich zusammen um Rubinchen, schlafen zusammen, unternehmen zusammen Sonntagsausflüge. Nur ganz selten sprechen sie über Gedanken und Gefühle. Ich weiß ja nicht einmal, wovon sie träumt, denkt er. Mit einem Mal merkt er, dass ihm Margot fremd ist, dass er sich kaum an ihr Gesicht erinnern kann, obwohl er erst vor einer Viertelstunde bei ihr war. Und er fragt sich, ob das für sie genauso ist.“ (S. 263) 
Nicht mal dreißig Jahre war Henning Mankell alt, als er seinen ersten großen Spannungsroman veröffentlichte. Mit „Der Verrückte“ erweist sich der spätere Bestseller-Autor als analytischer Beobachter der schwedischen Nachkriegs-Gesellschaft, dessen öffentliches Leben von etlichen Nazi-Sympathisanten bestimmt worden ist. Auch hier versuchen die einflussreichen Geschäftsleute, die mit den Nazis kooperiert haben, den Schaden, den der veröffentlichte Brief der Kommunisten in der Gemeinde verursacht hat, auf ein Minimum zu reduzieren. 
Wer am Ende das Sägewerk in Brand gesteckt und den Direktor umgebracht hat, wird nicht aufgelöst, ist für den Roman aber auch nicht wichtig. Viel wichtiger sind die minutiösen Milieubeschreibungen von einfachen Menschen, die ihre Arbeit verrichten und ein wenig Glück in der Familie finden wollen. Der Brand und seine Folgen dienen letztlich dazu, die verdächtigen, unerwünschten Personen auszugrenzen, bis sie aufgeben und abziehen oder – wie hier – Amok laufen. 
„Der Verrückte“ ist so mehr ein Gesellschafts- als ein Spannungsroman, der Licht in ein dunkles, hierzulande kaum bekanntes Kapitel der schwedischen Nachkriegsgeschichte beleuchtet und so Bezüge zu den bedenklichen Entwicklungen zunehmend autoritär regierter Länder in Europa in der heutigen Zeit herstellt.  

Quentin Tarantino – „Es war einmal in Hollywood“

Sonntag, 17. Dezember 2023

(Kiepenheuer & Witsch, 416 S., HC) 
Mit Filmen wie „Pulp Fiction“, „Kill Bill“, „Django Unchained“ und „The Hateful 8“ avancierte Quentin Tarantino zu einem der beliebtesten und versiertesten Filmemacher der heutigen Zeit. Nun ist der passionierte Filmliebhaber auch unter die Schriftsteller gegangen. Im Jahr 2021 legte der US-Amerikaner mit der Vorliebe für Italo-Western, Blaxploitation- und Martial-Arts-Filme sein Romandebüt vor, eine Adaption seines letzten Spielfilms „Once Upon a Time in Hollywood“
Hollywood im Jahr 1969. Als der 42-jährige Schauspieler Rick Dalton den Agenten Marvin Schwartz‘ aufsucht, geht es mit ihm nicht nur die Höhepunkte seiner Karriere durch, sondern Schwartz‘ legt am Ende dieser Rekapitulation auch die Finger in die Wunde, als er darauf anspielt, dass Dalton in den Augen des Publikums als Prügelknabe für jeden Platzhirschen herhalten muss, der neu im Geschäft ist. Außerdem muss der ehemalige Star der Westernserie „Bounty Law“ dem Agenten auch die oft kolportierte Geschichte wiedergeben, wie er „um ein Haar“ Steve McQueens Rolle in „Gesprengte Ketten“ gespielt hätte. Nachdem Dalton die „Deine Karriere ist am Ende“-Grabrede des Agenten über sich ergehen lassen musste, erhält er das Angebot, die Hauptrolle in einem italienischen Film zu übernehmen. 
Die Erkenntnis, dass er mit 42 Jahren bereits am Ende seiner Karriere angelangt sein könnte, die nur mit Engagements im Ausland zu retten sei, erschüttert Dalton so sehr, dass er noch im Büro des erfahrenen Agenten zu weinen beginnt und später seinen Kummer in Whiskey Sours ertränkt. Der 46-jährige Kriegsveteran und Daltons langjähriges Stunt-Double Cliff Booth lebt mit seinem Pitbull Brandy in einem Trailer, fährt Dalton durch die Stadt und assistiert ihm bei allen möglichen Arbeiten. Da er seine Frau umgebracht haben soll und Bruce Lee am Rande von Dreharbeiten bei einer nicht ganz freundschaftlichen Kräftemesse am Set von „The Green Hornet“ schlecht aussehen ließ, findet Booth sich damit ab, keine anderen Jobs in der Filmbranche zu finden. 
Als der gefeierte Regisseur Roman Polański und seine Frau, die in Hollywood durchstartende Schauspielerin Sharon Tate, in Daltons Nachbarhaus einziehen, sieht Dalton die einmalige Chance, durch die Bekanntschaft mit dem berühmten Paar seine eigene Karriere wieder in Schwung bringen zu können. Währenddessen sieht er, wie ein unbekannter Mann, Charles Manson, bei den Nachbarn klingelt und nach dem Musikproduzenten Terry Melcher fragt, von dem er sich erhofft, dass er durch ihn einen Plattenvertrag bekommt. Und während Cliff so durch die Gegend fährt, nimmt er das verdreckt aussehende Hippie-Mädchen Pussycat mit und fährt sie zur Spahn-Ranch, die Cliff noch als Westernkulisse für „Bounty Law“ kennt und nun von Charles Manson und seinen Anhängern bewohnt wird… 
„Nachdem er Pussycats wilde Geschichte gehört hat, kann Cliff nicht anders, als einen gewissen Respekt vor diesem Charlie zu empfinden. Ein paar durchgeknallte Hippie-Girls zu manipulieren, das ist eine Sache. Das könnte Cliff wahrscheinlich auch. Aber über wütende Väter mit Schrotgewehren hat Cliff nie viel Macht besessen.“ (S. 317) 
Wie umfassend Tarantinos Wissen über die Filmgeschichte ist, hat er nicht nur in seinen gefeierten Filmen bewiesen, die voller Zitate und Anspielungen sind, sondern auch in Interviews und zuletzt in seinem ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch „Cinema Speculation“. Sein erster Roman stellt weit mehr als eine Nacherzählung seines zweifach Oscar-prämierten Meisterwerks „Once Upon a Time in Hollywood“ dar. Stattdessen nutzt Tarantino die Möglichkeit, die Geschichte, die sich rund um den Übergang des klassischen Hollywood-Kinos zur New-Hollywood-Bewegung und die Morde der Manson-Familie dreht, aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen und neue Schwerpunkte zu setzen. 
Als besonderen Kniff implementiert der Autor rund um Rick Daltons Biografie eine (fiktive) Filmografie, die mit bekannten Hollywood-Darstellern und -Regisseuren gespickt ist und vor allem dazu dient, Hintergründe von Filmproduktionen zu erläutern. Das kommt vor allem im ersten Kapitel zum Tragen, als der Agent Marvin Schwartz und der auf dem absteigenden Ast befindlichen Schauspieler Rick Dalton dessen Werksbiografie durchgeht und Beispiele aufführt, wie Schauspieler durch geschickt geflochtene Beziehungen oder Verträgen zu ihren Rollen gekommen sind. 
Indem Tarantino später auch die Filmhandlung von Daltons Gastrolle als Bösewicht in der Westernserie „Lancer“ ausführlich wiedergibt, führt Tarantino eine Meta-Ebene in seine Erzählung ein, die ohnehin immer wieder zwischen Dalton, Booth, Sharon Tate und den Mitgliedern der Manson-Family wechselt. Dabei fließt weit weniger Blut, ist viel weniger Action am Start als in dem dazugehörigen Film mit Leonardo DiCaprio und Brad Pitt in den Hauptrollen. Dafür fesselt Tarantinos Romandebüt mit saftigen erotischen Episoden, einer flüssigen, sehr bildhaften Sprache und faszinierenden Hintergründen zu Hollywoods Filmproduktionen in der Hippie-Zeit. 
Das mag zwar keine große Literatur sein, macht aber einfach Spaß und ist als Pflichtlektüre für Filmfans nur zu empfehlen. 

John Banville – „Singularitäten“

Sonntag, 10. Dezember 2023

(Kiepenhauer & Witsch, 432 S., HC) 
Bereits mit seinem dritten, 1976 veröffentlichten Roman „Doctor Copernicus“ setzte sich der mittlerweile 78-jährige irische Schriftsteller und Literaturkritiker John Banville mit dem Leben und der Arbeit von Wissenschaftlern auseinander, was er in folgenden Werken wie „Kepler“, „Newtons Brief“, „Das Buch der Beweise“ oder „Athena“ fortsetzte. Mit seinem neuen Roman erweist sich der Ire einmal mehr als eigensinnige Stimme, der das Erbe seiner berühmten Landsmänner Samuel Beckett und James Joyce selbstbewusst auf seinen Schultern trägt und mit seiner verschachtelten Erzählung geschickt zwischen Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit laviert. 
An einem windigen Aprilmorgen wird der wegen Mordes lebenslänglich verurteilte Freddie Montgomery aus dem Gefängnis entlassen und mietet sich einen Wagen, um an die Stätte seines Verbrechens zurückzukehren, doch hat sich einiges verändert. 
Freddie Montgomery behält zwar seine Initialen, benennt sich aber in Felix Mordaunt um, und was ihm einst als Coolgrange House bekannt war, heißt jetzt Arden House und wird von der Familie des bereits verstorbenen Wissenschaftlers Adam Godley bewohnt, der nicht nur mit Montgomerys Frau schlief, sondern durch seine von ihm entwickelte sogenannte Brahma-Theorie zu einer Größe unter den Metamathematikern avancierte. Als er sich der fast vierzigjährigen ehemaligen Schauspielerin Helen Godley vorstellt, verrät er ihr, dass er vor langer Zeit in diesem Haus geboren worden sei, doch bringt sie seinen Namen nicht mit den Blounts in Verbindung, die Arden House gebaut haben. 
Irgendwie gelingt Mordaunt es, hier sein Lager aufzuschlagen, im Haus von Adam Godley Jr., seiner Frau Helen und der alternden Haushälterin Ivy Blount. Als Godley Jr. den etwas abgehalfterten Wissenschaftler William Jaybey, Autor von „Die Macht der Schwerkraft: Isaac Newton und seine Zeit“ und Professor am Arcady College, engagiert, um die Biografie seines berühmten Vaters zu schreiben, geraten die Dinge in Schieflage. 
Jaybey glaubt nicht nur, sich in Helen verliebt zu haben, sondern entwickelt bei der Durchsicht von Godleys Briefen und Unterlagen ein Bild des Mathematikers, das so gar nicht mit dem übereinstimmt, das Godley von sich selbst der Welt präsentierte. 
„Wenn er nicht an seinem Schreibtisch saß, sondern irgendwo in der Welt unterwegs war, bekannten die Leute, sie hätten das unheimliche Gefühl, dass er da sei und gleichzeitig nicht da, hier anwesend und gleichzeitig irgendwo anders. Er genoss diese Legendenbildung sehr, förderte sie aktiv und trug häufig heimlich selbst dazu bei. In späteren Jahren machte es ihm Freude, sich als Magus zu sehen, als einen, der eingeweiht ist in Geheimnisse, als Hohepriester des Arkanums, als Zelebrant uralter Rituale in einer Bruderschaft des Einen …“ 
John Banville erweist sich bereits in den ersten Kapiteln als geübter Fabulierkünstler. Wenn er beschreibt, wie Montgomery (den Banville-Kenner bereits aus den Romanen „Das Buch der Beweise“, „Athena“ und „Geister“ kennen) das Gefängnis hinter sich lässt, um mit neuer Identität an den Ort zurückzukehren, an dem er das Dienstmädchen ermordete, wird schnell deutlich, mit welch großem Spaß er sein neues Leben zu formen versteht. 
Wer mit Banvilles sprachlicher Virtuosität noch nicht so vertraut ist, wird einige Kapitel benötigen, um von diesem komplexen Strom der Wörter mitgerissen zu werden. Doch dann entfesselt sich eine faszinierende Geschichte, in der die Persönlichkeiten, die die Handlung vorantreiben oder von ihr vorangetrieben werden, sich allesamt einer Überprüfung ihrer Existenz unterziehen müssen. Während Montgomery/Mordaunt genüsslich seine eigene Biografie erfindet, Godleys Schwiegertochter ihrer Schauspielkarriere hinterhertrauert und ihren Mann ausgerechnet mit dem Mörder betrügt, scheint nur der allwissende, gottgleiche Erzähler mehr zu wissen, was er mit großer Genugtuung seinem Publikum kundtut. Auf der anderen Seite ist Godleys Biograf sichtlich verstört von den ihn umringenden Personen und Ereignissen ebenso wie von dem Bild, das sich von seinem Studienobjekt abzeichnet. 
 Banville präsentiert sich als versierter Meister der Sprache und des Spiels mit Identitäten, die sich aus verschiedensten Quellen speisen, nicht zuletzt aus dem Erfindungsreichtum und den Sehnsüchten der Protagonisten. Je mehr man sich diesem Spiel mit realen wie fiktionalen Persönlichkeiten und ihren vielschichtigen Geschichten hingibt, desto prächtiger gestaltet sich das Lesevergnügen. 

Robert R. McCammon – „Tauchstation“

Montag, 4. Dezember 2023

(Knaur, 400 S., Tb.) 
Als Robert R. McCammon Ende der 1970er Jahre seine Schriftsteller-Karriere begann, arbeitete er sich zunächst an den Archetypen des Horror-Sujets ab. Nach seinem Debüt mit „Baal“, der auf der Welle von Blockbustern wie „Der Exorzist“ und „Das Omen“ schwamm, beschwor „Höllenritt“ alte Dämonen herauf, und so durfte man gespannt sein, was dem amerikanischen Genre-Schreiber für sein nächstes Werk einfallen würde. „Tauchstation“, 1980 unter dem passenderen Titel „The Night Boat“ im Original veröffentlicht, vermischt das von den Nazis erzeugte Grauen mit Voodoo-Flüchen, kommt aber über das Mittelmaß nie hinaus. 
Nachdem er vor ein paar Jahren seine Frau und seine Tochter bei einem tragischen Unglück verlor, zog sich der ehemalige Finanzier David Moore auf die kleine Karibik-Insel Coquino zurück, wo er nicht nur das Hotel „Indigo Inn“ führt – in das sich selten genug Touristen verirren -, sondern auch ausführliche Tauchfahrten unternimmt, um versunkene Schiffswracks aufzuspüren. Bei einem dieser Tauchgänge stößt Moore unter einem Berg von Sand auf ein sehr gut erhaltenes U-Boot, das sich nach der Detonation einer ebenfalls freigelegten Wasserbombe an die Oberfläche bewegt und als das nazideutsche U-Boot 198 entpuppt. 
Durch die Strömung bewegt sich das Boot zielstrebig auf den Hafen der Insel zu und sorgt dort für extreme Unruhe. Constable Steve Kip lässt das Boot erst einmal in einem Schuppen von Langstrees Bootswerft einschließen, bis geklärt worden ist, was mit dem Wrack geschehen soll, denn darüber herrscht auf der Insel Uneinigkeit. Während die einen es gar nicht erwarten können, den vermeintlichen „Schatz“ zu erforschen, sind es vor allem die Ureinwohner, die das unheilvolle Wrack schnellstmöglich wieder in den Meerestiefen versinken lassen wollen. 
Doch ein übereifriger Inselbewohner kommt diesen Überlegungen zuvor und verschafft sich Zugang zu dem U-Boot, doch statt des erhofften Goldes findet der Mann den Tod und befreit die mumifizierten Leichen der Besatzung aus ihrem Grab. Nachdem sie vor gut vierzig Jahren auf dem Meeresgrund ihre Lebenssäfte eingebüßt haben, dürsten sie nun nach Rache und versetzen die Bewohner auf Coquino in Angst und Schrecken. Dass mit Schiller der letzte Überlebende der U-198 und mit Dr. Jana Thornton eine für das Britische Museum arbeitende Meeresarchäologin die Insel besuchen, trägt nicht gerade zur Beschwichtigung der um sich greifenden Hysterie bei, während sich die verfluchten U-Boot-Soldaten in einem unerbittlichen Blutrausch an den noch wirklich Lebenden zu laben beginnen … 
„Als er in diese Augenhöhlen starrte, begriff Moore, worin das Erbe des U-Boots bestand. Seine Insassen waren zu einem Leben im Tode verdammt, einem Schwebezustand von seelischer Qual und fleischlicher Verwesung. Irgendeine gottlose Macht hatte sie am Leben erhalten, als lebende Leichname in einem eisernen Sarg … und er selbst hatte sie aus dieser Gruft befreien helfen.“ (S. 277f.) 
Mit „Tauchstation“ verbindet Robert McCammon gleich mehrere Topoi des Horror-Genres, vermischt Nazi-Greuel mit monsterähnlichen Schrecken aus der Tiefe und Voodoo-Flüchen. Da ist erst einmal die paradiesische Idylle einer nicht allzu bekannten Insel in der Karibik, doch der Schein trügt, denn die Karaiben und die meist weißen Fischer trauen sich kaum über den Weg. McCammon gelingt es zwar, die Atmosphäre des Insellebens einzufangen, doch gewinnen seine Figuren dabei kaum Kontur. Es wird zwar kurz erwähnt, welche Traumata sowohl David Moore als auch Steve Kip in ihrer Vergangenheit erlebt haben, doch in die Tiefe geht der Autor bei der Charakterisierung seiner Protagonisten leider nicht, weshalb der Leser kaum Nähe zu den Figuren und ihren Schicksalen aufbaut. Ohnehin scheint das geheimnisvolle Auftauchen des über viele Jahre verschütteten U-Boots nur ein Prolog zu dem blutigen Massaker zu sein, das die zombifizierte, mit einem Voodoo-Fluch belegte U-Boot-Besatzung nach ihrer Befreiung auf der Insel anrichtet. 
Hier läuft McCammon schließlich zur Hochform auf, wenn er das Gemetzel in farbenfroher Detailverliebtheit schildert. Dank der sprachlichen Gewandtheit des Autors lässt sich der vorhersehbare Plot auch schnell konsumieren, aber besonders subtil und tiefgründig ist das nicht. 
„Tauchstation“ ist unterhaltsamer Horror-Trash, eine wenig originelle Fingerübung eines damals noch jungen Autors.