Cody McFadyen – (Smoky Barrett: 1) „Die Blutlinie“

Samstag, 28. Dezember 2019

(Bastei Lübbe, 476 S., Tb.)
Smoky Barrett hat eine rasante Karriere beim FBI hingelegt, nach ihrem Abschluss in Quantico als Jahrgangsbeste schließlich die Zweigestelle der Abteilung CASMIRC (Child Abduction and Serial Murder Investigative Ressources Center) in Los Angeles geleitet. Sie holte sich mit Callie, Alan und James die besten Agenten ins Team und lief in ihrer Abteilung zu Hochform auf. Doch vor sechs Monaten drang ein Mann namens Joseph Sands in ihr Haus ein, fügte ihr vor den Augen ihres gefesselten Mannes Matt mit dem Messer die fürchterlichsten Wunden zu, vergewaltigte sie, tötete sowohl Matt als auch ihre gemeinsame Tochter Alexa, bevor sich Smoky mit einem Kraftakt befreien und ihren Peiniger erschießen konnte.
Nach einer intensiven Therapie beim Psychologen Dr. Peter Hillstead ist sie wieder bereit, ihren Dienst beim CASMIRC zu versehen, doch viel Zeit zum Eingewöhnen hat Smoky nicht: Ein psychopathischer Killer, der sich als direkter Nachfahre von Jack the Ripper sieht, hat in San Francisco nicht nur Smokys alte Schulfreundin Annie King misshandelt und schließlich getötet, sondern auch ihre Tochter Bonnie an die Leiche ihrer Mutter gefesselt, bevor sie nach drei Tagen endlich entdeckt wurde. Wie sein vermeintlicher Vorfahre Jack the Ripper macht sich auch Jack Junior auf die Jagd nach Prostituierten, die wie Annie King in der Regel ihre eigene Porno-Website unterhalten haben. Der Killer sucht die direkte Konfrontation mit Smoky, die er als Pendant zu Inspector Abberline betrachtet, der damals Jack the Ripper gejagt hatte. Dafür bedroht er die engsten Vertrauten der scharfsinnigen Ermittlerin, der allmählich die Zeit davonläuft. Jack Junior geht bei seinen Taten nicht nur äußerst geschickt vor, sondern verübt seine grausigen Verbrechen offensichtlich nicht allein …
„Bei Jack Junior haben wir das gesamt Spektrum physischer Beweise abgegrast, einschließlich der internen IP-Nummern der Provider. Er hat sich maskiert, hat Wanzen und Peilsender angebracht, sich Jünger herangezogen, hat ausgesprochen geschickt agiert.
Und jetzt hängt die Aufklärung des Falls wahrscheinlich von lediglich zwei Faktoren ab. Einem Stück Rindfleisch und einem fünfundzwanzig Jahre zurückliegenden ungelösten Fall, der im VICAP Staub angesetzt hat.“ (S. 416) 
Mit seinem 2006 veröffentlichten Debüt „Die Blutlinie“ hat der US-amerikanische Schriftsteller Cody McFadyen eine überaus charismatische Protagonistin etabliert, die von Beginn an die Sympathien der Leserschaft zu gewinnen versteht. Indem McFadyen seine äußerlich krass entstellte und innerlich starke, aber arg gebeutelte Heldin Smoky Barrett als Ich-Erzählerin das ihr zugefügte Leid rekapituliert und ihre vielschichtigen Empfindungen und Erinnerungen an ihre verlorene Liebe und die kaum vorstellbar brutalen Ereignisse beschreibt, ist das Publikum bereits völlig eingenommen von der taffen Frau, die zwar verständlicherweise auch schon mit dem Gedanken gespielt hat, sich mit ihrer Pistole das Hirn wegzuschießen, aber dann doch lieber zu dem zurückkehrt, was sie am besten kann: Serienmörder zu schnappen. Dabei erweist sich ihr nächster Gegner als raffinierter, selbstbewusster Täter, der den Agenten immer einen Schritt voraus zu sein scheint und seine Opfer aus Smokys immer näheren Umfeld sucht.
McFadyen gelingt es, die Spannungskurve konsequent anzuziehen und dabei tief in die Psyche seiner Figuren einzutauchen und trotzdem die Handlung konsequent voranzutreiben. Die beschriebenen Verbrechen sind nichts für Zartbesaitete und lassen sich locker im Umfeld von „Sieben“ und „Das Schweigen der Lämmer“ ansiedeln. „Die Blutlinie“ wäre ein absolut erstklassiger Thriller geworden, wenn McFadyen sich nicht auf die Konventionen des Genres eingelassen hätte, um einen überraschenden, leider aber auch völlig unglaubwürdigen Täter aus dem Hut zu zaubern. All die Spannung, die der Autor bis zum missglückten Finale so brillant aufgebaut hat, macht er durch diesen viel zu konstruiert wirkenden „Kniff“ wieder zunichte. Davon abgesehen bietet „Die Blutlinie“ aber atemlosen Thrill und eine echte Persönlichkeit als Protagonistin, die es bislang auf vier Fortsetzungen gebracht hat.
Leseprobe Cody McFadyen - "Die Blutlinie"

Cormac McCarthy – „Land der Freien“

Donnerstag, 26. Dezember 2019

(Rowohlt, 334 S., Tb.)
John Grady arbeitet als junger Cowboy auf einer Ranch in New Mexico und hat sich dort mit dem etwas älteren Billy Parham angefreundet. Der Umgang mit den Pferden macht ihnen Spaß, obwohl die Arbeit ebenso hart wie unspektakulär ist. Abwechslung bringen nur die Ausflüge ins nahegelegene El Paso oder über die Grenze nach Ciudad Juárez, wo sie sich in den Kneipen und Bordellen vergnügen. Erst als John Grady in einer der Kneipen die Hure Magdalena entdeckt und sich in sie verliebt, gerät sein geordnetes Leben ins Wanken. Obwohl er von ihren epileptischen Anfällen weiß und später erfährt, dass sie den Zuhälter Eduardo heiraten soll, bringt ihn nichts davon ab, mit ihr zusammen sein zu wollen.
Zunächst versucht er es noch auf die diplomatische Tour und schickt Billy vor, die Bedingungen mit Eduardo auszuhandeln, doch der hat nicht vor, Magdalena ziehen zu lassen. Das verliebte Paar fasst einen waghalsigen Plan, will mit gefälschten Papieren fliehen und heimlich heiraten, doch das Vorhaben wird verraten – mit tragischen Konsequenzen für alle Beteiligten …
„Er wusste, dass uns das, was wir unbedingt in unserem Herzen bewahren möchten, oft genommen wird, während das, was wir loswerden wollen, durch ebendiesen Wunsch oft ein unerwartetes Beharrungsvermögen zu gewinnen scheint. Er wusste, wie zerbrechlich die Erinnerung an einen geliebten Menschen ist. Wie wir die Augen schließen und mit ihm sprechen. Wie wir uns danach sehnen, noch einmal seine Stimme zu hören, und wie diese Stimme und die Erinnerung schwach und schwächer werden, bis das, was einst Fleisch und Blut war, nurmehr Nachhall und Schatten ist.“ (S. 220) 
Mit „Land der Freien“ hat Cormac McCarthy seine 1992 mit „All the Pretty Horses“ (dt. „All die schönen Pferde“, 1993) begonnene und 1994 mit „The Crossing“ (dt. „Grenzgänger“, 1995) fortgesetzte Border-Trilogie beendet und die Schicksale seiner beiden Protagonisten John Grady Cole und Billy Parham zusammengeführt. Während John Grady Cole im Jahre 1949 als Sechszehnjähriger aufbrach, mit seinem Freund Lacey Rawlins von Texas nach Mexiko zu reiten, um dort das Leben in vermeintlicher Freiheit zu genießen und sich mit dem Wesen von Pferden anzufreunden, überquerte Billy Parham in „Grenzgänger“ bereits neun Jahre zuvor mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Boyd die Grenze, um die Mörder ihrer Eltern aufzuspüren, die sich auch noch die Pferde der Familie unter den Nagel gerissen haben. In „Land der Freien“ kreuzen sich nun die Wege der beiden jungen Männer, die auf ihren Reisen zwischen den Grenzstaaten der USA und Mexiko schreckliche Dinge erlebt, auf der Ranch in New Mexiko aber ihre Bestimmung gefunden haben. Es ist eine ebenso raue wie schöne Welt, die McCarthy wie gewohnt detailreich in seiner kargen, poetischen Prosa beschreibt, so ausführlich, dass der Leser wie hypnotisiert in die Szenerie hineingezogen wird. Allerdings wendet sich der Autor im weiteren Verlauf der Geschichte zunehmend seinen Figuren zu, vor allem John Grady, der sich unsterblich in eine junge Hure verliebt und alles bereit ist zu tun, um mit ihr zusammen sein zu können. Dabei ist jedem, der Zeuge der unglücklichen Konstellation wird, dass Magdalena einem anderen, weitaus mächtigeren und skrupelloseren Mann versprochen ist, sofort klar, dass diese unmögliche Liebe zwischen der Hure und ihrem jungen Verehrer ein böses Ende nehmen muss. Die finale Konfrontation zwischen John Grady und Eduardo beschreibt McCarthy wie einen tödlichen Tanz, bei dem die eingesetzten Messer unauslöschliche Wunden in die Körper und Seelen der beiden Kontrahenten hinterlassen.
Fünfzig Jahre später blickt Billy Parham auf die blutigen Ereignisse zurück und vertieft sich mit einem weisen alten Mann unter einer Autobahnbrücke in tiefgehende philosophische Betrachtungen, die McCarthys Selbstverständnis vom Leben im zunehmend zivilisierten Wilden Westen verdeutlichen, die romantischen Vorstellungen des Lesers mit Staub, Whisky und Blut beflecken.
Leseprobe Cormac McCarthy "Land der Freien"

Cormac McCarthy – „Grenzgänger“

Sonntag, 22. Dezember 2019

(Rowohlt, 448 S., Tb.)
Der 16-jährige Billy Perham und sein jüngerer Bruder Boyd wachsen im Grant County auf, von wo man noch auf direktem Weg nach Mexiko gelangen kann, ohne auf einen Zaun zu stoßen. Zusammen mit seinem Vater unternimmt Billy regelmäßig Jagdausflüge und stellt Fallen für die Wölfe aus, die ihre Viehherde bedrohen. Als Billy eines Tages eine trächtige Wölfin aus der Falle befreit, will er sie allein zurück in die mexikanische Sierra bringen, wobei er unterwegs mit anderen Reisenden und Einwohnern aus der Gegend von Chihuahua ins Gespräch kommt.
Als er Monate später aber zur elterlichen Farm zurückkehrt, findet er sie verlassen vor: Die Eltern wurden ermordet, die Pferde gestohlen, sein Bruder ist bei Pflegeeltern untergekommen. Die beiden Brüder machen sich auf die Reise nach Mexiko, wo sie die Pferdediebe vermuten, wobei sich Boyd mit einem gleichaltrigen mexikanischen Mädchen in Mexiko niederlässt. Mit 21 Jahren unternimmt Billy seine nächste Reise nach Mexiko, diesmal, um seinen Bruder zu suchen, dessen sterbliche Überreste er zurück nach New Mexiko bringen will. Einmal mehr beschäftigt sich Billy mit der Frage nach seiner Heimat und Identität …
„Die Welt kann sich nicht verirren. Nur wir. Und weil diese Namen und Gradnetze von uns stammen, können sie uns nicht helfen. Können sie uns die Suche nach dem richtigen Weg nicht abnehmen. Dein Bruder ist dort, wo die Welt ihn haben wollte. Er ist an dem Platz, der für ihn bestimmt war. Zugleich hat er sich diesen Platz selber ausgewählt. Und so einen glücklichen Zufall sollte man nicht geringschätzen.“ (S. 408) 
Mit dem Auftakt seiner sogenannten „Border-Trilogie“, „All die schönen Pferde“, gelang Cormac McCarthy 1992 der internationale Durchbruch, zwei Jahre später legte er mit dem epischen „Grenzgänger“ auf imponierende Weise nach. Minutiös schildert der Pulitzer-Preisträger in seiner ebenso archaischen wie poetischen Sprache die Mühsal des Lebens auf einer Ranch, wo Wölfe die Lebensgrundlage der Menschen bedrohen. Doch statt den ausgemachten und endlich gefangenen Übeltäter zu töten, erbarmt sich der 16-jährige Romanheld der trächtigen und geschundenen Wölfin und unternimmt mit ihr eine abenteuerliche Reise voller lebensbedrohlicher Gefahren, wobei sich Billy auch deshalb so um das Wohl der Wölfin bemüht, weil er sie für eine Botin aus einer anderen Welt betrachtet, in der die Natur nach eigenen Gesetzen funktioniert.
Immer wieder bringt McCarthy Gegensätze zusammen, Wildnis und Zivilisation, Gewalt und Güte, Einsamkeit und Geselligkeit, Mordlust und Vergebung, Hoffnung und Verzweiflung, Heimat und die Fremde. Es ist nichts Glorifizierendes, das der Autor zum Western-Genre beizutragen hat. Stattdessen beschreibt er eindrucksvoll die kleinen und großen Gesten, die den Unterschied zwischen Gut und Böse ausmachen.
Neben den fast schon manieristisch detaillierten Beschreibungen der Alltagsszenen, der Reisen und gefahrvollen Aufeinandertreffen mit Dieben und Mördern webt McCarthy aber immer wieder betörend eindringliche, mit lakonisch humorvollen Akzenten versehene Dialoge ein, die oft leider im spanischen Original belassen werden, so dass sich für den Leser der Sinn nur aus dem Kontext erschließt.
Wie brutal die Welt letztlich ist, stellt Billy am Ende seiner ersten Reise nach Mexiko fest, als er auf die verlassene Ranch seiner Familie zurückkehrt. Statt jedoch zu verzweifeln, macht sich Billy immer wieder auf den schicksalhaften Weg zu den Verursachern des Unglücks und wird dabei selbst mit den unterschiedlichsten Empfindungen konfrontiert. Wie McCarthy all diese Gegensätze zu großer Literatur vereint, ist nicht unbedingt leichtverdauliches Pageturner-Futter, bleibt aber nachhaltig in der Vorstellungskraft des Lesers haften.
Leseprobe Cormac McCarthy "Die Border-Trilogie"

Dan Brown – (Robert Langdon: 5) „Origin“

Sonntag, 15. Dezember 2019

(Lübbe, 670 S., HC)
Edmond Kirsch, milliardenschwerer Fachmann für Spieltheorie und computerbasierte Modellrechnungen, trifft sich in der legendären Bibliothek von Montserrat mit drei prominenten Vertretern unterschiedlicher Religionen, um ihnen von seiner Entdeckung zu berichten, die Grundlage für eine demnächst geplante öffentliche Präsentation sein soll, die die Grundfesten aller Religionen erschüttern wird. Doch kaum hat er dem spanischen Bischof Antonio Valdespino, der zudem ein enger Vertrauter des spanischen Königs ist, dem jüdischen Philosophen Rabbi Yehuda Köves und Al-´Allāma Seyd al-Fadl seine brisanten Erkenntnisse vorgestellt, werden sowohl der Rabbi als auch der muslimische Religionsführer ermordet.
Währenddessen wird der an der Harvard University lehrende Professor für Symbologie Robert Langdon von seinem früheren Studenten Edmond Kirsch eingeladen, an seiner unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen stattfindenden Präsentation im Guggenheim Museum von Bilbao teilzunehmen. Doch während der beeindruckenden Einleitung zur Multimedia-Präsentation, in der Kirsch Antworten auf die zentralen Fragen der Menschheit – Woher kommen wir? – Wohin gehen wir? – zu geben beabsichtigt, wird Kirsch von einem Admiral der spanischen Marine, dessen Name kurzfristig auf die Gästeliste gesetzt worden war, erschossen. Im anschließenden Chaos können Langdon und die bildschöne Leiterin des Museums, Ambra Vidal, zusammen fliehen.
Die Verlobte des spanischen Thronfolgers Júlian hat vor der Präsentation viel Zeit mit Kirsch verbracht und führt Langdon in Kirschs Wohnsitz in Barcelona, wo sie mithilfe von Kirschs KI-Assistenten Winston die so brutal gestoppte Präsentation der Öffentlichkeit zugängig machen wollen. Allerdings benötigen sie dazu ein siebenundvierzig Zeichen langes Passwort, um Zugang zu der offensichtlich nicht nur von radikalen Kirchenvertretern gefürchteten Präsentation zu bekommen. Während sich die Gerüchte mehren, dass ausgerechnet Bischof Valdespino hinter dem Attentat steckt, fürchtet vor allem auch Ambra um ihr Leben.
„Wenn Edmond tatsächlich zwei der größten Mysterien des Lebens gelöst hatte – was konnte daran so gefährlich und zerstörerisch sein, dass man ihn ermordet hatte, um ihn daran zu hindern, seine Entdeckung der Welt zu offenbaren?
Langdon hatte keine Ahnung. Er wusste nur eines mit Sicherheit: Die Entdeckung hatte mit dem Ursprung des Menschen zu tun.
Was kann so schockierend sein am Ursprung des Menschen? An seiner Bestimmung?“ (S. 270) 
Nach „Illuminati“, „Sakrileg“, „Das verlorene Symbol“ und „Inferno“ begibt sich der berühmte Symbologe Robert Langdon in „Origin“ bereits das fünfte Mal auf eine gefährliche Schnitzeljagd, die der amerikanische Bestseller-Autor Dan Brown mit bewährter Raffinesse inszeniert, indem er berühmte Kunstwerke und Bauwerke als zentrale Punkte auf der abenteuerlichen Reise seines sympathischen Protagonisten setzt. Dabei widmet sich Brown auch einem überraschend aktuellen Thema, nämlich den weltweit erschreckenden Ausmaßen terroristischer Anschläge, die im Namen religiöser Überzeugungen verübt werden. Ohne auf vereinzelte Terroranschläge konkret einzugehen, beschwört Brown Philosophen, Dichter, Politiker und Künstler wie William Blake, Friedrich Nietzsche, Charles Darwin, Winston Churchill, Antoni Gaudí und Paul Gauguin herauf, um die Widersprüche und Gegensätze zwischen religiösen Überzeugungen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen aufzuzeigen. Brown hat sich seither mit den großen Mythen vor allem der christlichen Religionen, mit den geheimnisvollen Symbolen berühmter Kunstwerke und großen wissenschaftlichen Entdeckungen auseinandergesetzt. Nun scheint er den letzten großen Geheimnissen auf den Grund gehen zu wollen. Die vermeintliche Beantwortung der eingangs thematisierten Fragen bilden das Spannungsgerüst von „Origin“. Der Leser bekommt erst die ersehnten Antworten, wenn Langdon das Passwort zu entschlüsseln vermag, wobei er einmal mehr von einer attraktiven jungen Frau begleitet wird, die mehr als nur Sympathie für den klugen Mann zu empfinden beginnt. Auf der immerhin 670 Seiten langen Odyssee begleiten wir Robert Langdon, Ambra Vidal und Kirschs kinetisch-intelligenten Assistenten Winston zu verschiedenen Bauwerken und historischen Städten, bekommen die Hintergründe zu William Blakes Gedichten, Gaudís außergewöhnlichen Bauwerken und naturwissenschaftlichen Experimenten erklärt, bis wir zur entscheidenden Frage vordringen, wie Naturwissenschaft und Religion vielleicht miteinander ausgesöhnt werden können.
Das ist ebenso spannend, lehrreich wie unterhaltsam geschrieben und beweist einmal mehr, wie gut Dan Brown das Interesse seiner riesigen Fangemeinde zu fesseln versteht. Dabei trägt der Autor schon mal etwas dick auf und bläht seine Schnitzeljagd auch unnötig mit kunsthistorischen Bezügen auf, aber als Leser fühlt man sich dadurch nicht nur gut unterhalten, sondern auch auf kurzweilige Weise belehrt.
Leseprobe Dan Brown - "Origin"

Lee Child – (Jack Reacher: 21) „Der Ermittler“

Sonntag, 8. Dezember 2019

(Blanvalet, 413 S., HC)
Nach seinem Einsatz auf dem Balkon, wo er zwei Männer, die militärische Geheimnisse hätten verraten können, aufgespürt und mit einem Kopfschuss liquidiert hatte, wird Jack Reacher „für außergewöhnlich verdienstvolles Verhalten zum Vorteil der Vereinigten Staaten in wichtiger, verantwortlicher Position“ mit seiner zweiten Legion of Merit ausgezeichnet. Sein nächster Auftrag gestaltet sich aber weitaus schwieriger, wie der Major mit zwölf Jahren Diensterfahrung von seinem Vorgesetzten General Garber erfährt. Zusammen mit Casey Waterman vom FBI und John White von der CIA wird der Ermittler der Militärpolizei vom Nationalen Sicherheitsberater Alfred Ratcliffe auf eine Mission vorbereitet, die Reacher nach Hamburg führt, wo drei Saudis und ein Iraner seit einem Jahr eine Schläferzelle bilden. Der Iraner fungiert dabei als Spitzel, der von der CIA aus dem amerikanischen Generalkonsulat in Hamburg geführt wird. Der Besuch eines weiteren Saudis sorgt für Unruhe, denn sein Ausgangsstatement, dass der Amerikaner hundert Millionen Dollar will, deutet zweifellos darauf hin, dass mit diesem Geld ein Terroranschlag von ungeheuren Ausmaßen finanziert werden soll.
Reacher nimmt mit der besten Ermittlerin, die er kennt, Sergeant Frances Neagley, in Hamburg die Spurensuche auf, wenig später folgt ihnen auch Ratcliffes attraktive Stellvertreterin Dr. Marian Sinclair. Sie hoffen, dass sie etwas Zeit haben, um herauszufinden, wer diese unvorstellbar hohe Summer verlangt und was er dafür den Käufern bietet. Mit der Unterstützung vom Hamburger Kripochef Griesmann können die Amerikaner schließlich einen einfachen amerikanischen Soldaten als Verkäufer identifizieren sowie ein mächtiges Netzwerk Deutschnationaler, die ihr Land den Deutschen zurückzugeben beabsichtigen.
Dass deren Beziehungen bis in die obersten deutschen Polizeikreise reichen, macht die Arbeit für Reacher und seine Kollegen nicht einfacher, und körperliche Auseinandersetzungen lassen sich ab einem bestimmten Punkt der Ermittlungen nicht mehr vermeiden.
„Er durfte gehen, und sie würden ihm folgen. Was bedeutete, dass der Kampf draußen stattfand. Falls es zu einer Schlägerei kam, was nicht sicher war. Was Alter und Gewicht betraf, lagen die meisten dieser Leute über dem Durchschnitt. Da waren Herzanfälle vorprogrammiert. Für die meisten war Zurückhaltung wohl besser als Tapferkeit. Die wenigen Ausnahmen machten Reacher keine Sorgen. Sie wären jünger und etwas besser in Form, aber letztlich doch harmlose Büroangestellte. Reacher war ein guter Straßenkämpfer. Vor allem auch, weil er Spaß daran hatte.“ (S. 221) 
Um etwas Abwechslung in die mittlerweile doch arg in die Jahre gekommene Serie um den charismatischen Ermittler der Militärpolizei der United States Army zu bringen, nimmt uns Autor Lee Child zurück in Reachers aktive Laufbahn, als der Mittdreißiger auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn steht und im Jahr 1996 nach Deutschland geschickt wird, um ein internationales Terrornetzwerk auffliegen zu lassen. Natürlich hat Child dabei die Umstände aufgegriffen, dass in Deutschland einige Attentäter von 9/11 vor ihrem Einsatz in Deutschland verweilten. Dazu hat er Hamburg als außergewöhnlichen Handlungsort ausgewählt, beschreibt die Hansestadt als Tor zur Welt, als Zentrum neonazistischer Tendenzen und sexueller Perversionen. So spannend der Autor die Jagd nach dem amerikanischen Verräter und dessen Handelsobjekt inszeniert, so klischeebehaftet stellt er die Deutschen als tumbe Neonazis dar, die ihre eigenen, missgeleiteten Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg ziehen und an einer neuen Weltordnung wirken.
Immerhin stellt Child seinem Helden mit Kripochef Griesmann einen kompetenten Mann zur Seite, davon abgesehen bleibt das Figurenensemble recht eindimensional. Dass Reacher mit seiner Vorgesetzten eine Affäre beginnt, trägt nicht unbedingt zur Glaubwürdigkeit des Plots bei. Von diesen Ärgernissen abgesehen, bietet „Der Ermittler“ aber gewohnt souverän inszenierte Thriller-Spannung, die sich zwar nicht mit den besten Reacher-Romanen messen kann, aber die Fangemeinde doch kurzweilig zu unterhalten versteht.
Leseprobe Lee Child - "Der Ermittler"

Jeffery Deaver - (Lincoln Rhyme: 14) „Der Todbringer“

Dienstag, 3. Dezember 2019

(Blanvalet, 574 S., HC)
Als William Sloane und seine Verlobte Anna beim Patel Designs in der South Bronx den mit einem anderthalbkarätigen Diamanten besetzten Verlobungsring abholen wollen, tötet ein maskierter Unbekannter mit einem Teppichmesser sowohl das junge Paar als auch den indischen Diamantenschleifer Jatin Patel. Dessen junger Mitarbeiter Vimal stößt wenig später in der Werkstatt auf die Toten und flüchtet. Ein anonymer Anrufer informiert die Polizei, die gleich vor mehreren Rätseln steht, weshalb Detective Lon Sellitto vom NYPD die fast vollständig gelähmte Forensik-Koryphäe Lincoln Rhyme um Unterstützung bittet.
Der maskierte Täter, von dem dank des anonymen Informanten eine gute Personenbeschreibung vorliegt, hat zwar drei Leichen hinterlassen und den Eigentümer zuvor gefoltert, aber mehrere Hundert Diamanten im offenen Tresor liegengelassen. Rhymes Frau Amelia Sachs untersucht mit Mel Cooper den Tatort und riecht, dass auch eine Schusswaffe abgefeuert wurde. Offenbar wurde der unbekannte Zeuge des Überfalls angeschossen, konnte aber fliehen. Der sogenannte Täter 47 (wegen der Siebenundvierzigsten Straße, in der die Morde verübt worden sind) lässt weitere Opfer folgen, die mit Diamanten zu tun gehabt haben, und sendet ein Bekennerschreiben als Textnachricht an verschiedene Fernseh- und Radiosender.
Doch nicht nur die Jagd nach Täter 47, der sich selbst als „Der Versprechende“ bezeichnet, hält die Ermittler in Atem, auch geschickt inszenierte Explosionen, die Erdbeben imitieren sollen, sorgen für weitere Todesfälle. Und schließlich nimmt Lincoln Rhyme einen besonders heiklen Berater-Auftrag an. Der Anwalt des mexikanischen Drogenhändlers El Halcón vermutet, dass seinem Mandanten nach einer Schießerei, bei der Bundesbeamte getötet wurden, Beweismaterial untergeschoben wurde.
„Rhyme las die Einträge durch, prägte sie sich ein und dachte weiter darüber nach, was der mexikanische Anwalt ihm erzählt hatte. Er dachte auch an Sachs, Sellitto, Cooper und die anderen, die unermüdlich gegen Täter 47 ermittelten. Was würden sie davon halten, dass ich in Erwägung ziehe, für das Team eines Drogendealers tätig zu werden?
Es gab keine einfache Antwort auf diese Frage, also ignorierte er sie vorerst und wandte sich wieder den Beweisen zu.“ (S. 312) 
Lincoln Rhyme hat in seiner langen Karriere zunächst beim NYPD und nach seinem folgenschweren Unfall, der ihn für den Rest seines Lebens an Bett und Rollstuhl fesselte, als freier Berater vor allem für seine alte Dienststelle schon mit so manchen gewitzten Psychopathen zu tun gehabt. Doch in „Der Todbringer“ gestaltet sich die Identifizierung des Täters und die Jagd nach ihm als besonders schwierig, weil er an unterschiedlichen, schwer vorhersehbaren Fronten zuschlägt und kein eindeutiges Motiv bei seinem Vorgehen erkennen lässt.
Bestseller-Autor Jeffery Deaver präsentiert auch in seinem 14. Thriller um seinen prominenten Protagonisten Lincoln Rhyme einen akribisch recherchierten, detailreich beschriebenen und sehr komplexen Plot, bei dem drei zunächst unabhängig erscheinende Fälle auf furiose Weise zusammengeführt werden und gerade zum packenden Finale zahlreiche Wendungen aufweisen. So gekonnt Deaver die Spannungsschraube – wenn auch mit einigen Längen im Mittelteil - sukzessive anzieht und interessante Einblicke in das Geschäft mit Diamanten gewährt, so bleiben die Figuren selbst im Hintergrund. Deaver scheint bereits alles über das sympathische Ehepaar Rhyme und Sachs erzählt zu haben, denn bis auf wenige Nebensätze kommt das Privatleben der beiden nicht mehr zur Sprache. Dafür beschreibt er Vimal Lahoris Dilemma, sowohl als Zeuge von der Polizei als auch von Täter 47 gesucht zu werden, sowie den Machtkampf mit seinem Vater.
Die Mischung aus intelligent konzipierter, souverän geschriebener Thriller-Spannung und den persönlichen Geschichten der Protagonisten machen auch „Der Todbringer“ zu einem gelungenen Werk des Autors, der im Finale noch einen alten Bekannten ins Rampenlicht zurückholt.
Leseprobe Jeffery Deaver - "Der Todbringer"

Ian McEwan – „Die Kakerlake“

Sonntag, 1. Dezember 2019

(Diogenes, 134 S., HC)
In seinem früheren Leben war Jim Sams eine verhasste Kakerlake, die hinter der Täfelung im Westminster-Palast ihr Unwesen trieb, doch dann erwacht er eines Morgens aus unruhigen Träumen und findet sich in ungewohnter Umgebung wieder. Eine Frau, die sich offenbar als seine persönliche Referentin erweist, spricht ihn als Premierminister an und erinnert ihn an die Kabinettssitzung um neun und die anschließende Beantwortung von Fragen des Oppositionsführers. Zwar hegt er noch kurz Bedenken, ob er am Rednerpult auch mit nur zwei statt sechs Beinen so souverän stehen und wirken würde, doch den bevorstehenden Fragen sieht er äußerst gelassen entgegen, schließlich kennt er das Gebaren seiner früheren Artgenossen nur zu gut. Von seiner Mission, den Willen des Volkes durchzusetzen, will er sich partout nicht abbringen lassen.
Dafür bewirbt er ein Instrument, das „Reversalismus“ bezeichnet wird, wohinter sich eine Umkehr des Geldflusses verbirgt. Wer einen Job ausüben will, muss dafür bezahlen, wobei bessere Jobs auch höhere Entgeltzahlungen bedeuten. Beim Einkaufen erhält man den monetären Gegenwert für die Waren im Einkaufskorb, so dass man viel einkaufen muss, um sich einen besseren Job leisten zu können. Einzahlungen auf Geldkonten werden mit Negativzinsen belastet, so dass allen damit gedient ist, möglichst immer mehr Geld in Umlauf zu bringen. Das ambitionierte Projekt kann aber nur funktionieren, wenn auch außerhalb Großbritanniens Verbündete gewonnen werden können, weshalb Sams den Schulterschluss mit dem US-amerikanischen Präsident Tupper sucht. Der scheint angesichts einer Zahlung von über siebenhundert Milliarden Dollar auf sein privates Offshore-Konto auf den Cayman-Inseln nicht abgeneigt. Schwieriger gestaltet sich der Austausch mit der deutschen Bundeskanzlerin, der die Argumentation ihres britischen Kollegen nicht einleuchten will.
Warum? Weil. Weil wir das nun mal tun. Weil es das ist, woran wir glauben. Weil wir uns an unser Wort halten. Weil das Volk es so will. Weil ich als Retter aufgetaucht bin. Weil. So lautete letztlich die einzige Antwort: weil.“ (S. 116) 
Bereits mit seinen letzten Werken wie „Kindeswohl“ und „Maschinen wie ich“ setzte sich der preisgekrönte britische Schriftsteller Ian McEwan („Abbitte“, „Der Trost von Fremden“, „Liebeswahn“) mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinander, aber so nah am Puls der Zeit wie mit „Die Kakerlake“ war McEwan bislang noch nicht. Denn die gerade mal gut 130 Seiten umfassende Geschichte präsentiert sich als bitterböse Satire auf den vom Autor gehassten Brexit, wobei er sich ganz ungeschminkt auf Kafkas berühmte Erzählung „Die Verwandlung“ beruft, in der Gregor Samsa eines Morgens als Kakerlake erwacht. McEwan kehrt nicht nur Kafkas Idee auf den Kopf, sondern entlarvt mit der ungewöhnlichen Metamorphose seines Protagonisten, der gleichermaßen als Verkörperung sowohl von Theresa May als auch Boris Johnson dient, die argumentativ schwach unterfütterten Brexit-Pläne der britischen Regierung. Mit dieser Satire rennt McEwan bei den Brexit-Gegnern natürlich offene Türen ein. In die Tiefe geht der Autor mit seinem kurzweiligen und humorvollen Werk dabei nicht, so als würde es sich bei diesem absurden Szenario auch nicht lohnen. Dafür bekommt natürlich auch der amerikanische Präsident sein Fett weg und es wird kurz demonstriert, wie die ebenfalls aktuelle „MeToo“-Debatte auch genutzt wird, um politische Gegner wie den eigenen Außenminister auszubooten. Das ist bei aller Kürze witzig auf den Punkt gebracht, doch kann sich „Die Kakerlake“ nicht in die Reihe von Meisterwerken einreihen, die wir von McEwan gewohnt sind.
Leseprobe Ian McEwan - "Die Kakerlake"

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 11) „Der Verein der Linkshänder“

Mittwoch, 27. November 2019

(btb, 606 S., HC)
Um sich gegen unliebsame Geburtstagsgäste und -glückwünsche zu wappnen, gibt der pensionierte Kriminalkommissar Van Veeteren bekannt, anlässlich seines 75. Geburtstages mit seiner Lebensgefährtin Ulrike Fremdli nach Neuseeland verreisen zu wollen. Ganz so weit weg möchte das Paar zwar nicht, doch dass der geplante Trip kein reines Vergnügen zur Erholung wird, dafür sorgt schon Van Veeterens früherer Kollege Münster, der den Bücherliebhaber mit einem alten Fall konfrontiert. Vor zwanzig Jahren hatten es Münster und Van Veeteren nämlich mit einem verheerenden Brand einer Pension in Oosterby zu tun, bei dem vier Personen ums Leben gekommen sind, die zu Schulzeiten den „Verein der Linkshänder“ gegründet und sich in Mollys Pension zu einem Wiedersehenstreffen verabredet hatten.
Als mutmaßlicher Täter wurde schnell das Vereinsmitglied Qvintus Maasenegger ausgemacht, der das Treffen organisiert hatte, aber nicht unter den Toten identifiziert werden konnte und danach untergetaucht geblieben war. Dass der vermeintliche Täter nun selbst tot in einem nahegelegenen Waldstück entdeckt wurde, stellt die offensichtlich voreilig gezogenen Schlüsse bei den Ermittlungen auf den Kopf, denn Maasenegger wurde wohl in etwa zur gleichen Zeit getötet wie seine vier Vereinskollegen in der Pension.
Da die Pension, in der Van Veeteren mit seiner besseren Hälfte die nächsten zwei Wochen verbringen will, nur wenige Kilometer vom damaligen Tatort entfernt liegt, nimmt der Pensionär Kontakt mit dem damals zuständigen Kommissar vor Ort und dem jetzigen Kommissar Radovic auf und versucht, die Ereignisse von damals neu aufzurollen und weitere Hintergrundrecherchen durchzuführen. Dabei ergeben sich Zusammenhänge mit einem Entführungsfall und einem Brief, mit dem eine ehemalige Nonne ihr Gewissen erleichtern will. Als eine weitere Leiche mit einer Axt im Kopf entdeckt wird, kommen auch Kommissar Barbarotti und seine Kollegin/Freundin Eva Backman ins Spiel …
„Der Fall war wirklich nicht besonders kompliziert gewesen. Der Meinung war damals jeder gewesen. Sie waren sich alle einig und hatten völlig daneben gelegen.
Denn der Abend in Mollys betagter Pension war nicht so abgelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatten. Oder doch, das war er wohl schon, aber die Teilnehmerliste stimmte nicht. Es mussten sechs Personen beteiligt gewesen sein, nicht fünf. Fünf Opfer und ein Täter. Nicht vier Opfer und ein Täter, oder?“ (S. 154) 
2006 erschien mit „Sein letzter Fall“ der eigentlich letzte Roman mit dem charismatischen Kommissar Van Veeteren, der sich damals seines einzigen ungelösten Falls in seiner Karriere noch einmal annehmen musste. Mittlerweile genießt er seinen wohlverdienten Ruhestand und kann sich seiner Leidenschaft für Bücher widmen. Doch sein Ermittlerinstinkt wird durch Münsters Besuch reaktiviert, denn die Entdeckung von Maaseneggers Leiche wirft ein unschönes Licht auf die schlampigen Ermittlungen vor zwanzig Jahren, was auch Van Veeterens Lebensgefährtin nicht müde wird zu betonen, die übrigens als „Vernehmungspsychologin“ sehr stark in den neu aufgerollten Fall involviert ist. Irgendwann in der zweiten Hälfte, als eine weitere Leiche auftaucht, kreuzen sich doch noch die Wege von Van Veeteren und Nessers aktuellen Serien-Protagonisten Gunnar Barbarotti, der jedoch kaum zur Aufklärung beitragen kann. Nesser erweist sich in seinem elften Roman um Van Veeteren einmal mehr als souveräner Erzähler, der einen alten Fall zum Anlass nimmt, den fast 75-jährigen Pensionär eine verpfuschte Ermittlung im neuen Licht zu betrachten, wobei ihm seine pfiffige Lebensgefährtin Ulrike Fremdli mehr als nur eine beiläufige Unterstützung gewährt. Geschickt verwebt der Autor verschiedene Zeitebenen und Handlungsorte, bringt durch das Rekapitulieren vergangener Ereignisse, Briefe, Erinnerungen, Tagebucheintragungen, neue Verhöre und aktuelle Gedanken des Täters auf raffinierte Weise nach und nach die Puzzleteile zur Auflösung zusammen und hält so die Spannung auf einem hohen Niveau.
Die immer wieder eingestreuten philosophischen Betrachtungen des pensionierten Kommissars und der warmherzige Humor machen auch „Der Verein der Linkshänder“ zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, das erst zum Ende hin durch einige Längen leicht getrübt wird. Wer weiß, vielleicht kehrt Van Veeteren doch noch für den einen oder anderen kniffligen Fall ins Rampenlicht zurück …
Leseprobe Håkan Nesser - "Der Verein der Linkshänder"

Cormac McCarthy – „All die schönen Pferde“

Donnerstag, 21. November 2019

(Rowohlt, 334 S., Tb.)
Die beiden jungen Männer John Grady Cole und Lacey Rawlins haben genug vom eintönigen Leben als Viehtreiber in New Mexico und träumen von großen Abenteuern. Nachdem Grady bei seinem Großvater auf dessen Ranch im texanischen San Angelo aufgewachsen war, hält den Sechszehnjährigen nichts mehr dort, als der alte Mann 1949 stirbt. Zusammen mit ihren Pferden hoffen sie jenseits der Grenze in Mexiko ihr Glück zu finden und werden unterwegs vom dreizehnjährigen Jimmy Blevins ergänzt, der offensichtlich auf einem Pferd reitet, das ihm nicht gehört, und zudem eine Waffe trägt, die ihm aber während eines Gewitters gestohlen wird. Tatsächlich finden sie in der Nähe von Coahuila Arbeit auf einer mexikanischen Hacienda, wo sich der reiche Pferdezüchter schnell beeindruckt von Gradys Pferdekenntnissen und seiner Fähigkeit zeigt, Wildpferde zuzureiten.
Doch das Glück der angebotenen Festanstellung hält nicht lange an: Grady verliebt sich in die hübsche Tochter des Patrons und beginnt eine heimliche Liebesaffäre mit Alejandra, die allerdings nicht lange geheim bleibt. Vor allem Alejandras dem unspektakulären Leben auf dem Lande nach Mexiko City entflohene Mutter interveniert und untersagt ihrer Tochter jeden weiteren Umgang mit dem unterprivilegierten Jungen, den sie zu bestechen versucht. Als währenddessen Blevins beim Versuch, seine Pistole zurückzubekommen, einen Mann tötet, festgenommen wird und beim Verhör die Namen seiner beiden vermeintlichen Komplizen verrät, dauert es nicht lange, bis auch Rawlins und Grady verhaftet werden und eine harte Zeit in einem mexikanischen Gefängnis verbringen müssen, wo sie gequält und zusammengeschlagen werden.
„Er erinnerte sich an Alejandra und an die Traurigkeit, die er von Anfang an in ihren geneigten Schultern gesehen und zu verstehen gemeint hatte, obwohl er doch gar nichts von ihr wusste, und er empfand eine Einsamkeit wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Er fühlte sich gänzlich fremd in dieser Welt, auch wenn er sie immer noch liebte. Er fand, in der Schönheit der Welt lag ein Geheimnis verborgen. Er fand, der Herzschlag der Welt hatte einen furchtbar hohen Preis.“ (S. 312) 
Zwischen 1965 und 1985 veröffentlichte der aus Rhode Island, Providence, stammende Schriftsteller Cormac McCarthy gerade mal fünf Romane (darunter „Ein Kind Gottes“ und „Die Abendröte im Westen“), doch erst mit dem 1992 erschienenen Werk „All the Pretty Horses“ gelang McCarthy der Durchbruch, der mit der Platzierung auf Bestseller-Listen und der Auszeichnung mit dem National Book Award einherging. Dabei ist „All die schönen Pferde“ – im Jahre 2000 auch erfolgreich von Billy Bob Thornton mit Matt Damon und Penelope Cruz in den Hauptrollen verfilmt – alles andere als leichtverdauliches romantisches Western-Abenteuer.
Zwar greift McCarthy verschiedene Mythen und Träume von Freiheit und einem Leben in Abenteuer auf, doch nimmt er sich viel Zeit, die unwirtlichen Umstände zu beschreiben, unter denen die beiden jugendlichen Freunde Richtung Mexiko losziehen. Auf ihrem Roadtrip zu Pferde machen sie die unterschiedlichsten Bekanntschaften, von denen ausgerechnet die mit dem gerade mal 13-jährigen Blevins tragische Konsequenzen nach sich zieht. Zu dem dramatischen Verlauf trägt aber natürlich auch die unmögliche Liebe zwischen dem reichen Mädchen und dem mittellosen Abenteurer bei, die vorhersehbaren Zügen folgt.
Der Mythos vom Reisen durch unentdeckte Landstriche bekommt durch schicksalhafte Begegnungen zunehmend tiefere Risse, findet die romantische Liebe letztlich keine Erfüllung. McCarthy beschreibt diese Odyssee in einer unvergleichlichen Sprache, die die karge Landschaft und die wilden Pferde zum Leben erweckt, wobei die teils wunderschönen Dialoge mitten ins Herz gehen.
„All die schönen Pferde“ ist der Auftakt der sogenannten „Border-Trilogie“, zu der noch „Grenzgänger“ (1994) und „Land der Freien“ (1998) zählen.
Leseprobe Cormac McCarthy "Die Border-Trilogie"

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 1) „Das grobmaschige Netz“

Samstag, 16. November 2019

(btb/Weltbild, 256 S., HC)
 Als der Gymnasial-Lehrer Janek Mitter morgens um zwanzig nach acht aufwacht, spürt er nur die unangenehmen Nachwirkungen des Saufgelages vom vorigen Abend. Nicht mal an seinen Namen kann er sich erinnern. Immerhin ist er bei sich zuhause, wie ihm erste Schritte durch die Wohnung verraten. Merkwürdig ist nur, dass die Badezimmertür von innen verriegelt ist. Mit einem Schraubenzieher öffnet er die Tür und sieht sich mit einer furchtbaren Entdeckung konfrontiert: Seine Kollegin Eva Ringmar, mit der er seit drei Monaten verheiratet ist, liegt mit seltsam verrenkten Gliedmaßen tot in der Badewanne. JM, wie er üblicherweise genannt wird, wirft zwei weitere Schmerztabletten ein und informiert die Polizei.
Da er vorgibt, unter einem völligen Gedächtnisverlust über den gestrigen Abend zu leiden, wird Mitter als Tatverdächtiger festgenommen, aber auch seinem Anwalt Rüger kann er keine weiteren Angaben machen. Vor Gericht wirkt Mitter seltsam unbeteiligt, was auch Kriminalkommissar Van Veeteren überrascht, der den Prozess eher aus Langeweile verfolgt und schon ans Aufhören denkt. Er gibt sich eine Woche Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen, dann kündigt er oder macht zumindest erst einmal Urlaub in Australien. Sein Gefühl, dass irgendetwas merkwürdig an dem Fall ist, trügt Van Veeteren nicht, denn als der Angeklagte verurteilt und in ein Sanatorium eingeliefert, wo ihm seinem Gedächtnis wieder auf den Sprung geholfen werden soll, wird auch er ermordet. Zusammen mit seinem Kollegen Münster nimmt Van Veeteren die wenigen Freunde und Bekannten, vor allem aber das Kollegium der beiden Ermordeten ins Visier. Schon bald kommen die Ermittler zum Schluss, dass der Täter nicht zum ersten Mal getötet hat und sehr persönliche Motive gehabt haben muss. Dabei scheint sich vor allem Evas Vergangenheit zum Schlüssel für die Auflösung zu erweisen …
„Wenn Eva Ringmar eine Schattengestalt war, dann waren die Konturen ihres Mörders noch um einiges vager. Der Schatten eines Schattens war er. Van Veeteren fluchte und biss seinen Zahnstocher entzwei.
Sprach denn überhaupt irgendetwas dafür, dass er auf der richtigen Fährte war? Tappte er denn nicht in mehr als nur einer Hinsicht im Dunkeln? Und was, zum Henker, mochte der Mörder für ein Motiv haben?“ (S. 177) 
Es ist ein ungewöhnlicher Fall, mit dem sich der ausgebrannte Kriminalkommissar Van Veeteren in dem Romandebüt des schwedischen Schriftstellers Håkan Nesser aus dem Jahre 1993 herumschlägt. Dabei ist weniger der Umstand, dass sich der vermeintliche Täter nicht an die Ereignisse des Vorabends erinnern kann, so außergewöhnlich, sondern die geschilderte Ermittlungsarbeit und vor allem die gebrochene Figur von Van Veeteren, der auch heute noch zu den charismatischsten Ermittlern zählt, die das Krimi-Genre hervorgebracht hat. Als er nach 20 Seiten eingeführt wird, bekommt der Leser gleich einen Eindruck von dessen Persönlichkeit. Seine Frau hatte sich vor acht Monaten – eigentlich unwiderruflich – zum vierten oder fünften Mal von ihm getrennt, beginnt aber, ihn wieder anzurufen. Seine Anfang zwanzigjährige Tochter Jess lebt mit ihrer eigenen Familie weit entfernt in Borges, sein Sohn Erich sitzt im Staatsgefängnis von Linden eine zweijährige Strafe wegen Rauschgiftschmuggels ab. Sein Vater starb im Alter von zweiundfünfzig Jahren an den Folgen einer schweren Lungenentzündung.
Van Veeteren selbst ist seinen Job müde, allerdings zerreißt der Polizeichef regelmäßig seine Kündigungsschreiben. Mit seinem Kollegen Münster spielt er Badminton, geht ab und zu auch mit ihm einen trinken. Davon abgesehen lebt Van Veeteren letztlich doch für seine Arbeit. „Das grobmaschige Netz“ gibt trotz der kurzen Länge von gerade mal 250 Seiten einen guten Eindruck von den Verhörmethoden und dem verlässlichen Instinkt des Hauptkommissars, der so gar kein Identifikationspotenzial für den Leser hergibt, aber deutlich macht, dass Polizisten ebenso wie Opfer, Täter und Zeugen ganz normale Menschen mit ihren persönlichen Eigenschaften, Sorgen, Träumen und Hoffnungen sind, dass nie viel zu fehlen scheint, bis aus einem gesetzestreuen, unauffälligen Bürger ein Mörder wird.
Trotz des melancholischen Grundtons blitzt immer wieder ein leiser Humor in den Dialogen auf, sorgen die etwas zerpflückt aneinandergereihten Absätze für Sprünge im Handlungsverlauf und zwischen den beteiligten Figuren, die manchmal wie aus dem Nichts in die Szenerie zu fallen scheinen. Doch während die übrigen Beteiligten sehr blass bleiben, gewinnt Van Veeteren schon in seinem ersten literarischen Auftritt an interessanter Kontur, die in den nachfolgenden Romanen deutlich an Profil zulegt.

Gerhard Henschel – (Martin Schlosser: 2) „Jugendroman“

Mittwoch, 13. November 2019

(Atlantik, 541 S., Tb.)
Nach dem Umzug von Vallendar bei Koblenz ins emsländische Meppen durfte sich der dreizehnjährige Martin Schlosser zwar darauf freuen, nicht mehr sechs Stunden im vollgefurzten PKW bis zu den Großeltern in Jever verbringen zu müssen, sondern nur noch zwei Stunden zu brauchen, doch davon abgesehen hält das neue Zuhause nicht viele Freuden für den Pubertierenden bereit. Mit seinen Geschwistern Volker, Wiebke und Renate verbindet Martin nicht mehr viel, dafür vermisst er seine Freunde, von denen ihm sein bester Kumpel Michael regelmäßig per Brief Bericht erstattet, wie langweilig ihm ständig sei.
Martin kickt in der C-Jugend vom SV Meppen und träumt schon von einer Karriere als Weltklassespieler, der irgendwann zusammen mit Jupp Heynckes, Sepp Maier und Dieter Müller in der Nationalelf stürmen würde. Doch während seine Lieblingsmannschaft von Borussia Mönchengladbach zum dritten Mal hintereinander Meister wird, kommt seine eigene Mannschaft ziemlich oft heftig unter die Räder, so dass ihm irgendwann die Lust am Training vergeht.
Wenig erbaulich erweisen sich auch die Arbeitseinsätze in Papas Keller, wenn dieser wieder sägt, schraubt und hämmert, oder im Garten beim Unkrautjäten.
„Im Treppenhaus hatte Volker einen ziehengelassen. Wiebke übte Tonleitern, Mama kramte auf dem Dachboden Teppichreste für Renates neue Wohnung zusammen, Papa brachte den fertiggeknüpften Lampenschirm testhalber überm Esstisch an, und in meinem Stern-Horoskop stand der schlaue Ratschlag: Ärgern Sie sich nicht weiter mit dieser Gesellschaft herum. Kehren Sie ihr den Rücken zu, für immer! Nichts lieber als das. Alle Brücken abbrechen und untertauchen, um irgendwo anders ein neues Leben anzufangen.“ (S. 336) 
Sinnlos erscheint dazu der Unterricht in der Schule. Martin ist sich sicher, dass er die mathematischen und physikalischen Lehrsätze, die er pauken muss, nie wieder im Leben benötigen wird. Dafür verdient er sich mit kurzen Aufsätzen zu ausgesuchten Fragestellungen in der Zeit jeweils 25 Mark und verguckt sich in seine Mitschülerin Michaela …
Nach dem ersten Band („Kindheitsroman“) der nach wie vor fortgesetzten Chronik des Lebens von Gerhard Henschels Alter Ego Martin Schlosser sind der Ich-Erzähler und sein Publikum in Martin Schlossers Pubertät angekommen, die nach dem Umzug von Vallendar nach Meppen von den Pflichten bei der Hausarbeit, Fußballtraining, Konfirmandenunterricht und wenig erbaulichem Schulalltag geprägt sind. Der Briefwechsel mit seinem Freund Michael und die Freuden an der politischen und kulturellen Bildung halten Martin zum Glück bei der Stange. Beim Lesen von Mario Puzos „Der Pate“ und der Biografien von Anthony Quinn und Curd Jürgens bleiben vor allem die Schilderung von erotischen Erlebnissen in Erinnerung.
Henschel, der als akribischer Chronist seiner Zeit gilt, verbindet wie in „Kindheitsroman“ und den nachfolgenden Werken die Eckpunkte seines eigenen Lebens mit Anekdoten aus dem zeitgeschichtlichen Geschehen. Hier sind vor allem die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, die Aktivitäten der RAF, die Auseinandersetzungen zwischen der CDU und CSU und Günter Wallraffs Undercover-Einsatz in der BILD-Redaktion zu nennen, dazu fließen Reflexionen über Alben der Beatles, Joan Baez und Insterburg & Co sowie Filme mit John Wayne, Roman Polanski und Alain Delon ein, Kommentare zu den Boxkämpfen von Muhammed Ali und den Spielen sowohl der Gladbacher als auch der Nationalmannschaft.
Die Aneinanderreihung verschiedenster Anekdoten aus dem Leben von Martin Schlosser geriert sich einmal mehr als amüsantes Sammelsurium von Ereignissen, die die Welt, vor allem aber den aufgeweckten wie humorvollen Ich-Erzähler Mitte der 1970er Jahre bewegt haben. Das bietet vor allem für Schlossers Zeitgenossen einen unerschöpflichen Fundus an Erinnerungen an die Zeit, in der sie aufgewachsen sind, und macht neugierig auf die Fortsetzung, in der hoffentlich auch die Frage beantwortet wird, ob Michaela Martins Gefühle erwidert.

Philippe Djian – „Betty Blue – 37,2° am Morgen“

Mittwoch, 6. November 2019

(Diogenes, 396 S., Tb.)
Eigentlich könnte der Ich-Erzähler in Philippe Djians ein erfolgreicher Schriftsteller sein. Stattdessen droht sein handgeschriebenes Manuskript in einem Pappkarton in Vergessenheit zu geraten, während er seinen Lebensunterhalt als Mädchen für alles in einer Bungalow-Anlage verdient und sich nebenbei mit der temperamentvollen Betty vergnügt, die er seit einer Woche kennt. Da der Vermieter mit diesem Arrangement nicht so ganz einverstanden ist, erklärt sich der verhinderte Schriftsteller bereit, alle Bungalows neu zu streichen, damit Betty auch weiterhin bei ihm wohnen kann. Betty platzt dabei so richtig der Kragen und leert einen Farbeimer über dem Wagen des verhassten Vermieters. So bekommt der Protagonist in den Mittdreißigern einen ersten Vorgeschmack auf die Temperamentsausbrüche seiner Freundin.
Doch das ist erst der Anfang. Als Betty das Manuskript findet, ist sie von dem Text so begeistert, dass sie es persönlich abtippt und Kopien an verschiedene Verleger aus dem Telefonbuch schickt. Der Absender eines garstigen Ablehnungsschreibens bekommt es schließlich persönlich mit Betty zu tun. Um weiteren Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, zieht das Paar zunächst bei Eddie und Lisa ein, wo sie in Eddies Pizzeria arbeiten, dann verschafft Eddie den beiden einen Job im Klavierladen, den seine verstorbene Mutter betrieben hat. Hier findet der verkannte Schriftsteller genügend Zeit, um an einem neuen Manuskript zu arbeiten, aber Bettys Anfälle nehmen immer besorgniserregendere Züge an …
„Sie müsste einsehen, dass das Glück nicht existiert, dass das Paradies nicht existiert, dass es nichts zu gewinnen oder zu verlieren gibt und man im wesentlichen nichts ändern kann. Und wenn du glaubst, die Verzweiflung ist alles, was einem dann bleibt, dann irrst du dich noch einmal, denn auch die Verzweiflung ist eine Illusion.“ (S. 282) 
Mit seinem dritten Roman nach „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ ist Philippe Djian Mitte der 1980er Jahre der internationale Durchbruch gelungen, angefeuert durch die erfolgreiche Verfilmung des Roman durch Jean-Jacques Beineix („Diva“) aus dem Jahre 1986. Wie in vielen von Djians Romane hadert auch in „Betty Blue“ der Ich-Erzähler mit seinem Schicksal als verkannter Schriftsteller. Es ist ihm auch egal. Hauptsache, er verdient etwas Geld, hat genügend Zeit, sich in der Sonne zu fläzen, mit Betty zu bumsen und etwas zu trinken. Mehr erwartet er gar nicht vom Leben. Doch an Bettys Seite kann er sich nicht einfach weiter so durch das Leben treiben lassen, denn Betty erwartet mehr von einem so talentierten Schriftsteller.
Während sie alles daransetzt, mit ihrem Liebsten aus dem Alltagstrott auszubrechen, bleibt ihm nicht anderes übrig, als mit ihr mitzuziehen. Djian erzählt diese außergewöhnlich leidenschaftliche Liebesgeschichte in einem rasanten, präzisen Stil, der in jedem Absatz deutlich macht, was vor allem der empathische Ich-Erzähler empfindet, der schließlich meint, auch Betty so gut zu kennen, wie es niemand sonst vermag. Die Beziehung zwischen den beiden und vor allem Bettys dem Borderline-Syndrom geschuldetes überschäumendes Temperament machen Stimmung und Tempo des Romans aus, wobei sich Tragik und Humor überzeugend die Waage halten. So ist Djian mit „Betty Blue – 37,2° am Morgen“ ein ebenso gefühlvoller wie aufrüttelnder Roman über Liebe, Treue, Loyalität und Leidenschaft gelungen, wie es ihm später in dieser Intensität kaum noch gelingen sollte.

Andrea De Carlo – „Die Laune eines Augenblicks“

Samstag, 2. November 2019

(Piper, 266 S., HC)
Seit fünf Jahren unterhält Luca mit seiner Lebensgefährtin Anna einen alternative angehauchten Reiterhof. Doch als er bei einem Ausritt Anfang März vom Pferd stürzt, wird ihm neben den schmerzhaften körperlichen Blessuren bewusst, dass sein Leben ganz und gar nicht so verläuft, wie er es sich vorgestellt hat. Als er sein Leben vor- und rückwärts an sich vorbeiziehen lässt, stellt er sogar fest, dass er noch nie glücklich war. Er lernt Alberta kennen, die ihn auf dem Weg zurück zum Reiterhof in ihrem Pick-up aufgabelt und ins Krankenhaus bringt. Luca ist fasziniert von der temperamentvollen Frau, küsst sie und will sie wiedersehen.
Doch als er sie das nächste Mal in Rom besucht, findet er sie – nach einem missglückten Selbstmordversuch - ohnmächtig, dem Tode nahe, auf dem Fußboden vor. Schnell wird ihm bewusst, dass er Albertas Schwester Maria Chiara noch interessanter findet. Mit ihr zusammen löst er sich von seiner Vergangenheit, von den Erinnerungen an seine früheren Beziehungen (aus der ein Sohn hervorgegangen ist) und seinen vorangegangenen Job als Verleiher internationaler Independent-Filme ebenso wie von seinem Leben mit Anna auf dem Reiterhof.
Langsam kommen sich die beiden näher. In vielen Gesprächen sezieren sie ihr jeweiliges Leben und werden sich bewusst, was sie vom Leben erwarten. Doch es dauert seine Zeit, bis sich Luca und Maria Chiara voll und ganz einander hingeben, aber dann gibt es kein Zurück …
„Wir schienen uns nicht mehr voneinander lösen zu können, wir schienen nicht aufhören zu können, den Druck unserer eng aneinander geschmiegten Körper zu spüren, das Gefühl des Gefundenhabens und der Zuflucht, das Gefühl, heimgekehrt, einer tödlichen Gefahr entronnen zu sein.“ (S. 157) 
Seit seinem 1981 veröffentlichten Debüt „Creamtrain“ hat der aus Mailand stammende Autor Andrea De Carlo das Gefühlsleben der Menschen seiner Generation analysiert. In seinem zehnten Roman, hierzulande 2001 veröffentlichten „Die Laune eines Augenblicks“ hat sein Protagonist bereits ganz unterschiedliche Karrieren und Beziehungen hinter sich. Das traumatische Erlebnis eines Reitunfalls, der in körperlicher Hinsicht zum Glück keine schwerwiegenden Folgen nach sich zieht, geht mit einer zunächst erschreckenden Bewusstseinsänderung einher, doch Luca zieht daraus sofort die Konsequenzen, trennt sich von seiner Existenzgrundlage und Freundin, lässt sich auf eine neue Frau ein, die er auf ganz neue, gemächliche Weise kennenlernt.
De Carlo bleibt seinem Erfolgskonzept treu und reflektiert sehr detailliert das Gefühlsleben seiner Figuren, die sich natürlich in aufregenden Liebesbeziehungen neu entdecken und erfinden. Das ist insofern immer wieder lesenswert, weil diese ausschweifenden Innenansichten jenseits oberflächlicher Personenbeschreibungen aufzeigen, wie empfindlich die Seelen der Menschen gestrickt sein können, und wie schwierig es ist, einen Partner zu finden, der sich auf all diese komplex ineinander verwobenen Eigenschaften einlassen mag.
Der Plot bleibt dabei sehr minimalistisch. Abgesehen von dem einleitenden Reitunfall und der Begegnung mit Alberta und Maria Chiara passiert eigentlich nicht viel. Stattdessen konzentriert sich De Carlo ganz auf die Gedanken und Gefühle, die Luca und Maria Chiara miteinander teilen und über wegweisende Ereignisse wie das Spielen einer Klaviermelodie, die beide so lieben, zu einem Liebespaar werden.
In dieser sukzessiv voranschreitenden Annäherung des Ich-Erzählers an die Frau, die ihm endlich die ersten Glücksmomente seines Lebens verschafft, erweist sich De Carlo wirklich als Meister der bildhaften Sprache und der feinsinnigen Psychologisierung seiner Figuren, die irgendwie auch immer Abbilder seines eigenen Lebens zu sein scheinen.

R. R. Sul – „Das Erbe“

Dienstag, 29. Oktober 2019

(dtv, 222 S., HC)
Bis zu seinem siebten Lebensjahr musste Wolf tagsüber im Haus bleiben, litt er doch – so sein Arzt – unter der Mondscheinkrankheit. Also schlief Wolf tagsüber und ging erst nachts auf den Spielplatz, wenn die anderen Kinder schliefen. Dann tritt mit Bob ein neuer Mann in das Leben seiner wahnhaften Mutter und verändert Wolfs Leben von Grund auf. Er schenkt ihm einen Motorradhelm, so dass er sich auch tagsüber gefahrlos im Freien bewegen kann, und geht mit dem Jungen erneut zu einem Arzt, der ihm attestiert, ganz normal zu sein. Wolfs unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidende Mutter verkraftet die Neuigkeit nicht, lebt sich mit Bob auseinander und bringt sich in einer Klinik schließlich mit Tabletten um.
Die vielen Jahre, in denen Wolf nur mit seiner Mutter zusammenlebte und nur nachts auf den Spielplatz durfte, haben aber ihre tiefe Spuren in seiner Persönlichkeit hinterlassen. Er zieht zu seinem Großvater nach Hannover, erbt nach dessen Tod nicht nur dessen Wohnung und eine Hütte in den österreichischen Bergen, sondern auch – zusammen mit dem Erbe seiner Mutter - über eine halbe Million Mark. Finanziell abgesichert, igelt sich Wolf zuhause völlig ein, entdeckt die Welt durch seine Puzzle, mit denen er die Wände dekoriert. Der Höhepunkt des Tages ist die Essenslieferung, doch die von ihm verehrte Botin kommt nicht wieder, nachdem er ihr eines Tages nur in Unterhose bekleidet die Tür öffnete, mit dem Papagei auf der Schulter und obszön geschminktem Mund. Doch nach und nach tritt Wolf aus seiner selbstgewählten Isolation heraus, nimmt einen Job als Türsteher ein, trifft dort seine Jugendfreundin Lina wieder und erlebt seine erste Liebesbeziehung .
 „Lina gehörte zu mir, seitdem sie zum ersten Mal in die Erdatmosphäre eingetreten war. Was nichts daran änderte, dass wir unterschiedliche Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben hatten. Ich wollte nicht mit ihr in einem Draußen leben, mit all den anderen. Dazu war ich nicht fähig. Auch nicht ihr zuliebe. Ich fand, dass ich dann nicht mehr echt wäre, für sie. Ich wollte bei mir bleiben. Mit ihr. Das war mir Welt genug.“ (S. 35f.) 
Lina hat das seltsame Leben mit Wolf allerdings nach acht Jahren satt. Stattdessen tritt sein Stiefbruder Freddy plötzlich in sein Leben, der anfangs ebenso wortkarg kommuniziert wie Wolf früher. Als sie gemeinsam erstmals die geerbte Berghütte in Österreich besuchen, kommen sie sich zwar etwas näher, doch Freddy verhält sich immer seltsamer und kehrt immer dann in Wolfs Leben zurück, wenn er es am wenigsten erwartet. Als Wolf allerdings selbst Vater wird, beginnt er das Leben mit anderen Augen zu sehen …
Unter dem exotisch anmutenden Pseudonym R. R. Sul ist mit „Das Erbe“ ein schlicht wie elegant gestalteter Roman bei dtv erschienen, in dem der unter außergewöhnlichen Umständen aufgewachsene Protagonist Wolf als Ich-Erzähler in oft stark verkürzten Sätzen (ohne Verb) sein Leben reflektiert. Dabei wird schon in der Reflexion seiner Kindheit deutlich, wie die Krankheit seiner überängstlichen Mutter die Saat seiner weithin selbstgewählten Isolation bestimmt. Dass sich der finanziell unabhängige Wolf dann doch auf einzelne Menschen einlässt und sogar geliebt wird, zählt zu den bemerkenswertesten Entwicklungen, die Wolf durchmacht.
Der Leser wird schließlich Zeuge, wie die Liebesbeziehungen scheitern, wie daraus aber mit Karl und Augustin Kinder gedeihen, die Wolf im Leben verwurzeln, ihn in Beziehung zu seiner Familie bringen, in der nichts so lief, wie es sein sollte. Wie der Autor vor allem seinen Protagonisten zum Leben erweckt, wie er ihm in dessen eigenen Beschreibungen ein starkes psychologisches Profil verleiht und durch seine Beobachtungen auch seine Mitmenschen charakterisiert, zählt zu den besonderen Stärken des Romans, der sich auf ebenso amüsante wie düster-bedrohliche Weise mit der Herausforderung auseinandersetzt, in einer dysfunktionalen Familie aufzuwachsen und sich selbst von der kranken Umgebung zu emanzipieren und sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen.
Die oft abrupt eintretenden Veränderungen in Wolfs Leben und die präzise, manchmal abgehackt kurze Sprache sorgen für ein atemloses Lesevergnügen eines ganz und gar ungewöhnlichen Buches.
Leseprobe R. R. Sul "Das Erbe"

Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck: 8) „Opfer 2117“

Samstag, 26. Oktober 2019

(dtv, 588 S., HC)
Der 32-jährige spanische Journalist Joan Aiguader hadert mit seinem Schicksal. Er ist nicht nur total abgebrannt und kann nicht mal die zwei Euro für den Kaffee bezahlen, den er an der Promenade am Strand von Barcelona bestellt hat, sondern hat vier weitere Absagen für seine Kurzgeschichten zu verkraften. Doch dann entdeckt er ein Fernsehteam am Strand, das auf die „Tafel der Schande“ und die darauf gezählten Flüchtlinge hinweist, die seit Jahresbeginn im Mittelmeer ertrunken sind, und eine Reportage über einen Mann bringt, dessen Leiche erst vor wenigen Stunden am Badestrand Ayia Napa auf Zypern angeschwemmt wurde. Der eben noch völlig niedergeschlagene Joan spürt auf einmal seinen journalistischen Instinkt, „borgt“ sich das Geld für die Flüge nach Zypern und zurück und will mit der Reportage über den ertrunkenen Mann die Welt aufrütteln. Vor Ort wird Joan jedoch Zeuge einer weiteren Welle von angeschwemmten Leichen, darunter die einer alten Frau, die Joans Aufmerksamkeit fesselt. Tatsächlich scheint sich sein Blatt zum Guten zu wenden, als er mit seiner Story und dem Foto der alten Frau die Titelseite bei Hores del dia schmückt. Doch wie sich herausstellt, ist die alte Frau, die als „Opfer 2117“ bekannt geworden ist, nicht ertrunken, sondern wurde ermordet, während der zuvor in der spanischen Fernsehreportage erwähnte tote Mann als Anführer einer Terrorzelle identifiziert worden ist.
Während Joan damit beauftragt wird, die ganze Geschichte hinter dieser Tragödie zu erzählen, identifiziert Assad die alte Frau auf dem Foto als Lely Kababi, jene Frau, bei der seine Familie damals in Syrien Zuflucht fand, als sie aus dem Irak geflohen waren. Bei der Sichtung des weiteren Fotomaterials zu dem Fall, das ihm seine alte Arbeitskollegin Rose aus anderen Zeitungen zur Verfügung stellt, entdeckt Assad nicht nur seine Frau Marwa und eine seiner Töchter, sondern bekommt es mit seinem größten Widersacher Ghaalib zu tun, der nicht nur die beiden Frauen in seiner Gewalt hat, die Assad alles bedeuten, sondern einen gewaltigen Terroranschlag in Deutschland plant. Carl Mørck, Assads Chef beim Kopenhagener Sonderdezernat Q, das sich sonst nur mit alten ungelösten Fällen befasst, begleitet Assad auf dem Weg nach Frankfurt, während die wieder zurückgekehrte Rose mit ihrem Kollegen Gordon einem 22-jährigen Jungen namens Alexander nachjagt, der das Schicksal von Opfer 2117 zum Anlass nimmt, mit seinem Samuraischwert loszuziehen, um wahllos Menschen zu töten, sobald er bei dem Computer-Spiel „Kill Sublime“ Level 2117 erreicht hat. Währenddessen folgen Carl, Assad und der Verfassungsschutz den Terroristen nach Berlin …
„Assad atmete tief durch: Vielleicht begriffen sie jetzt endlich, wogegen sie antraten: Ghaalib war das personifizierte Böse. Nichts weniger als das. Lange starrte er auf den Zettel. Er habe nicht viel Zeit, stand da. Nicht viel Zeit! Und Berlin war so unendlich groß!“ (S. 400) 
Seit seinem 1997 veröffentlichten Debütroman, der in Deutschland unter dem Titel „Das Alphabethaus“ erschienen ist, wurde der aus Kopenhagen stammende Jussi Adler-Olsen vor allem durch seine 2007 initiierte Reihe um Carl Mørck und das Kopenhagener Sonderdezernat Q zum internationalen Bestseller-Autor. Mit „Opfer 2117“ präsentiert Adler-Olsen nicht nur den bereits achten Teil der Reihe, die auch kontinuierlich für das Kino adaptiert wird, sondern auch einen ungewöhnlich aktuellen Fall, der vor allem die bisher so geheimnisvolle Geschichte von Assad endlich lüftet – wenn auch auf extrem dramatische Weise.
Geschickt verleiht der Autor der Tragödie der andauernden Flüchtlingskatastrophe über die bloße Anhäufung von Opferzahlen hinaus ein individuelles Gesicht und verbindet sie mit der Familiengeschichte von Assad – und stellt diese auch noch in den ebenso aktuellen Kontext des Terrorismus. Als würde dies für eine packende, vielschichtige Story noch nicht reichen, fahnden die in Kopenhagen gebliebenen Q-Mitarbeiter Rose und Gordon nach einem psychisch labilen jungen Mann, der seine Wut gegen die Gleichgültigkeit in der Welt mit seinem Samuraischwert Ausdruck verleihen will. Das ist selbst bei knapp 600 Seiten, die der Autor mit seiner Geschichte füllt, ein anspruchsvolles Unterfangen, das ihm zum größten Teil bravourös gelingt.
Indem er ständig die Perspektiven zwischen Carl, Assad, Joan, Alexander, Ghaalib, gelegentlich auch Rose und Gordon wechselt, hält er das Tempo hoch. Dazu sorgen die ersten Terrorzwischenfälle in Frankfurt für Spannung, zu der auch Assads Erinnerungen an seine erste Begegnung mit Ghaalib und dessen Vorbereitungen zu seiner finalen Konfrontation mit seinem Erzfeind ihren Anteil beitragen. Für die emotionale Komponente sorgen nicht nur die traurigen Schicksale der toten Flüchtlinge, sondern vor allem Assads Sorge um das Schicksal der – zählt man die tot aufgefundene Lely dazu – vier wichtigsten Frauen in seinem Leben und Carls Beziehung zu Mona, die mit 51 Jahren noch ein Kind von Carl erwartet.
Bei so vielen Themen bleibt zwangsläufig die Tiefe auf der Strecke. Vor allem der Nebenplot mit Alexander wirkt dabei nicht glaubwürdig und trägt leider auch zum ärgerlich konstruierten Happy End bei. Adler-Olsen hätte gut auf diesen Handlungsstrang verzichten können und so der im Fokus stehenden Geschichte um Opfer 2117 und der Vereitelung von Ghaalibs Terrorplänen mehr Aufmerksamkeit widmen können. So wirken die Sprünge zwischen den Protagonisten, Zeiten und Orten doch sehr gehetzt und oberflächlich. Von diesem Manko abgesehen, bietet „Opfer 2117“ aber rasant erzählte, actionreiche Spannung mit brisant aktuellen, sehr persönlich gestalteten Themen und nach wie vor sympathisch gezeichneten Figuren, unter denen hier vor allem Assad endlich deutliche Konturen gewinnt.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen "Opfer 2117"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 21) „Mein Name ist Robicheaux“

Mittwoch, 23. Oktober 2019

(Pendragon, 600 S., Pb.)
Als Dave Robicheaux die schwerkranke Mafia-Größe Fat Tony Nemo/Tony Squid/Tony Nine Ball/Tony the Nose in seinem Büro aufsucht, bekommt er ein Schwert aus dem Bürgerkrieg überreicht, auf dessen Messinggriff der Name von Lieutenant Robert S. Broussard eingraviert ist und von dem der Mafioso glaubt, dass es die in New Iberia ansässige Familie gern in ihrem Besitz haben möchte. Tony Squid wartet aber auch mit Informationen über den Mann auf, der vor zwei Jahren Robicheaux‘ Frau Molly an einer Kreuzung so schwer gerammt hat, dass sie verstarb. Offensichtlich hat der Mann vor zehn oder fünfzehn Jahren schon ein Kind in Alabama überfahren. Bevor sich der Detective des New Orleans Police Department jedoch mit diesen Informationen befasst, hilft er seinem besten Kumpel Clete Purcel aus der Klemme, steckt er doch mit 250.000 Dollar bei einem Kredithai in den Miesen und droht sein Haus zu verlieren.
Robicheaux stattet dem elitären, doch stets bürgernahen Aristokraten Jimmy Nightingale einen Besuch ab, da dieser Teilhaber bei der Gesellschaft ist, bei der Purcel die Hypothek aufgenommen hat. Dafür, dass sich Nightingale, der für den US-Senat kandidieren will, sich um Purcels Hypothek kümmert, bittet er Robicheaux, ihn mit dem Romanautor Levon Broussard bekanntzumachen, um mit ihm und Tony Nemo die Verfilmung eines seiner Bücher zu realisieren. Robicheaux stattet anschließend T.J. Dartez einen Besuch ab, jenem Mann, der an dem Unfall beteiligt war, bei dem Molly zu Tode gekommen ist. Nach einer durchzechten Nacht wacht Robicheaux mit blutig verschrammten Fingerknöcheln auf und kann sich an nichts mehr erinnern. Als Dartez tot auf seinem Grundstück aufgefunden wird, kann Robicheaux nicht beschwören, dass er nicht für den Tod des Mannes verantwortlich ist.
Während sich Robicheaux in diesem Fall vor allem mit seinem korrupten Kollegen Spade Labiche herumschlagen muss, erfährt er von Purcel, dass Nightingale längst nicht der Saubermann sei, den er in der Öffentlichkeit zu repräsentieren versucht, sondern sich von einem schmierigen Typen namens Kevin Penny Koks und Prostituierte habe liefern lassen. Purcel, der als Privatdetektiv Büros in New Orleans und New Iberia unterhält, hat auch ein privates Interesse an Penny, denn er ist berüchtigt dafür, seinen Sohn Homer zu schlagen, weshalb ihn Purcel am liebsten aus dem Verkehr ziehen will. Das Filmprojekt von Broussard, Nightingale und Tony Nemo nimmt langsam Formen an, wobei Robicheaux‘ Tochter Alafair einen Drehbuchentwurf beisteuert. Als Broussards Frau Rowena Nightingale allerdings beschuldigt, sie auf seinem Boot betrunken gemacht und vergewaltigt zu haben, läuft nicht nur das Filmprojekt aus dem Ruder. Ein Auftragskiller, der sich Smiley nennt, dezimiert konsequent Leute aus dem Umfeld der Filmproduktion. Und Purcel ist wieder einmal in eigener Mission unterwegs …
„Er war der Gauner aus der volkstümlichen Sagenwelt, der die Respektabilität mit Scheiße bewarf. Aber er war ein erheblich komplexerer Mann, im Kern eine griechische Tragödie, eine prometheische Gestalt, die niemand als solche erkannte, einer der 36 Gerechten der jüdischen Legende, der für uns alle litt. Falls es Engel unter uns gibt, wie der Apostel Paulus sagt, dann war ich überzeugt, dass Clete einer von ihnen war, seine Flügel verhüllt in Rauch, sein Umhang getaucht in Blut …“ (S. 410) 
Seit James Lee Burke 1987 seine preisgekrönte Reihe um den Vietnam-Veteran und Alkoholiker Dave Robicheaux ins Leben gerufen hatte, sind mittlerweile insgesamt 22 Bände erschienen, die weithin zum Besten gehören, was das Krimi-Genre zu bieten hat. Der Bielefelder Pendragon-Verlag hat sich seit 2015 der rühmlichen Mission angenommen, die großenteils noch unveröffentlichten bzw. nicht mehr lieferbaren Titel um den charismatischen, von den Dämonen seiner Vergangenheit in Fernost und des Alkohols verfolgten Cop Dave Robicheaux neu aufzulegen. In der Chronologie der Reihe war Pendragon mittlerweile bis zum 16. Band „Sturm über New Orleans“ gekommen, so dass zum jetzt veröffentlichten 21. Band „Mein Name ist Robicheaux“ einige Sprünge zu erwähnen sind, von denen neben dem Tod von Robicheaux‘ Frau Molly vor allem die Entwicklung seiner Adoptivtochter Alafair am bemerkenswertesten ausfällt. Sie hat nämlich eine Karriere als Schriftstellerin hingelegt und sich damit auch die Bewunderung von Levon Broussard verdient. Davon abgesehen sind Dave Robicheaux und sein bester - und eigentlich einzig nennenswerter - Freund Clete Purcel wie gewohnt den geschickt agierenden Gangstern auf der Spur, die ihre Aktivitäten gekonnt unter dem Deckmantel der Kultiviertheit verstecken, aber unter ihrer glänzenden Oberfläche mächtig Dreck am Stecken kleben haben. Burke erweist sich einmal mehr als Meister darin, das besondere Klima in Amerikas Süden mit der Verderbtheit gerissener wie skrupelloser Gauner zu verknüpfen und angesichts der Wut, die sowohl Robicheaux als auch Purcel gegenüber den schändlichen Taten, gegen die sie ankämpfen, immer wieder zu extremen Mitteln zu greifen bereit sind, bis sie sich im letzten Moment doch eines Besseren besinnen.
Die Figuren sind in „Mein Name ist Robicheaux“ wieder angenehm vielschichtig angelegt. Einer simplen Kategorisierung in Gut und Böse, Schwarz und Weiß, entzieht sich Burke bewusst, lässt seine Protagonisten aber auch lange nur dunkel ahnen, mit welcher Art von Verbrechern sie es letztlich zu tun haben. Die Spannung wird durch sich häufende Todesfälle und neue Mitspieler im Karussell der Gewalt konstant auf einem hohen Niveau gehalten, wobei die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren erst nach und nach freigelegt werden. Alafair präsentiert sich in dem Wirbel um die Hollywood-Produktion und im Umgang mit den nicht immer koscheren Menschen, mit denen ihr Vater zu tun hat, als erfrischend eigenständige Persönlichkeit, doch im Mittelpunkt stehen natürlich Dave, der in der Geschichte wieder als Ich-Erzähler auftritt, und sein Kumpel Clete, dessen Part in dem Plot in der dritten Person wiedergegeben wird.
Bildreich beschreibt Burke, wie die beiden Kriegsveteranen damit hadern, wie sie mit offensichtlichen Verbrechern umgehen sollen, wie sie das Jucken in ihren Fingern, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen, unter Kontrolle zu bekommen versuchen und bei der Last vor der richtigen Entscheidung auch mal gern einen über den Durst trinken und sich mit den falschen Frauen einlassen. Ergänzt wird der Roman durch die kurze Erzählung „The Wild Side of Life“, in der der Kriegsveteran Elmore auf den Ölfeldern an der Golfküste arbeitet und durch die Bekanntschaft der verheirateten, von ihrem Mann misshandelten Loreen an ein Verbrechen an indianischen Ureinwohnern erinnert wird, bei dem er tatenlos zugesehen hat.

David Morrell – (Thomas De Quincey: 2) „Die Mörder der Queen“

Montag, 21. Oktober 2019

(Knaur, 448 S., Tb.)
London, 1855. Beim sonntäglichen Elf-Uhr-Gottesdienst in der St. James Church sorgt bei den Mächtigen und Reichen des Viertels Mayfair, die die Kirche besuchen, die Ankunft einer nicht standesgemäß aussehenden Gruppe von vier Personen für Aufmerksamkeit, vor allem als die Fremden die oberste Bankschließerin bitten, sie zu der für Lord Palmerston reservierten Bank zu führen. Es spricht sich schnell herum, dass sich unter dieser Gruppe sowohl der berüchtigte Opiumesser Thomas De Quincey und seine Tochter Emily zählen, die gerade in Lord Palmerston Haus untergebracht sind, als auch Detective Inspector Ryan von Scotland Yard. Kaum hat Reverend Samuel Hardesty den Gottesdienst begonnen, bei dem der tapfer im Krimkrieg kämpfende Colonel Anthony Trask als Ehrengast begrüßt wird, bemerkt er, wie sich ein scharlachroter Fleck unter der Loge von Lady Cosgrove ausbreitet. Als die Dame mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden wird, übernehmen Ryan, sein Assistent Becker und De Quincey umgehend die Ermittlungen, denn der Täter könnte noch immer in der Kirche sein.
Aus der Hand der Toten sichern die Polizisten einen mit Trauerflor umrandeten Brief, der nur zwei Worte enthält, die Ryan an die schrecklichen Ereignisse vor fünfzehn Jahren erinnern. Damals haben verschiedene Männer versucht, ein Attentat auf Queen Victoria zu verüben. Zwar wurde bei dem Versuch, die Königin zu töten, niemand verletzt, aber der Attentäter Edward Oxford wurde verhaftet und verurteilt, aber wegen seiner offensichtlichen Hirngespinste um eine Gruppe von Verschwörern, die sich „Young England“ nennt, wegen Geisteskrankheit ins Bethlem Royal Hospital überführt. Offensichtlich versucht nun jemand, das damals praktizierte Unrecht wieder gutzumachen, denn nach Lady Cosgrove und ihrem Mann folgen noch weitere Opfer, die mitverantwortlich für den Umgang mit dem Angeklagten waren.
Vor allem dem gebildeten Autor Thomas De Quincey, der sowohl mit seiner Autobiographie „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ als auch mit seinem True-Crime-Werk „Der Mord als schöne Künst betrachtet“ für Aufsehen gesorgt hat, fallen bei der Art der inszenierten Morde und den hinterlassenen Botschaften Verweise zu dem Schicksal eines Jungen auf, der damals bei verschiedenen Stellen vergeblich versucht hatte, Hilfe für seinen Vater, seine Mutter und seine beiden Schwestern zu bekommen. Während Scotland Yard mit De Quinceys Unterstützung fieberhaft nach der Identität des Jungen sucht, versucht der Attentäter weiterhin, Queen Victoria das Leben zu nehmen …
„Er wollte Angst sehen. Er wollte Schmerzen sehen. Eine schnelle Bestrafung konnte nicht sühnen, was seiner Mutter, seinem Vater und seinen Schwestern angetan worden war, seiner geliebten Emma mit den leuchtend blauen Augen und der kleinen Ruth mit dem sonnigen Gemüt und der bezaubernden Zahnlücke.
Jetzt neigte er im fallenden Schnee den Kopf.
Heute Nacht zumindest werdet ihr vier in Frieden ruhen, dachte er. Unvermittelt packte ihn die Trauer um zwei weitere Menschen, die er liebte.“ (S. 353) 
Der kanadisch-US-amerikanische Schriftsteller David Morrell hat bereits mit seinem 1972 veröffentlichten Debütroman „First Blood“ Weltruhm erlangt, denn die daraus resultierende Filmreihe um den von Sylvester Stallone verkörperten Vietnam-Veteranen John Rambo trug erheblich zum Starruhm des Hauptdarstellers bei und ging dieses Jahr bereits in die fünfte Runde. In der Folge schrieb Morrell aber nicht nur Spionage-Romane wie „Der Geheimbund der Rose“, „Verschwörung“ und „Verrat“, sondern auch die Thriller „Testament“, „Massaker“ und „Totem“ sowie die Horror-Thriller „Creepers“ und „Level 9“, bevor er 2013 mit „Murder as a Fine Art“ den Start seiner Reihe um die historisch bedeutsame Persönlichkeit von Thomas De Quincey vorlegte. Knaur hat den im viktorianischen London spielenden Roman unter dem Titel „Der Opiummörder“ veröffentlicht und legt nun den mit Spannung erwarteten Nachfolger „Die Mörder der Queen“ vor, wobei Morrell geschickt historische Tatsachen und Figuren zu einem äußerst stimmungsvollen Gesellschaftsportrait und Thriller verwebt und die besonderen Fähigkeiten von Thomas De Quincey in den Mittelpunkt seiner historischen Thriller stellt.
Sowohl in der Einleitung als auch im Nachwort beschreibt Morrell, wie er dazu inspiriert wurde, De Quincey als Protagonisten einer hoffentlich noch lange fortgesetzten Reihe zu etablieren, und was den Mann besonders auszeichnet, der mit seinem 1821 veröffentlichten Buch „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ als Erster seine Drogensucht öffentlich machte und vor Freuds Traumdeutung die Ansicht vertrat, dass wir von Gedanken und Empfindungen geleitet werden, „von denen wir gar nicht wissen, dass wir sie haben“.
Zusammen mit seinem kriminalistischen Spürsinn sind das die Elemente, die dem Plot seine Spannung verleihen. Vor allem gelingt es Morrell aber, tief in die Atmosphäre des viktorianischen Englands einzutauchen und die Unterschiede zwischen den in Prunk und Luxus lebenden Adligen und den im Schlamm wühlenden Armen aufzuzeigen. Dabei sind ihm aber auch die Charakterisierungen seiner Figuren hervorragend gelungen. Wie sich der Laudanum-abhängige Thomas De Quincey und seine fürsorgliche Tochter Emily auch in höheren Kreisen zu bewegen verstehen und die Ermittlungen von Scotland Yard vorantreiben, bietet das größte Lesevergnügen, und die Auflösung des Rätsels, wer sich hinter dem potentiellen Attentäter verbirgt, bleibt bis zum Schluss spannend.
Leseprobe David Morrell - "Die Mörder der Königin"