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Andrew O‘Hagan – „Caledonian Road“

Donnerstag, 22. August 2024

(Ullstein, 784 S., HC) 
Der aus Glasgow stammende Andrew O’Hagan ist hierzulande kaum bekannt, doch das könnte sich mit seinem epischen Gesellschaftsroman „Caledonian Road“ ändern. Dabei veröffentlichte er bereits 1995 mit „The Missing“ sein erstes Buch, nachdem er vier Jahre dem Redaktionsstab von „London Review of Books“ angehört hatte. Seither folgten sechs Romane, zwei weitere Sachbücher und als Ghostwriter die unautorisierte Biografie von Julian Assange. „Caledonian Road“ ist nach „Mayflies“ der siebte Roman des Schotten und setzt sich auf kluge Weise mit dem auseinander, was in der heutigen britischen Gesellschaft schiefläuft. 
Der 52-jährige, in London lebende Kunsthistoriker Campbell Flynn befindet sich im Mai 2021 auf der Höhe seines intellektuellen Schaffens. Sein während des Lockdowns erschienene Biografie über den niederländischen Maler Vermeer entwickelte sich zu einem Bestseller, sein BBC-Podcast „Kultur und ihre Unzulänglichkeiten“ erreichte auch ein jüngeres Publikum, und in der Aktentasche wartet bereits das Manuskript für sein nächstes Projekt. 
Dennoch könnte die Welt rosiger aussehen. Zwar konnte Flynn die ärmlichen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war, hinter sich lassen und mit der Psychotherapeutin Elizabeth, der 54-jährigen Tochter einer Gräfin, als Frau Eingang in die bessere Gesellschaft finden, doch verfügt er längst nicht über die finanziellen Mittel, die ihm seiner Meinung nach zustehen sollten. Dazu kommt, dass ausgerechnet sein bester Freund, der Kaufhauskönig Sir William Byre, in einen üblen Finanzskandal verwickelt ist, der immer größere Wellen schlägt, zumal bekannt wird, dass er eine 23-jährige Frau, der er eine Wohnung gekauft hat, misshandelt haben soll. Byre hat seinem Freund Flynn nicht nur mit einem großzügigen Darlehen ausgeholfen, sondern seinerseits zwielichtige Geschäfte mit den Russen gemacht, die durch den Ukraine-Krieg natürlich nicht mehr besonders angesehen sind. 
Abhilfe soll Flynns neues Buch schaffen, wobei „Männer, die in Autos weinen. Die Krise der männlichen Identität im 21. Jahrhundert“ unter dem Pseudonym des bekannten Schauspielers Jake Hart-Davis erscheinen und Millionen einbringen, doch Hart-Davis macht in Interviews zum Buch eine schlechte Figur und proklamiert einen Männer-Begriff, der in der Öffentlichkeit angesichts der MeToo-Bewegung gar nicht gut ankommt, denn Männer seien eigentlich Opfer. Einen Ausweg aus dem Dilemma scheint ihm der Student Milo Mangasha anzubieten, der Flynn in die Welt des Darknets, der Deepfakes und zwielichtiger Geschäfte mit Kryptowährungen einführt. Nach ahnt er nicht, dass er selbst nur ein Spielball von Kräften darstellt, über die er keine Kontrolle besitzt… 
„Er hatte immer recht unbekümmert über das Gute geschrieben, über Wahrheit und Harmonie, aber hatte er sich von diesen Dingen nicht in Wirklichkeit weit entfernt, und hatte er jetzt noch eine andere Wahl, als einen Weg zurück zu finden? Heuchler leben davon, dass sie ihre Position gegen die äußere Realität verteidigen, das wusste er, aber in diesem Jahr, in diesem Frühling, war es Campbell klar geworden, dass er das mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte.“ 
Allein die Tatsache, dass O’Hagan seinem fast 800 Seiten umfassenden Roman ein Verzeichnis mit 60 Personen voranstellt, macht deutlich, dass es bei „Caledonian Road“ nicht nur um die Geschichte des Abstiegs eines Mannes geht, dem seine Eitelkeit und sein Unvermögen, mit Geld umzugehen, zum Verhängnis wird. Es geht auch darum, wie Geschäfte mit illegalen Einwanderern gemacht werden, wie die Verzweigungen der britischen Wirtschaft mit russischen Oligarchen den Brexit finanziert haben sollen. 
In leicht verständlicher Sprache streift O’Hagan die Welt der Galerien, der Medien, der Schleuser und der jungen Leute, die sich irgendwie orientieren wollen, gegen Korruption und Heuchelei ankämpfen und sich einen Platz in dieser Welt erobern wollen, ohne andere auszubeuten. Allerdings hat der Autor mit der immensen Herausforderung zu kämpfen, all seine Figuren so unterzubringen, dass man sie als Leser nicht aus den Augen verliert. Das gelingt ihm nur bei den wenigsten. 
Dazu findet sich in „Caledonian Road“ auch keine echte Identifikationsfigur, so dass man die beschriebenen Mechanismen in der Welt von heute zwar wahrnimmt, aber kaum Mitgefühl oder auch nur Sympathie für die Figuren aufbringt. Nichtsdestotrotz ist O’Hagan ein humorvolles und weitsichtiges Gesellschaftsportrait der von Lockdown und Brexit arg gebeutelten Briten gelungen.