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David F. Ross – (Schottland-Trilogie: 1) „Schottendisco“

Donnerstag, 31. Oktober 2024

(Heyne Hardcore, 334 S., Pb.) 
Mit Irvine Welsh („Trainspotting“, „Porno“) und John Niven („Music from Big Pink“, „Gott bewahre“) hat Schottland seit den 1990er Jahren zwei Autoren hervorgebracht, die mit derbem britischem Humor, einem unverblümten, sozialkritischen Blick auf die Gesellschaft und ausgefallenen Plots eine Ausnahmeerscheinung in der britischen Literaturszene darstellten. 2015 wurde dieses Duo um einen weiteren interessanten Namen erweitert. Da veröffentlichte David F. Ross nämlich seinen Debütroman „Last Days of Disco“, der hierzulande von Heyne Hardcore – der langjährigen Heimat von Welsh und Niven – unter dem Titel „Schottendisco“ veröffentlicht wurde und den Auftakt einer Trilogie bildete, die mit „Schottenrock“ und „Schotten dicht“ fortgesetzt worden ist. 
Bobby Cassidy und Joey Miller sind seit ihrer Schulzeit die besten Kumpels, allerdings wissen die beiden Halbwüchsigen Anfang der 1980er Jahre in dem schottischen Kaff Kilmarnock wenig mit sich anzufangen. Während die Thatcher-Regierung mittlerweile drei Millionen Arbeitslose zu verantworten hat und auf den weit entfernten Falkland-Inseln ihr einst erobertes Territorium mit Waffengewalt zu verteidigen sucht, kommen Bobby und Joey auf die Idee, ihren Lebensunterhalt mit einer mobilen Disco zu verdienen. Allerdings ist die Unterhaltungsbranche fest in den Händen von Möchtegern-Corleone Fat Franny Duncan, der jede Art von Party mit seiner skurrilen Truppe beschallt. 
Bobbys Vater Harry, der nach einem Unfall in der Teppichfabrik als Hausmeister in der Schule arbeitet, macht ihn auf einen Aushang am Schwarzen Brett im Lehrerzimmer aufmerksam, mit dem eine mobile Disco für eine private Party gesucht wird. Bobby und Joey nennen sich nach einem alten Soul-Klassiker Heatwave, leihen sich das nötige Equipment und müssen zunächst enttäuscht miterleben, wie ihre ersten Tantiemen nicht in ihre eigenen Taschen wandern. 
Doch nach einem holprigen Start mischen Heatwave die lokale Partyszene dermaßen auf, dass der Geschäftsmann Mickey Martin den beiden Jungs anbietet, den geplanten Mega-Nachtclub-Komplex am Foregate zu bespielen. Doch das kann Fat Franny natürlich nicht zulassen… 
„Fat Franny war clever, und er hatte die zunehmend distanzierte Haltung eines consigliere in den letzten Monaten durchaus bemerkt. Genau genommen hatte er sie sogar ganz oben auf die Liste von Gründen gesetzt, weshalb das Geschäft momentan nicht lief. Michael Corleone hätte ihn schon vor Wochen beseitigen lassen, aber der Don würde eine derart heikle Situation subtiler lösen.“ (S. 188) 
Mit „Schottendisco“ ist dem in Glasgow geborenen David F. Ross ein höchst unterhaltsames Romandebüt gelungen, das zwar vor allem die Musikszene Anfang der 1980er abfeiert (im Anhang findet sich eine Liste von knapp zwanzig Songs, die den Roman inspiriert haben, darunter „Heat Wave“ von The Jam, „Good Times“ von Chic, „Plan B“ von den Dexy’s Midnight Runners und „Don’t You Want Me“ von The Human League), aber bei den humorvoll inszenierten Bemühungen der beiden Protagonisten Bobby und Joey nicht vergisst, in welch desaströs-bedrückender politischer Atmosphäre die Handlung platziert ist. Dazu dienen Ross immer wieder eingestreute Thatcher-Zitate vor allem zur Rechtfertigung des Falkland-Krieges, in den auch Bobbys Bruder Gary involviert wird, der sich aus Frust vor der Perspektivlosigkeit in seinem Leben zum Militärdienst gemeldet hat. 
Dieser Nebenstrang führt vor allem die Sinnlosigkeit von Kriegen an sich und des Falkland-Konflikts im Besonderen vor Augen, erfährt aber eine wenig gelungene Auflösung. Da gibt das Tauziehen zwischen den aufstrebenden Heatwave-Jungs und dem alteingesessenen Fat Franny schon weitaus mehr Unterhaltungswert her, vor allem weil Ross seinen temporeichen Plot mit viel Liebe zum Detail entwickelt und den Zeitgeist zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung authentisch einfängt.

Robert Ludlum – (Jason Bourne: 1) „Die Bourne Identität“

Freitag, 11. Oktober 2024

(Heyne, 640 S., Tb.) 
Als Doug Liman im Jahr 2002 „Die Bourne Identität“ mit Matt Damon und Franka Potente in den Hauptrollen verfilmte, war noch nicht abzusehen, dass er mit dem virtuos inszenierten Spektakel den Maßstab für das Action-Kino neu definierte und damit auch eine realistischere Ausrichtung des vergleichbaren James-Bond-Franchises bewirken sollte. Kaum vorstellbar war auch die Tatsache, dass „Die Bourne Identität“ auf einem Thriller beruht, den der 2001 verstorbene Genre-Spezialist Robert Ludlum bereits 1980 veröffentlicht hatte. 1988 verfilmte bereits Roger Young den Roman als Fernseh-Zweiteiler mit Richard Chamberlain und Jocelyn Smith in den Hauptrollen, wobei er sich weit enger an die Romanvorlage hielt als Liman 14 Jahre später. 
Kurz vor der französischen Küste bei Ile de Port Noir wird ein schwer verletzter Mann durch die Besatzung eines Fischerbootes geborgen und zu einem englischen Arzt auf die Insel gebracht. Geoffrey Washburn kümmert sich aufopferungsvoll um seinen ungewöhnlichen Patienten, versorgt seine Schusswunden und entdeckt dabei ein Stück Zelluloid, das dem Mann unter die Haut an der rechten Hüfte eingesetzt worden war. Die Daten eines Nummernkontos bei der Gemeinschaftsbank in Zürich sind jedoch der einzige Hinweis auf die Identität des Mannes, der sich an nichts vor seinem folgenschweren „Unfall“ erinnern kann, schon gar nicht an seinen Namen. 
Nach seiner Genesung lässt sich der Mann, der sich Jean-Pierre nennt, mit einem gefälschten Pass versorgen und nach Marseille bringen, um von dort nach Zürich zu fliegen, wo er in dem Schließfach der Bank nicht nur ein Guthaben von mehr als fünf Millionen Dollar und den Verweis auf eine Firma namens Treadstone Seventy-One vorfindet, sondern auch seinen Namen: James Charles Bourne! Doch noch bevor Bourne die Bank verlassen kann, wird er von Wachmännern attackiert. Bourne kann jedoch fliehen und sich in einem Hotel verstecken. Dort kidnappt er die kanadische Volkswirtschaftlerin Dr. Marie St. Jacques. 
Anfangs sträubt sich die Regierungsbeamte, Bourne bei seiner Flucht zu unterstützen, doch als sich ihre Wege trennen und Bourne sie später von ihrem Vergewaltiger befreit, verlieben sich die beiden und gehen gemeinsam den Hinweisen nach, die aufklären sollen, wer Jason Bourne wirklich ist. Dabei gibt es nicht nur Verbindungen zu einem weltweit operierenden Auftragskiller namens Cain, sondern dem allseits gefürchteten Killer Carlos, dessen Rang Cain offensichtlich ablaufen will. Die US-amerikanischen Geheimdienste sind mehr als beunruhigt über die Entwicklungen in Zürich und Paris, sehen jedoch eine Chance, Cain zu Carlos zu führen und damit beide unliebsamen Killer auf einen Schlag zu eliminieren. Bourne ist sich bewusst, dass er seine weiteren Schritte ohne seine Geliebte würde unternehmen müssen… 
„Er war wieder in das Labyrinth zurückgekehrt und wusste, dass es kein Entrinnen gab. Aber er würde weiter nach seiner wahren Identität forschen – ohne Marie. Die Entscheidung war unumstößlich. Es würde keine Diskussionen, keine Debatte geben, keine Vorwürfe. Er wusste, wer er war… was er gewesen war; er war schuldig im Sinne der Anklage – wie er das vermutet hatte.“ (S. 311) 
Mit seinem ersten „Bourne“-Roman hat Ludlum einen modernen Klassiker des Agenten-Thrillers geschaffen, der allerdings nur das Grundgerüst für die 22 Jahre spätere Verfilmung durch Doug Liman bildet. Während Liman und seine Drehbuchautoren Tony Gilroy und William Blake Herron den Fokus auf die spektakulär inszenierte Nahkampf-Action, exotische Drehorte und eine zwingende Verschlankung des Plots und Figurenarsenals gelegt haben, hat sich Ludlum in „Die Bourne Identität“ ganz auf das Verwirrspiel der verschiedenen US-amerikanischen Abwehrdienste, die Jagd auf den internationalen Auftragsmörder Carlos (der in der Verfilmung überhaupt nicht vorkommt) und Jason Bournes Suche nach seiner wahren Identität konzentriert. 
Die Liebesbeziehung zwischen Bourne und Marie (die im Gegensatz zur naiv wirkenden Figur in der Verfilmung als aufgeweckte Wissenschaftlerin auf Augenhöhe mit Bourne agiert) ist Ludlum nicht unbedingt glaubwürdig gelungen, dafür bietet die Geschichte eines Agenten, der nur in bruchstückhaften Erinnerungen eine Idee von seiner wahren Natur vermittelt bekommt, genügend Stoff für häufige Ortswechsel, ein irgendwann unüberschaubares Figurenarsenal und moderate Action. 
Und die Auflösung hält ganz bewusst die Möglichkeit für weitere Fortsetzungen offen, die allerdings noch weniger mit den ebenfalls nachfolgenden Verfilmungen zu tun haben. 

Jan Weiler – „Munk“

Samstag, 21. September 2024

(Heyne, 382 S., HC) 
Mit Romanen wie „Maria, ihm schmeckt’s nicht“, „Antonio im Wunderland“, „Das Pubertier“ und „Der Markisenmann“ avancierte der Kolumnist, Drehbuchautor und Schriftsteller Jan Weiler zu einem bemerkenswerten Bestseller-Phänomen, das sich mittlerweile auf Hörbücher und -spiele ebenso erstreckt wie auf die Krimi-Reihe um Kommissar Martin Kühn. Mit seinem neuen Roman „Munk“ hat Weiler die 52 Folgen seines in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Fortsetzungsromans „Die Summer aller Frauen“ zu einem ausführlicheren Roman verarbeitet. 
Nachdem der international bekannte Architekt Peter Munk auf der Zugfahrt seiner Heimatstadt Freiburg nach Zürich seine Handschuhe vergessen hatte, machte er sich nach dem Absolvieren seines Geschäftstermins auf den Weg ins Kaufhaus Globus, um dort neue Handschuhe zu erwerben. Dass er dort glaubte, Nadja wiederzusehen, die ihn wegen eines Perkussionisten verlassen hatte, setzte dem 51-Jährigen offenbar so zu, dass er auf der Rolltreppe einen Herzinfarkt erlitt. 
Nach der Entlassung aus der Herzklinik des Zürcher Krankenhauses befindet sich Munk nun auf dem Weg der Besserung, doch nimmt er sich eine Auszeit und wählt das auch wegen seiner Diskretion gern von Prominenten frequentierte Mönchhof-Resort aus, um sich den Ursachen für den Infarkt zu stellen. Da er mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt, sich gesund ernährt, weder raucht noch trinkt und über eine sportliche Figur verfügt, scheinen körperliche Gründe nicht dafür verantwortlich gewesen zu sein. Nach den üblichen Anwendungen, Spaziergängen und viel Zeit zum Lesen macht Munk erst am dritten Tag die Bekanntschaft von Doktor Grenzmann, der dem Architekten nach dem ersten Kennenlernen die Aufgabe stellt, sich über die Beziehungen seines Lebens Gedanken zu machen und eine Liste der wichtigsten Personen anzufertigen. 
Munk denkt an seinen Vater zurück, der ein skrupelloser Bauunternehmer und Nazi war, von dem er sich – auch nach dessen Tod - so weit wie möglich zu entfernen versucht. Doch im Zentrum von Munks Betrachtungen stehen die 13 Frauen, mit denen er im Laufe seines Lebens eine wie auch immer geartete Beziehung unterhielt. Da die Beziehung mit Nadja noch so frisch hinter ihm liegt, rekapituliert er das Kennenlernen in einer Galerie und die unglückselige Verquickung von Privat- und Arbeitsleben als Erstes, um sich dann daran zu erinnern, wie er nach einer Party in den 1980ern ganz unspektakulär seine Jungfräulichkeit mit Judith verlor und wie die Schlittschuhläuferin Nicole seine erste große Liebe wurde. Munk hatte wenig erquickliche Affären im Ausland mit Ana und Harper, aber auch mit der jungen Influencerin Fanny und Claudia, die er in die Flucht schlug, weil er keine Kinder haben wollte, und Andrea… 
„Den anderen ein Wohlgefallen zu sein, war ein Leitspruch des Hermann Munk. Er verwendete ihn häufig, meist als mahnenden Appell in Richtung seiner Kinder. Für ihn selbst galt dieses Credo indes nicht. Aber bei Peter Munk hinterließen diese Worte ihre Wirkung. Er fand die Vorstellung nicht abwegig, dass man sich immer bemühen sollte, der Umwelt gutzutun. Er bemühte sich darum und als er Andrea kennenlernte, wollte er diesen Anspruch doppelt und dreifach gerecht werden, denn er wollte sie heiraten. Die Beziehung mit ihr war dann so, als würde er in ein brennendes Haus laufen.“ (S. 147)
Wenn man ohne jegliche Vorwarnung mit gerade mal 51 Jahren einen Herzinfarkt erleidet oder durch eine ähnlich drastische Zäsur dem Tod gerade so von der Schippe gesprungen ist, stimmt es einen im Idealfall nachdenklich und begibt sich in die Ursachenforschung. Bei Jan Weilers Protagonisten wird dies durch die Anleitung seines Arztes in einer schicken Reha-Klinik in Gang gesetzt, worauf sich der gutsituierte und beruflich erfolgreiche, in Liebesdingen aber wenig geschickte Architekt Peter Munk vor allem mit den Frauen in seinem Leben auseinandersetzt. Das Spektrum reicht vom unbeholfenen Gefummel in Teenagerjahren über sehr kurze Affären mit diebischen und ehebrecherischen Frauen bis zu heiratswilligen Kandidatinnen mit Kinderwunsch und einer Beziehung am Arbeitsplatz mit einer Influencerin, deren Vater Munk fast hätte sein können. 
Bereits diese vielschichtige Aufzählung macht deutlich, dass Munk mit fast jeder Art von Frau bzw. der klischeehaften Vorstellung solcher Frauen im Bett gewesen ist. Das liest sich zwar kurzweilig, vor allem wenn es mit authentisch wirkenden Details wie der Atmosphäre in dem Eisstadion in den 80ern oder der Streamingprojekte mit dem Gesamtwerk von Regisseuren wie Hitchcock, Kurosawa, Scorsese und Fellini gespickt ist, doch hinterlässt keinen bleibenden, schon gar nicht originellen Eindruck. 
Auch wenn „Munk“ weitgehend aus der Perspektive des Protagonisten erzählt wird, kommen zwischendurch aber auch die Meinungen der beteiligten Frauen zum Ausdruck, allerdings hätte Weiler auf eine Vereinigung der weiblichen Perspektiven am Ende ruhig verzichten können. 

Stephen King – „Ihr wollt es dunkler“

Sonntag, 9. Juni 2024

(Heyne, 736 S., HC) 
Obwohl Stephen King das ausschweifende Format das epischen Romans bevorzugt, um seine Leserschaft mit seinen Geschichten zu fesseln, sind seit Beginn seiner außergewöhnlich erfolgreichen Schriftstellerkarriere immer wieder Sammlungen von Kurzgeschichten erschienen, die ihren ganz eigenen Reiz verströmten – nicht zuletzt für die Filmstudios in Hollywood, die bereits aus Kings erstem, schon 1978 veröffentlichten Sammelband „Night Shift“ ausgewählte Short Stories wie „Manchmal kommen sie wieder“, „Der Rasenmähermann“ und „Kinder des Mais“ zu mehr oder weniger gelungenen Langfilmen verarbeiteten. Bekanntere Beispiele aus späteren Sammlungen sind natürlich „Die Leiche“ (von Rob Reiner unter dem Titel „Stand By Me“ verfilmt) und „Der Nebel“
Neun Jahre nach der letzten Kurzgeschichtensammlung, „Basar der bösen Träume“, ist es nun wieder Zeit für neue Geschichten, die mal zwischen zehn und vierzig Seiten lang sind, gelegentlich aber auch das Ausmaß eines Kurzromans einnehmen. Auf jeden Fall beackert der „King of Horror“ in den zwölf Geschichten in „Ihr wollt es dunkler“ ganz unterschiedliche Sujets und erzeugt ebenso verschiedenartige Stimmungen. 
Eröffnet wird der Reigen mit „Zwei begnadete Burschen“, in der der Sohn eines berühmten, kürzlich verstorbenen Schriftstellers der Frage nachgeht, die auch die Journalistin Ruth Crawford seit einigen Jahren umtreibt: Laird und sein Jugendfreund David „Butch“ LaVerdiere haben nie das Potenzial erkennen lassen, dass aus ihnen irgendwann mal etwas Besonderes werden sollten, und doch sind sie mit einem Schlag in ihren Mittvierzigern berühmt geworden, Laird als Schriftsteller, Butch als Maler. Laird hat Zeit seines Lebens zwar die obligatorischen Interviews absolviert, aber nie Auskunft über den wundersamen Verlauf seiner Karriere gegeben. Erst mit seinem Tod bekommt sein Sohn den Zugang zum Ursprung des „göttlichen Funkens“, der die kreativen Wurzeln der beiden Freunde während eines Jagdausflugs freisetzen sollte… 
In „Der fünfte Schritt“ präsentiert sich King als typischer Horror-Autor, wenn er den Rentner Harold Jamison bei seinem täglichen Spaziergang in den Central Park mit einem normal aussehenden Mann zusammentreffen lässt, der als Alkoholiker gerade die Zwölf Schritte bei den AA durchläuft. Für den jetzt anstehenden fünften Schritt soll der Mann, der sich als Jack vorstellt, einem Fremden von seinen Fehlern erzählen. Jamison lässt sich darauf ein, nicht ahnend, was er mit seinem Einverständnis auslöst… 
Mit „Danny Coughlins böser Traum“ folgt der erste Kurzroman. Die Titelfigur träumt davon, in der Nähe einer „Hilltop Texaco“-Tankstelle einen Hund zu entdecken, der erst eine Hand, dann den dazugehörigen Unterarm aus dem Boden freischarrt. Der Traum ist so real, dass Coughlin sich auf den Weg macht und tatsächlich die teilweise freigelegten Körperteile findet. Doch als er anonym die Polizei informiert, erlebt er sein blaues Wunder. Denn Inspector Franklin Jalbert vom Kansas Bureau of Investigation ist fest davon überzeugt, dass Coughlin den Fund der Leiche von Yvonne Wicker nicht nur geträumt hat, sondern die junge Frau auch selbst ermordet hat. Um das zu „beweisen“ greift Jalbert auch zu unlauteren Mitteln, stellt sich mit seinen Praktiken und Überzeugungen aber auch zunehmend selbst ins Abseits… 
„In meinen Geschichten über das Übernatürliche und Paranormale habe ich mir besonders große Mühe gegeben, die reale Welt so zu zeigen, wie sie ist, und die Wahrheit über das Amerika zu erzählen, das ich kenne und liebe. Manche solcher Wahrheiten sind hässlich, aber wie es in einem Gedicht heißt, werden Narben zu Schönheitsflecken, wo Liebe ist“, schreibt Stephen King im Nachwort zu „Ihr wollt es dunkler“ – einer Hommage an Leonard Cohen
Tatsächlich bekommt Kings Publikum wie so oft in seinen Geschichten den Spiegel vorgehalten, taucht der „King of Horror“ doch immer wieder tief ins kollektive Unterbewusstsein ein, lässt Träume und Erinnerungen lebendig werden, thematisiert Krankheit, Tod und mehr oder weniger schleichenden Wahnsinn. So macht Vic Trenton, der Ich-Erzähler in dem anderen Kurzroman, „Klapperschlangen“, und darüber hinaus auch der Vater des Jungen, der in „Cujo“ einem tollwütigen Bernhardiner zum Opfer gefallen war, die Bekanntschaft einer Frau, die über den Tod ihrer vierjährigen Zwillinge nie hinweggekommen ist und den Kinderwagen mit ihren T-Shirts durch die Gegend kutschiert, als wären die Jungs noch am Leben. 
Nicht alle Geschichten erreichen die Intensität, die die beiden Kurzromane auszeichnet, aber doch die meisten.  

Thomas Harris – „Cari Mora“

Samstag, 18. Mai 2024

(Heyne, 336 S., HC) 
Ein Vielschreiber à la James Patterson, Stephen King, Jeffery Deaver, David Baldacci oder John Grisham ist Thomas Harris mit Sicherheit nicht. Ganz im Gegenteil: Zwischen seinem 1975 veröffentlichten Roman „Black Sunday“ und „Hannibal Rising“, dem 2006 veröffentlichten Prequel zur erfolgreichen „Hannibal Lecter“-Reihe, sind zwar mehr als satte dreißig Jahre vergangen, doch in der Zeit gerade mal die drei Romane der eigentlichen „Hannibal Lecter“-Trilogie erschienen, „Roter Drache“, „Das Schweigen der Lämmer“ und „Hannibal“. Harris darf sich nicht nur rühmen, dass er für „Das Schweigen der Lämmer“ nicht nur mit renommierten Preisen wie dem Bram Stoker Award, dem World-Fantasy-Award und dem Prix Mystère de la critique ausgezeichnet worden ist, sondern dass vom Erstling bis zu „Hannibal Rising“ auch alle Romane verfilmt worden sind, „Roter Drache“ sogar gleich zweifach. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an Harris‘ neuen Roman „Cari Mora“, für den sich der Bestseller-Autor mit dreizehn Jahren so viel Zeit ließ wie noch nie zuvor. 
Der komplett haarlose Deutsche Hans-Peter Schneider verfügt in vielerlei Hinsicht über einen exklusiven Geschmack. Momentan hat er es auf den Goldschatz abgesehen, den der Drogenbaron Pablo Escobar 1989 in seiner Villa an der Biscayne Bay in Miami Beach versteckt hat. Seit dessen Tod wird die Villa vor allem an Film-Crews vermietet, die vor allem die Szenerie mit Filmmonstern, Horrorfilmrequisiten, Jukeboxen, Sex-Möbeln und einem elektrischen Stuhl aus Sing Sing faszinierend finden, aber auch an Playboys und Immobilien-Spekulanten. 
Die 25-jährige Kolumbianerin wird dabei wegen ihrer ausgesprochenen Kenntnisse des Hauses oft als Haushüterin mitgebucht. Solange sie nur über eine Aufenthaltsgestattung verfügt, hält sich die frühere Kinderkriegerin entweder im Haus auf, wo sie sich um einen sprechenden Kakadu, anfallende Reparaturen und gelegentlich um das Catering kümmert, dazu hilft sie als Pflegerin in der Pelican Harbor Seabird Station aus. Um ihren Traum zu verwirklichen, Tierärztin zu werden, fehlt ihr nur die Aufenthaltsgenehmigung und das nötige Kleingeld für das Studium. Als Schneider es durch den Immobilienmakler Felix gelingt, mit seiner Crew vorzeitig in Escobars Villa zu gelangen, ist er noch dabei, dessen alten Weggefährten Jesús Villareal die Informationen abzukaufen, mit denen der geschickt gesicherte Safe geknackt werden kann, ohne dass Schneiders Truppe alles um die Ohren fliegt. Allerdings bleibt Schneider dem im kolumbianischen Barraquilla im Sterben Liegenden die letzte Rate schuldig, weshalb Villareal seine Informationen auch seinem Landsmann Don Ernesto verkauft. 
Als Ernesto, der in seiner Heimatstadt die Diebesschule Ten Bells betreibt, in Miami seine Diebesbande auf den Goldschatz in der Villa ansetzt, nimmt diese auch Kontakt zu Cari auf, die als Insiderin über wesentliche Informationen verfügt. Ernestos Konkurrent Schneider ist jedoch nicht nur an dem Schatz interessiert, sondern auch an der attraktiven Cari, die an den Armen für Schneider interessante Narben aufweist. Denn Schneider ist ein perverser Serienkiller, der Handel mit Frauen und ihren Organen betreibt, mit denen er die Gewaltfantasien einer steinreichen männlichen Klientel bedient… 
Statt eines neuen Hannibal-Lecter-Romans präsentiert Thomas Harris in seinem vielleicht schon letzten Roman einen neuen Serienkiller, doch gibt er sich keine Mühe, den deutschen Hans-Peter Schneider mit einer Hintergrundgeschichte auszustatten. Abgesehen davon, dass Schneider als Junge seine Eltern in einer Kühlkammer eingesperrt hat und ihre gefrorenen Leichen anschließend mit einer Axt in Kleinteile gehackt hat, erfährt man nicht viel aus dem bisherigen Leben des Schatzsuchers und Menschen- und Organhändlers. 
Das trifft allerdings auch – mit Einschränkungen - auf die eigentliche Hauptfigur, die titelgebende Cari Mora zu. Immerhin gewährt Harris hier einen Blick auf ihre Zeit als zwangsrekrutierte Kindersoldatin bei der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), was erklärt, warum sich Cari sehr gut mit Waffen auskennt und sich ihrer Haut zu erwehren versteht. Doch Harris fokussiert sich nicht auf das sich früh abzeichnende Duell zwischen Schneider und Cari, sondern lässt eine fast schon unübersichtliche Vielzahl von Nebenfiguren auftreten, die offenbar keiner näheren Beschreibung bedürfen und oft genug nur dazu dienen, Opfer brutale Tötungen zu werden. 
Harris vernachlässigt aber nicht nur seine Figuren, sondern sträflicherweise auch den Plot. Immer wieder wechselt er die Handlungsorte, Zeiten und Personen, so dass überhaupt kein Erzählfluss zustande kommt. Stattdessen bemüht er ausladende Vergleiche zwischen der Tierwelt und den Menschen, beschreibt ausführlich das Fressverhalten eines Salzwasserkrokodils und die Arbeitsaufteilung in einem Bienenschwarm. 
Zwar fällt es dem Publikum leicht, Cari seine Sympathien zu schenken, doch davon abgesehen berührt der nüchtern geschilderte Ekel kaum, wird keine wirkliche Spannung erzeugt. Als die Geschichte nach 275 Seiten abrupt zu Ende ist und sich als Füllmaterial noch eine 60-seitige Leseprobe von „Das Schweigen der Lämmer“ anschließt, ist die Enttäuschung komplett. „Cari Mora“ wirkt am Ende nicht wie ein Roman aus der Feder von Thomas Harris, sondern eines wenig ambitionierten Ghostwriters, dessen Werk kein Lektorat durchlaufen musste. 

Michael Connelly – (Mickey Haller: 1) „Der Mandant“

Dienstag, 14. Mai 2024

(Heyne, 528 S., HC) 
Als Autor von Kriminalreportagen und später als Polizeireporter für die Los Angeles Times hat Michael Connelly genügend Gerichtssäle von innen gesehen und so genauestens verfolgen können, wie das US-amerikanische Rechtssystem funktioniert. Seit 1992 hat er sein schriftstellerisches Talent und sein Faible für das Justizsystem in packende und preisgekrönte Romane um Detective Hieronymus „Harry“ Bosch gepackt, die schließlich die Grundlage für die mehrere Staffeln umfassende Serie „Bosch“ der Amazon-Studios bilden sollte. Nach zehn Bosch-Romanen und verschiedenen Einzeltiteln wie dem von und mit Clint Eastwood verfilmten „Blood Work“ veröffentlichte Connelly 2005 den Beginn einer neuen Romanreihe, diesmal um den sogenannten „Lincoln Lawyer“. Diesen Namen hat sich der in Los Angeles ansässige Strafverteidiger Michael „Mickey“ Haller durch den Umstand verdient, dass er über kein eigenes Büro verfügt, sondern seine Geschäfte in einem von seinem ehemaligen Mandanten Earl Briggs gesteuerten Lincoln Town Car abwickelt, wobei seine zweite Ex-Frau Lorna ihm die Fälle zuträgt und die Buchhaltung macht. 
Da momentan kaum lukrative Fälle zu verhandeln sind, freut sich Haller, als ihm der Kautionsvermittler Fernando Valenzuela den Fall von Louis Ross Roulet vermittelt. Der Sohn der prominenten Immobilienmaklerin Mary Windsor wird der Vergewaltigung und des versuchten Mordes beschuldigt. Als er das Mandat übernimmt, muss Hallers erste Ex-Frau, die Staatsanwältin Maggie McPherson, als Anklägerin wegen eines Interessenkonflikts den Fall an den noch unerfahrenen Kollegen Minton abgeben. 
Für Haller entwickelt sich der prestigeträchtige Fall zunächst ganz nach seiner Vorstellung, gelingt es ihm doch durch seinen Ermittler Raul Levin, eine Videoaufnahme zu finden, auf der zu sehen ist, wie das vermeintliche Opfer in einer Bar Roulet einen Zettel zugesteckt hat. Außerdem entdeckt Haller eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Campo und der Nachtklubtänzerin Martha Renteria, die vergewaltigt und mit mehreren Messerstichen getötet worden ist. Bei der Verteidigung des angeklagten Jesus Menendez hat sich Haller damals nicht besonders reingehängt, sondern seinen Mandanten nur durch ein Geständnis vor der Todesstrafe bewahren können, obwohl Menendez bis zum Schluss seine Unschuld beteuert hatte. 
Als Haller zur Überzeugung gelangt, dass Menendez tatsächlich für ein Verbrechen verurteilt worden ist, das er nicht begangen hat, und dass Roulet ein Serienmörder und -vergewaltiger ist, muss er sehr behutsam bei seiner Verteidigungsstrategie sein, denn Roulet hat einige Druckmittel in petto, mit denen er glaubt, seinen Verteidiger in der Spur halten zu können… 
„Alles lief darauf hinaus, dass einer meiner Mandanten einen Mord begangen hatte, für den ein zweiter Mandant lebenslänglich einsaß. Ich konnte dem einen nicht helfen, ohne dem anderen zu schaden. Ich brauchte eine Antwort. Ich brauchte einen Plan. Vor allem brauchte ich Beweise.“ (S. 236) 
Mit dem Strafverteidiger Mickey Haller hat Michael Connelly eine interessante Figur erschaffen, die im Gegensatz zu John Grishams Kämpfern für die Gerechtigkeit eher am eigenen Prestige interessiert zu sein scheint als an der bestmöglichen Verteidigung seiner Mandanten, die er aber auch mal – sehr zum Ärger seiner Ex-Frau Lorna – kostenlos vertritt. Während Grishams Protagonisten eher juristische Fachbücher wälzen, um die in der Regel sehr finanzkräftige Gegenpartei in die Knie zu zwingen, ist Mickey Haller definitiv aus anderem Holz geschnitzt. Dass er bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat, spricht natürlich für sich – auch wenn er zu seinen beiden Ex-Frauen nach wie vor ein gutes Verhältnis pflegt und sich gerade darum bemüht, zu seiner Teenager-Tochter Hayley einen besseren Kontakt herzustellen. 
Haller erweist sich in „Der Mandant“ als gewiefter Strafverteidiger, der der Staatsanwalt immer einen Schritt voraus zu sein scheint und selbst in Bedrängnis einen Plan entwickelt, um seine persönlichen Ziele zu wahren. Der Plot ist jedenfalls äußerst stimmig aufgebaut und steigert die Spannung kontinuierlich, doch verläuft das wendungsreiche Finale auf sehr konstruierten Bahnen, was den Gesamteindruck leicht negativ beeinflusst. 
Am Ende bietet „Der Mandant“ aber so viel packende Unterhaltung, dass es nicht verwundert, dass der Roman 2011 mit Matthew McConaughey in der Rolle des Mickey Haller verfilmt wurde und 2022 sogar in der Netflix-Serie „The Lincoln Lawyer“ mündete.


David Baldacci – (Amos Decker: 6) „Open Fire“

Sonntag, 5. Mai 2024

(Heyne, 494 S., HC) 
Mit FBI-Agent Amos Decker, einem ehemaligen Football-Profi, der nach dem Bodycheck eines Gegners nicht nur eine folgenschwere Hirnverletzung davongetragen hatte, sondern dadurch auch ein fotografisches Gedächtnis und synästhetische Fähigkeiten beschert bekam, hat der US-amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci („Der Präsident“, „Die Wächter“) einen seiner faszinierendsten Figuren erschaffen. Mit „Open Fire“ erscheint nun der bereits sechste Fall von Decker und seiner Partnerin, der ehemaligen Journalistin Alex Jamison. 
Der Jäger Hal Parker entdeckt während seiner Jagd auf einen Wolf in den Badlands von North Dakota eine nackte Frauenleiche, der die Schädeldecke abgetrennt und die offenbar bereits obduziert worden ist. Als Decker und Jamison von ihrem Chef Bogart beauftragt werden, den Mord in der Kleinstadt London zu untersuchen, hat dieser sich ungewöhnlich wortkarg gegeben. 
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Opfer um Irene Carter, die in einer Täufergemeinde als Lehrerin arbeitete und offensichtlich nebenbei als Escort-Dame tätig war. Durch seinen Schwager Stan Baker, der durch das florierende Fracking-Geschäft nach London gezogen ist, und Lieutenant Joe Kelly vom hiesigen Police Department bekommen Decker und Jamison schnell einen Überblick über die Lage in London. Demnach sind die beiden Geschäftsleute Hugh Dawson und Stuart McClellan die Platzhirsche in der Kleinstadt, doch sind ihre Geschichten von verschiedenen Tragödien geprägt, zu denen sich bald weitere gesellen, denn offenbar will jemand mit allen Mitteln verhindern, dass die beiden FBI-Agenten hinter die Zusammenhänge zwischen dem Fracking und einer durch eine private Sicherheitsfirma streng bewachten militärischen Anlage kommen, in der einst verbotene Kampfstoffe produziert wurden. 
Als Decker und Jamison selbst zu Gejagten werden, taucht ein geheimnisvoller Mann namens Will Robie auf, der die beiden immer wieder aus brenzligen Situationen befreit. Doch Robies Anwesenheit wirft weitere Fragen auf, vor allem über eine „tickende Zeitbombe“… 
„Hatte das irgendwie mit den Rettungswagen zu tun, die Decker auf dem Gelände gesehen hatte? Und erklärte das vielleicht die mangelnde Bereitschaft des Stationskommandanten, Colonel Sumter, mit ihnen zusammenzuarbeiten? Sie mussten den Mann finden, diesen Ben, der Stan Baker gegenüber die Bemerkung über die tickende Zeitbombe gemacht hatte. Außerdem musste sich Decker mit Bakers Hilfe intensiver mit dem Fracking-Business auseinandersetzen. Nach Deckers Erfahrung waren besonders gewinnträchtige Geschäfte immer für ein Mordmotiv gut.“ (S. 162f.) 
Baldacci hat mittlerweile so viele Thriller-Serien konzipiert, dass es langsam schwerfällt, die Übersicht zu behalten, zumal die einzelnen Reihen selten mehr als fünf Romane umfassen. Dass mit „Open Fire“ bereits der sechste Band um den sogenannten „Memory Man“ Amos Decker veröffentlicht worden ist – ein siebenter namens „Long Shadows“ wartet noch auf seine deutsche Übersetzung -, spricht für das anhaltende Interesse sowohl des Autors als auch des Publikums an der Figur Amos Decker. 
Baldacci rekapituliert für Neueinsteiger noch einmal die Umstände, wie Decker zu seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten gelangt ist, beschreibt dessen Trauer über den Tod seiner Frau und seiner Tochter und das schwierige Verhältnis zu seiner Schwester Renee, die sich gerade von ihrem Mann Stan trennt, der für Deckers neuen Fall eine gute Informationsquelle darstellt. 
„Open Fire“ wartet mit einer Vielzahl von Figuren, merkwürdigen Selbstmorden und Unfällen – bereits in der Vergangenheit – auf sowie lange undurchsichtig erscheinenden Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren. Baldacci erweist sich als sehr geschickt darin, sukzessive die unzähligen Puzzleteile ins Spiel zu bringen und seine Ermittler daranzusetzen, diese Teile so zusammenzusetzen, dass die zunehmenden Todesfälle und merkwürdigen Erscheinungen Sinn ergeben. Dass Decker und Jamison dabei von einem anderen Serien-Helden Baldaccis – Will Robie – Unterstützung bekommen, sorgt vor allem für mehr Action und Geheimdiensthintergrund, macht die Handlung aber gerade im letzten Viertel zunehmend unglaubwürdiger. Dazu zählt die überraschend einfache Befreiung von Ketten und aus einem unterirdischen Verlies – in dem zufällig auch noch Sprengstoff gelagert wird -, aber auch das sehr konstruierte Motiv, das hinter den ganzen Morden steckt. Hier wäre weniger – an Figuren, Action und Zusammenhängen – definitiv mehr gewesen. 

Stephen King – „Langoliers“

Samstag, 27. April 2024

(Heyne, 512 S., Heyne Jumbo) 
Wie Stephen King in seiner Vorbemerkung zu der Novellen-Sammlung „Four Past Midnight“ erwähnt, ist er zu ihrer Veröffentlichung im Jahr 1990 bereits 16 Jahre im Geschäft des Schreibens tätig gewesen. In dieser doch schon bemerkenswerten Zeit sind nach seinem durch Brian De Palma verfilmtes Romandebüt „Carrie“ noch weitere – meist ebenfalls durch namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick, John Carpenter, David Cronenberg, George A. Romero und Rob Reiner verfilmte - Bestseller wie „Shining“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Es“, „Sie“ und „Stark – The Dark Half“ erschienen, darüber hinaus auch Kurzgeschichten-Sammlungen wie „Nachtschicht“ und „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“. Mit „Four Past Midnight“ hat King vier längere Geschichten zusammengefasst, die fast eher in den Bereich des Kurzromans gehen, weshalb der Heyne Verlag je zwei Geschichten in dem Band „Langoliers“ und dann in „Nachts“ veröffentlicht hat, bevor später auch eine Taschenbuchausgabe mit dem Titel „Vier nach Mitternacht“ erschien. Viel interessanter als die Geschichten selbst – dies schon mal vorab – sind die Einführungen des Autors zu den jeweiligen Stories. So entstand die Grundidee für die Titelgeschichte aus dem Bild einer jungen Frau, die eine Hand auf einen Riss in der Hülle eines Linienflugzeugs drückt. 
In „Langoliers“ kommt Flugkapitän Brian Engle nach einem schwierigen Flug aus Tokio auf dem LAX, Amerikas schlimmsten Flughafen, an und erfährt, dass seine Ex-Frau Anne bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen sei. Engle fliegt daraufhin als Passagier von Los Angeles weiter nach Boston, schläft aber auch kurz nach dem Starten des „Schnarchflugs“ ein. Als er aufwacht, sind neben ihm selbst noch zehn weitere Passagiere an Bord, die ebenfalls geschlafen haben, darunter das blinde Mädchen Dinah, die Lehrerin Laura, der Musikhochschüler Albert und der geheimnisvolle Nick. Alle anderen – auch die Piloten und die Flugbegleiter:innen - scheinen auf mysteriöse Weise einfach verschwunden, auf vielen Plätzen liegen noch ihre Uhren, aber auch Herzschrittmacher und Zahnfüllungen. Engle übernimmt zwangsläufig das Kommando, versucht allerdings vergeblich, Funkkontakt zu anderen Flughäfen zu bekommen. 
Überhaupt scheint die Welt außerhalb des Flugzeugs eine komplett andere zu sein. Das bekommen Engle und seine Schicksalsgefährten auf schmerzvolle Weise zu spüren, als es ihnen gelingt, den Flughafen von Maine anzusteuern… 
„Langoliers“ wirkt wie Folge aus Rod Serlings „Twilight Zone“, zählt aber zu den schwächeren Geschichten des „King of Horror“. Das liegt nicht nur an der sehr kurzen Einführung der Figuren, die auch während des weiteren Verlaufs der Geschichte kaum Kontur gewinnen. King stellt eindeutig das aberwitzige Szenario in den Vordergrund und bringt seine Leserschaft ebenso wie die Beteiligten in eine Position, in der es vor allem darum geht, eine Erklärung für das Verschwinden der Menschen sowohl im Flugzeug als auch am Flughafen zu finden. Durch die für King ungewöhnlich große Distanz zwischen den Figuren und dem Publikum stellt sich längst nicht das wohlige Grauen ein, das die besseren Geschichten des Bestseller-Autors hervorrufen. 
Mit „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ bewegt sich King dann auf vertrautem Terrain, thematisiert einmal mehr das Spannungsfeld zwischen Literatur, Leser und Schriftsteller. Stand in dem auch erfolgreich von Rob Reiner verfilmten Bestseller „Sie“ der starke Einfluss im Vordergrund, den Literatur auf die Leserschaft ausüben kann, beleuchtete King in dem (vom renommierten Horror-Regisseur George A. Romero adaptierten) Roman „Stark – The Dark Half“ wiederum den manchmal durchaus zerstörerischen Einfluss, mit dem Literatur den Schriftsteller prägen und verändern kann. 
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ nähert sich eher dem zweiten Phänomen an, wird der frisch geschiedene und unter einer Schreibblockade leidende Schriftsteller Morton Rainey in dem Sommerhaus am Tashmore Lake von einem mysteriösen Mann, der sich als John Shooter vorstellt, mit dem Vorwurf konfrontiert, seine 1982 geschriebene Geschichte „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ gestohlen zu haben, und verlangt im Gegenzug, dass Rainey ihm eine Geschichte schreibt. Rainey fühlt sich zunächst auf sicherem Terrain, schließlich ist seine Geschichte mit dem Titel „Zeit zu säen“ bereits 1980 im Ellery Queens Kriminalmagazin erstmals veröffentlicht worden. 
Shooter will allerdings innerhalb von drei Tagen einen Beweis in Form einer der Originalausgaben des Magazins in der Hand halten. Während Rainey seinen Agenten darauf ansetzt, eine dieser Ausgaben per Express zu ihm schicken zu lassen, geschehen grausame Dinge. Eines Morgens findet Rainey seinen Kater Bump mit einem Schraubendreher am Dach des Müllkastens angenagelt vor, wenig später ist das Haus, in dem seine Ex-Frau Amy lebte, bis auf die Grundmauern abgebrannt. Während der Versicherungsdetektiv nach Hinweisen auf die offensichtliche Brandstiftung sucht, wird Rainey von verdrängten Erinnerungen und düsteren Träumen heimgesucht… 
„Er glaubte, ohne ihre große Kapazität der Selbsttäuschung wäre die menschliche Rasse wahrscheinlich noch verrückter, als sie ohnehin war. Aber manchmal brach die Wahrheit durch, und wenn man bewusst versucht hatte, zu träumen und sich diese Wahrheit nicht einzugestehen, konnten die Folgen verheerend sein: Es war, als wäre man dabei, wenn eine gigantische Flutwelle nicht nur über, sondern regelrecht durch einen Damm raste, der in ihrem Weg lag, und diesen samt einem selbst zerschmetterte.“ (S. 397)
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“, das mit Johnny Depp in der Hauptrolle als „Das geheime Fenster“ verfilmt worden ist, wirkt zwar atmosphärisch stimmiger und ist in der Charakterisierung der zugegebenermaßen wenigen Figuren gelungener als „Langoliers“, kann aber mit Stephen Kings früheren Auseinandersetzungen mit dem eingangs erwähnten Spannungsfeld längst nicht mithalten. Das liegt vor allem an dem sehr vorhersehbaren Ausgang der Geschichte und der nicht wirklich überzeugenden Motivation für die grausamen Taten, die uns im Verlauf der Story begegnen. Fans der großartigen Sammlung „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ dürften hier eher enttäuscht werden.


Stephen King – „Sie“

Montag, 15. April 2024

(Heyne, 400 S., Jumbo) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Romandebüt „Carrie“ hat es Stephen King innerhalb weniger Jahre mit weiteren, allesamt verfilmten Werken wie „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und vor allem „Es“ zum meistgelesenen Horrorautoren aller Zeiten geschafft. Ein besonderer Coup ist dem „King of Horror“ mit dem 1987 erschienenen und durch Rob Reiner erfolgreich mit James Caan und Kathy Bates in den Hauptrollen verfilmten Bestseller „Misery“ gelungen, der hierzulande als Erstauflage in dem leider nur kurzlebigen Jumbo-Paperback-Format bei Heyne unter dem Titel „Sie“ veröffentlicht worden ist. 
Nachdem der bekannte Romanautor Paul Sheldon bei einem Schneesturm von der Straße abgekommen und einen Hang hinuntergerutscht ist, hätte er mit seinen beiden gebrochenen Beinen gut umkommen können, doch die ehemalige Krankenschwester Annie Wilkes hat es geschafft, den bewusstlosen Mann aus dem Auto zu bergen und ihn in ihr einsam gelegenes Haus nahe der Stadt Sidewinder in Colorado zu bringen, wo sie mit ein paar Hühnern und einem Schwein lebt, das sie nach Paul Sheldons berühmtester Romanfigur Misery genannt hat. Als Paul Sheldon sein Bewusstsein wiedererlangt, sieht er seine völlig zerstörten Beine behelfsmäßig geschient und sich seiner Retterin hilflos ausgeliefert. Dass mit Annie Wilkes etwas nicht stimmt, merkt mit Novril ruhig gestellte Sheldon sofort. Schließlich hat die gute Frau es nicht für nötig gehalten, die Polizei über ihren Fund zu informieren oder den schwerverletzten Mann ins Krankenhaus zu fahren. Aus Dankbarkeit lässt Sheldon seinem selbsternannten „Fan Nr. 1“ seinen neuen Roman „Schnelle Autos“ lesen, doch zeigt sich Annie wenig begeistert von dem ernsthaften Stoff. Als sie bei einem Einkauf eine Taschenbuchausgabe von Sheldons letzten „Misery“-Roman entdeckt, ist sie so entsetzt darüber, dass ihre absolute Lieblingsheldin stirbt, dass sie Sheldon dazu zwingt, sein Manuskript von „Schnelle Autos“ zu verbrennen und einen neuen „Misery“-Roman zu schreiben, in dem Misery Chastain wiederbelebt wird. Doch je mehr Paul gezwungenermaßen in dem Zimmer eingesperrt ist, desto mehr stellt er fest, dass Annie unter ernsthaften psychischen Problemen leidet und sicher nicht vorhat, ihren Lieblingsautor jemals wieder gehen zu lassen… 
„Er wusste, dass er unablässig terrorisiert worden war, aber hatte er gewusst, wieviel von seiner subjektiven Realität, die einst so stark gewesen war, dass er sie als gottgegeben betrachtet hatte, ausgelöscht worden war? Er wusste eines mit ziemlicher Sicherheit – es war wesentlich mehr mit ihm nicht in Ordnung als nur die Lähmung seiner Zunge, ebenso wie mit dem, was er geschrieben hatte, wesentlich mehr nicht in Ordnung war als die fehlende Type oder das Fieber oder Sprünge in der Kontinuität oder selbst der Verlust seines Schneids. Die Wahrheit hinter allem war so einfach in ihrer Grausamkeit, so schrecklich einfach. Er starb Stück für Stück…“ (S. 305) 
Waren viele seiner vorangegangenen Horrorromane von übernatürlichen Fähigkeiten wie Telekinese („Carrie“), übersinnlichen Wahrnehmungen („Shining“), hellseherischen Fähigkeiten („Dead Zone“) oder Pyrokinese („Feuerkind“) geprägt oder behandelten klassische Horrorthemen wie Vampirismus („Brennen muss Salem“), kommt „Sie“ ohne jegliche übernatürliche Komponente aus. 
Kings Roman wirkt wie ein klassisches Bühnenstück, dessen Handlung sich gut und gerne auf ein Zimmer und zwei Personen beschränken könnte. 
Der Horror entsteht durch den Wahnsinn der ehemaligen Krankenschwester Annie Wilkes, die in Rob Reiners Verfilmung durch eine Oscar-prämierte Kathy Bates zum Leben erweckt worden ist. Durch Paul Sheldons absolute Hilfslosigkeit wird ein Szenario heraufbeschworen, in dem Annie Wilkes ihre labile Psyche hemmungslos an ihrem Opfer austoben lässt, wobei die Beziehung zwischen Autor und Leser natürlich auch selbstreferentielle Züge aufweist. 
Stephen King lässt sein Alter Ego auch über die Unterscheidung zwischen ernsthafter und Schundliteratur schwadronieren, wobei der Leser nicht umhinkommt, auch Kings eigene Meinung zu diesem Thema hineinzuinterpretieren. Im Verlauf der Handlung kommt es zu einigen wirklich grausamen Verstümmelungen, aber das Beste hebt sich King für das grandiose Finale auf, das einen so schnell nicht mehr loslässt.


John Grisham – „Die Entführung“

Dienstag, 12. März 2024

(Heyne, 384 S., HC) 
Mit seinem zweiten, 1991 veröffentlichten Roman „Die Firma“ gelang dem früheren Anwalt John Grisham gleich der große Coup. Er verkaufte die Filmrechte für 600.000 Dollar an Paramount, die mit der Verfilmung durch Sydney Pollack mit Tom Cruise in der Hauptrolle des jungen Anwalts Mitch McDeere nicht nur einen Blockbuster ins Kino brachten, sondern auch die Karrieren von Tom Cruise und John Grisham beflügelten. 
Nach über dreißig Jahren legt Grisham nun mit „Die Entführung“ eine vor allem von seinen treuesten Fans lang erwartete Fortsetzung vor – die allerdings über weite Strecken enttäuscht. 
Vor fünfzehn Jahren konnte Mitch McDeere als einer der besten Absolventen der juristischen Fakultät von Harvard unter den besten Job-Angeboten wählen. Entschieden hat er sich für die relativ kleine Kanzlei Bendini, Lambert & Locke in Memphis, die zwar nicht das sagenhafte Gehalt prominenter Großkanzleien zahlten, aber durch ihre familiäre Atmosphäre und großzügige Sozialleistungen auch Mitchs Frau Abby überzeugen konnten. Doch aus dem Traum wurde damals ein lebensbedrohender Alptraum, als Mitch dahinterkam, dass die Kanzlei einer Mafia-Familie in Chicago gehörte, die bereits vom FBI überwacht wurde. Mitch gelang es damals, nicht nur mit heiler Haut aus der Affäre herauszukommen, sondern auch noch zehn Millionen Dollar mitzunehmen, an denen das FBI offenbar kein Interesse hatte. 
Nachdem die McDeeres einige Zeit in Europa, vor allem in Italien, verbracht haben und Eltern von den beiden Zwillingen Carter und Clark geworden sind, hat Mitch Karriere bei Scully & Pershing gemacht, der größten Anwaltskanzlei der Welt mit Hauptsitz in New York und über dreißig Standorten auf allen Kontinenten. Mitch, der mittlerweile Partner bei S & P ist, soll das türkische Bauunternehmen Lannak vertreten, die für den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi eine eine Milliarde Dollar teure Brücke bauen sollten, doch weigert sich Libyen, die ausstehenden vierhundert Millionen Dollar zu zahlen, die nach Beendigung des Projekts noch offen sind. 
Um dieses Geld einzutreiben, reist Mitch mit Giovanna Sandroni nach Libyen. Giovanna ist die ebenfalls als erfolgreiche Anwältin arbeitende Tochter des schwer an Krebs erkrankten Luca Sandroni, der die römische Niederlassung von S & P leitet. Als sie entführt und von Scully & Pershing ein Lösegeld von 100 Millionen Dollar gefordert wird, entwickelt sich ein Wettlauf gegen die Zeit, um Leben und Tod… 
Mitch McDeere ist also – wie von so vielen Fans sehnsüchtig erhofft – zurück. Die dreißig Jahre, die seit seinem rasanten Aufstieg und Fall bei der gut als Mafia-Geldwäscherei getarnten Kanzlei in Memphis, vergangen sind, hat Grisham geschickterweise durch den Kniff halbiert, indem er die Handlung noch zu Lebzeiten des 2011 getöteten libyschen Staatschefs Gaddafi vor dem realen Hintergrund des wahnwitzigen „Great Gaddafi Bridge“-Projekts ansiedelt. Natürlich werden wir erst einmal ausführlich über den weiteren Werdegang der McDeeres informiert, über Abbys Ambitionen als Herausgeberin von Kochbüchern bei einem kleinen Verlag ebenso wie natürlich über die erstaunlich unproblematische Karriere ihres Mannes bei der weltgrößten Kanzlei. 
Doch wirklich nahe kommen wir den McDeeres nicht. Das liegt nicht nur an der skizzenhaften Rekapitulation der Zeit zwischen Bendini, Lambert & Locke und Scully & Pershing, sondern vor allem an Grishams fast schon klinisch nüchternen Schreibstil, der jede emotionale Verbundenheit zu den Figuren unterbindet. 
Dazu liegt Grishams Fokus ganz auf den handlungsgetriebenen Plot gerichtet. Wie Mitch von New York nach Rom und von dort aus nach Istanbul, wieder zurück nach Rom, nach London und New York fliegt, lässt sich logisch kaum begründen und lässt auch die fein austarierten juristischen Manöver vermissen, die gerade die frühen Grisham-Romane zu Eckpfeilern des Justizthriller-Genres werden ließen. 
In „Die Entführung“ wird nur hektisch versucht, die hundert Millionen Dollar Lösegeld aufzutreiben und die Identität der Entführer aufzudecken, packend ist dieser wenig leidenschaftlich ausgefochtene Kampf nicht. Was Grisham zumindest versucht hat, an Spannung aufzubauen, löst der Autor zum Ende hin recht unspektakulär und allzu vorhersehbar auf. Für diesen Plot hätte man die McDeeres nicht wieder aus der Mottenkiste holen müssen – aber dann hätte das Buch ein entscheidendes Verkaufsargument weniger… 

James Lee Burke – (Aaron Holland Broussard: 2) „Das verlorene Paradies“

Samstag, 2. März 2024

(Heyne, 320 S., Pb.) 
Mit seinen über zwanzig – teilweise auch verfilmten – Romanen um Detective Dave Robicheaux hat sich der 1936 in Houston, Texas, geborene James Lee Burke als vielleicht bedeutendste Stimme im Genre des Südstaaten-Krimis erhoben. Neben den seit 1987 veröffentlichten Romanen um den Vietnam-Veteranen und Alkoholiker sind es vor allem die Geschichten rund um die Holland-Familie, mit denen Burke sein Publikum in den Bann zu ziehen versteht. Nach den epischen Abenteuern, die Hackberry Holland („Zeit der Ernte“, „Regengötter“, „Glut und Asche“) und Billy Bob Holland („Dunkler Strom“, „Feuerregen“, „Die Glut des Zorns“) in den ihnen gewidmeten Buchreihen erlebten, feierte der Wanderarbeiter und Nachwuchsautor Aaron Holland Broussard hierzulande 2018 in „Dunkler Sommer“ seinen Einstand. Nun folgt mit „Das verlorene Paradies“ endlich die erste Fortsetzung.
Aaron Holland Broussard macht sich im Frühjahr 1962 als Trainhopper auf den Weg nach Denver, schlägt sich bis zur Heilsarmee durch und fährt mit dem Greyhound bis runter nach Trinidad, wo er auf der Farm von Jude Lowry und seiner Frau anheuert, um sich zusammen mit anderen Saisonarbeitern um das Vieh und den Ackerbau zu kümmern. Als er zusammen mit seinen beiden Kollegen Spud Caudill und Cotton Williams einen Pritschenwagen voller Tomaten zum Packhaus nach Trinidad fährt, werden die drei Freunde nach einem Restaurantbesuch von vier Männern zusammengeschlagen. Offenbar passte ihnen ein Aufkleber der Landarbeitergewerkschaft auf Mr. Lowrys Wagen nicht. 
Auf diese Weise lernt Broussard nicht nur den Detective Wade Benbow kennen, der es trotz Lungenkrebs nicht schafft, mit dem Rauchen aufzuhören, sondern auch die junge Kunststudentin und Kellnerin Jo Anne McDuffy. Doch die sich anbahnende Romanze wird von dem Umstand getrübt, dass Jo Annes schmieriger Dozent Henri Davos Anspruch auf die junge Frau erhebt und sich in ihrer Nachbarschaft ein paar unberechenbare, vollgedröhnte Junkies in einem Bus herumtreiben. Doch die meisten Probleme bereiten Broussard Rueben Vickers und vor allem sein Sohn Darrel, der die Prügelei in Trinidad angezettelt hatte. 
Derweil entwickelt Benbow ein besonderes Interesse an Broussard und zeigt ihm die Fotos von sechs Frauen und Mädchen, die in den letzten drei Jahren rund um Trinidad brutal ermordet worden sind, darunter die zwölfjährige Enkelin des Detectives. Während sich Broussard mit den teilweise unheimlich wirkenden Ereignissen rund um die Farm, die religiös verwirrten Junkies und die brutalen Vickers herumschlägt, wird er auch von beunruhigenden Träumen heimgesucht, die ihn zu seinem Einsatz in Korea 1953 und dem Verlust seines besten Freundes Saber Bledsoe zurückbringen. Detective Benbow hegt bereits einen Verdacht, wer für die Morde an den Mädchen und Frauen verantwortlich gewesen ist, doch fehlen ihm die Beweise. Als er Broussard ins Vertrauen zieht und mit ihm auf Mörderjagd geht, machen sie mehrere zutiefst verstörende Entdeckungen… 
„Am liebsten wäre ich zu den Sternen hinaufgestiegen und über die Berge davongesegelt. Ich wollte in die Welt meines Vaters entfliehen: ans Ufer des Bayou Teche, in Abende, die nach Magnolien, Jasmin, Trompetenblumen und Orangenblüten riechen. Einfach nur irgendwohin. Alles war besser als das Hier und Jetzt, denn ich hatte das Gefühl, gerade Zeuge der Zerstörung Edens geworden zu sein.“ 
Kaum einer versteht es, die Landschaft und das Lebensgefühl in den Südstaaten so bildhaft darzustellen wie James Lee Burke. Die Bilder und die Gerüche, die seine Sprache hervorrufen, entwickeln beim Lesen eine eigene Zauberkraft, dringen tief in die Vorstellungswelt des Publikums ein. Natürlich ist es einmal mehr unaussprechliche Gewalt, die die Geschichte von „Das verlorene Paradies“ prägt, auch wenn Liebe und Vertrauen möglich scheint. 
Die ungeklärten Morde an den sechs Mädchen und Frauen sind aber nur der Aufhänger für dieses Kriminaldrama, denn ebenso geht es um die Last unauslöschlicher Erinnerungen und schmerzhafter Verluste, um religiösen Wahn und die destruktive Kraft übermäßigen Drogenkonsums. Die psychischen Defekte und die unkontrollierte Gewalt, die hier zum Ausdruck kommt, ist nichts für schwache Nerven, folgt aber einer hypnotisierenden Dramaturgie, der man sich nicht entziehen kann. Allein die übernatürlichen Elemente, die über Traumbilder hinausgehen und die Handlung zum Finale hin ebenso maßgeblich wie unglaubwürdig beeinflussen, sorgen für ein paar Wermutstropfen in diesem leider viel zu kurzen Roman. 

Dan Simmons – „Olympos“

Sonntag, 19. November 2023

(Heyne, 958 S., Tb.) 
Obwohl Dan Simmons auch sehr erfolgreich in den Genres Horror und historischem Abenteuer-Roman unterwegs gewesen ist, bleibt sein Name nach wie vor mit seiner vielfach preisgekrönten „Hyperion“-Tetralogie verbunden, die 1989 mit „Hyperion“ ihren Anfang nahm und über die Romane „Das Ende von Hyperion“, „Endymion. Pforten der Zeit“ und „Endymion. Die Auferstehung“ in den 1990er Jahren fortgeführt wurde. Nach seinem Ausflug in konventionellere Gefilde mit Thrillern wie „Fiesta in Havanna“, „Das Schlangenhaupt“ und „Eiskalt erwischt“ legte Simmons 2003 mit „Ilium“ sein nächstes Sci-Fi-Epos vor. Schon ein Jahr später präsentierte er mit „Olympos“ die Fortsetzung/den Abschluss seiner fantastischen Geschichte über den Kampf zwischen antiken Göttern auf einer alternativen Erde. 
Der aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammende Altphilologe Thomas Hockenberry wurde nach seinem Tod im Jahr 2006 von den Göttern aus alten Knochen, DNA und Erinnerungsfragmenten wiederbelebt, um für die Musen am Olymp Bericht vom Kampf um Troja zu erstatten. Mit der ihm zur Verfügung stehenden High-Tech-Ausrüstung war es Hockenberry und seinen Kollegen nicht nur möglich, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen (und zu verschwinden), ohne von den Beteiligten wahrgenommen zu werden, sondern er konnte die Ereignisse auch verändern. 
Dabei stellte der „Ilias“-Kenner fest, dass sich der Olymp der Götter nicht auf der Erde, sondern auf einem bewohnbaren Mars befindet, während der Trojanische Krieg auf der historischen Erde stattfand. Nach zehn Jahren sorgte allerdings ein Bündnis zwischen Achilles und Hektor, mit dem Ziel, Krieg gegen die Götter zu führen, für Verwirrung, und auf einem fernen Mars der Zukunft begann der trojanische Krieg von neuem. Während Zeus verschwand, kamen die Götter und Göttinnen herunter, um an der Seite ihrer jeweiligen Favoriten zu kämpfen. 
Im Zuge der Kampfhandlungen sorgt das Abreißen der Verbindung zwischen dem Mars mit dem Olymp und der Erde dafür, dass die Moravecs genannten biologische Maschinenwesen und die Griechen fliehen müssen, während Achilles auf dem Mars zurückbleibt und sich mit Hephaistos’ Hilfe auf eine aberwitzige Reise durch die Unterwelt begibt. Auf der zukünftigen Erde wiederum sehen sich die wenigen „Altmenschen“ einem Krieg ausgesetzt, den sie nicht gewinnen können, weil die unzähligen Voynixe, jene halbmechanischen Helfer, die ihnen zuvor ein bequemes und sorgenfreies Leben gewährleistet haben, plötzlich zur unbezwingbaren, tödlichen Bedrohung geworden sind. Und wieder muss sich Hockenberry an einen Ort teleportieren, an dem man ihn nicht sieht… 
„Wo genau will ich eigentlich hin? Wie kann ich diejenigen, zu denen ich will, dazu bewegen, den Griechen bei der Flucht zu helfen? Wohin könnten die Griechen fliehen? Ihre Familien, Bediensteten, Freunde und Sklaven sind alle in den blauen Strahl gesaugt worden, der von Delphi emporsteigt.“ (S. 751) 
Wer von „Ilium“ und „Olympos“ erwartet, ein ähnlich packendes Science-Fiction-Epos wie die „Hyperion“-Tetralogie genießen zu dürfen, wird sicher enttäuscht. Zwar ist Simmons‘ Grundidee, Homers berühmte „Ilias“ auf verschiedenen Raum- und Zeitebenen zwischen Mars und Erde zu verlegen, höchst interessant, aber auf den am Ende fast zweitausend Seiten des zweibändigen Epos treibt es der Autor dann doch etwas weit mit unzähligen Figuren, die am Trojanischen Krieg teilgenommen haben, und diversen technologischen Erfindungen, die oft nicht näher erläutert werden. Dass Simmons immer wieder zwischen den Zeiten, Orten und handelnden Personen/Göttern und literarisch bewanderten Moravecs hin- und herspringt, ist dem Lesegenuss ebenfalls wenig zuträglich. Dabei gewinnen die unzähligen Figuren kaum Kontur. Hockenberry, der als Ich-Erzähler, noch das alles verbindende Glied in „Ilium“ gewesen ist, taucht in der Fortsetzung erstmals ab Seite 650 auf, worauf seine Rolle fast darauf beschränkt bleibt, die bisherigen Ereignisse seit seiner Reaktivierung zusammenzufassen. 
Shakespeare- und „Ilias“-Kenner sind sicher im Vorteil, wenn es um die Einordnung literarischer Referenzen geht, die vor allem durch die beiden sympathischen Moravecs Mahnmuth und Orphu ins Spiel gebracht werden, aber hilft das kaum weiter, um die technologischen Finessen, quantenphysikalischen Phänomene und interpersonelle Verstrickungen zwischen den Alt-, und Nachmenschen, Göttern und Halbgöttern, Maschinenwesen und Monstern mit gehirnähnlichem Aussehen so einzuordnen, dass man als Leser mit Spannung das Finale erwartet. Das fällt nämlich mit einem Ausblick nach der Zerstörung Iliums eher metaphysisch aus. Simmons‘ Ideenreichtum, umfängliches Wissen und sprachliche Gewandtheit machen sich auch in „Olympos“ bemerkbar, aber weniger wäre gerade im vorliegenden Werk mehr gewesen.


Stephen King – „Holly“

Dienstag, 3. Oktober 2023

(Heyne, 640 S., HC) 
Am 21. September 2023 feierte Stephen King seinen 76. Geburtstag. Ans Aufhören denkt der produktive Bestseller-Autor, der nach wie vor als „King of Horror“ tituliert wird, obwohl seine literarischen Ambitionen längst weit über dieses Genre hinausgehen, noch lange nicht. Jedes Jahr dürfen sich King-Fans auf mindestens ein neues, oft episch angelegtes Buch freuen. Mit seinem neuen Roman „Holly“ kehrt King zu seiner, wie er selbst sagt, Lieblingsfigur Holly Gibney zurück und macht sie erstmals zur Hauptakteurin, nachdem sie in der aus „Mr. Mercedes“, „Finderlohn“ und „Mind Control“ bestehenden Trilogie um den Privatermittler Bill Hodges als Nebenfigur aufgetaucht war und später auch in „Der Outsider“ und „Blutige Nachrichten“ ihren Auftritt hatte. 
Die Privatermittlerin Holly Gibney hat gerade ihre an Corona verstorbenen Mutter beerdigt, da erhält sie den Anruf einer verzweifelten Mutter, Penny Dahl, die seit drei Wochen ihre Tochter Bonnie vermisst und keinen Hehl aus ihrer Kritik an den ihrer Meinung nach oberflächlichen Ermittlungen der Polizei. Da ihr Partner bei Finders Keepers, Pete Huntley, gerade unter einer schweren Covid-Erkrankung leidet, übernimmt Holly den Fall allein, lässt sich von ihrer Freundin, Detective Izzy Jaynes, über den Stand der Dinge informieren, und legt los. Gewissenhaft untersucht die 55-jährige, übrigens gegen Corona geimpfte, allerdings rauchende Ermittlerin die Gegend, in der Bonnie das letzte Mal gesehen worden ist, wo sie schließlich einen Ohrring entdeckt, befragt das Personal des naheliegenden Supermarkts, Freunde und Arbeitskollegen. 
Ihre Mitarbeiter, die beiden Geschwister Jerome und Barbara Robinson, spannt sie mit Recherchen ebenso ein wie Pete Huntley, der auf dem Wege der Besserung scheint. Als Holly bei ihren Ermittlungen auf ähnliche Vermisstenfälle stößt, versucht sie einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden von Bonnie Dahl, der Reinigungskraft Ellen Craslow und Pete Steinman zu finden. Währenddessen bereiten die gebrechliche Emily Harris, Professorin für Englische Literatur, und ihr mit ersten Anzeichen von Alzheimer kämpfende Ehemann Rodney Harris, Professor an der Fakultät für Biowissenschaften und Ernährungswissenschaftler, in ihrem Keller den nächsten Schmaus vor. 
„Mit Faszination betrachtet Roddy die winzigen Blutströpfchen auf ihrer Unterlippe. Am fünften Juli wird er die Lippen da in ungebleichtem Mehl wälzen und in einer kleinen Pfanne braten, vielleicht mit Pilzen und Zwiebeln. Lippen sind eine gute Kollagenquelle, und die da werden wahre Wunder für seine Knie und Ellbogen wirken, sogar für seinen knarzenden Unterkiefer. Letzten Endes wird die lästige junge Frau der Mühe wert sein. Sie wird Roddy und Emily etwas von ihrer Jugend schenken.“ (S. 444) 
Stephen Kings Romane sind auch immer Reflexionen über den jeweils gegenwärtigen Zustand der Vereinigten Staaten von Amerika. In „Holly“, der bis auf wenige Kapitel im Jahr 2021 angesiedelt ist, steht nicht nur einmal mehr Trump im Fokus von Kings Kritik hinsichtlich der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung im Land, sondern vor allem Corona. Während die leicht hypochondrische Holly geimpft ist, ihren Gesprächspartnern den Ellbogen zur Begrüßung hinstreckt (was die Leute oft genug mitleidig lächelnd erwidern) und wo es geboten scheint Maske trägt, gibt es offenbar viele Menschen, die Corona als Lügenmärchen und Teil einer großangelegten Verschwörung ansehen. 
Die Penetranz dieser Thematik nervt zwar mit der Zeit, wird aber durch einen geschickt konstruierten Krimi-Plot wettgemacht, der auf zwei Handlungsebenen angelegt ist. 
Während Holly nämlich den immer offensichtlicher werdenden Gemeinsamkeiten zwischen den Vermisstenfällen nachgeht, macht sich auf der einen Seite Jerome Robinson auf den Weg nach New York, um den Vorschuss auf seinen ersten Roman in Empfang zu nehmen, auf der anderen Seite freundet sich seine Schwester Barbara mit der berühmten Dichterin Olivia Kingsbury an, die die Gedichte ihres Schützlings bei einem renommierten Wettbewerb einreicht. Allein aus der räumlichen Nähe zu dem verrückten Harris-Ehepaar erzeugt King eine unterschwellige Spannung, aber der Autor hat auch sichtlich Freude daran, einmal mehr in den schwierigen Schaffensprozess von Lyrik und Literatur einzutauchen. Der Horror hält sich bei „Holly“ dagegen in überschaubare Grenzen. Der thematisierte Kannibalismus wird weniger blutig abgehandelt als erwartet. Dafür taucht King tief in die in Schieflage geratene Psyche des alten Gelehrten-Paars ein. Überhaupt nimmt sich King viel Zeit für seine Figuren, allen voran natürlich für die titelgebende Holly, die sich redlich müht, ihre Menschenscheu in den Griff zu bekommen und den Fall der Vermissten zu lösen. Das liest sich oft eher wie ein ausschweifender Harry-Bosch-Roman von Michael Connelly (der auch in dem Roman erwähnt wird) als ein King-typischer Horror-Roman, aber die Spannung wird bei aller erzählerischer Länge auf konstant hohem Niveau gehalten. Einzig das unglaubwürdige Finale enttäuscht auf ganzer Linie. Wer Holly aber ebenso wie zuvor Bill Hodges ins Herz geschlossen hat, darf sich mit Sicherheit auf weitere Geschichten mit der sympathischen Detektivin freuen.  

Robert Bloch – „Das Regime der Psychos“

Dienstag, 26. September 2023

(Heyne, 128 S., Tb.) 
Zwar ist Robert Bloch (1917-1994) wegen seiner berühmten Romanvorlage zu Alfred Hitchcocks Klassiker „Psycho“ (1960) vor allem als Autor fantastischen und psychologischen Horrors bekannt, doch hat der Autor, der schon als Jugendlicher Kontakt zu H.P. Lovecraft und seinem Zirkel gepflegt hatte, im Laufe seiner langen Schriftsteller-Karriere auch etliche Science-Fiction-Geschichten geschrieben (hier ist die Sammlung „Die besten SF-Stories von Robert Bloch“ besonders zu empfehlen). 
1971 erschien mit „Sneak Preview“ sogar ein Science-Fiction-Roman aus seiner Feder, der drei Jahre später als „Das Regime der Psychos“ von Heyne im deutschsprachigen Raum veröffentlicht wurde. 
Eigentlich würde Graham, der als junger Regisseur in der Abteilung Weltraumopern dafür zuständig ist, die gewalttätigen Fantasien des Publikums auf andere Welten und schleimige, insektenäugige Ungeheuer umzulenken, gerne einen Dokumentarfilm drehen, doch mit seinem Ansinnen, Gewalt zwischen Menschen zu zeigen, wird er von seinem Produzenten Zank zu einer Auszeit mit der schönen Wanda verdonnert. Es gibt Schlimmeres. Schließlich verliebt sich Graham in Wanda, die ihn allerdings gleich an den Psycho-Chef Sigmond übergibt. 
In der nahen Zukunft haben Kriege, atomare Explosionen und Naturkatastrophen die Erde verwüstet. Nun leben die verbliebenen Menschen unter Kuppeln in ausgesuchten Städten und werden nicht von Politikern regiert, sondern von Psychologen, die bestens mit der Natur des Menschen vertraut sind und deshalb genau wissen, was sie brauchen, um friedlich miteinander auszukommen. Dazu gehört auch, dass jeder Mensch im Alter von fünfzig Jahren zwangspensioniert wird und als Sozialpensionär in den Süden verfrachtet wird, um den Rest des Lebens genießen zu können. Krankheit, Armut und Krieg scheinen besiegt, politische und religiöse Querelen ausgemerzt. 
Auf der anderen Seite haben die dreißig Millionen Menschen auf der Erde Zugang zu Kleidung, Ernährung, Wohnung, medizinischer und psychiatrischer Unterstützung. Damit auch Graham wieder in dieses System eingegliedert werden kann, soll er einer Gehirnwäsche unterzogen werden, doch dann bekommt er unverhofft die Gelegenheit, sich einer gut organisierten Gruppe anzuschließen, die wieder die alte Gesellschaftsform zurückbringen will. 
„Unter den Kuppeln betrachteten die Menschen sich nicht als Schachfiguren der Natur; wenn sie einander umarmten, geschah es nur zur Triebbefriedigung. Vielleicht war es wichtig, dass allen wieder eine Gelegenheit wie diese geboten wurde – unter einem dunklen und weiten Himmel zu stehen und sich im Bewusstsein der eigenen Unwichtigkeit und auf der Suche nach Kraft wie auch zu flüchtiger Erfüllung an einen anderen Menschen zu klammern.“ (S. 97) 
Robert Bloch ist mit „Das Regime der Psychos“ Anfang der 1970er Jahre ein interessanter Science-Fiction-Roman gelungen, der in vielerlei Hinsicht nach wie vor drängende Probleme wie Überbevölkerung, Zerstörung der Natur, Hungersnöte und soziale Ungleichheit thematisiert und als vermeintlichen Ausweg aus der Krise eine nivellierte, kontrollierte und dezimierte Gesellschaft vorstellt, die nicht zuletzt durch manipulative Filmproduktionen auf Kurs gehalten wird. 
Auch nach fünfzig Jahren bietet dieser Roman viel Stoff zum Nachdenken an, konzentriert sich aber auch mehr auf das übergeordnete Thema als auf seine Figuren, und das Ende fällt für Blochs Verhältnisse ungewöhnlich konventionell aus. Aber als Impulsgeber zur Reflexion über die Möglichkeiten und Gefahren einer allzu konditionierten Gesellschaft ist der Roman noch immer sehr lesenswert. 
 

Robert Bloch – „Die Pension der verlorenen Seelen“

Mittwoch, 23. August 2023

(Heyne, 141 S., Tb.) 
Zwar hat Robert Bloch (1917-1994) seine schriftstellerische Karriere in Jugendjahren mit der Adaption und Fortsetzung des „Cthulhu“-Mythos seines Idols H. P. Lovecraft begonnen, doch im weiteren Verlauf erweiterte der Bestseller-Autor von „Psycho“ (1959) seine Tätigkeit auf die Genres des Psycho-Thrillers, Horrors und der Science-Fiction. Weniger bekannt sind Blochs Bemühungen im Bereich der humorvollen Fantasy, wurden sie hierzulande doch mit Vorliebe unter dem Etikett „Horror-Stories“ verkauft. Das trifft auch auf den 1969 unter dem passenden Titel „Dragons and Nightmares“ veröffentlichten Band zu, der 1973 bei Heyne seine deutsche Übersetzung als „Die Pension der verlorenen Seelen“ erfuhr. Die drei hier enthaltenen Stories sind gewiss alles andere als „Horror-Stories“. 
Auf der Suche nach einer Arbeit wird einem verzweifelten Schriftsteller in „Die Pension der verlorenen Seelen“ eine Anstellung als Hausdiener beim Millionär Julius Margate vermittelt. Für 800 Dollar und freier Kost und Logis muss der Kandidat allerdings einige besondere Voraussetzungen mitbringen: Er soll nicht nur tierlieb und ein guter Reiter sein, sondern auch auf Bäume klettern können, zur Blutgruppe AB gehören und einen Intelligenzquotienten von mindestens 140 haben. 
 Es dauert nicht lange, bis Margates neuer Hausdiener hinter die Bedeutung der ungewöhnlichen Stellenbeschreibung kommt: Der Vampir Mr. Simpkins ist gegen Blutgruppe AB allergisch – allerdings wurden ihm ohne Vorwarnung gerade beim Zahnarzt alle Zähne gezogen. Zu den weiteren Gästen in Margates Haus zählen der Werwolf Jory, die Baumnymphe Myrte, der Zentaur Gerymanx und die Nixe Trina, in die sich der Hausdiener gleich verliebt. Doch als Margate Captain Hollis nach Griechenland schickt, um ein weiteres mythisches Wesen einzufangen, geraten die Dinge außer Kontrolle, denn Hollis bringt ausgerechnet die Medusa mit, die Margates Truppe im Nu in Stein verwandelt. 
Der unangekündigte Besuch der Hexe Miss Teriös scheint gerade zur rechten Zeit zu kommen, doch gibt sie sich nicht die nötige Mühe, um die Rückverwandlung der versteinerten Wesen ordnungsgemäß zu vollziehen. Stattdessen landen die verschiedenen Persönlichkeiten in anderen Körpern… 
„In dem allgemeinen Durcheinander war die Schaufensterpuppe, die eigentlich keine Seele hatte, offenbar in Myrtes Baum geraten. Trina aber gelangte in den nunmehr vakanten Leib der Puppe. So standen die Dinge also. Ein Vampir im Leib eines Werwolfes, ein Werwolf im Leib eines Vampirs. Ein Mann in der Gestalt eines Zentauren, und der Zentaur in der Gestalt einer Nixe. Die Nixe in der Gestalt einer Schaufensterpuppe, und eine Baumnymphe in Gestalt eines Mannes … Und ich – inmitten all dieser Verwicklungen – in einem Riesenschlamassel.“ (S. 69) 
Die beiden sich ergänzenden Geschichten „Die alten Rittersleut …“ und „Der eifrige Drache oder: Hermann“ greifen einmal mehr die bei Bloch beliebte Zeitreise-Thematik auf. Ein Hühnerfarmer, der von dem Gauner Tommy Malloon regelmäßig um Schutzgeld erpresst wird, macht zunächst die Bekanntschaft mit dem Ritter Pallagyn, der von Merlin in die Zukunft geschickt wurde, um das Kappadokische Taburett zu suchen, was sich als schwieriger erweist als erhofft. In der zweiten Geschichte schlüpft aus einem riesigen Ei ein niedlicher Drache, der für eine Million Dollar an einen Show-Unternehmer verkauft werden soll. Doch da schießt ihm ausgerechnet Tommy Malloon in die Quere… 
Wer mit „Die Pension der verlorenen Seelen“ klassische Gruselgeschichten erwartet – wie die Bezeichnung auf der Titelseite ja verspricht -, wird bitter enttäuscht, denn die drei hier versammelten Geschichten fallen eher in die Kategorie humorvoller Fantasy. Bloch schlägt sich hier zwar wacker, wartet auch mit ein paar originellen Einfällen auf, doch handelt es sich hier doch ganz eindeutig um einen massiven Etikettenschwindel. Fantasy-Freunde wird dieser Band nämlich auch nicht wirklich begeistern…