(Heyne, 510 S., HC)
Der ehemalige Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist David
Baldacci hat sich seit seinem von und mit Clint Eastwood verfilmten Romandebüt
„Absolute Power“ (dt. „Der Präsident“) zu einem der
meistgelesenen Thriller-Autoren weltweit entwickelt und vor allem in den 2000er
und 2010er Jahren eine beeindruckende Anzahl an Romanreihen um charismatische
Protagonist:innen entwickelt. Mit „Long Shadows“, dem siebten Band um
den mit einem fotografischen Gedächtnis gesegneten FBI-Berater Amos Decker,
führt der sogenannte „Memory Man“ nun allein die Spitze hinsichtlich der Anzahl
der in einer Reihe veröffentlichten Romane an. Und auch qualitativ bewegt sich
die Reihe nach wie vor auf hohem Niveau.
Als hätte Amos Decker nicht schon genug daran zu leiden, dass
er während seiner Laufbahn als Detective seine Tochter Cassie, seine Frau Molly
und deren Mann in seinem Heim bestialisch ermordet vorfand, verfügt er als
ehemaliger Footballspieler nach einem Zusammenstoß mit einem gegnerischen Spieler
über ein fast perfektes autobiografisches Gedächtnis und über die Fähigkeit der
Synästhesie, die sich bei Decker u.a. in der Fähigkeit manifestiert, Zahlen,
Personen und Empfindungen in Farben zu sehen. Für seine jetzige Tätigkeit als
Berater für das FBI sind diese Fähigkeiten Gold wert, verfügt Decker doch über
eine Aufklärungsquote von hundert Prozent. Dennoch ist die unorthodoxe Art, mit
der Decker auftritt und arbeitet, bei seinen Vorgesetzten ein Dorn im Auge.
Nun
muss Decker einen weiteren Verlust verkraften. Seine ehemalige, an Demenz
leidende Partnerin beim Burlington Police Department in Ohio, Mary Lancaster,
ruft Decker mitten in der Nacht an, um ihm zu berichten, dass sie ihre eigene
Tochter vergessen habe. Dann wird Decker Zeuge, wie sich Mary mit ihrer Pistole
das Leben nimmt.
Für Trauerarbeit bleibt jedoch keine Zeit. Mit seiner neuen Partnerin
Frederica White wird Decker nach Florida geschickt, um den Doppelmord an einer
Bundesrichterin und ihrem Bodyguard aufzuklären, wobei sie von dem dort zuständigen
Beamten Doug Andrews unterstützt werden. Interessant ist nicht nur, dass der
Bodyguard mit zwei Schüssen niedergestreckt worden ist, während die Richterin
mit mehreren Messerstichen getötet wurde, sondern auch, dass die Richterin eine
durchlöcherte Augenbinde umgebunden bekam, dem Bodyguard dagegen alte
slowakische Geldscheine in den Hals geschoben wurden. Zu den Verdächtigen zählt
natürlich der Ex-Mann der Richterin, der sich offenbar mit der Trennung nicht
abfinden konnte, aber auch die Firma, bei der der Bodyguard angestellt war,
scheint etwas zu verbergen zu haben. Jedenfalls verschwinden nach und nach
wichtige Zeugen, und die wenigen, mit denen Decker und White sprechen können,
sind nicht so auskunftsfreudig wie erhofft…
„Was wirst du jetzt tun, Decker? Du hast einen Fall aufzuklären, aber kaum Spuren, nur einen großen Haufen Sand, in dem du nach irgendeinem Körnchen suchst, das dir weiterhelfen könnte. Du wirst mit einem Wust an Informationen konfrontiert, von denen viele keinen erkennbaren Sinn ergeben, und sollst irgendeinen Zusammenhang herausfiltern, ein Muster erkennen. Er seufzte tief. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ob ich es überhaupt will.“ (S. 143)
Mit den letzten „Memory Man“-Romanen drohte sich der
versierte Autor an dem komplexen Arrangement an Figuren, Action und
Zusammenhängen zu verheben, doch hat Baldacci mit „Long Shadows“
nun wieder etwas mehr die Kurve gekriegt. Nach dem erschütternden Auftakt mit
dem Selbstmord seiner früheren Partnerin und der Tatsache, dass sich Decker nun
an eine neue Partnerin gewöhnen muss, kommt Baldacci mit einem
interessanten Doppelmord schnell zur Sache, wobei er nicht auf einen
handlungsgetriebenen Plot setzt, sondern auf hartnäckige Ermittlungsarbeit, die
sich in vielen, zuweilen etwas ermüdenden Dialogen Ausdruck verschafft. Auf die
neue Arbeitsbeziehung zwischen Decker und White hätte dabei etwas tiefer
eingegangen werden können, um dem Thriller auch eine emotionale Gewichtung zu
verleihen. Meist beschränken sich die persönlichen Themen nämlich auf
Erinnerungen an die Familienangehörigen, die sowohl Decker als auch White
verloren haben. Dafür beweist Baldacci mit wiederholten Verhören, die
sein neues Ermittler-Duo durchführt, echte Steher-Qualitäten, mit denen Stück
für Stück die wahren Motive für den Doppelmord herausgearbeitet werden. Und das
Ende macht Hoffnung, dass die Reihe um den „Memory Man“ weiterhin fortgesetzt
wird, zumal noch die Frage im Raum steht, wie sehr sich Deckers Persönlichkeit
mit der vorhergesagten Veränderung seiner Gehirnstruktur entwickeln mag.
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