John Grisham – „Die Jury“

Samstag, 27. April 2019

(Heyne, 620 S., TB.)
Als das zehnjährige schwarze Mädchen Tonya Hailey in der Kleinstadt Clantan, Mississippi, brutal misshandelt und vergewaltigt wird, braucht der schwarze Sheriff Ozzie Walls nicht lange, um die beiden betrunkenen Weißen Billy Ray Cobb und James Williard als Tatverdächtige festzunehmen. Doch bevor den beiden der Prozess gemacht werden kann, erschießt Tonyas Vater Carl Lee die beiden mit einem M-16-Gewehr, das er von einem Freund bekommen hat, verletzt dabei aber auch einen Deputy so schwer am Bein, dass es unterhalb des Knies amputiert werden muss. Der junge Anwalt Jake Brigance versucht, Carl Lee vor der beantragten Todesstrafe zu bewahren, und hofft, durch den medienwirksamen Prozess, für den er gerade mal 900 Dollar bekommt, in Zukunft weitaus lukrativere Aufträge zu bekommen.
Zusammen mit seinem wohlhabenden und meist betrunkenen Mentor Lucien Wilbanks, dem prominenten, ebenso trinkfreudigen Scheidungsanwalt Harry Rex Vonner und der brillanten Jurastudentin Ellen Roark versucht Brigance, auf Unzurechnungsfähigkeit seines Mandanten zu plädieren, doch hat er in der überwiegend weißen County kaum Hoffnung auf einen fairen Prozess, zumal auch der Ku Klux Klan den Prozess zum Anlass nimmt, in Clanton mit Drohungen, Einschüchterungen und auch Brutalität dafür zu sorgen, dass Carl Lee von der Jury zum Tode verurteilt wird. Bei allen Turbulenzen in Clanton genießen sowohl Brigance als auch der politisch ambitionierte Staatsanwalt Rufus Buckley den Medienzirkus.
„Der eigentliche Medienrummel begann erst beim Prozess. Überall Kameras, neugierige Journalisten, Leitartikel, Fotos auf den Titelseiten von Zeitschriften. Eine Zeitung von Atlanta hatte das Verfahren gegen Carl Lee Hailey als sensationellsten Mordfall im Süden seit zwanzig Jahren bezeichnet. Jake wäre sogar bereit gewesen, den Angeklagten gratis – beziehungsweise fast gratis – zu vertreten.“ (S. 188) 
Mit seinem 1989 in den USA veröffentlichten Romandebüt „A Time to Kill“ (Die Jury), der 1996 von Joel Schumacher erfolgreich verfilmt wurde, machte der ehemalige Anwalt John Grisham das Justiz-Thriller-Genre so populär, dass sich fortan nicht nur seine eigenen Werke wie „Die Akte“ und „Die Firma“ in den internationalen Bestseller-Listen fanden, sondern auch diejenigen von Autoren wie Michael Connelly oder John T. Lescroart.
Mit „Die Jury“ zeigt Grisham auf spektakuläre Weise auf, von welchen Faktoren ein juristischer Prozess abhängig ist. Zwar beschreibt Grisham das Geschehen überwiegend aus der Perspektive von Carl Lee Haileys Anwalt Jake Brigance und seinem Stab, doch werden immer wieder die Beweggründe auch der gegnerischen Partei und anderer Beteiligter an diesem aufsehenerregenden Prozess aufgezeigt.
Grisham gelingt eine leicht verständliche Schilderung der Prozedur, nach welchen Kriterien die Anwälte die Jury zusammenstellen, psychiatrische Gutachter aussuchen, aber auch vor unlauteren Mitteln nicht zurückschrecken, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Das mag sich erst einmal trocken anhören, doch Grisham spickt seinen Thriller fortwährend mit Konflikten und Spannungsmomenten, die sich hier vor allem aus der Rassismus-Problematik speisen.
Da scheint selbst auf den ehrenwerten Richter Omar „Ichabod“ Noose Druck ausgeübt zu werden. Jakes Frau Carla verlässt nach einem vereitelten Bombenattentat mit der gemeinsamen Tochter das viktorianische Stadthaus und zieht ins entlegene Strandhaus, aber auch auf Jakes Sekretärin Ethel und ihren Mann und seine junge Assistentin Ellen werden brutale Attacken ausgeübt, um sie und natürlich auch Jake einzuschüchtern.
Bis zum Schluss hält Grisham die Spannung aufrecht, wenn die Geschworenen darüber entscheiden müssen, ob der Angeklagte zum Tatzeitpunkt zurechnungsfähig war oder nicht und damit eben schuldig oder unschuldig. Allerdings werden nicht nur die feigen Attentate des Ku Klux Klans verurteilt, sondern auch die Kirchen, die im Namen von Carl Lees Familie Spenden sammeln, aber dafür einen eigenen Anwalt ins Spiel bringen wollen und einiges von dem Geld in den eigenen Taschen verschwinden lassen. Dazu geraten auch die Abwerbungstechniken prominenter Anwälte in den Fokus. Die trockenen Justizangelegenheiten werden auf der anderen Seite immer wieder durch die feucht-fröhlichen Besprechungen in Lucien Wilbanks Zuhause aufgelockert, so dass „Die Jury“ wirklich alles bietet, was einen perfekten Thriller ausmacht.
Leseprobe John Grisham - "Die Jury"

Dan Simmons – „Lovedeath“

Sonntag, 21. April 2019

(Festa, 432 S., Tb.)
Nachdem sich Dan Simmons sowohl im Horror-Genre (mit „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“) als auch in der Science-Fiction („Hyperion“-Trilogie, „In der Schwebe“) einen Namen gemacht und mit „Styx – Dreizehn dunkle Geschichten“ bereits eine Kurzgeschichten-Sammlung veröffentlicht hatte, legte er mit „Lovedeath“ 1993 eine Sammlung von fünf Novellen vor, die sich aus unterschiedlichsten Perspektiven mit dem Themenkomplex Liebe und Tod auseinandersetzen.
In „Das Bett der Entropie um Mitternacht“ hat ein Versicherungsvertreter, der seinen Sohn bei einem unglücklichen Unfall während des Umzugs verlor, eine „Akte Orange“ für bizarre Unglücksfälle angelegt und lässt bei einer Fahrt mit seiner Tochter Caroline auf einer Bergrutschbahn die merkwürdigsten Fälle Revue passieren, wobei er eine interessante Theorie entwickelt.
„Tod in Bangkok“ lässt im späten Frühjahr des Jahres 1992 Dr. Merrick nach Bangkok zurückkehren, wo er im Mai 1970 mit seinem ebenso kräftigen wie gebildeten Kameraden Tres einen siebentägigen Fronturlaub verbracht hatte. Damals kam sein Freund dabei ums Leben, weil sie von den billigen Sex-Vergnügen genug hatten und Tres sich kostspieligeren, aber auch zu sinnlicheren wie gefährlicheren Leidenschaften hinziehen ließ.
„Sex mit Zahnfrauen“ schildert die Erinnerungen des Indianer-Jungen Hoka Ushte (Lahmer Dachs), der im Alter von siebzehn Jahren nichts anderes im Sinn hatte, als dem fünfzehnjährigen Mädchen Laufendes Kalb nachzustellen. Nach einem Traum bittet er den heiligen Mann des Lagers, ihn auf die Reise zu schicken, um herauszufinden, ob er selbst zum heiligen Mann berufen sei. Die Vision, die den jungen Mann während der vier anberaumten Tage in einer Schwitzhütte in den heiligen Schwarzen Bergen heimsucht, beunruhigt die Stammesväter zutiefst …
In einer nicht allzu fernen Zukunft berauschen sich die Amerikaner an ihren täglichen „Flashback“-Dosen, die es ihnen ermöglicht, bestimmte Momente ihres Lebens wiederzuerleben. Während die Gerichtsstenografin Carol ihre glücklichsten Momente mit Danny aufruft, sucht ihr fünfzehnjähriger Sohn Val den besonderen Kick durch einen Mord, dessen Nacherleben im Flashback viel intensiver sein soll. Und ihr Vater Robert hofft, durch das Erleben wiederholter Flashbacks irgendwann eine Möglichkeit zu finden, das Attentat auf John F. Kennedy zu verhindern.
„Auf dem Freiluftgelände wimmelte es zur Mittagszeit von Einkäufern und Flashback-Pennern. Val fiel auf, dass immer mehr Leute einfach nicht mehr zur Arbeit gingen; die Echtzeit wirkte sich störend auf ihr Flashen aus. Er fragte sich, ob sich der Müll aus diesem Grund immer so hoch an den Bordsteinen stapelte, warum kaum noch Post zugestellt wurde und warum nichts mehr so richtig zu laufen schien, wenn keine Japaner als Aufseher dabei waren.“ (S. 243) 
„Der große Liebhaber“ ist das lange verschollene Kriegstagebuch des britischen Dichters James Edwin Rooke, das nicht zuletzt wegen seines schockierenden Materials erst Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht wurde. Darin schildert der Infanterieoffizier nicht nur die schrecklichen Erlebnisse in den französischen Schützengräben, in denen die Briten im Ersten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpften, sondern auch von erotischen Visionen einer Lady, die für den Kriegsdichter die Personifizierung des Todes darstellte.
In seinem ausführlichen Vorwort erklärt Dan Simmons, warum Novellen es auf dem Literaturmarkt so schwer haben, denn weder Verleger noch Leser wüssten mit dem Mittelding zwischen Kurzgeschichte und Roman recht was anzufangen. Eine Sammlung von mehreren Novellen zu einem romanlangen Buch lässt sich da schon eher vermarkten, gerade wenn man neben Stephen King, Clive Barker und Peter Straub zu den prominentesten Vertretern der phantastischen Literatur zählt. Für die Novellen-Sammlung „Lovedeath“, die Simmons in Anlehnung an Wagners Oper „Tristan und Isolde“ eigentlich „Liebestod“ nennen wollte, setzt Simmons aber nur überschaubare Akzente aus diesem Genre und erweist sich als kompetent vielseitiger Erzähler, der in der ersten Geschichte die ironisch gefärbte Geschichte eines Versicherungsvertreters präsentiert, der feststellen muss, dass es Liebe ohne Risiko nicht geben kann.
Mit „Tod in Bangkok“ liegt nicht nur die sinnlichste Story des Bandes vor, sondern auch die passende Ergänzung zu Simmons‘ erfolgreichen Romandebüt „Göttin des Todes“, während sich „Sex mit Zahnfrauen“ wohltuend von den romantisierenden Indianer-Mythen von Hollywood-Epen wie „Der mit dem Wolf tanzt“ abhebt und tief in die mythische Welt der Sioux-Indianer eintaucht und „Flashback“ auf die heute noch viel ausgeprägtere Thematik ausgerichtet ist, wie sich zum einen der zunehmende Medienkonsum und die Globalisierung auf die Lebensqualität des Einzelnen auswirkt.
Die längste Geschichte stellt hier aber auch leider die schwächste dar. Zwar vermag Simmons in „Der große Liebhaber“ die Kriegsdichtung aus dem Ersten Weltkrieg und die Erlebnisse im damaligen Stellungskrieg überzeugend vor Augen führen, die unkontrollierten Begegnungen des Ich-Erzählers mit der „Lady in Weiß“ wirken allerdings aufgesetzt und nicht überzeugend in den Kontext eingebettet. Die Geschichten in „Lovedeath“ sind im Vergleich zu Simmons‘ großartigen Romanen weitaus verspielter angelegt und über überraschend viele Genres gestreut. Statt die Lesererwartungen mit einem Happy End zu befriedigen, begnügt sich der Autor meist damit, interessante Gedanken weiterzuspinnen und entsprechende Stimmungen statt Spannung zu erzeugen. Insofern gelingt Simmons der Spagat zwischen ernsthafter und Unterhaltungsliteratur, wird dabei aber nicht alle seine Fans zufriedenstellen können.

Sorj Chalandon – „Am Tag davor“

Freitag, 19. April 2019

(dtv, 320 S., HC)
Während sein Vater als Bauer den Lebensunterhalt für die Familie besorgt, heuert Michels älterer Bruder Joseph „Jojo“ Flavent im Alter von zwanzig Jahren als Bergmann in der Zeche von Liévin-Lens an. Er bekommt eine eigene kleine Wohnung, die ihm die Zeche fast umsonst vermietet, und hat mit Sylwia schon seine zukünftige Frau gefunden. Doch das junge Familienglück währt nur sieben Jahre. Am 27. Dezember 1974 kommt es in Schacht 3b zum großen Unglück. 42 Bergarbeiter kommen nach einer Explosion, die auf Sparmaßnahmen und Nachlässigkeit bei den Sicherheitsvorkehrungen zurückzuführen ist, ums Leben. Auch Joseph wird schwerverletzt in das Krankenhaus von Bully-les-Mines gebracht, wo er allerdings am 22. Januar 1975 stirbt, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben.
Doch bei all den nachfolgenden Zeremonien und Gedenkfeiern wird immer nur von den 42 Bergarbeitern gesprochen, die am Tag des Unglücks den Schacht bereits tot aus den Trümmern geborgen wurden. Das Gericht befindet, dass der Bergwerksgesellschaft keine grobe Fahrlässigkeit nachzuweisen sei, der Betriebschef wird allerdings zu 10000 Franc Geldstrafe verurteilt.
Der damals 16-jährige Michel versucht das Andenken seines Bruders zu bewahren, fängt in der Werkstatt, in der bereits Jojo seine Lehre absolviert hat, eine Ausbildung zum Automechaniker an, wird LKW-Fahrer und heiratet mit Cécile eine Frau, die er an den Krebs verliert. Seine Mutter findet ihren Mann eines Morgens aufgehängt in seinem Stall, in seinem letzten Brief heißt es: „Michel, räche uns an der Zeche.“
Tatsächlich sammelt Michel über Jahre alle Informationen zu dem Unglück, Presseberichte zu den Prozessen, und hat nach Jahren einen Schuldigen ausgemacht: den Vorarbeiter Lucien Dravelle. Unter falschem Namen erschleicht er sich über vierzig Jahre nach dem Tod seines Bruder das Vertrauen des mittlerweile gebrechlichen und von der Arbeit in der Zeche stark gezeichneten Mannes und beginnt, seinen Racheplan in die Tat umzusetzen. Doch nicht nur bei den Gesprächen mit dem schuldbewussten Dravelle kommen auch Dinge ans Licht, die Michel jahrelang verdrängt hat …
„Ungeachtet aller Bekundungen und Versprechungen endete das Martyrium unseres Volks an den Grenzen des Artois. Das Land teilte unsere Trauer nicht. Als es von der Kohle Abschied nahm, vergaß es, Abschied von seinen Bergleuten zu nehmen. Die Welt, die sie verkörperten, gab es nicht mehr. Jojo und seine Freunde waren zu spät gestorben, um noch von der Nation verteidigt zu werden.“ (S. 107) 
Der bekannte französische Journalist und Schriftsteller Sorj Chalandon hat sich auch mit seinen in Deutschland erschienenen Romanen ganz unterschiedliche Sujets verarbeitet. Mit „Mein fremder Vater“ arbeitet er den Tod seines tyrannischen Vaters auf, „Rückkehr nach Killybegs“ präsentiert sich als Biografie eines zum Spion des britischen Geheimdienst konvertierten IRA-Kämpfers, „Die vierte Wand“ ist im Bürgerkrieg in Beirut angesiedelt, und „Die Legende unserer Väter“ spielt geschickt mit den Motiven des Erzählens.
Chalandons neuer Roman erweist sich als komplexes Konstrukt von Erinnerungen, Schuld und Sühne, Vergessen, (Selbst-)Täuschung und Verzeihen. Indem er Michel Flavent als Ich-Erzähler die Ereignisse aus einer anfänglich großen Distanz von über vierzig Jahren rekapitulieren lässt, entsteht zunächst eine eindringliche Milieustudie des Bergarbeiterlebens in den 1970er Jahren, zeigt auf, unter welchen körperlichen und psychischen Belastungen die Bergleute ihrer Arbeit nachgehen, welche unauslöschlichen Spuren der Kohlestaub bei den Kumpels hinterlässt, wie unverantwortlich die Direktion mit dem Leben ihrer Arbeiter umgeht, um das Letzte aus den Schächten herauszuholen. Aber „Am Tag davor“ handelt auch von einer ganz persönlichen Geschichte, davon, wie ein tragisches Ereignis die Erinnerungen prägen und verfälschen kann. Erst als Michel sich selbst in einem Prozess wiederfindet, entwirrt der Autor geschickt das Konstrukt, das sich Michel sein Leben lang aufgebaut hat und auf die Nacht vor dem Unglück zurückgeführt wird, als Michel mit seinem geliebten Bruder auf dessen Moped durch die Straßen seiner Heimatstadt rast.
So gelingt Chalandon nicht nur ein stimmiges Portrait des Lebens als Bergarbeiter, sondern auch ein meisterhaft erzählte Geschichte über die Macht der Einbildung und Verdrängung, über Schuld und Vergebung.

Tom Perrotta – „Mrs. Fletcher“

Donnerstag, 18. April 2019

(dtv, 416 S., HC)
Einst lebte Eve Fletcher das ganz normale amerikanische Leben einer Mittelschichtsfrau, mit einem verantwortungsvollen Job, Ehemann und einem heranwachsenden Sohn, und auf einmal ist sie ganz auf sich allein gestellt. Ihr Ehemann Ted hat sie ganz klassisch wegen einer Jüngeren verlassen und zieht mit ihr ganz liebevoll seinen autistischen Sohn Jon-Jon auf. Ihren volljährigen Sohn Brendan hat die nun 46-Jährige gerade zum Studienbeginn im Wohnheim seines Colleges abgeliefert, nachdem sie vor der Abfahrt noch mitbekam, wie er seine Freundin Becca beim Abschied auf seinem Zimmer mit einem abschätzigen „Lutsch ihn mir, Schlampe“ anfeuerte. Um sich nicht allzu einsam zu fühlen, geht sie nicht nur in ihrem Job als geschäftsführende Direktorin eines Seniorenzentrums in Haddington nach, das den älteren Bewohnern der Stadt eine ganze Reihe von Dienstleistungen anbietet, sondern hat sich am Eastern Community College für den Kurs „Gender und Gesellschaft: Ein kritischer Überblick“ angemeldet, nachdem die beiden von ihr eigentlich favorisierten Kurse schon belegt waren.
Dr. Margo Fairchild, die den Kurs leitet, ist als Mann geboren worden und will die Kursteilnehmer durch das ideologische Minenfeld der Gender-Thematik führen. Für Eve entwickelt sich aus dem Kurs eine ganz persönliche Entdeckungsreise, denn auf einmal stellt sie ihre eigenen sexuellen Vorlieben auf den Prüfstand, klickt sich kontinuierlich auf milfateria.com durch Pornos und lässt sich schließlich auf eine Einladung ihrer Assistentin Amanda ein, der sie bislang jedes Angebot auf einen gemeinsamen Drink ausschlug. Allerdings endet der Abend mit einer großen Irritation und Enttäuschung. Doch auch die Aussicht auf ein Date mit dem Barmann frustriert Eve …
„Sie konnte mit ihm ins Bett gehen, sich sogar in ihn verlieben, aber wohin würde sie das führen? Nirgendwohin, wo sie nicht schon zuvor gewesen war, das stand schon mal fest. Und sie wollte etwas anderes – etwas Neuartiges -, auch wenn sich dieses Etwas erst noch zeigen musste. Alles, was sie bereits wusste, war, dass es da draußen eine sehr viel größere Welt gab und sie bisher lediglich an der Oberfläche gekratzt hatte.“ (S. 133) 
Seit seinem Debütroman „The Wishbones“ (1997) hat der amerikanische Schriftsteller und Autor Tom Perrotta so einige Romanvorlagen für Filme und Fernsehserien vorgelegt, so zu Alexander Paynes „The Election“, Todd Fields „Little Children“ und zur HBO-Serie „The Leftovers“. Nun legt er mit „Mrs. Fletcher“ einen weiteren Roman vor, der thematisch etwas an die erfolgreiche Amazon-Serien-Produktion „Transparent“ angelehnt ist und so einmal mehr die Diskussion um geschlechtliche Identitäten und sexuelle Präferenzen aufgreift.
Dabei ist „Mrs. Fletcher“ weder besonders akademisch, noch erotisch aufgeladen. Stattdessen wird auf ebenso einfühlsame wie leichtfüßige Weise der schwierige Weg einer MILF (Mom I'd Like to Fuck) zu einem Ausweg aus ihrer schon Jahre andauernden sexuellen Einöde beschrieben. Allerdings wird die Perspektive auch um Eves erweitertes persönliches Umfeld ergänzt, wobei nur die flüchtigen Eroberungsstrategien ihres Sohnes Brendan in der Ich-Perspektive an den Leser herangetragen, die Gedanken und Gefühle von Eve, ihrer Assistentin Amanda und Brendans Love Interest am College, Amber, aber in der distanzierteren dritten Person wiedergegeben werden.
So manches hier geschilderte Ereignis wirkt schon auf die bereits angekündigte TV-Serien-Adaption zugeschnitten und etwas überzeichnet, aber dem Autor gelingt der fragile Drahtseilakt, die Probleme einer befriedigenden sexuellen Ausrichtung eines Menschen anhand verschiedener Persönlichkeiten aufzuzeigen, ohne sich des pornografischen Voyeurismus zu bedienen. Auch wenn das Transgender-Thema zunächst in den Fokus gerückt wird, steht vor allem ganz allgemein die Frage nach der eigenen Sexualität, aber auch die Erwartungshaltung an den möglichen Partner im Vordergrund, wobei gerade bei den Jüngeren in dieser Geschichte die Frage des Respekts mitspielt.
Obwohl Perrotta das Thema etwas tiefsinniger hätte bearbeiten können, ist ihm ein flüssig zu lesender, immer wieder humorvoller Roman gelungen, der über die Vielzahl der merkwürdigsten (sexuellen) Begegnungen zumindest anzudeuten versucht, welche Stolpersteine einem Erwachsenen bei der Entdeckung der eigenen Sexualität im Weg liegen können und wie die Gesellschaft auf vermeintlich abnormes Verhalten in dieser Hinsicht noch immer reagiert.
Leseprobe Tom Perrotta - "Mrs. Fletcher"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 10) „Sumpffieber“

Mittwoch, 17. April 2019

(Pendragon, 456 S., Pb.)
Megan Flynn hat mit ihren Fotos, die das Leiden der Menschen auf einzigartige Weise einzufangen verstehen, den Pulitzer-Preis gewonnen und zierte den Titel der letzten Newsweek-Ausgabe. Nachdem ihr Vater, ein radikaler wie unbelehrbarer Gewerkschaftler an die Wand seiner Scheune genagelt worden war, wuchs sie mit ihrem Bruder Cisco in Kinderheimen in Louisiana und Colorado auf und tauchte im Meer von Wanderarbeitern bei Obst- und Weizenernten unter. Nun kehrt sie unter dem Vorwand nach New Iberia zurück, dass unmenschliche Verhältnisse im Bezirksgefängnis von New Iberia herrschen würden, wie sie von einem Gefangenen namens Willie „Cool Breeze“ Broussard erfahren haben soll.
Als Detective Dave Robicheaux Cool Breeze im Gefängnis besucht, um den Anschuldigungen auf den Grund zu gehen, erfährt er von dem Gefangenen, dass er in Geschäfte mit Raubkopien von Filmen verwickelt war, bei denen die Giacanos mit der Mafia in New York zu tun hatten. Durch diese Geschäfte werden die Einnahmen durch Drogengeschäfte der Triaden gewaschen. Nun ist auch Megans Bruder Cisco unwissentlich in diesen Schlamassel verwickelt, weil er als Drehbuchautor gerade dabei ist, das Budget seines aktuellen Films zu überziehen, wobei sein Regisseur Billy Holtzner Geld unterschlagen hat, das von den Leuten in Hongkong kam.
Schließlich wird Gefängnisverwalter Alex Guidry seines Amtes enthoben und Robicheaux bekommt es mit einem Fall zu tun, bei dem vor drei Monaten ein siebzehnjähriges Mädchen im Bezirk St. Mary von zwei jungen Weißen vergewaltigt worden ist. Sie konnte die Jungs zwar später anhand der Verbrecherkartei identifizieren, aber sie zog ihre Anzeige zurück. Wenig später wurden die beiden Jungs von zwei Männern hingerichtet, von denen einer die Uniform eines Deputys aus dem Bezirk Iberia getragen haben soll.
Zu guter Letzt taucht mit Adrien Glazier eine FBI-Agentin auf, die hinter Swede Boxleiter her ist, der vor drei Tagen aus dem Knast entlassen wurde und ein alter Kumpel von Cisco Flynn aus dem Waisenheim in Denver ist. Um den Kreis komplett zu machen, erscheint mit Harpo Druggs ein versierter Mafia-Killer auf der Bildfläche. Es dauert nicht mehr lange, bis sich Ereignisse, die vor zwanzig Jahren am Bayou Teche ihren Anfang nahmen, als die Leiche von Willie Broussards Frau Ida in einer Bucht am Atchafalaya River tot aufgefunden wurde und ihr Verhältnis zu Alex Guidry bekannt geworden war, in der Gegenwart in einem mörderischen Showdown entladen, bei dem auch die mächtige Terrebonne-Familie mitmischt.
„Es gibt Tage, die sind anders. Nicht für die Mitmenschen, aber an einem gewissen Morgen wacht man auf und weiß mit absoluter Sicherheit, dass man aus unerfindlichen Gründen zum Mitspieler in einem historischen Stück bestimmt wurde und dass man trotz aller Bemühungen nicht würde ändern können, was längst ins Drehbuch geschrieben wurde.“ (S. 427) 
Auch im zehnten Band der Dave-Robicheaux-Reihe von James Lee Burke, der 1988 unter dem Titel „Sunset Limited“ im Original veröffentlicht worden ist und nun endlich wieder in gedruckter Form auch hierzulande vorliegt, geht es hoch her. Ungesühnte Morde aus der Vergangenheit mit Mafia- und Ku-Klux-Klan-Bezügen, heimliche Affären zwischen mächtigen Weißen und armen Schwarzen, Vergewaltigungen, Drogengeschäfte und Auftragskiller bilden den Rahmen eines wieder sehr vertrackten Thrillers, der vor allem in atmosphärischer und psychologischer Hinsicht überzeugt. Burke legt wie gewohnt sehr viele Fährten, konstruiert verschiedene Fälle, die stellenweise ins Nichts führen, während andere wiederum unerwartet aufeinander zulaufen und durch die Verdichtung neue Spannung erzeugen.
Ebenso faszinierend wie der vielschichtige Krimi-Plot sind aber wie stets bei diesem versierten Autor die diffizil beschriebenen Rassenprobleme, die Aufarbeitung unrühmlicher Episoden in der US-amerikanischen Geschichte, der Machtmissbrauch der Reichen gegenüber den wehrlosen Armen und nicht zuletzt die Gewalt zwischen den Gesellschaftsschichten. All das macht „Sumpffieber“ zu einem überaus lesenswerten Thriller, dessen Handlungsstränge ebenso dicht gestrickt sind wie die Atmosphäre im Bayou.
Leseprobe James Lee Burke - "Sumpffieber"

David Keenan – „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“

(Liebeskind, 320 S., HC)
Airdrie, ein kleines Kaff irgendwo zwischen Glasgow und Edinburgh, ist in den 1980er Jahren ebenso ein Schmelztiegel für die verrücktesten künstlerischen Ideen wie wahrscheinlich jedes andere Kaff im britischen Königreich, vor allem für musikalische Ausdrucksformen wie Post-Punk, Wave, Avantgarde und Industrial, aber auch die Heimat von Möchtegern-Philosophen, -Mystikern, -Künstlern und -Schriftstellern. So unterhält der Sci-Fi-, Horror- und Existenzialismus-Freak Ross Raymond zusammen mit Johnny McLaughlin das Fanzine „A Night is a Morning That You Hasten to Light“, für deren erste Ausgabe sie Big Patty interviewt haben. Auf den Plattentellern drehen sich die Ramones, Can, Public Image Ltd., Pere Ubu, The Gun Club, Roxy Music, Nurse With Wound, Johnny Thunders und die Stooges; das Geld für die Platten wird mit Jobs als Zeitungsausträger, im Blumenladen oder als Küchenhilfe verdient; in der Freizeit hängt man in Bars und Cafés ab, wo sich die vermeintliche Szene trifft.
Raymond läuft Patty, der schon in einigen anderen Bands gespielt hat, immer wieder über den Weg, bekommt so aus erster Hand mit, wie er mit dem verträumten Sänger Lucas Black, der Bassistin Mary Hanna und Remy Farr (Bass, Keyboards) die Band Memorial Device gründet, die mit ihrer Zwei-Akkorde-Jamsessions wie „autistische Joy Division auf dem Grund eines Brunnens“ klingen. Sie absolvieren einige Live-Auftritte und veröffentlichen ab 1983 eine LP und diverse Kassetten, doch als das Gerücht umgeht, dass Sonic Youth die Band 1986 im Vorprogramm ihrer Show in Glasgow haben wolle, ist Memorial Device bereits Geschichte …
„Manche Leute wurden ‚Dichter‘, andere wurden ‚Musiker‘, aber das Gute an einer Szene wie der in Airdrie war, dass alle von Natur aus so durchgeknallt waren, dass gar niemand versuchte, einer vorgegebenen Vorstellung des Möglichen zu entsprechen. Es war unmöglich, möglich zu sein. Das brachte die ganze Szene auf den Punkt.“ (S. 261) 
Ähnlich wie sein ebenfalls aus Schottland stammender Kollege John Niven („Kill Your Friends“, „Music from the Big Pink“) stammt auch David Keenan aus der Musikszene. Während Niven allerdings als A&R-Manager bei einer Plattenfirma für das Entdecken neuer Acts und die kommerzielle Vermarktung ihrer Musik verantwortlich gewesen ist (und diese Tätigkeit auf bitterböse, schwarzhumorige Weise in seinen besten Werken thematisiert hat), ist Keenan in den Neunzigern als Musiker in verschiedenen schottischen Underground-Bands auf der anderen Seite des Musikgeschäfts tätig gewesen ist und legt mit „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“ eine wunderbar authentisch wirkende Darstellung der verschiedensten Ambitionen junger Menschen in einer an sich unbedeutenden schottischen Kleinstadt vor.
Zwar beginnt der Roman mit einem Rückblick und einer Einführung des Ich-Erzählers Ross Raymond, der die Entwicklung von Memorial Device von Beginn an dokumentiert, aber dann kommen in den folgenden Kapiteln auch sein Co-Autor und Fanzine-Mitherausgeber Johnny McLaughlin, der Künstler Robert Mulligan, Groupies, Konzertbesucher und andere Zeitzeugen zu Wort, die jeweils in ihrem eigenen Ton, ihrer individuellen Sprache wiedergeben, wie sie das Leben in Airdrie empfunden haben, und sich an die Begegnungen mit verschiedenen Mitgliedern der Band erinnern.
Herausgekommen ist dabei weit mehr als die vielseitige Biografie einer fiktiven Post-Punk-Band, die nie den Durchbruch geschafft hat, sondern eine auch stilistisch breitgefächerte Milieustudie, die auf lebendige Weise nachzeichnet, wie Jugendliche in einem so unbedeutenden Nest zu sich selbst zu finden versucht haben, wie verschiedene Begegnungen den eigenen Lebensweg prägten, neue Ideen freisetzten und Persönlichkeiten bildeten. Das gängige Klischee von Sex, Drugs & Rock’n’Roll bekommt hier einen pulsierenden, dreckig-abgestumpften Beat verpasst, denn Keenan gelingt es, jeden einzelnen der hier portraitierten Typen interessante Aspekte abzugewinnen, die sie so lebensecht vor Augen entstehen lassen. Vor allem führt der Roman eindrücklich vor Augen, wie Musik buchstäblich (auch und gerade die eigene) die Welt verändern und unvorstellbare Energien freisetzen kann. Abgerundet wird der Roman durch eine kommentierte Diskografie von Memorial Device, ein ausführliches Personenregister und ein leider über 30-seitiges Stichwortregister, in dem sicher niemand etwas nachschlagen wird.
Leseprobe David Keenan - "Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird"

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 6) „Mord im Showbiz“

Dienstag, 16. April 2019

(Pendragon, 312 S., Tb.)
Im Park von Indian Hill, von dem man einen malerischen Blick über den Hafen von Paradise, Massachusetts, hat, wird die Leiche des prominenten Fernseh-Moderators Walton Weeks entdeckt. Offenbar wurde er erst erschossen, bevor seine Leiche an einem Baum aufgeknüpft worden ist. Wenig später wird in der Mülltonne hinter dem Restaurant von Daisy Dyke die Leiche von Weeks‘ Assistentin und Geliebten Carey Longley gefunden. Nach den Autopsieberichten sind beide Opfer mit derselben Waffe erschossen worden, die Frau war zudem mit Weeks‘ Kind schwanger gewesen.
Bei den Ermittlungen spielt nicht nur Weeks‘ Testament eine Rolle, sondern auch seine beiden Ex-Frauen und die gegenwärtige Mrs. Weeks, von der sich der Ermordete scheiden lassen wollte. Natürlich erregt der Fall nicht nur größtes Medieninteresse, auch der Gouverneur schaltet sich in die Polizeiarbeit ein. Um einen besseren Einblick in Weeks‘ Verhältnisse zu bekommen, reist Jesse Stone nach New York, um nicht nur Mrs. Weeks einen Besuch abzustatten, sondern auch Tom Nolan kennenzulernen, der bislang als Rechercheur für Weeks tätig gewesen ist und nun seine Fernsehshow übernehmen soll.
Während sich die Ermittlungen eher schleppend entwickeln, erfordert auch Jesses Ex-Frau Jenn erhöhte Aufmerksamkeit, denn sie behauptet, vergewaltigt worden zu sein und von einem Stalker belästigt zu werden. Jesse bittet seine aktuelle Geliebte Sunny Randall um Hilfe. Die Detektivin soll Jenn nicht nur vor einem weiteren Übergriff beschützen, sondern auch den mutmaßlichen Stalker identifizieren. Allerdings kommen Jesse zunehmend Zweifel, dass Jenn tatsächlich angetan wurde, was sie behauptete …
Seit Jesse Stone seinen Job bei der Mordkommission in Los Angeles an den Nagel hängen musste, weil er weder die Trennung von seiner Frau Jenn noch seine Alkoholsucht in den Griff bekam, hat er sich in der kleinen Küstenstadt Paradise einen so guten Ruf erarbeitet, dass er selbst bei Mordfällen nur selten die Unterstützung von der Bundespolizei anfordert, die ihm deren Chef Healy gerade in dem neuen Fall anbietet. Doch Jesse Stone hat schon seit jeher eine Abneigung gegen jede Art von Obrigkeit, und auch wenn er sich mit Healy glänzend versteht, nimmt er seine Hilfe tatsächlich nur dann in Anspruch, wenn auf die Ressourcen des Bundesstaates zurückgreifen muss. Wie unbekümmert Jesse mit der Politprominenz umgeht, beschreibt Parker vor allem in der Begegnung mit dem Gouverneur und seinem Stab sehr schön.
Davon abgesehen gehören die unterhaltsam kurzweiligen Dialoge mit der peppigen Molly Crane, die für Jesse die Öffentlichkeitsarbeit in diesem Fall übernimmt, und seinem ambitionierten Angestellten Suitcase Simpson ebenso zu den Höhepunkten von „Mord im Showbiz“ wie die ungewöhnliche Konstellation, die Jesse mit den derzeit wichtigsten Frauen in seinem Leben, Sandy und Jenn, bildet. Gerade die Gespräche zwischen den beiden attraktiven Frauen über ihr jeweiliges Verhältnis zu Jesse sind sehr einfühlsam gelungen, wohingegen sich der 2010 verstorbene Autor sonst recht wenig mit seinen Figuren auseinandersetzt.
Während zumindest noch Jesses berufliches und persönliches Umfeld an Kontur gewinnt, bleiben die mit dem gerade aktuellen Fall verbundenen Figuren recht eindimensional. Allerdings erheben die konstant nur knapp über 300 Seiten umfassenden Romane auch nie den Anspruch, besonders in die Tiefe gehen zu wollen. Stattdessen bietet auch „Mord im Showbiz“ kurzweilige Krimi-Unterhaltung mit einfühlsamen Beobachtungen aus Jesse Stone Privatleben.

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 5) „Tod im Hafen“

(Pendragon, 328 S., Tb.)
Für Jesse Stone, Polizeichef in der Kleinstadt Paradise, Massachusetts, und seine Ex-Frau Jenn bietet die anstehende Rennwoche, zu der sich unzählige Yachten, Segel-Fans und Touristen einfinden, die Möglichkeit, ihre Beziehung neu zu festigen, denn Jenn hat sich im wahrsten Sinne des Wortes hochgeschlafen und ist bei ihrem Sender Channel 3 von der Wetterfee zur Reporterin aufgestiegen und darf nun über längere Zeit an einer einstündigen Story über die Rennwoche berichten. Besondere Medienaufmerksamkeit erhält das Event durch die im Hafen angeschwemmte Leiche einer jungen Frau, die als reiche Erbin Florence Horvarth aus Fort Lauderdale identifiziert wird.
Sie wird in Verbindung mit den beiden Yacht-Besitzern Harrison Darnell und Thomas Ralston gebracht, die mit ihren Booten ebenfalls an der Rennwoche in Paradise teilnehmen wollen, aber offensichtlich nur an endlosen Sex-Orgien interessiert sind. Auf einem Video, das Jesse Stone in die Hände fällt, ist die Tote zu sehen, wie sie von zwei Männern penetriert wird, doch sowohl die beiden Männer als auch die Besatzungsmitglieder wollen zu den Ermittlungen nichts beisteuern. Erst durch die engagierte Mithilfe von Kelly Cruz, einer Polizei-Kollegin aus Fort Lauderdale, vermag Jesse Stone allmählich die losen Fäden zusammenzuknüpfen …
Eine besondere Rolle in diesem Fall spielen offensichtlich sowohl die Eltern der Toten, die von sich aus den Kontakt zu Florence abgebrochen haben, als auch Florences jüngere Zwillingsschwestern Claudia und Corliss. Während Jesse versucht, den Mord an Florence aufzuklären, versucht er nach wie vor, die komplizierte Beziehung zu Jenn zu verstehen, wobei ihm die Gespräche mit seinem Psychiater diesmal etwas weiterbringen als zuvor. Vor allem versucht Jesse bei all den Affären, die er selbst immer wieder am Laufen hat, dahinterzukommen, was ihn an Jenn so anzieht.
„Ihr Parfüm lag noch immer in der Luft. Wenn sie geduscht und sich abgetrocknet hatte, pflegte sie etwas Parfüm in den Raum zu sprühen, um dann nackt durch die parfümierte Luft zu gehen. Er fragte sich, wie viele andere Männer davon wussten, und stellte sich vor, wie die Männer sie begafften – so wie er’s gerade selbst getan hatte.“ 
In seinem fünften von insgesamt neun Jesse-Stone-Bänden setzt Robert B. Parker noch mehr als zuvor auf die Sex-Komponente. Damit verbinden sich Jesse Stones aktueller Fall und seine privaten Themen zu einer umfassenden wie komplexen Einheit, in der es vor allem um Depersonalisierung geht, denn Darnell und Ralston betrachten ihre ständig wechselnden Sex-Partnerinnen als bloße Objekte, die ihren Reiz verlieren, sobald sie die Wünsche und Begierden der Männer befriedigt haben. Dieser Aspekt gewinnt interessanterweise auch in der Frage an Bedeutung, wie Jesse und Jenn ihre Beziehung zueinander definieren und welche Rolle dabei die anderen Männer und Frauen in ihrem jeweiligen Leben spielen. Robert B. Parker wechselt hier geschickt zwischen den Schauplätzen in Paradise und Fort Lauderdale, skizziert in wenigen, wenn auch klischeehaft erscheinenden Zügen das Leben der Reichen und Schönen, um dann wieder auf die ganz persönlichen Selbstbetrachtungen seines Protagonisten zurückzukommen.
Gewohnt spritzig sind all die Dialoge zwischen Jesse und seinen Kollegen Suitcase Simpson und Molly sowie dem Chef der Bundespolizei, Healy, ausgefallen, aber auch die Gespräche mit Kelly Cruz, Jenn, Dix und der nymphomanischen Staatsanwältin Rita Fiore aus Boston (die der geneigte Leser aus Parkers Spenser-Romanen wiedererkennen dürfte) sorgen für gute Laune in diesem gekonnt konstruierten Fall.

Robert B. Parker – (Jesse Stone: 4) „Eiskalt“

(Pendragon, 312 S., Tb.)
Als sein Kollege Luther „Suitcase“ Simpson während seiner Nachtschicht die Leiche eines Joggers auffindet, ist dies für Polizeichef Jesse Stone erst der Anfang einer ungewöhnlichen Mordserie, bei der offensichtlich zwei Täter ihre offenbar zufällig ausgesuchten Opfer mit je einer Waffe Kaliber .22 aus nächster Nähe erschießen und dann unerkannt fliehen können. Als allerdings ein roter Saab an den Schauplätzen von zwei weiteren Morden entdeckt wird, führen Jesses Ermittlungen zu einem betuchten Pärchen, von dem Jesse sicher ist, dass es für die Serienmorde verantwortlich ist. Allerdings zeigen sich Anthony Lincoln und seine Frau Brianna so unbekümmert und hilfsbereit, dass sie mit Jesse zu spielen scheinen.
Während Jesse versucht, Beweise für seinen Verdacht zu finden, dass die Lincolns hinter den Morden stecken, hat er es außerdem mit der angezeigten Vergewaltigung der noch minderjährigen Candace Pennington zu tun, die aus Scham aber nicht gegen ihre drei Mitschüler aussagen will, die sie mit Fotos von der Tat erpressen. Zu allem Überfluss versucht Jesse nach seiner Versetzung vom LAPD nach Paradise, Massachusetts, nicht nur sein Alkoholproblem in den Griff zu bekommen, sondern auch die Beziehung zu seiner Ex-Frau Jenn, die ihre Schauspiel-Ambitionen aufgegeben und in Boston bei Channel 3 als Wetterfee angeheuert hat, um wieder näher bei Jesse sein zu können. Während Jesse und Jenn nicht voneinander loskommen, aber auch nicht miteinander leben können, vergnügen sich beide mit jeweils anderen Partnern, ohne dabei glücklich zu werden …
„Er wusste, dass er nicht so allein war, wie er sich im Moment fühlte. Da war Marcy, die anderen Cops, in gewisser Weise auch Jenn. Aber das war nur die Stimme der Vernunft, die ihn mit Argumenten fütterte. Tief im Innern war er allein. Niemand kannte ihn wirklich. Nicht einmal Jenn, auch wenn Jenn ziemlich nah dran war. Seine Cops waren für eine Kleinstadt durchaus brauchbare Leute, aber was sollten sie schon gegen einen Serienmörder ausrichten? Er war der Einzige, der einen Killer zur Strecke bringen konnte.“ 
Robert B. Parker (1932–2010) hat neben der berühmten Reihe um den Detektiv Spenser auch eine mittlerweile ebenso prominente Serie um Polizeichef Jesse Stone veröffentlicht, die mit Tom „Magnum“ Selleck in der Hauptrolle ebenso erfolgreich als Fernsehfilm-Reihe adaptiert worden ist. Der vierte Jesse-Stone-Fall „Eiskalt“ entpuppt sich aber von Beginn als bislang schwächster Band der Reihe, denn das kokett mit Jesse Stone spielende Hobby-Killer-Pärchen ist so oberflächlich skizziert, dass es nicht nur unfassbar unsympathisch, sondern vor allem auch unglaubwürdig wirkt. Interessanter scheint sich zunächst der Vergewaltigungs-Fall anzugehen, aber auch hier verpufft das Gerangel um die Bestrafung der Täter in einer unspektakulären Auflösung.
Und so fokussieren sich der Plot und das Interesse des Lesers zwangsläufig auf Jesse Stones privaten Probleme und Eskapaden. In dieser Hinsicht bringen die Gespräche mit seinem Psychiater Dix und natürlich seiner Ex-Frau Jenn etwas Licht ins Dunkel, aber irgendwie drehen sich Jenn und Jesse in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit so sehr im Kreis, dass eine langfristig befriedigende Lösung kaum denkbar erscheint und uns das allmählich enervierende Geplänkel auch in den nächsten Jesse-Stone-Bänden begleiten wird. Von diesen Defiziten abgesehen unterhält aber auch „Eiskalt“ mit einer flüssigen Sprache und durchaus humorvollen Dialogen, die beweisen, dass sich Jesse Stone selbst nicht immer allzu ernst nimmt.

Dan Simmons – „Elm Haven“

Montag, 15. April 2019

(Heyne, 1006 S., Pb.)
Im Sommer des Jahres 1960 warten Dale Stewart und seine Freunde ihrer selbsternannten Fahrradpatrouille, Mike O’Rourke, Jim Harlen, Kevin Grumbacher und Duane McBride, ebenso wie Dales jüngerer Bruder Lawrence sehnsüchtig auf das Ende des letzten Schultags in den 84 Jahre alten Mauern von Old Central, dessen riesiger, von Stille und Geheimnissen erfüllter Bau über die Kleinstadt Elm Haven in Illinois ragt und nun für immer seine Pforten schließen wird. Doch als sich die Freunde schließlich über den Schulhof zur Depot Street dem Sommer entgegen ergießen, um in ihrem inoffiziellen Clubhaus die nächsten Aktivitäten zu besprechen, bleibt ihr Mitschüler Tubby Cooke nach seinem Toilettengang kurz vor Ende der letzten Unterrichtsstunde verschwunden. Der unbeschwerte Sommer, auf den sich die Kinder so sehr gefreut haben, wird von weiteren tragischen Unglücken und merkwürdigen Ereignissen überschattet.
Einer der Jungs wird fast von dem Abdeckereilaster überfahren, ein anderer gerät in den Mähdrescher seines Vaters und stirbt unter qualvollen Umständen. Als die Jungs die unheimlichen Ereignisse zu ergründen versuchen, stoßen sie auf eine historische Glocke aus dem Besitz der Borgias, die Mr. und Mrs. Ashley aus Rom mitgebracht hatten und 1876 im Glockenturm von Old Central aufhängen ließen. Allerdings schien die Glocke jedem Unglück zu bringen, der mit ihr zu tun hatte. Mittlerweile scheint niemand mehr etwas über ihren jetzigen Verbleib zu wissen. Aber die alte Mrs. Moon erzählt Duane, dass einst ein Mann dort gehängt wurde, weil er ein Mädchen missbraucht und umgebracht haben soll.
Ebenso wie der im Sommer vom Schulhausmeister Van Syke gefahrene Abdeckereilaster sorgt auch ein immer wieder in den Maisfeldern gesichteter herumstreunender Soldat für Unruhe, die Jungs leiden zunehmend unter beängstigenden Visionen.
„Eine fremde Frau in seinem Zimmer. Er ließ unter den Tisch fallen, dass sie tot war und trotzdem herumlief. Ein Mann in einem Laster hinter ihm her. Vorerst unwichtig, dass es der Abdeckereilaster war. Seine Mutter in dringenden Angelegenheiten nach Peoria unterwegs. Wahrscheinlich zum Vögeln, aber das musste man ihnen ja nicht unbedingt auf die Nase binden. Er hatte Angst. Ohne Scheiß.“ (S. 390) 
1991 veröffentlichte Dan Simmons mit „Sommer der Nacht“ einen epischen Horror-Roman, der nicht zuletzt wegen der ähnlichen Thematik – eine Gruppe von Schulfreunden werden in einer Kleinstadt mit grauenvollen Ereignissen konfrontiert – mit Stephen Kings Meisterwerk „Es“ verglichen wurde. Simmons hatte seine schriftstellerische Karriere mit den beiden prämierten Horror-Romanen „Göttin des Todes“ und „Kraft des Bösen“ begonnen, dann aber vor allem mit seinen Science-Fiction-Werken („Hyperion“-Trilogie, „In der Schwebe“) Furore gemacht, ehe er mit „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ ins Horror-Genre zurückkehrte und dort bis heute einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.
Simmons erweist sich in „Sommer der Nacht“ nicht nur als glänzender Stilist, sondern auch einfühlsamer Chronist jugendlicher Emotionen, Eindrücke und Ereignisse, wie sie seine Protagonisten 1960 in Elm Haven erleben. Der Autor nimmt sich viel Zeit, zunächst die Geschichte der Schule, dann die Persönlichkeiten der im Mittelpunkt seiner Geschichte stehenden Jungen zu beschreiben, wie sie die drei Monate Sommerferien zu verbringen gedenken. Geschickt verbindet er die allmählich sich häufenden unheimlichen Vorfälle mit der Geschichte der aus Rom eingeführten Borgia-Glocke und sorgt so für eine eindringlich gruselige Atmosphäre. Je konkreter die Ereignisse und das Grauen allerdings Form annehmen, desto mehr verliert die zuvor so sorgfältig aufgebaute Stimmung an Dichte. Dafür wird der Leser mit wunderbaren Einblicken in das Leben von amerikanischen Jugendlichen in den vermeintlich unbeschwerten 1960er Jahren belohnt. Dazu zählen erste romantische Gefühle ebenso wie die wachsenden Kluft zwischen den Generationen, der Gemeinschaftsgeist und die obligatorischen bösen Jungs, denen man am besten aus dem Weg geht, aber auch gesellschaftspolitische Themen wie Rassismus und die Kluft zwischen den Milieus werden angerissen.
Gut zehn Jahre später legte Simmons mit „Im Auge des Winters“ eine weitaus kürzere Fortsetzung vor, die mit „Sommer der Nacht“ zum Sammelband „Elm Haven“ zusammengefasst worden ist. Hier kehrt Dale Stewart 41 Jahre nach den schaurigen Ereignissen in Elm Haven in seine Heimatstadt zurück und will auf der leerstehenden Farm, auf der sein Freund Duane damals ermordet worden war, den Roman schreiben, den sein zum Schriftsteller geborener Freund nie schreiben konnte. Im Gegensatz zu den atmosphärisch eindringlichen Beschreibungen jugendlichen Erlebens und schauriger Ereignisse in den 1960er Jahren bietet „Im Auge des Winters“ vor allem klassischen Spukhaus-Horror, der maßgeblich von den Erinnerungen des Protagonisten an seinen Selbstmordversuch, die Sitzungen bei seinem Psychiater und vor allem an die Studentin Clare geprägt ist, mit der er an der University of Montana in Missoula eine Affäre angefangen und so seine Ehe zerstört hatte. „Im Auge des Winters“ thematisiert die üblichen Probleme eines Mannes, der persönlich und beruflich in einer Krise steckt und in der selbst aufgelegten Einsamkeit wieder zu sich selbst finden will, allerdings ziehen ihm hier die Geister der Vergangenheit einen Strich durch die Rechnung. So interessant der Nachklang auf den ereignisreichen Sommer 1960 auch anmutet, erreicht das Sequel längst nicht die bedrückende Intensität von „Sommer der Nacht“, sondern wirkt wie ein unterhaltsamer, aber nicht notwendiger Epilog zu Dan Simmons‘ mit dem Locus Award prämierten Meisterwerk, das seinen exzellenten Ruf zementieren sollte.
Leseprobe Dan Simmons - "Elm Haven"

Gerhard Henschel – (Martin Schlosser: 1) „Kindheitsroman“

Mittwoch, 3. April 2019

(Atlantik, 496 S., Tb.)
Martin Schlosser verbringt die ersten Jahre seiner Kindheit Mitte der 1960er Jahre mit seinen Eltern und seinen beiden älteren Geschwistern Volker und Renate zunächst in einer kleinen Wohnung im Koblenzer Vorort Lützel. Im Doppelstockbett schläft er unten, seine Schwester unternimmt mit ihren Freundinnen eine Puppenmuttiparade vom Hof bis zum Rheinufer, Wörter wie Scheiße, Kacke, Arsch und Sau durften daheim nicht ausgesprochen werden. Zu den Vergnügungen im Sommer zählen Wannen zum Planschen im Hof, der Urlaub in Dänemark, wo Papa vor dem Zelt Pfeife raucht und Martin Fanta trinken darf. Auf einmal gab es Adventskalender mit Schokolade hinter den Türchen und zu Weihnachten Geschenke wie eine Eisenbahn, eine Bommelmütze, eine G.I.-Joe-Puppe, ein Quartett, eine Pistole und einen Pullover mit Vau-Ausschnitt.
Dann folgt der Umzug auf die andere Rheinseite, in ein Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe, wo die Kinder einen Kletterbaum vor der Tür haben und der Wald auch nicht weit ist. In der Schule zählt Martin nicht gerade zu den hellsten Kerzen auf der Torte, bei den Kopfrechnen-Wettbewerben zählt er regelmäßig zu den Letzten, die sich setzen dürfen. Es werden Comics gelesen und in Knaurs lachende Welt geblättert. Oma bringt den Kindern Zungenbrecher bei, im Fernsehen laufen Sendungen wie „Bezaubernde Jeannie“, „Lassie“, „Familie Feuerstein“ und „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“, verpönt ist aber das Neujahrs-Skispringen.
Unvergessen bleiben die Werbesprüche von Bauknecht, Allianz, Verpoorten Eierlikör, Afri-Cola, Bärenmarke, Kellergeister und HB-Zigaretten.
„Schlechter als das HB-Männchen hatte es aber Klementine, die immer mit einer Arieltrommel bewaffnet in Waschküchen rumlaufen und sich da mit Hausfrauen über synthetische Wäsche und eingetrockneten Schmutz unterhalten musste. Oder der Reporter von Omo, der als Beruf hatte, Hausfrauen zu fragen, was für sie das besondere an Omo sei. Oder Meister Proper. Der musste jedesmal, wenn eine Hausfrau nach ihm rief, angeflitzt kommen und alles so sauber putzen, dass man sich drin spiegeln konnte.“ (S. 135) 
Mit seiner bislang acht Bände umfassenden Martin-Schlosser-Chronik hat der „Kowalski“-, „Titanic“- und „konkret“-Satiriker Gerhard Henschel ein Stück deutsche Zeitgeschichte niedergeschrieben, die aus der Perspektive seines Alter Egos Martin Schlosser genau die Stationen rekapituliert, wie er sie selbst durchlebt hat. Dabei erweist sich Henschel als akkurater Beobachter nicht nur seines eigenen Lebensumfelds, sondern – vor allem in den späteren Bänden - auch als witziger Kommentator der gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Entwicklungen.
Davon ist in seinem „Kindheitsroman“, der 2004 bei Hoffmann und Campe – wie alle späteren Bände auch – als Hardcover erschienen ist, naturgemäß noch wenig zu spüren. Die lose aneinandergereihten Anekdoten sind nämlich nah am Erleben des Ich-Erzählers erzählt, wirken wie das bunte Potpourri aus gar nicht so lange zurückliegenden Kindheitserinnerungen, zu denen die abschätzige Meinungen über bußwillige Katholiken und das Aufzählen von Kinderreimen und Werbesprüchen ebenso zählt wie die traurige Erkenntnis, dass die Schlager-Stars in der „Hitparade“ nur zum Playback auftreten und Quasselstrippe Dieter Thomas Heck der einzige in der Show ist, der live zu hören ist.
Gerade wer sich altersmäßig auch in der Nähe von Henschels Jahrgang (1962) befindet, dürfte einen Riesenspaß an all den vertrauten Werbeslogans, Kinderreimen, Gebetssprüchen, Beobachtungen zu Comic-Helden wie Donald Duck, Micky Maus und Mecki und den Fernsehshows haben, die die 1960er und 1970er Jahre geprägt haben. Dazu gesellen sich die ersten zarten Liebesromanzen, Tagebucheinträge, regionale Ausdrucksweisen und Kindersünden wie das Abfackeln einer Scheune und Diebstahl im Krämerladen.
Der dokumentarische, doch amüsant unterhaltsame Stil begeistert bis heute die treue Martin-Schlosser-Gefolgschaft. Mit der erstmaligen Taschenbuch-Ausgabe durch den Hoffmann-und-Campe-Imprint Atlantik ist dieses Vergnügen nun auch kostengünstiger zu genießen.

Andrea De Carlo – „Das wilde Herz“

Montag, 1. April 2019

(Diogenes, 456 S., Pb.)
Nach einem Gewitter begutachtet der prominente britische Anthropologe Craig Nolan das Dach des in die Jahre gekommenen Ferienhauses im ligurischen Dorf Canciale, an dem vor allem seine Frau, die italienische Bildhauerin Mara Abbiati, so sehr hängt, um die Stelle zu finden, an der es in das Schlafzimmer regnet, und stürzt durch das morsche Gebälk. Neben einigen Prellungen und einem Schleudertrauma wird dabei vor allem das rechte Bein verletzt. Während die Genesung seines Beins allmählich voranschreitet, gestaltet sich die Suche nach einem geeigneten Handwerker für die Reparatur des Daches schwierig.
Doch dann taucht ein muskulöser Typ mit sonnenverbranntem Gesicht, grauschwarzen, langen, zum Pferdeschwanz gebundenen Haare auf einem schwarzen Motorrad auf, stellt sich als Ivo Zanovelli vor und bietet Mara an, das Dach innerhalb einer Woche für neuntausend Euro zu reparieren, die bar zu entrichten wären, die Hälfte sofort, der Rest nach Erledigung des Auftrags.
Während Mara sofort völlig begeistert einwilligt, sieht sich Craig durch den verwegenen Rivalen in seinem Revier bedroht. Da er selbst einst eine Affäre mit einer Studentin unterhielt, scheint nun von Maras Seite aus die Beziehung aus dem Gleichgewicht zu geraten. Während Craig sich in das Haus von Signora Launa zurückziehen kann, um in Ruhe an seinem längst überfälligen Artikel und seiner nächsten Fernsehsendung zu arbeiten, kommen sich Mara und Ivo über die Arbeit mit Tuffstein und Marmor schnell näher. Ein gemeinsamer Ausflug zu einem Steinbruch endet schließlich im Gästezimmer einer nahegelegenen Wirtschaft. Aber was folgt danach? So sehr Mara und Ivo voneinander fasziniert sind, sind sie sich jeweils sehr unschlüssig, was aus dieser Beziehung denn werden soll …
„Wann hat er so etwas zuletzt erlebt? Mit siebzehn, in einem anderen Jahrhundert? Ihn packt eine Mischung aus Angst und Wut. Ist sie denn tatsächlich so anders als alle anderen? Ist sie wirklich so viel interessanter? Intelligenter? Natürlicher? Authentischer? Hat sie wirklich ein größeres Herz?“ (S. 317) 
Einmal widmet sich der italienische Bestseller-Autor Andrea De Carlo („Creamtrain“, „Zwei von zwei“) einem seiner Lieblingssujets, der zwischenmenschlichen Beziehungen mit ihren oft amourösen Verwicklungen. In diesem Fall seziert er das Trio Infernale, in dessen Zentrum die attraktive Bildhauerin Mara steht, die nach über sieben Jahre Ehe nicht mehr nur von ihrem Mann begehrt wird, der sich längst von seiner Feldforschung als Anthropologe verabschiedet und sich ganz auf die akademische Laufbahn als Autor und Fernsehmoderator verlegt hat, sondern auch von dem zupackenden Handwerker Ivo, der mit seinem Trupp von Schwarzarbeiten aus dem Balkan von Baustelle zu Baustelle reist und sich dabei auch auf krumme Geschäfte einlässt, die ihm nun zum Verhängnis zu werden drohen.
Indem De Carlo die drei Figuren jeweils abwechselnd zu Wort kommen lässt, nutzt er den akademischen Hintergrund von Craig Nolan immer wieder dazu, wissenschaftliche Studien und Erkenntnisse in seine Beobachtungen und Gedanken einfließen zu lassen, während sich Maras und Ivos Perspektive ganz auf die emotionale Komponente fokussiert. Die Handlung gerät dabei fast zur Nebensache und verläuft auf geradezu vorhersehbaren Bahnen. Auf die leidenschaftliche Affäre folgt auch noch die unangenehme Begegnung mit einem von Ivos früheren Auftraggebern.
Vielmehr interessiert De Carlo das reichhaltige Spektrum an Leidenschaften, Beobachtungen, Deutungen, Fragen, Ängsten und Unsicherheiten, die Mara, Ivo und Craig jeweils in ihren inneren Monologen ausbreiten, womit der Autor seine ohnehin schon interessanten Figuren viel eindringlicher charakterisiert, als es ihm durch einen flott inszenierten Plot gelingen könnte. Dennoch schleichen sich gerade in der zweiten Hälfte so einige Längen ein, drehen sich die geäußerten Gedanken zunehmend im Kreis.
„Das wilde Herz“ zählt sicher nicht zu De Carlos besten Werken, demonstriert aber erneut, wie tief er in die Seele seiner Figuren einzutauchen und ihre Empfindungen in einer äußerst lebendigen Sprache auszudrücken versteht.
Leseprobe Andrea De Carlo - "Das wilde Herz"