(Diogenes, 296 S., HC)
Der 1985 in Hohenhameln geborene Takis Würger hat
nach seiner journalistischen Ausbildung u.a. für den Spiegel viel aus
dem Ausland berichtet und wurde 2010 vom Medium Magazin als einer der
„Top 30 Journalisten unter 30“ ausgezeichnet. Auch mit seinem ersten, 2017 bei
Kein & Aber veröffentlichten Roman „Der Club“ ließ Würger
aufhorchen. Nun legt der Autor nach „Stella“, „Noah. Von einem, der
überlebte“ und „Unschuld“ mit „Für Polina“ sein
Diogenes-Debüt vor.
In den Sommerferien vor ihrem Abitur reist Fritzi Prager mit
Regionalzügen und per Anhalter ins italienische Lucca, wo sie in günstiges
Zimmer in einer Pension bezieht und im Schatten der alten Stadtmauer ihre
mitgebrachten Bücher liest. Sie genießt die Spaziergänge durch die Gassen, das italienische
Essen und die Tatsache, allein zu sein, was sie nicht abhält, sich in die Leben
anderer Menschen hineinzuträumen. Sie lernt einen Hamburger Natursteinhändler kennen
und wird von ihm schwanger, was ihre weiteren Lebenspläne durchkreuzt. Statt
Jura in München zu studieren, wofür sie als Jahrgangsbeste bereits eine Zusage hat,
wird sie nun Mutter eines kleinen, speckigen Jungen mit blonden Haaren. Sie
lernt Güneş kennen, die neben ihr auf der Entbindungsstation liegt und ihre
Tochter in Anlehnung an Dostojewskis Geliebte Polina genannt hat.
Aus dieser
Bekanntschaft entwickelt sich eine jahrelange Freundschaft. Fritzi bekommt
durch Güneş einen Reinigungsjob in einer Netto-Filiale vermittelt und zieht in
eine heruntergekommene Villa im Moor, wo der wortkarge Heinrich Hildebrand vor
allem an Hannes einen Narren gefressen hat. Güneş und Fritzi sehen sich, wann immer
es ihre Zeit erlaubt, und so verbringen auch Polina und Hannes bis in ihre
Teenagerjahre viel Zeit miteinander. Obwohl sich die beiden Teenager ineinander
verlieben und später miteinander schlafen, steht ihre Beziehung unter keinem
guten Stern.
Durch Missverständnisse und Versäumnisse verlieren sie sich sogar
völlig aus den Augen - bis Hannes, der seinen Lebensunterhalt bei einem Hamburger
Transportunternehmen für Klaviere verdient, auf einem der Instrumente, das er
mit seinem Kollegen Bosch von einer Wohnung in die andere zu bringen hat, mitten
in der Innenstadt eine herzzerreißende Melodie spielt und das Video von der unorthodoxen
Darbietung viral geht…
„Hannes spielte, und die Menschen hörten ihn, als hörten sie Licht. Die Besucher des kleinen italienischen Nudelrestaurants auf der anderen Straßenseite verstummten, erst verdutzt, dann ergriffen. Due Studentinnen auf dem Weg ins Philosophieseminar verlangsamten ihre Schritte, kamen näher und blieben stehen. Die Kellner vergaßen ihre Bestellungen, die Babys in ihren Kinderwagen lauschten. Es war keine Zauberei. Oder vielleicht doch. Wann war Musik jemals etwas anderes als Zauberei?“ (S. 222)
Takis Würgers „Für Polina“ ist ebenso ein Coming-of-Age-
wie Liebesroman. Auf der überschaubaren Länge von nicht mal 300 Seiten entfaltet
der in Leipzig lebende Autor eine berührende, selten die Grenze zum Kitsch streifende
Geschichte einer problematischen Liebesbeziehung, deren Dramatik sich vor allem
aus der Ungewissheit speist, wo sich Polina überhaupt befindet. Die mehr oder
weniger aktiv betriebene Suche nach Polina wird durch allerlei Krisen zurückgeworfen,
aber auch durch Hannes‘ Weigerung, seinem Kompositionstalent eine Chance zu
geben. Würger gelingt es, seinen allesamt irgendwie sympathischen,
eigenwilligen Figuren auf wenigen Seiten Charakter zu verleihen, und vor allem zwischen
Bosch und Hannes, aber auch zwischen Heinrich und Hannes entwickeln sich prägende
Freundschaften fürs Leben. Dadurch wird der melancholischen Geschichte nicht
nur Humor, sondern auch Zuversicht verliehen.
Die stärksten Momente weist „Für Polina“ in der einfühlsamen,
bildreichen Sprache und den leisen Tönen auf, mit denen Würger vor allem
die Empfindungen durch das Spielen und Komponieren klassischer Musik
beschreibt, aber auch die Sehnsüchte Liebender, die einander unerreichbar fern
erscheinen. Da sind märchenhafte Zuspitzungen wie Hannes‘ Karriere eigentlich
völlig unnötig. Dafür hätten feinere Einsichten in Hannes‘ Gefühlsleben die
Intensität der Geschichte vielleicht noch verstärkt. Aber auch von diesen kleinen
Schwächen abgesehen ist „Für Polina“ eine zauberhafte kleine Geschichte über
den Wert wahrer Freundschaften und die Kraft der Liebe – vor allem auch zur
Musik – geworden.