Lisa McInerney – „Glorreiche Ketzereien“

Dienstag, 26. Juni 2018

(Liebeskind, 446 S., HC)
In ihren jungen Jahren hat Maureen Phelan einen unehelichen Sohn gezeugt, ihn bei ihren Eltern aufwachsen lassen und sich selbst nach London abgesetzt, um der familiären Schmach zu entfliehen. Mittlerweile ist ihr Jimmy der Gangsterboss in der irischen Kleinstadt Cork und hat seine Mutter zurück nach Cork geholt und sie in einem Haus untergebracht, das vorher als Bordell gedient hat. Als Maureen eines Tages einen vermeintlichen Einbrecher mit einer steinernen Devotionalie erschlägt, beauftragt sie Jimmy mit der Entsorgung der Leiche, der sich aber damit nicht selbst die Hände schmutzig macht, sondern dafür seinen alten Kumpel Tony Cusack einspannt.
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Toten um Robbie O’Donovan, der für seine Freundin, die Prostituierte Georgie Fitzimons, eben jenen Skapulier besorgen sollte, der ihm zum tödlichen Verhängnis wurde. Tony Cusack hat allerdings auch selbst genügend Probleme. Der alkoholsüchtige Vater von sechs Kindern muss miterleben, wie sein 16-jähriger Sohn Ryan erst von der Schule fliegt und dann für seinen Kumpel Dan wegen Drogenhandels in den Knast wandert. So verpasst Ryan den Abschlussball und wird später mit der bitteren Erkenntnis konfrontiert, dass seine Freundin Karine bei diesem Ball fremdgegangen ist. Allerdings hat es auch Ryan bislang mit der Treue nicht so genau genommen. Da Jimmy zunehmend genervt davon ist, dass Georgie wegen Robbie unangenehme Fragen stellt, sollen die Cusacks für eine nachhaltige Lösung sorgen …
„Was war aus ihm geworden auf seiner Reise durch die Unterwelt? Nichts weiter als ein weiteres betrügerisches Arschloch in einer Stadt voller betrügerischer Arschlöcher. Mit fünfzehn hatte er angefangen und war dumm genug gewesen zu denken, er könnte wieder damit aufhören. Die Vorhersehbarkeit seiner Wandlung schmerzte fürchterlich.“ (S. 346) 
Die aus der irischen Provinz Connacht stammende Lisa McInerney war zunächst als Bloggerin unterwegs, ehe sie von dem Schriftsteller Kevin Barry dazu ermuntert wurde, Kurzgeschichten zu schreiben, die dann auch in verschiedenen Literaturzeitschriften erschienen sind.
Ihr Debütroman „Glorreiche Ketzereien“ wurde 2016 gleich für den Irish Book Award und den Dylan Thomas Award nominiert, erhielt den Bailey’s Women’s Prize for Fiction und Desmond Elliott Prize. Man fühlt sich ein wenig an Douglas Couplands „Alle Familien sind verkorkst“ erinnert, wenn der Leser Bekanntschaft mit all den verzweifelten Typen macht, die in Cork ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen, weil sie dem Alkohol, den Drogen oder dem Sex verfallen sind und vor Betrug, Verrat und Mord nicht zurückschrecken, um ihre kaputten Familien zu schützen.
Vor diesem Hintergrund entwickelt die Autorin einen vielschichtigen Plot, in der irgendwie alle familiären und frei gewählten Beziehungen auf dem Prüfstein stehen. Dabei treffen die vortrefflich gezeichneten Figuren am laufenden Band die falschen Entscheidungen und bringen sich und ihre Liebsten noch mehr in die Bredouille, wobei der Gangster Jimmy Phelan keine Gnade mit den Menschen kennt, die ihm auch nur ansatzweise in die Quere kommen könnten.
Es fällt nicht immer leicht, den ständig wechselnden Figuren und ihren verzwickten Situationen zu folgen, in die sie sich manövrieren, aber der Roman lebt vor allem von seinem schwarzen Humor und der drastischen Sprache, die Lisa McInerney für all die Verfehlungen ihrer verkorksten Charaktere verwendet, die ihr Heil mal in einer Sekte, oft genug aber einfach im Drogenrausch suchen.
Es ist ein tristes, düsteres und unheilvolles Schicksal, das Corks Bewohner teilen, aber McInerney schafft es, die verhängnisvollen Verwicklungen so temporeich, humorvoll und sprachgewandt zu schildern, dass der Lesefluss und die Neugier auf den weiteren Verlauf der Handlung gesichert ist. Zum Glück hat die Autorin mit „The Blood Miracles“ schon eine Fortsetzung veröffentlicht, die hoffentlich auch bald ins Deutsche übersetzt wird. 
Leseprobe Lisa McInerney "Glorreiche Ketzereien"

Bill Clinton & James Patterson – „The President Is Missing“

Freitag, 22. Juni 2018

(Droemer, 477 S., HC)
US-Präsident Jonathan Duncan muss sich vor einem Sonderausschuss des Repräsentantenhauses unter der Leitung von dessen Sprecher Lester Rhodes Rechenschaft darüber ablegen, ob er vor kurzem Kontakt zu Suliman Cindoruk, dem meistgesuchten Terroristen der Welt, aufgenommen hat und sogar dafür verantwortlich ist, seine Liquidierung in Algerien vereitelt zu haben. Sollte dem Präsidenten ein Vergehen nachgewiesen werden, muss er mit einem Amtsenthebungsverfahren rechnen. Doch bevor die Anhörung am Montag auf dem Programm steht, wird dem ehemaligen Staatsanwalt und Gouverneur von North Carolina durch eine junge Frau ein Passwort übermittelt, das nur dem innersten Kreis des Präsidenten-Stabes bekannt sein sollte.
Dass „Dark Ages“ in die Hände von Cyber-Terroristen gelangt ist, bedeutet nichts Gutes, denn das betreffende Computer-Virus droht weltweit alle computergestützten Systeme lahmzulegen. Erste Zwischenfälle bei der Wasseraufbereitung und auf ein medizinisches Labor demonstrieren dem Irakkrieg-Veteran, dass es die „Söhne des Dschihad“ ernst meinen.
Da Duncan davon ausgehen muss, dass einer seiner acht engsten Mitarbeiter der Verräter sein muss, zieht er sich mit dem mysteriösen Informanten Augie und einer Handvoll Vertrauter auf eine abgelegene Farm und bestellt die Regierungschefs aus Deutschland, Russland und Israel ein, um die Krise zu bewältigen, denn der Countdown bis zur Aktivierung des Virus tickt erbarmungslos runter. Doch während er die größte Krise zu bewältigen hat, die man sich vorstellen kann, wird Duncan immer wieder durch Erinnerungen an seine durch Krebs getötete Frau, eine lebensbedrohliche Autoimmunkrankheit und die politischen Spielchen seiner Verbündeten/Feinde aus dem Konzept gebracht.
„Falls uns das Virus weiterhin standhält, wird mir nichts anderes übrig bleiben, als die drakonischsten Maßnahmen zu ergreifen, um die Menschen davon abzuhalten, sich im Kampf um Nahrung, sauberes Wasser und Obdach gegenseitig umzubringen.
Wenn es so weit kommt, sind wir nicht mehr wiederzuerkennen. Dann sind wir nicht länger die Vereinigten Staaten von Amerika oder das, was die Welt jemals darunter verstanden hat.“ (S. 348) 
Bestseller-Autor James Patterson und der von 1993 bis 2001 als US-Präsident regierende Bill Clinton haben mit „The President Is Missing“ einen gemeinsamen Thriller vorgelegt, wie ihn „nur ein US-Präsident schreiben kann“ – so die Verlagswerbung. Tatsächlich hat James Patterson, der ein halbes Dutzend Auftragsschreiber beschäftigt, die aus seinen Exposés Romane formen, auch hier ein Treatment vorgelegt, das Bill Clinton mit seiner langjährigen Erfahrung im Weißen Haus zu einem durchaus temporeichen Thriller verarbeitet hat.
Dabei dient die Angst vor dem erschreckenden Worst-Case-Szenario mit seinen apokalyptischen Auswirkungen als treibender Motor für die dramaturgische Spannung, die durch einen aus der Türkei stammenden, aber nicht muslimischen Terroristen, einen Countdown, den unvermeidlichen Verräter, politische Machtspielchen und diverse überraschende Wendungen auf die Spitze getrieben wird. Besonders glaubwürdig ist das nicht. Der als Ich-Erzähler auftretende US-Präsident Jonathan Duncan tritt hier als von den Tragödien des Lebens und des Krieges sowie den gesundheitlichen Schäden gehandicapter, aber willensstarker Präsident auf, der bei allen auftretenden Problemen sehr souverän wirkt – im Gegensatz zu Bill Clinton, der während seiner Amtszeit vor allem fast über die Lewinsky-Affäre gestolpert wäre und offenbar mehrmals die Möglichkeit besaß, Osama bin Laden zu töten. Insofern wirkt „The President Is Missing“ wie ein verzweifelter Versuch Clintons, auf literarische Weise seine eigene Geschichte aufzuwerten, was besonders sauer in der abschließenden Rede aufstößt, die Duncan nach der natürlich überstandenen Krise ans Volk hält und sich darin für die „ständige Erweiterung von Bildungs- und Berufschancen, ein vertieftes Verständnis von Freiheit und einen gestärkten Gemeinsinn“ stark macht. Damit bezieht er natürlich auch Stellung gegen den amtierenden US-Präsidenten Trump, ohne ihn namentlich zu erwähnen.
Die Charakterisierung des Präsidenten fällt dabei schon sehr selbstgefällig aus. Dass er auch noch maßgeblich beteiligt an der Lösung des viralen Problems ist, wirkt fast schon lächerlich. Von den Einsichten eines ehemaligen US-Präsidenten abgesehen bietet „The President Is Missing“ auch nur leidlich intelligente Spannung, bei der jedes Mittel genutzt wird, um die Dramatik zu erhöhen, doch schießt sie damit voll über das Ziel hinaus. Patterson-Fans sollten bei den standardisierten Thrillern der Alex-Cross-Reihe bleiben, da werden die Erwartungen nach über zwanzig Bänden ohnehin nicht mehr so hoch gesetzt. 
Leseprobe Bill Clinton & James Patterson - "The President Is Missing"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 8) „Im Dunkel des Deltas“

Montag, 18. Juni 2018

(Pendragon, 505 S., Pb./Edel:eBooks, 378 S., eBook)
Nachdem sich Sonny Boy Marsallus mit der mächtigen Giacano-Familie in New Orleans angelegt hatte, verzog er sich in den Süden, wo er die US-amerikanischen Manöver in El Salvador und Guatemala aus erster Hand miterlebte. Als er nach New Orleans zurückkehrt, hat er noch eine Rechnung mit dem Bordellbetreiber Sweet Pea Chaisson zu begleichen und übergibt Detective Dave Robicheaux ein brisantes Notizbuch mit Anspielungen auf Waffenlager und Drogenschmuggler, hinter dem bald einige zwielichtige Typen her sind. In einer anderen Sache hat Robicheaux mit der Schwarzen Bertha Fontenot zu tun, die sich darüber beschwert, dass der Anwalt Moleen Bertrand hinter dem Land her ist, auf dem sie seit Jahrzehnten mit ihrer und fünf anderen Familien lebt. Und schließlich gesteht Roland Broussard, der wegen einer Geschwindigkeitsübertretung in dem Wagen von Sweet Peas Freundin Della Landry angehalten und festgenommen worden ist, dass er beobachtet hat, wie einige Männer Della in ihrem Haus ermordet haben.
Die Ermittlungen machen kaum Fortschritte, und Robicheaux legt sich öffentlich mit John Giacano an, was ihn selbst zur Zielscheibe der Killer macht. Als Robicheaux wegen seines ungebührlichen Verhaltens suspendiert wird und mit seinem alten Kumpel Cletus Purcel eine Zweigstelle von Purcels Detektei in Iberia aufmacht, spitzen sich die Ereignisse allmählich zu, tauchen immer weitere finstere Figuren auf und sorgen für weitere Tote …
„Was das Morden angeht, ist die Mafia unerreicht. Ihr Wissen und ihre Erfahrung reichen zurück bis in die Zeit der napoleonischen Kriege; das Ausmaß an Brutalität und physischer Gewalt, die sie an ihren Opfern auslassen, ist geradezu bizarr und übersteigt jedes normale Maß; die Urteilsquote ihrer Auftragskiller ist ein Witz.“ (S. 389) 
Im achten Buch der großartigen Reihe um den ehemaligen Detective der Mordkommission in New Orleans geht es ziemlich drunter und drüber. Das trifft nicht nur auf die Ereignisse zu, die von Grabschändungen, Landraub, mutmaßlich verborgenen Schätzen, gefährlichen Affären und Auftragsmorden reichen, sondern vor allem auch auf die unüberschaubare Palette an Figuren, die die ohnehin verwirrenden und am Ende nicht wirklich aufgeklärten Ereignisse ordentlich durcheinanderwirbeln.
Spannung kommt hier nur selten auf, weil sich die Erzählstränge immer wieder überschneiden und die losen Enden kaum aufgelöst werden. Aus Dave Robicheaux‘ persönlichen Umfeld wird in „Im Dunkel des Deltas“ ausnahmsweise wenig erzählt. Hier muss der Verweis auf den früheren Mann seiner Frau Bootsie genügen, der die Bücher für die Familie Giacano geführt hat und zur Hälfte an einer Automatenfirma von ihr beteiligt gewesen ist. Auch zu seiner Adoptivtochter Alafair und seinem schwarzen Angestellten Batist gibt es wenig Neues zu erfahren. Robicheaux selbst wirkt recht desorientiert und weiß sich oft nur mit Gewalt zu helfen, wobei sein sonst viel weniger zimperlicher Kumpel Cletus ihn immer wieder zur Räson bringen muss.
Was James Lee Burke nach wie vor hervorragend gelingt, sind seine Beschreibungen der Landschaft und des Milieus, in dem er sich auskennt wie kein zweiter zeitgenössischer Schriftsteller. Wenn er seinen Protagonisten über die Geschichte Louisianas, die Mafia, die Drogen- und Waffengeschäfte und den unsinnigen Vietnamkrieg sinnieren lässt, entschädigt dies auch diesmal für den schleppenden Spannungsaufbau und die verqueren Erzählstränge.
 Leseprobe James Lee Burke - "Im Dunkel des Deltas"

Antoine Laurain – „Das Bild aus meinem Traum“

Donnerstag, 14. Juni 2018

(Atlantik, 191 S., Tb.)
Der angesehene Pariser Anwalt Maître Pierre-François Chaumont hat ein Faible für schöne Dinge und gibt auch mal tausende von Euro für Kristallkugeln aus Baccarat, Saint-Louis-Briefbeschwerer oder Vasen von Gallé aus, die in seiner Kunstsammlung im Arbeitszimmer untergebracht werden, weil seine Frau Charlotte die wertvollen Dinge nicht in den gewöhnlichen Wohnräumen stehen haben möchte. Eines Tages entdeckt Chaumont im Auktionshaus Drouot ein Pastellbild aus dem 18. Jahrhundert und ist erstaunt über die frappierende Ähnlichkeit zwischen dem portraitierten Mann mit gepuderter Perücke und blauem Anzug und sich selbst. Einzig ein unentzifferbares Wappen oben rechts in der Ecke könnte Auskunft über die Herkunft des Mannes geben.
Tatsächlich ersteht der Sammler das Bild für 11.760 Euro, doch Charlotte kann seine Begeisterung überhaupt nicht teilen, entdeckt sie ebenso wie die gemeinsamen Freunde doch nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen dem Mann auf dem Bild und Chaumont.
Zunächst frustriert macht er sich auf die Spurensuche und landet auf einem Weingut in Rivaille. Dort wird Chaumont sogleich als Aimé-Charles de Rivaille, Graf von Mandragore erkannt, der vor vier Jahren nach Paris zu einem Weinhändler gefahren war, aber dort nicht ankam. Chaumont nutzt die Gunst der Stunde, tischt Mandragores Frau Mélaine eine irrwitzige Geschichte über sein Verschwinden auf und beginnt ein neues Leben …
„Ich war nicht zufällig hier, ich glich nicht zufällig diesem anderen Mann. Nichts, was seit meiner Entdeckung des Portraits geschehen war, war dem Zufall zuzuschreiben. Ich folgte meinem Schicksal. Jeder Versuch, diese Leute über ihren Irrtum aufzuklären, würde meinem Schicksal zuwiderlaufen. Vor mir öffnete sich eine Tür, und ich konnte entweder hindurchgehen oder meinen Weg wie bisher fortsetzen.“ (S. 116f.) 
„Das Bild aus meinem Traum“ ist das Debüt des ehemaligen Pariser Antiquitätenhändlers und Drehbuchautors Antoine Laurain aus dem Jahre 2007 und erschien 2016 erstmals in deutscher Sprache. Nachdem Laurain mit „Liebe mit zwei Unbekannten“, „Der Hut des Präsidenten“ und „Die Melodie meines Lebens“ auch das deutsche Publikum erobert hat, bietet die nun veröffentlichte Taschenbuchausgabe noch einmal die Möglichkeit, Laurains erste literarische Gehversuche zu erkunden. Dabei bringt er nicht nur seine Erfahrungen als Antiquitätenhändler in die Geschichte ein und thematisiert die Seele, die alte Dinge in sich tragen, sondern erzählt vor allem auf luftig-leichte Art, wie ein Mann mit Frau und angesehenem Beruf auf einmal die Möglichkeit wahrnimmt, ein ganz neues Leben zu beginnen, sich dabei aber auch fragt, was er dafür aufgeben muss.
Besonders tief durchdringt Laurain seinen Protagonisten allerdings nicht. Vielmehr geht es dem französischen Autor um das Spiel der Möglichkeiten. Das ist sicherlich charmant, stellt letztlich aber nur eine erste Fingerübung für die späteren, weitaus gelungeneren Werke dar.

Jérôme Colin – „Ich warte auf dich am Ende der Straße“

Mittwoch, 6. Juni 2018

(Atlantik, 174 S., Pb.)
Eigentlich wollte er bei Rot über Ampeln rauschen, durchgezogene Linien überfahren, gegen Gesetze verstoßen und existieren, stattdessen hat er sich nach seinem Journalismus-Studium ein Leben mit Léa und den drei gemeinsamen Kindern in einem kleinen Häuschen eingerichtet, verdient seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer in Brüssel. Dabei führt der 38-jährige Hypochonder, dessen beiden Großväter ebenso wie sein Vater an Krebs gestorben sind, teils interessante, manchmal auch amüsante Unterhaltungen mit seinen Fahrgästen, spielt dabei seine Lieblingsmusik von Beck, Richard Hawley, Tom Waits, Jeff Buckley, Elliot Smith und Jacques Brel, erinnert sich daran, wie er Léa vor sechzehn Jahren begegnet ist.
Dann begegnet er Henry, einem Mann, den er jeden Freitag, Samstag und Sonntag gegen halb neun abends von zuhause abholen in eine Kneipe fahren soll.
Doch besonders angetan ist er von Marie, die er bei einem Kneipenbesuch mit seinem Freund Benjamin kennenlernt und mit der er eine Affäre beginnt. Léa und er trennen sich zunächst auf Zeit, die sie dafür verwenden wollen, um über sich und ihre Beziehung nachzudenken. In Gedanken ist der Taxifahrer aber immer bei Marie, kaum bei Léa …
„Wir können nicht anders als lieben. Wir müssen jemanden finden, der uns durch den Sturm begleitet. Wir müssen uns mit wenig zufriedengeben, um nicht allein zu verrecken. Wir müssen uns selbst weismachen, dass wir verliebt sind in Menschen, die wir nie ertragen würden, wenn wir das Glück gehabt hätten, der großen Liebe zu begegnen.“ (S. 156) 
In seinem Debütroman „Ich warte auf dich am Ende der Straße“ erkundet der in Brüssel lebende Journalist und Fernsehmoderator Jérôme Colin auf leicht eingängige Weise das Leben eines namenlosen Taxifahrers, der als Ich-Erzähler seine Gedanken und Erinnerungen zum Leben und zur Liebe von sich gibt. Begleitet von dem dazugehörigen Soundtrack aus Lieblingssongs, mit denen er bestimmte Ereignisse wie den ersten Kuss mit Léa verbindet, regen ihn zuweilen die Gespräche mit seinen Fahrgästen, die er aus ihrer Einsamkeit heraus ins pulsierende Leben kutschieren soll, zu diesen Erörterungen an.
Statt darüber betrübt zu sein, dass er aus seinem Studium nicht mehr gemacht hat, suggerieren die sympathischen Überlegungen gerade zur Liebe, dass der Taxifahrer sehr wohl zufrieden mit seinem Schicksal ist und einfach glücklich damit ist, auch neuen Empfindungen und Leidenschaften Raum zu geben. Darüber hinaus legt er Zeugnis von der Einsamkeit in der Großstadt und der Sehnsucht der Menschen nach einem aufregenden, anderen Leben ab.

Peter Straub – (Blaue Rose: 3) „Mystery“

Dienstag, 5. Juni 2018

(Heyne, 525 S., Jumbo)
Mitte der fünfziger Jahre wächst der zehnjährige Tom Pasmore auf der karibischen Insel Mill Walk auf. Nachdem er sich, ohne eine Erinnerung daran zu haben, wie er dort hingekommen ist, eines Nachmittags in einem ihm völlig unbekannten Viertel wiederfindet, wird er von einem Auto angefahren und wacht im Krankenhaus wieder auf, wo ihm nicht nur seine besorgten Eltern, sondern auch sein Großvater Glendenning Upshaw und seine Schulfreundin Sarah Spence Besuche abstatten. Das nachfolgende Jahr verbringt Tom zuhause im Bett, im Rollstuhl und schließlich auf Krücken und liest alles an Büchern, was ihm sein Vater und sein Nachbar Lamont von Heilitz vorbeibringen.
Sieben Jahre später beginnt Tom ein Interesse für die wenigen Morde in Mill Walk zu entwickeln, über die im Eyewitness berichtet wurde, und freundet sich mit Lamont an, der sich seinen Spitznamen Shadow als prominenter Hobby-Detektiv verdient hat. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dem Fall der im Juni am Eagle Lake ermordeten Millionärin Jeanine Thielman. Zwar legte ein Mann namens Anton Goetz damals ein Geständnis ab, aber der Shadow verfolgte damals die Laufbahnen aller, die irgendwie mit dem Mord an Jeanine Thielman zu tun hatten.
Tom erhält die Möglichkeit, vor seinem im Herbst beginnenden Studium, das ihm sein Großvater nahegelegt hat, den Sommer mit Sarah Spence und der einflussreichen Redwing-Familie in Eagle Lake zu verbringen. Für Lamont soll er dort nach Hinweisen suchen, die zur Lösung des unzureichend aufgeklärten Verbrechens beitragen. Tatsächlich erweist sich Tom als so geschickt, dass ihn seine Nachforschungen selbst in Lebensgefahr bringen …
„Tom spielte die Ereignisse und Umstände von Jeanine Thielmans Ermordung tagelang durch. Er schrieb in der dritten und in der ersten Person darüber, stellte sich vor, er wäre Arthur Thielman, Jeanine Thielman, Anton Goetz und sein eigener Großvater; er versuchte sogar, das Ereignis durch die Augen des verschüchterten Kindes zu sehen, das sein Mutter war. Er spielte mit Daten und Zeitpunkten; er beschloss, alles über Bord zu werfen, was man ihm über die Motive der Beteiligten gesagt hatte, und mit neuen zu experimentieren.“ (S. 354) 
Nachdem sich Peter Straub mit seinen Mystery-Thrillern „Ghost Story“ (1979) und „Schattenland“ (1980) einen Namen machen konnte und schließlich durch die Zusammenarbeit mit Stephen King an „Der Talisman“ (1984) weltberühmt wurde, hat er sein Magnum Opus mit der Reihe um die „Blaue Rose“ veröffentlicht, deren zweiter  Teil „Koko“ 1989 mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet wurde, während der abschließende Part „Der Schlund“ 1993 den Bram Stoker Award gewann. Dazwischen erschien 1990 mit „Mystery“ ein Roman, der eher an die klassischen Detektivromane von Raymond Chandler und Dashiell Hammett angelehnt ist und nichts mit dem Horror zu tun hat, der Straubs schriftstellerische Meisterschaft begründete.
Der Autor verwendet viel Mühe darauf, die Atmosphäre und die gesellschaftlichen Verhältnisse auf Mill Walk zu beschreiben, wobei Toms Familiengeschichte, aber auch die phänomenalen Erfolge des „Amateurs des Verbrechens“ einen besonderen Schwerpunkt bilden. Ganz allmählich wird dabei das Geflecht aus Lügen, Korruption und Gewaltverbrechen ausgebreitet, das sich bis in das elitäre Erholungsgebiet von Eagle Lake erstreckt und in das Tom bei seinem Aufenthalt dort immer tiefer eindringt.
Neben dem faszinierenden, aber auch sehr komplexen Kriminalfall darf der Leser aber auch Toms Liebschaft mit Sarah verfolgen, die eigentlich einem Redwing-Sprössling „versprochen“ ist. Es ist nicht immer leicht, Straubs ausschweifenden und vielschichtigen Ausführungen zu folgen. Gerade der Beginn macht es dem Leser schwer, überhaupt einen Draht zu Tom Pasmore zu finden, der sich im Laufe des epischen Romans selbst zu einem veritablen Hobby-Detektiv mausert. Darüber hinaus überzeugt der Roman durch die feinen Charakterisierungen der oft schillernden Figuren, den dramaturgisch geschickten Spannungsaufbau und die stimmungsvolle Atmosphäre, die den Leser in das außergewöhnliche Leben auf der erfundenen Karibikinsel eintauchen lässt.