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Tom Drury – „Grouse County“

Sonntag, 24. September 2017

(Klett-Cotta, 795 S., HC)
Der aus Iowa stammende Tom Drury begann nach seinem Journalismus-Studium seine berufliche Laufbahn zunächst als Reporter und Redakteur in der regionalen Presse, ehe er 1994 mit „Das Ende des Vandalismus“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Zusammen mit „Die Traumjäger“ (2000 in den USA veröffentlicht, 2008 in Deutschland) und dem hierzulande bislang unveröffentlichten Roman „Pazifik“ (2013) hat Klett-Cotta die hochgelobte „Grouse County“-Trilogie nun in einem Band veröffentlicht und dabei die ersten beiden Romane komplett überarbeitet.
In „Das Ende des Vandalismus“ macht der Leser Bekanntschaft mit einer bunt zusammengewürfelten Schar von Figuren, die vor allem das 321-Seelen-Dorf Grafton, aber auch die umliegenden Ortschaften Pinville, Wylie oder Boris bevölkern. Zu den Hauptdarstellern, wenn es denn welche gibt, in Drurys genau beobachteter Gesellschaftsstudie zählt dabei der amtierende Sheriff Dan Norman, der nicht nur den Diebstahl von mehreren Landmaschinen aufklären muss, sondern sich auch noch mitten im Wahlkampf befindet und mit Louise, der von Tiny Darling gerade geschiedenen Frau, zusammenlebt. Das kann der Taugenichts und Gelegenheitsdieb Tiny schwer ertragen, weshalb er nach Colorado geht, wo er auf einem Holzplatz in Lesoka eine Arbeit findet und mit Kathy Streeter von der Bäuerlichen Genossenschaftsbank eine Beziehung eingeht. Die Leser erleben mit, wie Alvin Getty seinen Lebensmittelladen aufgeben muss, wie Louise sich zunächst im Fotostudio von Perry Kleeborg engagiert, doch dann ein Schicksalsschlag ihr Leben völlig durcheinanderbringt.
Auch sonst haben es die Bewohner in Grafton nicht leicht. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte es noch zwei Gastwirtschaften, drei Kirchen, einen Friseur, einen Holzhandel und eine Bank gegeben, nun sind nur noch zwei Kirchen und ein Lokal davon übrig, nur ergänzt von einem Schönheitssalon und eine Art Gebrauchtwagenhandel. Zu den Höhepunkten des gesellschaftlichen Lebens zählt die Schulaufführung von „Tarantella“.
„Es war in gewissem Sinn eine verkehrte Welt – Jugendliche lieferten zur Unterhaltung der Erwachsenen eine anspruchsvolle Darbietung -, während allgemein in Grouse County, wie sonst überall auch, das Theater nicht als etwas Sinnvolles angesehen wurde, womit man sich nach Abschluss der Schule noch abgeben konnte. Sich Geschichten auszudenken und sie dann auf die Bühne zu bringen, das war den Leuten einfach nicht geheuer.“ (S. 240f.) 
Tom Drury macht es dem Leser mit seinem Debütroman nicht leicht, einem wie auch immer gearteten Plot zu folgen und sich in der Vielzahl von gut siebzig Personen zurechtzufinden, die das wie ein buntes Potpourri zusammengewürfelte Geschehen bestimmen oder auch nur mal kurz auftauchen und dann wieder von der Bildfläche verschwinden. Allerdings gelingt es Drury, mit seiner detaillierten Beschreibung des ländlichen Lebens irgendwo im Mittleren Westen die Sorgen und Träume nachzuvollziehen. Das tut er ebenso einfühlsam wie humorvoll, so dass einem manche Figuren dann doch ans Herz wachsen.
Der Nachfolgeroman „Die Traumjäger“, der – im Original - sechs Jahre später erschien (2000), ist nicht nur weitaus kürzer ausgefallen, sondern wartet auch mit einem weitaus reduzierteren Figurenensemble und einer stringenteren Erzählung auf. Tiny Darling hat sich mittlerweile auf seinen richtigen Namen Charles besonnen und lebt mit seiner zweiten Frau Joan, ihrem gemeinsamen Sohn Micah und Joans 16-jähriger Tochter Lyris zusammen, die als Baby zur Adoption freigegeben wurde und seither eine wenig erbauliche Odyssee durch verschiedene Pflegefamilien durchgemacht hatte, bis sie wieder von Joan aufgenommen worden ist. Charles versucht nicht nur, das alte Gewehr seines Stiefvaters, mit dem er viele Jagdausflüge in seiner Jugend unternommen hatte, von der Pfarrerswitwe Farina Matthews zurückzukaufen, sondern fragt sich auch, warum seine Frau, die Geschäftsführerin eines Tierschutzvereins mit Sitz in Stone City ist, zu einer Rede vor der Kreisversammlung einen Badeanzug mitnimmt.
Ganz unbegründet sind seine Sorgen nicht, denn wie schon Louise im vorherigen Band begibt sich auch Joan auf einen Selbstfindungstrip, von dem sie erst im kommenden Frühjahr zurückzukehren gedenkt …
Erst 2013 erschien mit „Pazifik“ der hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte dritte Band der „Grouse County“-Trilogie. Auf wiederum nur wenig mehr als 200 Seiten verfolgt Drury das Leben der Darling-Familie weiter. Joan Gower hat eine Karriere als Schauspielerin beim Fernsehen eingeschlagen und kehrt nach sieben Jahren in ihre alte Heimat zurück, um ihren mittlerweile 14-jährigen Sohn Micah nach Los Angeles mitzunehmen, wo er eine für ihn völlig neue Welt kennenlernt. Tiny hat sein Klempnergeschäft nach der Klage durch eine Versicherungsgesellschaft verloren und ist gar nicht begeistert, dass nun auch die erwachsene Lyris ihr Zuhause verlassen hat, um mit ihrem Verlobten, dem Journalisten Albert Robeshaw, zusammenzuleben.
Dan Norman ist nach dem Verzicht, ein sechstes Mal für das Sheriff-Amt zu kandidieren, Privatdetektiv geworden und wird von einem Ehepaar beauftragt, den zukünftigen Schwiegersohn ihrer Tochter Wendy unter die Lupe zu nehmen. Jack Snow betreibt einen Versandhandel mit keltischen Kunstgegenständen und „stinkt vor Geld“, was Wendys Eltern nicht geheuer ist.
Wenig später bekommt Dan Besuch von zwei staatlichen Ermittlern, die Jack Snow seit längerer Zeit im Visier haben …
Mit der über einen Zeitraum von knapp zwanzig Jahren entstandenen „Grouse County“-Trilogie hat Tom Drury eine Art liebevolle Bestandsaufnahme des ländlichen Lebens in Iowa kreiert, mit einer zunächst nahezu unüberschaubaren Schar an Figuren, die von knapp siebzig in „Am Ende des Vandalismus“ nahezu auf die Familien von Tiny Darling und Dan Norman reduziert wurden, aber allesamt ihre ganz persönlichen Sehnsüchte, Leidenschaften und Sorgen haben, die ihr Erzähler allesamt ernst nimmt und die im abschließenden Band „Pazifik“ sogar metaphysische und surreale Züge annehmen. Die Fürsorge, die Drury seinen Figuren angedeihen lässt, die wunderbare Sprache, die lebendige Dialoge und der lakonische Humor machen das epische „Grouse County“ zu einem unvergleichlichen Lesevergnügen, das zudem wie eine Anleitung zur Selbstverwirklichung und ein moralischer Kompass aufgefasst werden kann. 
Leseprobe Tom Drury - "Grouse County"