Dan Simmons – (Hyperion: 1) „Hyperion“

Samstag, 26. Dezember 2020

(Heyne, 588 S., Tb.) 
Es ist eine jahrhundertealte Tradition, dass die Hegemonie eine Reise mit meist sieben Pilgern zum Shrike auf Hyperion organisiert, bei der alle bis auf einen umkommen. Dem Überlebenden gewährt das ebenso gefürchtete wie von seinen Jüngern verehrte Shrike angeblich die Erfüllung eines Wunsches. Die aktuelle Pilgerreise steht allerdings unter einem ungünstigen Stern, denn es hat den Anschein, als würden sich die Zeitgräber öffnen und so dem Shrike ermöglichen, seinen Bewegungsradius auszudehnen. Da Regierungschefin Meina Gladstone nicht sicherstellen kann, dass die Einsatztruppe von FORCE:Weltraum rechtzeitig eintrifft, um die Bürger der Hegemonie von Hyperion zu evakuieren, bevor ein Wanderschwarm der rebellischen Ousters dort aufschlägt, beauftragt sie den Hegemonie-Konsul, an der Pilgerfahrt auf dem Baumschiff Yggdrasil der Tempelritter teilzunehmen. 
Begleitet wird er von dem Kapitän des Baumschiffts, Het Matsteen, dem Dichter Martin Silenus, Pater Lenar Hoyt, dem Philosophen Sol Weintraub und seiner rückwärts alternden Tochter Rachel, dem legendären Ex-FORCE:Weltraum-Oberst Fedmahn Kassad und der Privatdetektivin Brawne Lamia. Um sich während der Reise einander besser kennenzulernen und um herauszufinden, warum jeder einzelne von ihnen für diese Pilgerreise ausgewählt worden ist, erzählen sie nach einer ausgelosten Reihenfolge ihre jeweiligen Geschichten. So erzählt Pater Lenar Hoyt, wie sein Mentor Paul Duré durch das Tragen der Kruziform zur Unsterblichkeit verdammt wurde und er selbst die Kruziform annahm. 
Der palästinensische Oberst Kassad berichtet anschließend, wie er während einer Kriegssimulation von einer geheimnisvollen Frau gerettet wurde, mit der er immer wieder an verschiedenen Kriegsschauplätzen zusammenkam, die ihm aber erst in der Stadt der Dichter auf Hyperion ihren Namen verriet: Moneta, bevor sie für immer aus seinem Leben verschwand. Der trinkfreudige Dichter Martin Silenus erzählt von seinem Erfolg, den er mit seinem ersten Gedichtband „Die sterbende Erde“ feiern durfte, mit seinen „Gesängen“ aber kläglich unterging und sich dann in seelenlosen Fortsetzungen seines Bestsellers aufrieb, bevor das Shrike zu seiner Muse wurde. 
Da der Tempelritter Het Masteen während der Reise spurlos verschwindet und nur seine blutgetränkte Kammer zurücklässt, ist Sol Weintraub an der Reise, seine Geschichte zu erzählen, die ganz im Zeichen eines beunruhigenden Traumes steht, in dem eine donnernde Stimme den Gelehrten dazu auffordert, seine einzige Tochter Rachel nach Hyperion zu bringen und sie dem Shrike als Brandopfer darzubringen. 
Nachdem die Privatdetektivin Brawne Lamie von ihrem Auftrag erzählt, den Mörder ihres Klienten, des Cybrids John Keats, ausfindig zu machen, lässt der Konsul seine Erinnerungen an seine geliebte Siri Revue passieren, die während seiner Reisen durch die Welten der Hegemonie auf ihrem Heimatplaneten Maui-Covenant rasch alterte. Mit dem Zusammenfügen der einzelnen Erzählungen ergibt sich ein Gesamtbild der Geschichte von Hyperion, dessen Schicksal in den Gesängen des Dichters vorherbestimmt zu sein scheint. 
„,Hyperion‘ war das erste ernste Werk, das ich seit vielen Jahren in Angriff genommen hatte, und es war das beste, das ich je schreiben würde. Was als komisch-ernste Hommage an den Geist von John Keats begonnen hatte, wurde zu meinem letzten Grund zu leben, eine epische tour de force in einer Zeit der mittelmäßigen Farce. ,Hyperionische Gesänge‘ wurde mit einem Geschick geschrieben, wie ich es nie hätte aufbringen können, einer Meisterschaft, derer ich nie fähig gewesen wäre, und es wurde mit einer Stimme gesungen, die nicht meine eigene war. Das Dahinscheiden der Menschheit war mein Thema. Das Shrike war meine Muse.“ (S. 280) 
Mit seinem 1989 veröffentlichten Science-Fiction-Werk „Hyperion“, das zwei Jahre später auch auf Deutsch erschien, löste sich der US-amerikanische Schriftsteller Dan Simmons aus der Schublade eines Horror-Autors („Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“) und etablierte sich als ernst zu nehmender Autor genreübergreifender Literatur, wobei sein erster Ausflug in die Science-Fiction gleich mit einem Hugo Award und einem Locus Award belohnt wurde. Dabei besticht „Hyperion“ als vielschichtige Space Opera mit verschiedenen Themenschwerpunkten, die durch die Erzählungen der Teilnehmer an der Pilgerreise nach Hyperion an Gestalt gewinnen. 
Jede dieser Geschichten böte das Potential für einen eigenständigen Roman, aber in dem straffen Substrat eröffnen sich verschiedenste Aspekte des Lebens in einer Ära, in der die Alte Erde längst der Vergangenheit angehört und Menschen, KIs und Cybride die hunderte Welten der Hegemonie bevölkern. So ergibt sich ein schillerndes Panorama aus Krieg, Glaube, Zeitreisen, Liebe und Verrat, das nur durch eine sehr rudimentäre Rahmenhandlung zusammengehalten wird, aber neugierig macht auf die Fortsetzung „Das Ende von Hyperion“, die Simmons kurz darauf folgen ließ.


Robert Bloch – „Ich küsse deinen Schatten“

Mittwoch, 16. Dezember 2020

(Diogenes, 296 S., Tb.) 
Bevor Robert Bloch 1947 mit „The Scarf“ („Der Schal“) seinen ersten Roman veröffentlichte, machte er sich bereits als produktiver Autor von Kurzgeschichten einen Namen, wobei er seine erste Story bereits 1930 im zarten Alter von 13 Jahren (!) veröffentlichte, 1939 kam er sogar auf 20 Geschichten. Kein Wunder also, dass der hierzulande vor allem durch die Romanvorlage für Alfred Hitchcocks Klassiker „Psycho“ bekannte Schriftsteller im Laufe seiner Karriere etliche Kurzgeschichten-Sammlungen publizierte, von denen zum Glück auch einige hierzulande erschienen sind, darunter die im Original 1960 veröffentlichte Sammlung „Pleasant Dreams, Nightmares“, die 1989 von Diogenes unter dem Titel „Ich küsse deinen Schatten“ für den deutschsprachigen Raum herausgebracht worden ist. 
In vierzehn Geschichten beweist der 1994 verstorbene Bloch, dass er zu den vielseitigsten Horror-Autoren seiner Zeit zählte. So erzählt er in der Auftaktstory „Zucker für die Süße“, warum eine Haushälterin die Stellung bei dem Bruder des Rechtsanwalts Sam Steever aufgegeben hat, nämlich weil ihr die achtjährige Irma, für die sie letztlich das Kindermädchen sein sollte, wie eine Hexe erschien, die aber auch von dem Vater des Kindes misshandelt wurde. Als sich der Rechtsanwalt selbst ein Bild von der Situation im Haus seines Bruders machen will, erscheint ihm Irma wie eine hübsche Puppe, doch ist sie tatsächlich alles andere als das … 
Eine schöne Geschichte über das alte Hollywood der Stummfilmzeit präsentiert sich mit „Die Traumfabrikanten“. Ein Reporter des „Filmdom“-Magazins soll eine Story über große alte Filmschauspieler abliefern. Dazu besucht er den einstmals großen Stummfilmregisseur Jeffrey Franklin, der allerdings nach seinem letzten Flop aus dem Jahre 1929, als der Tonfilm aufkam, keinen Film mehr gedreht hatte. Zusammen mit anderen Filmemachern und Schauspielern beschloss er vor gut einem Vierteljahrhundert, Hollywood den Rücken zu kehren, während andere, die nicht diese Weitsicht hatten, im Hollywood des Tonfilms unter die Räder kamen. Schließlich reift in dem Reporter die Idee, ein Drehbuch über die noch jung gebliebenen Altstars zu schreiben und Franklin die Regie führen zu lassen. Doch der Filmemacher agiert nach einem eigenen Drehbuch. 
In „Der Zauberlehrling“ erzählt ein buckliger Junge namens Hugo, wie er, nachdem er aus einem Heim geflohen war, von dem großen Zauberer Sadini als Assistent eingestellt wurde. Als Hugo allerdings feststellt, dass seine schöne Frau Isabel eine Affäre mit dem Möchtegern-Zauberer George Wallace unterhält, geraten die Dinge außer Kontrolle. 
Bloch hat nicht nur Geschichten, die auf dem „Cthulhu“-Mythos von H.P. Lovecraft basieren, geschrieben, sondern hat mit „Der Leuchtturm“ auch die letzte – unvollendete – Geschichte von Edgar Allan Poe zu Ende geschrieben. Es ist das am 1. Januar 1796 begonnene Journal eines Leuchtturmwärters, der nach elf einsamen Tagen feststellen muss, dass sich etwas ihm Unbekanntes verändert hat, und einer Frau begegnet, die geradezu seinen Träumen entsprungen zu sein scheint. 
„Ihr Fleisch war wirklich – kalt wie die eisigen Wasser, aus denen sie kam, aber greifbar und dauerhaft. Ich dachte an den Sturm, an zertrümmerte Schiffe und ertrinkende Menschen, ein ins Wasser geworfenes Mädchen, das sich schwimmend in Richtung Leuchtfeuer kämpfte. Ich dachte an tausend Erklärungen, tausend Wunder, tausend Rätsel und Gründe außerhalb aller Vernunft. Aber nur eine Sache zählte – meine Gefährtin war da, und ich musste einen Schritt vorwärts machen und sie in meine Arme nehmen.“ (S. 197) 
„Das hungrige Haus“ erzählt von einem Paar, das sich ein Haus gekauft hat und schließlich alle Spiegel auf den Dachboden verbannen, weil sie unabhängig voneinander in ihnen Angst einflößende Erscheinungen wahrnehmen, die der tragischen Geschichte des Hauses geschuldet sind, doch der im Bellman-Haus umtriebige Geist findet andere Wege, seinen Hunger nach Blut zu stillen … 
Robert Bloch (1917-1934) hat mit „Ich küsse deinen Schatten“ ein faszinierendes Zeugnis seiner Erzählkunst abgelegt. Ob Blutsauger, böse Geister, Vampire oder Hexen – Bloch findet stets einen interessanten Weg, das Grauen aus alltäglichen Situationen glaubwürdig auferstehen zu lassen und seine Geschichten mit wunderbaren, schwarzhumorigen oder auch schockstarrenden Pointen zu versehen.


John Katzenbach – „Der Bruder“

Donnerstag, 10. Dezember 2020

(Droemer, 623 S., Pb.) 
Kurz vor ihrem Abschluss erhält die junge Architekturstudentin Sloane Connolly einen handschriftlichen Brief von ihrer Mutter, zu der sie seit Monaten keinen Kontakt mehr hatte. „Vergiss nicht, was dein Name bedeutet. Es tut mir so leid.“ Dieser eine Satz reicht aus, um Sloanes vorherigen Gefühle für ihre Mutter – viel Wut und ein Rest von Liebe – einer umfassenden Beunruhigung Platz weichen zu lassen, doch jeglicher Versuch, Kontakt zu ihr aufzunehmen, scheitert. Sloane gibt eine Vermisstenanzeige auf, die Polizei findet in der absolut aufgeräumten Wohnung von Maeve O’Connor aber nur ein offensichtlich für Sloane gedachtes Präsent. Wenig später finden die Cops den Wagen von Sloanes Mutter sowie ihre Schuhe in der Nähe eines Wanderweges zum Ufer des Connecticut Rivers, in dem Taucher schließlich auch eine Jacke finden, die Maeve hätte gehören können, doch von ihr selbst fehlt jede Spur.
Als Sloane schließlich das Päckchen, das ihre Mutter hinterließ, öffnet, findet sie einen .45er Colt Halbautomatik darin vor und einen weiteren Hinweis, mit dem ihre Mutter Sloane auffordert, alles zu verkaufen, mit der Waffe lernen umzugehen und sofort wegzulaufen. Doch das erweist sich als schwierig. Zum einen will sich ihr betrügerischer Ex-Freund Roger nicht mit der Trennung abfinden und scheut auch vor Gewalt nicht zurück, um Sloane zurückzugewinnen. 
Und dann erhält Sloane über den gut situierten Anwalt Patrick Tempter einen außergewöhnlichen Auftrag: Im Namen des anonymen Auftraggebers, den der Anwalt vertritt, soll Sloane ein Denkmal für sechs Personen entwerfen, die eine besondere Rolle in seinem Leben gespielt haben. Der Auftraggeber erweist sich dabei als äußerst spendabel, lässt ihr ein schickes Büro einrichten, ein fettes Spesenkonto und Honorar springen. Doch Sloane stellt bei ihren Recherchen zu den sechs Personen, die sie in ihrem Denkmal verewigen soll, schnell fest, dass sie allesamt eines unnatürlichen Todes gestorben sind. 
 „Sie hatte eine Menge in Erfahrung gebracht, nur dass sich die Informationen nicht zu einem stimmigen Bild zusammenfügten, geschweige denn, einen gemeinsamen Nenner erkennen ließen, die Grundlage für ein Denkmal. Was das alles für den Auftraggeber bedeutete, blieb ihr vorerst schleierhaft.“ (S. 224) 
Je mehr sich Sloane mit ihrem Projekt auseinandersetzt, desto deutlicher wird ihr bewusst, dass ihre spurlos verschwundene, offensichtlich tote Mutter ebenfalls eine Rolle bei diesem geheimnisvollen Auftrag spielen muss … 
Der ehemalige Gerichtsreporter John Katzenbach hat mit Psycho-Thrillern wie „Die Anstalt“, „Der Patient“ und „Der Psychiater“ eindrucksvoll bewiesen, dass er außergewöhnliche Plots mit sorgfältig charakterisierten Figuren, sukzessivem Spannungsaufbau und raffinierten Wendungen zu kreieren versteht. Auch sein neues Werk „Der Bruder“ fasziniert mit einer mehr als ungewöhnlichen Ausgangssituation, die allerdings auch schon eine Schwäche in Bezug auf die Glaubwürdigkeit der Story offenbart. Lässt man sich als Leser aber erst einmal auf das Szenario ein, dass Katzenbachs sympathische Protagonistin sich gleichzeitig nicht nur gegen einen Stalker zur Wehr setzen und das Verschwinden ihrer Mutter verarbeiten muss, sondern es auch noch mit einem geheimnisvollen Auftraggeber zu tun bekommt, der ihr den Grundstein für eine beispiellose Karriere anbietet, wird man mit einer interessanten Schnitzeljagd belohnt, bei der die angehende Architektin nach und nach herausfindet, dass die sechs Personen, die durch ihr Denkmal geehrt werden sollen, nicht eines natürlichen Todes verschieden sind. 
Geschickt verwebt der Autor immer wieder Sloanes Ermittlungen mit den Querelen, die sie mit ihrem aufdringlichen Ex-Lover Roger hat, und den Kontakten zu ihrem Auftraggeber, die ausschließlich über dessen Anwalt laufen. Durch Katzenbachs detailreiche Schilderungen kommen dabei schon einige Längen auf, doch gipfelt der Plot in einem außergewöhnlichen Finale, das Psycho-Thriller-Fans begeistern dürfte.