David Baldacci – (Atlee Pine: 2) „Abgetaucht“

Freitag, 31. Juli 2020

(Heyne, 528 S., HC)
Atlee Pine war sechs Jahre alt, als eines Nachts ein Mann in das Kinderschlafzimmer kam, ihr den Schädel zertrümmerte und ihre Zwillingsschwester Mercy entführte. Ihre Eltern, die – so die Polizeiberichte von damals – im unteren Teil des Hauses mit Freunden eine Party mit Alkohol und Drogen feierten, haben den Schock nicht überwunden und sich getrennt. Während sich Atlees Vater an ihrem 19. Geburtstag erschossen hat, ist ihre Mutter spurlos verschwunden. Es ist sicher diesen Umständen zu verdanken, dass Atlee, die wie durch ein Wunder den Schädelbruch überlebt hat, zum FBI ging und schließlich auf eigenen Wunsch die einsam gelegene FBI-Außenstelle in Shattered Rock am Grand Canyon übernahm, wo sie von der tüchtigen Assistentin Carol Blum unterstützt wird. Die Suche nach Mercy und ihrer Mutter hat Atlee nie aufgegeben.
Zuletzt hat sie den mehrmals lebenslänglich verurteilten Serienmörder Daniel James Tor im Hochsicherheitsgefängnis ADX Florence besucht, der damals zumindest in der Nähe bereits einen Mord verübt hatte, der Atlee aber auch nach dem dritten Besuch keine konkreten Hinweise zur Bestätigung ihres Verdachts liefern mag. Auf dem Rückweg in ihrem 1967er Ford Mustang Cabrio geht Atlee einer Vermisstenmeldung nach und kann den flüchtigen Fahrer mit dem entführten Mädchen stellen, geht dabei aber so brutal zu Werke, dass ihr Chef Clint Dobbs sie erst einmal in den Urlaub schickt, den Atlee nutzen will, um an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren.
Carol Blum begleitet sie auf der Reise in die Kleinstadt Andersonville, Georgia, die vor allem vom Interesse der Touristen an der Nachstellung des Bürgerkriegs lebt. Atlee stattet ihrem heruntergekommenen Elternhaus einen Besuch ab, in dem der Gelegenheitsarbeiter Cy Tanner mit seinem nierenkranken Hund lebt. Doch die FBI-Agentin hat gerade erst begonnen, die Bekannten ihrer Eltern zu ermitteln, als die mit einem Brautschleier verzierte Leiche einer Frau gefunden wird. Die als Hanna Rebane identifizierte Tote ist wegen Drogenmissbrauch und Prostitution aktenkundig gewesen, stammt aber nicht aus der Gegend. Als auch noch ein Schwarzer und ein Junge unter ähnlich rituell anmutenden Umständen tot aufgefunden werden, scheinen es Pine, ihr früherer FBI-Kollege Eddie Laredo und GBI-Detective Max Wallis mit einem Serienmörder zu tun zu haben. Währenddessen macht Atlee vor allem mit den wohlhabend Ehepaar Myron und Britte Pringle sowie Jerry Lineberry Bekanntschaft, die früher enge Freunde ihre Eltern gewesen sind. Je mehr sich Atlee Pine, Carol Blum und die Agenten von GBI und FBI mit den jüngsten Morden beschäftigen, desto mehr scheint sich eine Verbindung zu dem Schicksal von Atlee Pines Familie herauszukristallisieren …
„In der Erinnerung sah sie den Finger des Entführers, der zuerst ihr, dann Mercy auf die Stirn getippt hatte, als er den Abzählreim aufgesagt hatte. Immer wieder, im Rhythmus des Verses. Dann hatte die Faust sie an der Schläfe getroffen, vielleicht mehr als einmal. Sie wusste es nicht, konnte es nicht wissen, weil sie schon beim ersten Schlag das Bewusstsein verloren hatte.
Ich muss die Verliererin gewesen sein. Ich, nicht Mercy. Bei Mercy hat der Reim geendet. Mich wollte er umbringen. Er muss davon ausgegangen sein, dass ich tot bin. Aber warum hat er Mercy mitgenommen?“ (S. 361) 
Nach dem „Memory Man“ Amos Decker und Militärpolizeiermittler John Puller, deren Fälle ebenfalls bei Heyne verlegt werden, hat Bestseller-Autor David Baldacci mit der FBI-Agentin Atlee Pine die vielleicht interessanteste Figur seiner langen Karriere kreiert. Atlee Pines tragisches Schicksal mit der eigenen schweren Verletzung, dem Verschwinden sowohl ihrer Zwillingsschwester Mercy als auch ihrer Mutter hat sie zu einer ebenso einzelgängerischen wie taffen FBI-Agentin gemacht, die die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen aber bislang nicht so effizient einsetzen konnte, dass daraus konkrete Hinweise auf ihren Verbleib resultieren würden.
Auch in seinem zweiten Atlee-Pine-Roman „Abgetaucht“ verbindet Baldacci geschickt die Suche seiner sympathischen Protagonistin nach der Auflösung der Geschehnisse vor über dreißig Jahren mit neuen Fällen. Der Autor erweist sich dabei als routinierter Dramaturg, der von Beginn an Spannung zu erzeugen versteht, verschiedene Figuren sorgfältig einführt und nach und nach mehrere Fährten legt, die zur Aufklärung der Vermissten- und Mordfälle führen könnten. Vor allem Atlee Pine gewinnt durch ihre ganz persönliche Reise in die Vergangenheit an Kontur, wobei sie von ihrer cleveren Assistentin Carol auf fast mütterliche Weise begleitet und unterstützt wird. Gerade im letzten Viertel zieht Baldacci das Tempo mächtig an, bringt ordentlich Action ins Spiel und überrascht mit einigen Wendungen, die genügend Fragen offen lassen, dass die Fortsetzung dieser hochkarätigen Thriller-Reihe garantiert ist.
Leseprobe David Baldacci - "Abgetaucht"

John Iriving – „Witwe für ein Jahr“

Montag, 27. Juli 2020

(Diogenes, 762 S., Tb.)
Im Alter von vier Jahren wird Ruth Cole eines Nachts Zeugin davon, wie der der sechzehnjährige Eddie O’Hare ihre Mutter von hinten besteigt. Es ist für alle Beteiligten ein merkwürdiger Sommer im Jahr 1958. Der berühmte Kinderbuchautor Ted Cole und seine Frau Marion haben sich schon vor dem Tod ihrer beiden Jungen Timothy und Thomas auseinandergelebt, die Opfer der Tatsache geworden sind, dass ihre Eltern sich mal wieder gestritten und betrunken haben, so dass sie den Wagen fahren mussten, der schließlich in einen tödlichen Unfall verwickelt wurde. Während sich die schöne Marion zunehmend in sich selbst zurückzog, nutzte Ted seine Kunstfertigkeit als Illustrator dazu, Mütter zu verführen, die er zunächst mit ihren Kindern portraitierte, dann allein und schließlich als Akt zeichnete und sie verführte. Um in der bevorstehenden Scheidung von Marion das Sorgerecht für Ruthie zu bekommen, engagierte er vorgeblich als Assistenten für sich selbst, im Grunde aber als Liebhaber für Marion.
Sein Plan geht auf. Eddie verliebt sich in die viel ältere Frau, die wenig später ohne ein Wort des Abschieds verschwindet – mit all den Bildern ihrer Söhne, die das Haus geschmückt haben. Eddie bleibt nach Marions spurlosem Verschwinden untröstlich und fortan auf ältere Frauen fixiert, ohne je die tiefen Gefühle entwickeln zu können, die ihn mit Marion verbunden haben. Aber er wird ebenso wie Ruth Cole Schriftsteller, längst nicht so erfolgreich wie sie, aber er kommt in den Genuss, Ruth Cole bei einer ihrer Autorenlesungen vorzustellen und sie so im Frühjahr 1990 endlich wiederzusehen. Doch die Freude des Wiedersehens währt nur kurz, denn Ruth stellt ihr neues Buch auch in Europa vor. Mit ihrem Lektor Allan, der sie unbedingt heiraten möchte, hat sie noch nicht mal geschlafen, was für ihre beste Freundin, die fast schon promiskuitive Journalistin Hannah, absolut unverständlich bleibt.
In Amsterdam ist Ruth nicht nur von einem jungen Holländer fasziniert, der sie verehrt, sondern lässt sich für die Recherchen zu ihrem neuen Buch auch dazu überreden, hinter einem Vorhang versteckt eine Prostituierte dabei zu beobachten, wie sie einen Freier bedient. Doch der Freier entpuppt sich als Mörder der rothaarigen Rooie und entkommt zunächst unentdeckt. Die anonymen Hinweise, die Ruth dem Polizisten Harry Hoekstra zukommen lässt, führen Jahre später zu dessen Ergreifung, doch Harry ist vielmehr an der Zeugin als an dem Täter interessiert und macht sich auf die Suche nach ihr. Ruth kehrt nach ihrer Lesereise in Europa wieder nach Hause zurück, heiratet Allan und bekommt mit ihm einen Sohn. Doch das Leben hält noch etliche Überraschungen für sie bereit …
„Eines Tages würde sie keine junge Mutter mehr sein, und dann würde sie wieder schreiben. Bisher hatte sie erst rund hundert Seiten von ,Mein letzter schlimmer Freund‘ zu Papier gebracht. Noch war sie nicht bis zur Szenen gekommen, in der der Freund die Schriftstellerin dazu überredet, eine Prostituierte zu bezahlen, um sie mit einem Freier beobachten zu dürfen. Ruth arbeitete noch darauf hin. Auch diese Szene wartete auf sie.“ (S. 585) 
Mit seinem neunten, 1998 veröffentlichten und ein Jahr darauf auch auf Deutsch veröffentlichten Roman „Witwe für ein Jahr“ hat der US-amerikanische Bestseller-Autor John Irving („Garp und wie er die Welt sah“, „Das Hotel New Hampshire“) ein Epos kreiert, das die Lebensgeschichte der Cole-Familienmitglieder Ted, Marion und Ruth sowie Eddie O’Hare über fast vier Jahrzehnte abdeckt und ihre vielschichtigen Liebesbeziehungen beschreibt, die vor allem von der Sehnsucht nach dem Verlorenen geprägt sind.
Ted Cole scheint sich in seinen unzähligen Affären mit jüngeren Frauen in eine glücklichere Zeit zurückzuversetzen, als seine Söhne noch lebten, während Marion ihre Liebe für ihre Söhne gänzlich verbraucht hat und in dem sechzehnjährigen Eddie einen kurzzeitigen Ersatz für diesen Verlust findet. Ruth wiederum arbeitet den Tod ihrer Brüder, die sie nie kennengelernt hat, die sie aber durch die allgegenwärtigen Fotos zuhause ihr Leben lang begleitet haben, in ihren autobiografisch gefärbten Büchern auf, in denen Väter und Mütter keine Rolle spielen, dafür aber Beziehungen mit schlimmen Freunden. Eddie sehnt sich nur nach Marion zurück.
Irving erweist sich als humorvoller und detailfreudiger Beobachter, der auch weniger liebenswerten Figuren wie Ted und Marion Cole und sowie Hannah sympathische Züge zu verleihen versteht. Es ist aber vor allem das Verhältnis zur Sexualität, das Irving in „Witwe für ein Jahr“ (dessen Titel auf eine verärgerte und natürlich verwitwete Leserin zurückgeht) thematisiert. Das beginnt mit der lustvoll beschriebenen Eröffnungsszene und setzt sich über die zahllosen Affären von Ruth‘ Vater und ihrer Freundin Hannah ebenso fort wie in Ruth‘ eigenen eher verklemmten Beziehungen, in denen Sex eher etwas ist, das hinter sich gebracht werden sollte und dann teilweise auch mit schlimmen Erfahrungen enden.
Irvings Kunstfertigkeit besteht einmal mehr darin, ganze Lebensgeschichten nicht nur unterhaltsam zu erzählen, sondern die Figuren, selbst wenn sie nicht immer überzeugend ausgestaltet sind, in ihren spannenden Verwicklungen untereinander zu begleiten. „Witwe für ein Jahr“ unterhält durch seinen meist charmanten Humor, seine ebenso lebensnahen wie skurrilen Figuren, die interessanterweise durch ihren jeweils persönlichen Werdegang allesamt zu Schriftstellern werden. So ist dieses wieder mal über 700 Seiten lange Epos ein vielschichtiger Entwicklungs- und Gesellschaftsroman, der eindringlich aufzeigt, wie früheste Beziehungen und Entscheidungen den Lebensweg eines Menschen prägen.

Leseprobe John Irving - "Witwe für ein Jahr"

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 5) „Die falsche Fährte“

Samstag, 18. Juli 2020

(Zsolnay, 494 S., HC)
Hauptkommissar Kurt Wallander verabschiedet mit einer Rede den bisherigen Polizeipräsidenten Björk, der in Malmö seine neue Anstellung als Chef des Ausländerkommissariats der Provinzverwaltung antritt, und würde dabei am liebsten seiner Besorgnis um die geplanten Kürzungen und Umstrukturierungen bei der Polizei Ausdruck verleihen, doch letztlich freut er sich viel zu sehr auf seinen bevorstehenden, dringend benötigten Urlaub in ein paar Wochen. Doch als er einem merkwürdigen Anruf nachgeht, der von einem Hof in der Nähe von Marvinsholm erfolgte und auf eine sonderbar auftretende Frau in einem Rapsfeld hinwies, wird Wallander Zeuge, wie sich das Mädchen vor ihm plötzlich mit Benzin übergießt und sich selbst verbrennt. Einen Hinweis auf die Identität des Mädchens gibt nur ein Madonnenbild mit den Initialen D.M.S.
Bevor sich Wallander jedoch eingehender mit dem traurigen Schicksal des Mädchens beschäftigen kann, wird er mit einem Fall konfrontiert, der seine Urlaubsplanung mit seiner in Riga lebenden Freundin Baiba ernsthaft gefährdet. Am Strand bei Sandskogen wird die Leiche des ehemaligen Justizministers Gustaf Wetterstedt gefunden. Sei unter einem umgekehrten Boot in der Nähe seines Hauses sichergestellter Körper weist tödlich durchtrenntes Rückgrat und eine Kopfwunde, die darauf hinweist, dass dem Toten die Haare von Schädel gerissen wurden. Ein Motiv lässt sich zunächst nicht erkennen. Erst als Wallander den ehemaligen, alkoholsüchtigen „Expressen“-Journalisten Lars Magnusson aufsucht, bekommen die vagen Gerüchte um Wetterstedt mehr Kontur.
Offensichtlich hegte Wetterstedt eine Vorliebe für junge Mädchen, die er sich regelmäßig von seinen Assistenten kommen ließ und die er auch misshandelte, doch eine gegen ihn gerichtete Anzeige wurde schließlich zurückgezogen. Auf diesen ersten ritualistisch anmutenden Mord folgen schließlich weitere: Der wohlhabende Kunsthändler Arne Carlman wird auf dem von ihm ausgerichteten Mittsommerfest auf seinem Hof ebenso bestialisch ermordet. Als Berührungspunkt zwischen den beiden Opfern offenbart sich ein Gefängnisaufenthalt Carlmans Ende der 1960er Jahre, als Wetterstedt Justizminister gewesen war und die beiden sich nach Carlmans Freilassung getroffen hatten. Doch diese beiden grauenerregenden Fälle stellen nur den Anfang einer Reihe von weiteren Morden dar, die an einem kleinen Hehler und einem Finanzmagnaten verübt werden. Nun fällt es Wallanders Leuten auch in Zusammenarbeit mit den Leuten in Malmö immer schwerer, Zusammenhänge zwischen den Opfern zu erkennen.
Währenddessen meldet Interpol, dass es sich bei dem Mädchen, das sich vor Wallanders Augen im Rapsfeld verbrannt hat, um Dolores Maria Santana aus der Dominikanischen Republik handelt, die über Madrid nach Schweden eingeschleust worden ist, um wahrscheinlich als Prostituierte auf den Strich geschickt zu werden …
„Er stellte sich die trostlose Frage, was das eigentlich für eine Welt war, in der er lebte. In der junge Menschen sich selbst verbrannten oder auf andere Art und Weise versuchten, sich das Leben zu nehmen. Er kam zu dem Ergebnis, dass sie mitten in einer Epoche lebten, die man die Zeit des Scheiterns nennen konnte. Sie hatten an etwas geglaubt und es aufgebaut, doch es erwies sich als weniger haltbar, als sie erwartet hatten. Sie hatten gemeint, ein Haus zu bauen, während sie in Wirklichkeit mit der Errichtung eines Denkmals beschäftigt waren für etwas, das bereits vergangen und fast vergessen war.“ (S. 262) 
Obwohl es ein wunderschöner Sommer im schwedischen Schonen ist, kommt Kriminalhauptkommissar Kurt Wallander überhaupt nicht dazu, ihn zu genießen. Stattdessen wird er mit ungeheuerlichen Verbrechen konfrontiert, die ihm schmerzlich vor Augen führen, wohin die einst hehren Träume von einer besseren Welt verschwunden und einer zunehmend brutaleren, von egoistischen Interessen nach Macht und Reichtum geprägten Zeit gewichen sind. Der fünfte Band in der Reihe um Kurt Wallander des 2015 verstorbenen schwedischen Bestseller-Autoren Henning Mankell erweist sich als bis dahin bester, atmosphärisch dichtester und auch bedrückendster Roman. Das Geschehen schildert er sowohl aus der Ermittler-Perspektive als auch des namentlich nicht genannten und somit lange Zeit für den Leser unbekannten Täters, aber von Beginn an liegt das Missbrauchsthema in der Luft, das sich mit dem Selbstmord des Mädchens vor Wallanders Augen zunächst nur andeutet, mit den Gerüchten um die Vorlieben der brutal getöteten Männer aber zunehmend offensichtlicher wird. Dieses Missbrauchsthema hängt Mankell zwar vor allem an der Zwangsprostitution und dem Menschenhandel auf, doch bettet er diese beklagenswerten Zustände in eine umfassendere pessimistische Weltsicht ein, in der die ausgebildeten Polizisten immer weniger Befugnisse haben, moralische Verwerfungen und kriminelle Handlungen nicht mehr in der angebrachten Schärfe geahndet werden und Korruption und Machtmissbrauch an der Tagesordnung stehen.
Mankell widmet aber auch seinem Protagonisten viel Raum zur Entwicklung. So steht ihm nicht nur seine erwachsen gewordene Tochter Linda näher, die sich klarzuwerden versucht, was sie aus ihrem Leben machen will, auch sein an Demenz erkrankter Vater, der mit seinem Sohn einmal nach Italien reisen will, und die noch nicht klar definierte Fernbeziehung zu Baiba beschäftigen Wallander so stark, dass er gar nicht merkt, dass er selbst zur Zielscheibe des Axtmörders werden könnte.
Mankell erweist sich als Meister des gesellschaftskritischen Krimis und findet in der Beschreibung der furchterregenden Morde und der beängstigenden Zustände der schwedischen Gesellschaft stets die richtigen Worte, um den Leser zu fesseln.
Leseprobe Henning Mankell - "Die falsche Fährte"

Robert Bloch – „Der Schal“

Mittwoch, 8. Juli 2020

(Diogenes, 224 S., Tb.)
Im Alter von achtzehn Jahren machte Daniel Morley in seinem letzten Schuljahr eine traumatische Erfahrung. Seine achtunddreißigjährige Englischlehrerin Miss Frazer empfand nämlich mehr als nur fürsorgliche Zuneigung zu dem jungen Mann, lud ihn zu sich nach Hause ein und wollte ihn unter Alkoholeinfluss verführen, nachdem sie ihm einen gelben Schal als Abschiedsgeschenk gemacht hatte. Doch als sich Daniel nicht auf diese Art von Beziehung einlassen wollte, nutzte Miss Frazer den benommenen Zustand ihres Zöglings aus, fesselte ihn mit dem Schal und setzte ihrem Leben durch Gas ein Ende. Über Jahre hinweg hasste Daniel sowohl Bücher als auch Frauen, doch den gelben Schal behielt er.
Jahre später versucht Daniel, als Schriftsteller Fuß zu fassen. In Minneapolis lernt er Rena kennen, deren Mann im Gefängnis sitzt und die über genügend Geld verfügt, Daniel auszuhalten, doch als sie ihn dazu drängt, mit ihr zusammenzuziehen, erwürgt er sie mit dem gelben Schal und verlässt spurlos die Stadt. In Chicago nistet er sich in einem schäbigen Hotelzimmer ein und lernt als Taxifahrer das freiberufliche Model Hazel Hurley kennen, die ihn mit der Werbeagentur Bascomb, Collins & Co. bekannt macht. Die erweist sich schließlich als Sprungbrett für Daniel Morley Schriftsteller-Karriere, denn über seinen Arbeitskollegen Lou King macht er die Bekanntschaft mit dem Agenten Phil Teffner, der sich begeistert von Daniels Manuskript zeigt.
Als Daniel auch von Hazel genervt ist, entwickelt er erneut einen Plan, die Frau an seiner Seite loszuwerden. Doch je erfolgreicher Daniel wird, desto mehr lernt er Leute wie den Psychoanalytiker Jeff Ruppert kennen, die zu ahnen beginnen, welch dunklen Geheimnisse der Bestseller-Autor verbirgt …
„Mich als verrückt zu bezeichnen, genügt nicht. Niemand macht sich die Mühe nachzuzählen, ob ich alle Tassen im Schrank habe. Sie glauben alle, ich sei in Ordnung. Und außerdem um einiges schlauer als die meisten anderen.
Genau. Das muss es sein. Ich bin schlauer. Ich kenne mehr Methoden und ich wende mehr Methoden an. Warum, zum Teufel, gebe ich mich mit Erklärungen ab, sogar mir selbst gegenüber? Der einzige Unterschied zwischen mir und den übrigen besteht darin, dass ich schlauer bin. Ich weiß, wie ich das erreiche, was ich will, und wie ich ungestraft davonkomme.“ (S. 161) 
Die Geschichte von Daniel Morley in Robert Blochs Debütroman „Der Schal“ aus dem Jahr 1947 liest sich wie die Lebensgeschichte des Autors selbst. Zwar veröffentlichte Bloch bereits früh Geschichten in dem Horror-Magazin „Weird Tales“ und in dem Science-Fiction-Magazin „Amazing Stories“ zu veröffentlichen, verdiente sich seinen Lebensunterhalt aber wie sein Ich-Erzähler Daniel Morley in einer Werbeagentur, bevor er mit wachsendem Erfolg sich ganz auf das Schreiben von Romanen und Kurzgeschichten konzentrieren konnte.
Mit „Der Schal“ widmet sich Bloch eines seiner frühen Lieblingsthemen, nämlich des Serienkillers. Sein Interesse an Jack the Ripper mündete immer wieder in Romanen und Geschichten, aber auch Marquis de Sade und Lizzie Borden haben es Bloch angetan. In „Der Schal“ schildert Bloch aus der Perspektive des erfolgreich werdenden Schriftstellers Daniel Morley das Psychogramm eines raffinierten Serienmörders. Dabei dient ihm im letzten Drittel des Buches vor allem die Figur des Psychoanalytikers Jeff Ruppert, um die mögliche Motivation und psychische Disposition des Täters abzuleiten.
„Der Schal“ fällt zwar nur leidlich spannend aus, doch der kurze Debüt-Roman demonstriert eindrucksvoll, wie akkurat sich Bloch mit der Psyche seiner Protagonisten aussetzt, auch wenn die Analyse sehr konstruiert wirkt. Das machte letztlich Alfred Hitchcock darauf aufmerksam, Blochs späteren Roman „Psycho“ zu verfilmen, was sowohl für den Autor als auch den Filmemacher zu einem Riesenerfolg wurde und einen entscheidenden Karriereschub bewirkte.

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 22) „Blues in New Iberia“

Samstag, 4. Juli 2020

(Pendragon, 586 S., Pb.)
Sucht man nach eindrücklichen Beispielen für Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten, wird man auch im New Iberia Parish in der Gestalt von Desmond Cormier fündig. Er wuchs als indianischer Mischling bei seinen Großeltern im Chitimacha Indianerreservat in Armut auf, nachdem ihn seine Mutter in der Schlafkoje eines Sattelschleppers entbunden hatte und dabei verstorben war, mochte sein vorherbestimmtes Leben aber nicht akzeptieren. So stählte er seit seinem 12. Lebensjahr seinen Körper, ging nach der Highschool bei einem Straßenmaler auf dem Jackson Square in die Lehre und verwirklichte in Hollywood seinen Traum, Filmregisseur zu werden.
25 Jahre später kehrt Cormier mit einer Golden-Globe- und einer Oscar-Nominierung in seine Heimat zurück und lässt sich in einem Haus auf Stelzen am Cypremort Point nieder, an dessen südlichen Ende Detective Dave Robicheaux und sein erst seit sieben Monaten bei der Polizei arbeitende Kollege Sean McClain drei frühmorgendlichen Notrufen wegen einer um Hilfe schreienden Frau nachgehen. Am Strand finden sie jedoch nur einen einzelnen Tennisschuh, Größe 40. Als sie Cormier einen Besuch abstatten und durch sein Fernrohr die Bucht absuchen, entdeckt Robicheaux eine auf einem Kreuz angenagelte und festgebundene junge Schwarze, die auf ritualistisch anmutende Weise ermordet worden ist und als Lucinda Arcenaux identifiziert wird.
Doch das ist erst der Anfang einer ganzen Reihe von Morden, die einem ähnlichen Muster folgen und bei denen auch Tarot-Karten in die Inszenierung eingebunden werden. So wird Joe Molinari wird in einem Schuppen gefesselt und mit einem durch seine Brust gestoßenen angespitzten Gehstock wie der Gehängte auf der Tarot-Karte aufgefunden, der Informant Travis Lebeau wird gefoltert und mit dem Auto zu Tode geschleift. Robicheaux und sein langjähriger Freund Clete Purcell, mit dem er einst in New Orleans in der Mordkommission zusammengearbeitet hatte und der nun als Privatdetektiv arbeitet, haben sofort Cormier und sein merkwürdiges Gefolge, vor allem den Produzenten Lou Wexler und den undurchsichtigen Antoine Butterworth, in Verdacht.
Schließlich hat die Ermordete bei einer Catering-Firma gearbeitet, die Filmsets beliefert. Doch die Ermittlungen werden durch mehrere Komponenten erschwert: Robicheaux‘ Adoptivtochter Alafair, die nach ihrer juristischen Ausbildung an der Reed und Stanford University zunächst als Bezirksstaatsanwältin in Portland, Oregon gearbeitet hatte, schreibt mittlerweile Romane und Drehbücher und begleitet Cormier und seine Crew bei seinen derzeitigen Aufnahmen zu einem Film, der aus allerlei fragwürdigen Quellen, von Russen, Arabern und der Mafia, finanziert wird.
Mit im Spiel sind auch der entflohene Häftling Hugo Tillinger, der für die Morde an seiner Frau und Tochter eingesessen hat, die er bestreitet, begangen zu haben und durch Lucinda Arcenaux, die ihn vor seinem Ausbruch im Gefängnis besucht hatte, die Hoffnung hatte, dass ihm Leute aus Hollywood helfen könnten, begnadigt zu werden. Und schließlich mischt auch noch ein kleingewachsener Killer namens Smiley Wimple mit, der systematisch bösen Menschen das Licht ausknipst. Als wäre das noch nicht genug, verliebt sich Dave Robicheaux auch noch in seine viel jüngere neue Partnerin Bailey Ribbons, die nicht nur Kontakt zu den Filmleuten sucht, sondern auch ein dunkles Geheimnis aus ihrer Vergangenheit mit sich herumträgt …
„Ich versuchte, all die wahllosen Informationsbrocken zusammenzusetzen, aus denen sich ein mögliches Motiv oder Muster für die Morde an Lucinda Arceneaux, Joe Molinari, Travis Lebeau, Axel Devereaux und Hilary Bienville ergab. Jeder einzelne war auf seine Art rituell. Vielleicht spielten das Tarot und das Malteserkreuz eine Rolle. Genau wie Grausamkeit und Wut. Doch sobald ich einen Mord mit einem zweiten oder dritten in Verbindung setzte, fiel mein logisches Gebäude wieder auseinander.“ (S. 332) 
Es gibt wohl kaum einen anderen Autor, der die besondere Atmosphäre in den Südstaaten so eindringlich zu beschreiben versteht, wie der 1936 in Houston, Texas, geborene teilweise in New Iberia, Louisiana, lebende Schriftsteller James Lee Burke. Aus seiner populären und von der Kritik gefeierten Reihe um den Südstaaten-Cop Dave Robicheaux, die 1987 mit dem Roman „Neonregen“ ihren Anfang nahm, wurden bereits „Heaven’s Prisoners“ (als „Mississippi Delta“ mit Alec Baldwin und Kelly Lynch in den Hauptrollen) und „In the Electric Mist“ (mit Tommy Lee Jones in der Hauptrolle) verfilmt. „Blues in New Iberia“ stellt nicht nur den bereits 22. Band der Reihe, sondern fraglos einen ihrer Höhepunkte dar. Von Ermüdungserscheinungen, nervigen Wiederholungen, einfallslosen Plots oder schwachen Charakterisierungen ist bei diesem epischen Krimi-Drama mit Hollywood-Touch nichts zu spüren. Stattdessen drehen Dave Robicheaux und sein bester Kumpel Clete Purcel wieder groß auf. Allerdings befinden sich die beiden charismatischen Protagonisten mit ihrem jeweils sehr eigenen Rechtsempfinden sehr lange im Strudel schwer zu deutender Ereignisse und undurchsichtiger Personen und Liebschaften.
Burke erweist sich einmal mehr als Meister der feinen Charakterisierungen, wie sie sein kriegs- und berufserfahrener Ich-Erzähler Dave Robicheaux vornimmt.
„Blues in New Iberia“ bezieht seine dramaturgisch sorgfältig und dicht inszenierte Spannung aus dem schwer entwirrbaren Netz ritualistisch anmutender Mordfälle, verschrobenen Hollywood-Leuten und ihren anrüchigen Finanziers sowie den schwierigen persönlichen Beziehungen, die sein Protagonist mit den unterschiedlichsten Frauen - seien es eine Blues-Sängerin, seine junge Kollegin oder seine eigene Tochter – unterhält. Dabei webt er die einzigartige Geschichte der Südstaaten ebenso in den vielschichtigen Plot ein wie John Fords Klassiker „Faustrecht der Prärie“.
Leseprobe James Lee Burke - "Blues in New Iberia"