Bret Easton Ellis – „The Shards“

Dienstag, 31. Januar 2023

(Kiepenheuer & Witsch, 736 S., HC) 
Der 1964 in Los Angeles geborene Bret Easton Ellis hat zwar schon im zarten Alter von 21 Jahren seinen ersten Roman „Unter Null“ veröffentlicht, aber selbst nach dem Erfolg seiner nachfolgenden, jeweils ebenfalls erfolgreich verfilmten Romane „Einfach unwiderstehlich“ und „American Psycho“ keine Veranlassung gesehen, seinen Output zu forcieren. 
So ist sein neuer Roman „The Shards“ (dt. „Die Scherben“) erst sein siebter Roman in fast vierzig Jahren, sein erster in dreizehn Jahren nach „Imperial Bedrooms“ (sein Sachbuch „Weiß“ aus dem Jahr 2019 nicht mitgezählt). Dabei bleibt sich Ellis seinem Lieblingsthema treu, der expliziten Schilderung ausschweifender Drogen- und Sex-Eskapaden verwöhnter Teenager und Hedonisten, wobei die hier scheinbar autobiografischen Ereignisse vor der Zeit von „Unter Null“ angesiedelt sind. Wie Ellis in seinem ausführlichen Vorwort erklärt, haben ihn die Geschehnisse im Jahr 1981 immer wieder beschäftigt, doch auch wieder so traumatisiert, dass er erst jetzt, mit 58 Jahren, darüber schreiben kann. Schließlich geht es um nicht weniger als die Begegnung mit einem „Trawler“ benannten Serienmörder, der das San Fernando Valley im Spätfrühling des Jahres 1980 heimzusuchen begann und Ellis‘ Oberstufenklasse in der exklusiven Buckley Prep School im folgenden Jahr direkt betreffen sollte… 
Mit siebzehn Jahren steht Bret Ellis kurz vor dem Schul-Abschluss und genießt seine sturmfreie Bude am Mulholland Drive, während sich seine Eltern auf einer ausgedehnten Europa-Reise befinden. Bret ist mit Debbie liiert, der einzigen Tochter des erfolgreichen Filmproduzenten Terry Schaffer, der ebenso wie Bret mehr oder weniger schwul ist und Bret anbietet, mit ihm sein Drehbuch durchzugehen, an dem er arbeitet. Natürlich läuft alles auf Sex in einer Hotelsuite hinaus. 
Bret ist noch zu naiv, um das Spiel der Reichen, Schönen und Mächtigen gänzlich zu durchschauen, und hält die Beziehung mit Debbie eher als Tarnung aufrecht. Denn eigentlich ist Bret auf Typen wie den Football-Star Thom Wright scharf, der seit zwei Jahren mit der Buckley-Schönheitskönigin Susan Reynolds zusammen ist, aber auch Matt Kellner und Ryan Vaughn haben es ihm angetan. 
Doch als mit Robert Mallory ein neuer Schüler an der Buckley auftaucht, nehmen die Dinge einen unheilvollen Verlauf. Bret erfährt, dass Robert in einer psychiatrischen Anstalt gewesen ist, und ist fest davon überzeugt, ihn bereits vor einiger Zeit in einer Kinovorstellung von Stanley Kubricks „Shining“ gesehen zu haben, was der ebenso charismatische wie zwielichtige Robert kategorisch abstreitet. Roberts Auftauchen an der Buckley fällt mit den Morden an drei jungen Frauen zusammen, die monatelang vermisst und erst nach Hinweisen eines anonymen Anrufers an abgelegenen Orten gefunden worden waren. 
Im Zusammenhang mit den Ermittlungen wurde bekannt, dass der Täter zuvor Einbrüche verübte, Möbel umstellte und die dort lebenden Haustiere entwendete, verstümmelte und die Leichen der Mädchen damit „dekorierte“. Bret bekommt immer mehr das Gefühl, dass Robert etwas mit den Vorfällen zu tun habe, und macht sich Sorgen um seinen Kumpel Matt, der immer mehr Zeit mit dem Neuen verbringt… 
„So gingen Trickbetrüger vor: Robert hatte in Bezug auf das Village Theater gelogen, wodurch ich mich unmittelbar zu ihm hingezogen gefühlt hatte, es war eine Art Verführung. Und wenn ich zwangsläufig in seine Machenschaften hineingezogen wurde, wenn selbst mir das passierte – dem wachsamen, aufmerksamen Autor, der nun wusste, wozu Robert Mallory fähig war -, wie würde es dann erst dem unbedarften, ahnungslosen, verwundbaren Matt Kellner ergehen?“ 
Der Autor tritt in „The Shards“ als 17-jähriger Ich-Erzähler auf und verortet sich in der fast erwachsenen Clique der Reichen und Schönen rund um Hollywood, wo man mit dem BMW, Jaguar, Mercedes 450 SL oder Porsche zur Schule fährt, sich mit Antidepressiva, Kokain und anderen Drogen zudröhnen, in der Gegend herumfahren, Partys feiern und hemmungslosen Sex haben, alles untermalt mit dem Soundtrack der 1980er Jahre, wobei Ultravox‘ „Vienna“ und „Icehouse“ von Icehouse eine Schlüsselrolle für das emotionale Befinden der Hipster in Los Angeles einnehmen. So richtig viel passiert eigentlich nicht auf den über 700 Seiten. 
Ellis beschreibt eher die bedrohliche Stimmung, die eine besondere „Erzählung“ ergibt, immer wieder beißt sich der Protagonist an seiner Vorstellung fest, dass Robert Mallory für die Morde an den drei jungen Frauen verantwortlich gewesen sei. Aber eine obskure Sekte treibt ja auch noch ihr Unwesen in der Gegend. Das führt zu manchmal nervig langen Dialogen, die nur aus den vorgebrachten Vorwürfen und deren wiederholter Leugnung bestehen. 
Auf der anderen Seite erweist sich Ellis als begnadeter Beobachter, der in einfacher Sprache teils drastische, schonungslos brutale Handlungen beschreibt, und die unablässig eingestreute Erwähnung der Songs, die zu dieser und jener Gelegenheit zu hören sind, verstärken den filmischen Charakter der Erzählung. 
Allzu ernst sollte man den proklamierten Wahrheitsgehalt von „The Shards“ nicht nehmen, doch Ellis-Fans werden an diesem von Paranoia, unverschämtem Luxus, hemmungslosen Drogenkonsum und wilden Sex- und Gewalt-Phantasien geprägten Drama ihre Freude haben. 

Daniel Silva – (Gabriel Allon: 20) „Der Geheimbund“

Dienstag, 24. Januar 2023

(HarperCollins, 446 S., Tb.) 
Als ehemaliger Top-Journalist des renommierten US-amerikanischen Fernsehsenders CNN und langjähriger Auslandskorrespondent im Nahen Osten, Ägypten und am Persischen Golf weiß Bestseller-Autor Daniel Silva um die geopolitische Lage in der Welt. Als er mit seinem vierten, 2000 veröffentlichten Roman „The Kill Artist“ (dt. „Der Auftraggeber“) die Figur des israelischen Top-Agenten Gabriel Allon einführte, durfte er noch nicht geahnt haben, dass er neben James Bond, Jack Reacher, Alex Cross und Jason Bourne eine der langlebigsten Reihen ins Leben gerufen hat. 
Mit „Der Geheimbund“ legt Silva bereits den 20. Band seiner Reihe um Allon vor, der mittlerweile zum Direktor des israelischen Geheimdienstes aufgestiegen ist. Ermüdungserscheinungen zeigt die Reihe nach wie vor nicht. 
Erzbischof Luigi Donati, Privatsekretär von Papst Paul VII., ist wie nahezu jeden Donnerstagabend bei seiner langjährigen Freundin und ehemaligen Geliebten, Dr. Veronica Marchese, Direktorin des Museo Nazionale Etrusco, zum Abendessen zu Besuch, als ihn kurz vor Mitternacht der Anruf von Kardinal Domenico Albanese erreicht, dass der offensichtlich herzkranke Papst verstorben sei. Albanese habe ihn kurz nach 22 Uhr tot in der Kapelle aufgefunden. 
Die Umstände seines Todes sind Donati allerdings nicht ganz geheuer, weshalb er seinen langjährigen Freund Gabriel Allon informiert, der zufälligerweise mit seiner Frau Chiara und den beiden Kindern gerade Urlaub bei seiner Schwiegermutter in Venedig macht. Da die Beerdigung für den kommenden Dienstag und das Konklave mit der Wahl und Ernennung des neuen Papstes zehn Tage später erfolgen soll, bleiben Donati und Allon allerdings nicht viel Zeit, um die rätselhaften Umstände des Todes von Papst Paul VII. aufzuklären. Zunächst machen sie sich auf die Suche nach dem Schweizergardisten Niklaus Janson, der an diesem Abend für die Sicherheit des Papstes zuständig war und nun spurlos verschwunden ist. 
Allon kann Janson zwar mit Hilfe der Cyberkrieger der Mossad-Einheit 8200 ausfindig machen, doch wird der junge Mann vor seinen Augen erschossen. Und dann ist da noch der verschwundene Brief, den der Papst an seinen alten Freund Allon verfasst hat. 
„Das päpstliche Handschreiben betraf ein Buch, das Seine Heiligkeit im Vatikanischen Geheimarchiv entdeckt hatte. Ein Buch, das angeblich auf den Memoiren des römischen Statthalters in Judäa basierte, der Jesus zum Tod am Kreuz verurteilt hatte. Ein Buch, das der Schilderung von Jesu Tod in den kanonischen Evangelien widersprach, die das Fundament zu einem oft mörderischen Antisemitismus gelegt hatte, der seit nunmehr zweitausend Jahren grassierte.“ (S. 251) 
Wie Allon bald feststellt, setzt der reaktionäre katholische Helenenorden alle Hebel in Bewegung, dieses Buch, das eine ganz neue Sicht auf die Kreuzigung Jesu Christi werfen würde, zu vernichten, den nächsten Pontifex Maximus aus den eigenen Reihen wählen zu lassen und Westeuropa ins Dunkel seiner faschistischen Vergangenheit zurückzuführen. Die Pläne des Ordens zu durchkreuzen gestaltet sich jedoch schwierig, denn die hochrangigen Mitglieder sind bestens vernetzt, absolut skrupellos und verfügen über immense Ressourcen… 
Dan Brown hat es mit seiner mittlerweile auch erfolgreich von Ron Howard verfilmten Romanreihe um den Symbologen Robert Langdon vorgemacht und die geheimnisvollen und manchmal auch dunkleren Seiten der katholischen Kirche thematisiert und eine furiose Schnitzeljagd auf äußerst spekulative, aber hochspannende Weise inszeniert. Ähnlich temporeich geht auch Daniel Silva im 20. Band um den langsam in die Jahre gekommenen israelischen Geheimdienstchef und Hobby-Restaurator Gabriel Allon zu Werke. So wie Allon kommt auch der Leser kaum zur Ruhe, wenn der Mossad-Chef von Jerusalem über Venedig, Rom und Florenz nach Freiburg, in die Schweiz, nach Bayern und wieder zurück nach Italien hetzt, um den Spuren zu dem ominösen Buch und den Drahtziehern des Helenenordens zu folgen. 
Bei so vielen beteiligten Figuren bleibt natürlich kein Raum für differenzierte Charakterisierungen. Dafür nutzt Silva die anstehende Papstwahl in seinem Thriller und die problematische Vergangenheit der katholischen Kirche, um die aktuelle Sorge vor zunehmend rechtsgerichteten, populistischen Staatsoberhäuptern zu thematisieren. 
Vor allem im ausführlichen Nachwort beschreibt der Autor die historischen Zusammenhänge zwischen einer realen, in der Schweiz gegründeten reaktionären Priesterbruderschaft und dem Umgang der katholischen Kirche mit den Juden und ihrer systematischen Verfolgung. All das hat Silva leicht verständlich in einen packenden Plot gegossen, der kurzweilige Thriller-Unterhaltung bietet – aber – trotz des höchst aktuellen Themas - auch nicht viel mehr. 

 

Robert Bloch – „Ein mysteriöser Tod“

Donnerstag, 19. Januar 2023

(Kurt Desch, 157 S., Tb.) 
Robert Bloch (1917-1994) ist zwar vor allem als Autor der Romanvorlage von Alfred Hitchcocks Spannungs-Klassiker „Psycho“ (1960) weltberühmt geworden, hat während seiner langjährigen Karriere als Schriftsteller aber auch Science Fiction, Horror und Krimis sowie Drehbücher zu Fernsehserien und Hollywood-Filmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Totentanz der Vampire“ und „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ verfasst. In seinem 1958 veröffentlichten Roman „Shooting Star“, der erstmals 1968 in der Reihe „Die Mitternachtsbücher“ im Verlag Kurt Desch als „Ein mysteriöser Tod“ und dann 2009 bei Rotbuch unter seinem Originaltitel veröffentlicht wurde, ist Hollywood der Schauplatz mehrerer Verbrechen. 
Einst hatte Mark Clayburn ein gutgehendes Büro am Strip, wo er als Literaturagent tätig war. Mittlerweile gehen die Geschäfte längst nicht mehr sehr gut. Nun unterhält er ein schäbiges Büro in der Olive Street, nachdem er ein Auge, seine Klienten, Angestellten und den größten Teil seiner Ersparnisse verloren hatte, und bestreitet seinen Lebensunterhalt u.a. als Notar und Privatdetektiv. 
Vor einem halben Jahr wurde der Schauspieler Dick Ryan ermordet in seinem Wohnwagen aufgefunden wird, doch die Polizei konnte den Mord bislang nicht aufklären. Nun engagiert der Hollywood-Agent Harry Bannock den Detektiv, um die wahren Hintergründe seines Todes ans Licht zu bringen und ihn so möglicherweise zu rehabilitieren. Bannock hat die Rechte an der Western-Serie „Lucky Larry“ von dem unabhängigen Produzenten Abe Kolmar aufgekauft, doch droht Bannocks lukrativer Deal mit der Produktionsfirma See More mit Wiederholung der 39 bislang gedrehten Folgen und der möglichen Fortsetzung der Serie nach dem Skandal um Ryans Drogenkonsum zu platzen. 
Nach den bisherigen Ermittlungen der Polizei bekam Ryan am fraglichen Abend in seinem auf der Ranch von Kolmar abgestellten Wohnwagen Besuch von seinen Filmpartnern Polly Foster, Tom Trent und Estrellita Juarez, nachdem Ryan seinen Chauffeur und Kammerdiener Joe Dean gefeuert hatte. Doch kaum beginnt Clayburn mit eigenen Ermittlungen, erhalten sowohl Bannock als auch er selbst anonyme Warnungen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, doch Bannock ermuntert Clayburn, den Auftrag wie abgesprochen weiterzuverfolgen. Schließlich würde das von Bannock in Aussicht gestellte Honorar in Höhe von elftausend Dollar dafür sorgen, dass sich Clayburn wieder eine Existenz aufbauen könnte. 
Als der Detektiv die Beteiligten der tödlichen Privatparty in Ryans Wohnwagen zu befragen beginnt, fällt mit Trent der nächste von Kolmars Zugpferden dem Mörder zum Opfer, und der Druck auf Clayburn nimmt zu… 
„Er war hier gewesen. Er hatte in meinem Stuhl gesessen, in meiner Wohnung; er hatte Marihuana geraucht. Er hatte mir eine weitere Warnung zukommen lassen; und wenn ich sie nicht beherzigte, kam er vielleicht zurück. Nur würde er sich dann nicht mehr mit einer Warnung begnügen. Von Rauschgift wird man blau. Es war ein verrücktes Risiko gewesen, einen Stummel wie diesen zurückzulassen. Aber vielleicht war er eben verrückt.“ (S. 35) 
Zwar ist Robert Blochs Protagonist Mark Clayburn weit von dem Typus des Hardboiled-Detektivs entfernt, wie ihn Raymond Chandler mit Philip Marlowe, Dashiell Hammett mit Sam Spade oder Robert B. Parker mit Spenser etabliert haben, da er moralisch weit integrer erscheint, sich nicht auf zwielichtige Verhältnisse mit schönen Frauen einlässt und Drogen meidet, aber deren Hartnäckigkeit teilt er zweifellos. Bloch schrieb „Shooting Star“, bevor er selbst in Hollywood ein gefragter Drehbuchautor wurde und aus dem ländlichen Wisconsin in die Filmmetropole zog, doch beweist er hier schon ein gutes Gespür für die Gesetzmäßigkeiten und die Atmosphäre in Hollywood. 
Geschickt fügt Bloch durch die Gespräche, die Clayburn mit den Zeugen und Verdächtigen führt, Puzzleteil für Puzzleteil zusammen und lässt sich auch von weiteren Morden nicht von seiner Mission abbringen, die Wahrheit herauszufinden, die sich natürlich erst auf den letzten Seiten in einer gelungenen Auflösung offenbart. „Ein mysteriöser Tod“ bietet ebenso schnörkellose wie kurzweilige Krimi-Spannung mit einem sympathischen Protagonisten, einigen wunderbar undurchschaubaren Typen und dem für Robert Bloch typischen Humor. 


 

Jo Nesbø – (Harry Hole: 1) – „Der Fledermausmann“

Dienstag, 17. Januar 2023

(Ullstein, 416 S., Tb.) 
Der 1960 in Oslo geborene Jo Nesbø hatte bereits eine Karriere als Makler, Journalist und Sänger/Komponist der Pop-Band Di Derre hinter sich, als er 1997 seinen ersten Roman und damit den Start einer bis heute erfolgreichen Krimi-Reihe um den alkoholkranken Polizisten Harry Hole vorlegte. Der von ihm durch übermäßigen Alkoholkonsum verursachte Autounfall, bei dem sein Kollege auf dem Beifahrersitz getötet und ein junger Mann ab dem Hals abwärts gelähmt wurde, verfolgt Harry Hole bis heute. Statt ihn zu suspendieren, haben seine Vorgesetzten den Vorfall jedoch unter den Teppich gekehrt, indem sie den getöteten Beifahrer zum Fahrer erklärten, so dass Hole nach außen hin unbeschadet aus der Sache herauskam. 
Nun wird er nach Sydney geschickt, um bei den Ermittlungen zum Mord an der 23-jährigen norwegischen Staatsbürgerin Inger Holter zu assistieren, die nahezu nackt in der Nähe eines Parks aufgefunden wurde, nachdem man sie vergewaltigt und dann erwürgt hatte. Er wird dem Aborigine Andrew Kensington zugeteilt, mit dem er zunächst die Bar „The Albury“ aufsucht, in der das Mordopfer gearbeitet hatte. 
Offenbar hat Ingers Chef wohl vergeblich versucht, bei ihr zu landen. In einem Brief, die sie einer gewissen Elisabeth schreiben wollte, den man in ihrer Wohnung sichergestellt hat, schwärmt sie von einem 32-jährigen Evans und von der Möglichkeit, in einer norwegischen Serie mitzuspielen. Schließlich nimmt Kensington seinen norwegischen Partner mit in den Zirkus, wo ein Gerichtsprozess präsentiert wird, bei der ein Clown, der Ludwig XVI. darstellen soll, zum Tode verurteilt und durch eine Guillotine enthauptet wird. 
So lernt Hole, der in Australien Holy genannt wird, den homosexuellen Clown-Darsteller Otto Rechtnagel, dann den Aborigine Toowoomba kennen, der für Andrew fast wie ein Sohn ist. Doch als Hole allmählich einen Überblick über die Lebensumstände sowohl des Mordopfers als auch seines australischen Partners zu bekommen beginnt, werden weitere blonde Frauen aufgefunden, die auf eine ähnliche Weise zu Tode gekommen sind wie Inger Holter. 
Tatsächlich werden drei weitere Vergewaltigungen in unterschiedlichen Teilen des Landes in weniger als zwei Monaten entdeckt, bei denen die Opfer blond waren und gewürgt wurden, die aber nie den Täter beschreiben konnten. Um den möglichen Serienmörder zu fassen, scheut Hole nicht davor zurück, seine blonde Freundin Birgitta als Lockvogel einzusetzen… 
„Vorsichtig versuchte er, seine eigenen Gefühle auszuloten. Vorsichtig, weil er sich nicht erlauben konnte, sich ihnen hinzugeben. Noch nicht, jetzt noch nicht. Zuerst die guten Gefühle. Nur ganz wenig. Er wusste nicht, ob sie ihn stärker oder schwächer machen würden. Birgittas Gesicht zwischen seinen Händen, die Reste eines Lachens, das noch in ihren Augen lag. Dann die schlechten Gefühle. Sie waren es, die er noch für eine Weile aus seinem Leben verdammen musste, aber er versuchte, ihnen nachzuspüren, wie um sich einen Eindruck von ihrer Kraft zu verschaffen.“ 
Jo Nesbø findet einen ungewöhnlichen Weg, seinen Protagonisten Harry Hole einzuführen, nämlich fern seiner norwegischen Heimat. In der australischen Metropole Sydney ist er von Polizeichef Neil McCormack eigentlich zum Zuschauen verdammt, während sein ihm zugeteilter ortsansässiger Kollege Andrew Kensington ihn souverän mit den scheinbar richtigen Leuten aus dem Umfeld der ermordeten norwegischen jungen Frau bekannt macht. Dabei nutzt Nesbø die ausführlichen Gespräche zwischen Hole und dem Aborigine, um sowohl den Hintergrund des alkoholkranken Norwegers einzuführen als auch eine Geschichtslektion über das Verhältnis zwischen der australischen Ureinwohner und ihrer englischen Besatzer zu erteilen. 
Man merkt, dass Nesbø seine Hausaufgaben gemacht hat und sich bemüht, seine Figuren sorgfältig einzuführen, ohne zu viel preiszugeben. Für das Verständnis von Holes Charakter scheint hier der tragische, von ihm verursachte Autounfall und seine Jugendliebe Kristin von Bedeutung zu sein, für Kensington die Art und Weise, wie er sich als Aborigine einen Platz in der weißen Gesellschaft erkämpft hat. 
Die Ermittlungsarbeit droht dabei schon fast zum Nebenschauplatz zu werden. Nesbø hat in seinem Romandebüt noch nicht das ideale Tempo gefunden, um die Dramaturgie der Geschichte stimmig voranzutreiben, aber ein vielversprechender Anfang ist auf jeden Fall gemacht.  

Garry Disher – „Stunde der Flut“

Samstag, 14. Januar 2023

(Unionsverlag, 334 S., HC) 
Der 1949 geborene Garry Disher zählt seit seinen ersten, zu Beginn der 1980er Jahre veröffentlichten Büchern zu den vielseitigsten australischen Schriftstellern. Obwohl er auch Sachbücher (über australische Geschichte und die Kunst des Schreibens) und Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, ist er vor allem ein gefeierter Krimi-Autor verschiedener Reihen (Wyatt, Inspector Challis, Constable Hirschhausen) sowie einiger Stand-alone-Werke, zu denen auch sein neues, wieder von Peter Torberg souverän übersetztes Buch „Stunde der Flut“ zählt. 
Charlie Deravin hat erst 1999 die Polizeiakademie abgeschlossen und muss im Januar 2000 mitansehen, wie die Erinnerungen an seine Kindheit verschwinden. Seine Eltern stehen vor der Scheidung, Charlies Vater, Detective Sergeant in Menlo Beach auf der Peninsula, wird wohl das Haus verkaufen müssen, aber mit Fay hat sein Vater bereits eine neue Freundin am Start. 
Hier in der Tidepool Street kauften Charlies Dad und seine Kumpel und Kollegen in den späten Siebzigern günstig Ferienhäuser und Wochenenddomizile, die sie zu Familienheimen umwandelten, doch lange hielten die Frauen das alkoholgeschwängerte Machogehabe ihrer Männer nicht aus. Charlies Mutter Rose, eine Lehrerin, hat am längsten durchgehalten. Nun lebt sie in einer abgewrackten Hütte im Außenbezirk mit einem, wie Charlie und sein Bruder Liam finden, unpassenden Untermieter namens Shane Lambert, dessen Sachen die beiden Brüder schnell zusammenpacken, bevor sie ihn vor die Tür setzen. Als Charlie zurück in Swanage ist, wird er mit einem Vermisstenfall betraut. Der neunjährige Billy Saul ist während eines Aufenthalts seiner Grundschulklasse im Jugendlager spurlos verschwunden, wenig später wird der Wagen von Charlies Mutter leer aufgefunden, mit Blut am noch im Schloss steckenden Schlüssel und auf der Straße verstreuten Sachen aus ihrer Handtasche. Zwanzig Jahre später werden sowohl Billy Saul als auch Charlies Mutter immer noch vermisst. 
Charlie ist nach Tätlichkeiten gegen seinen Vorgesetzten vom Dienst suspendiert worden, lebt im Haus seiner alten Familie, ist seit zwei Jahren mit Anna Picard liiert, die er als Geschworene bei einem Prozess gegen einen beliebten Football-Spieler wegen Vergewaltigung kennengelernt hat, und hat bereits eine erwachsene Tochter namens Emma. Er nutzt seine freie Zeit, um privat weiter das Verschwinden seiner Mutter zu untersuchen. Sein ursprünglicher Verdacht, dass Shane Lambert sich an Charlies Mutter rächen wollte, weil er damals auf die Straße gesetzt worden ist, erhärtet sich nicht, da Lambert zum Zeitpunkt von Rose Deravins Verschwinden wegen Trunkenheit in Rosebud über Nacht eingesperrt war. Doch auch Charlies Vater hätte ein Motiv gehabt, Rose umzubringen, um das Haus nicht verkaufen zu müssen. Allerdings sind Charlie auch die ehemaligen Kollegen seines Vaters, vor allem der omnipräsente Mark Valente, verdächtig… 
„Charlie dachte all die Jahre zurück und suchte nach seinem Vater. Nach seinem veränderlichen, wechselhaften Vater. Ein liebenswürdiger – meist liebenswürdiger – Unruhestifter, wenn sie zu viert daheim waren. Ein Mann, der einen zum Lachen bringen konnte, der einen packte und kitzelte. Wenn er aber in Gesellschaft von Valente und seinen anderen Polizeikumpels war, ging Charlie auf, dann war er anders. Das Lächeln wirkte gezwungener; der Blick war wachsam. Nach einer Weile verging die Unruhestifterei völlig, er lernte eine andere Frau kennen, die Familie fiel auseinander, und seine Frau verschwand…“ (S. 251) 
Garry Disher nutzt die zwei Zeitebenen vor allem dazu, die Entwicklung der Strukturen zu beschreiben, die dazu führten, dass eine einst glückliche Polizistenfamilie auseinandergefallen ist. Gemächlich setzt der Autor aus der Perspektive seines Protagonisten aus Erinnerungen ein Bild zusammen, das von enttäuschten Erwartungen, mehr oder weniger latenten Verdächtigungen und zerbrochenen Träumen handelt, von den schwierigen Beziehungen zwischen sich entfremdeten Brüdern, aber auch von den unterschiedlichen Welten und Zeiten, die die Brüder von ihren Vätern trennen. 
Polternde Action wird man in „Stunde der Flut“ nicht finden. Disher ist eher – sieht man von seiner Wyatt-Reihe ab, die aber auch einen Kriminellen als Protagonisten aufweist – ein Autor der leisen Töne und des gemächlichen Erzählens. Er nimmt sich viel Zeit, um nach und nach die Beziehungen seiner Figuren zueinander, aber auch das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie sich bewegen, einzufangen. Das klingt wenig spektakulär, trifft aber immer wieder einen Nerv und bezieht auch aktuelle Entwicklungen wie den Beginn der Covid-Pandemie mit ein, die auch Charlies Vater während einer Kreuzfahrt nach Japan erwischt. 
Am beeindruckendsten ist Disher aber seine Hauptfigur gelungen, so dass man sich wünschen möge, dass der unerbittliche Ermittler Charlie Deravin noch einige weitere Fälle zu knacken bekommt. 

Joe R. Lansdale – „Moon Lake“

Sonntag, 8. Januar 2023

(Festa, 464 S., HC) 
Mit seinen bislang zehn hierzulande veröffentlichten Bänden seiner einzigartigen „Hap & Leonard“-Reihe und einer Reihe von u.a. mit dem Bram Stoker Award und Edgar Allan Poe Award preisgekrönten Büchern und Erzählungen („Die Wälder am Fluss“, „Ein feiner dunkler Riss“, „Blutiges Echo“) hat sich der texanische Autor Joe R. Lansdale in die Herzen auch der deutschen Krimi- und Horror-Liebhaber geschrieben. Nachdem seine Werke bislang hierzulande von Shayol, Suhrkamp, Rowohlt, Dumont, Golkonda, Tropen und Heyne verlegt worden sind, feiert Lansdale mit „Moon Lake“ seinen Einstand bei Festa, wo mittlerweile auch ehemals so populäre Schriftsteller wie Richard Laymon, Dean Koontz, Clive Barker und Joe Hill eine Heimat gefunden haben. 
Im Oktober 1968 machten sich der damals 14-jährige Daniel Russell und sein Vater vor dem Gerichtsvollzieher aus dem Staub und fuhren in einem klapprigen Buick zum Moon Lake. Zu diesem Zeitpunkt hatte Daniels Mutter die Familie schon vor Monaten verlassen. Als sie auf der Brücke am Moon Lake parkten, erzählte Daniels Vater, dass unter dem Moon Lake eine Stadt namens Long Lincoln läge, in der er geboren worden wäre und seine Frau kennengelernt hätte. Doch dann hätte irgendjemand entschieden, die Stadt zu verlegen, umzubenennen und die alte Stadt zu fluten. Daniel kannte die Geschichte schon, aber die Art und Weise, wie sein Vater sie am Ursprungsort wiedergab, machte dem Jungen Angst. Wenig später fuhr sein Vater den Wagen in den See. 
Der Junge konnte gerettet werden, von dem Wagen und Daniels Vater fehlte jedoch jede Spur. Daniel wurde bei zunächst bei den Candles, einer schwarzen Familie, untergebracht, bis seine Tante June wieder aus Europa zurückkam und den Jungen bei sich aufnahm. Zehn Jahre später kehrt Daniel Russell, der bereits ein Buch veröffentlicht und als Journalist bei einer Kleinstadtzeitung gearbeitet hat, zum Unglücksort zurück. Im Sommer 1978 hat die Dürre den Wasserpegel sinken lassen, so dass nicht nur der Wagen von Daniels Vater wieder aufgetaucht ist, sondern auch dessen Überreste sowie weitere körperliche Überreste im Kofferraum, die die Polizei zunächst Daniels verschwundener Mutter zuordnet. 
Daniel besucht mit Ronnie Candles, der gleichaltrigen schwarzen Polizistin, die ihn einst aus dem See gezogen hat, den Fundort, wo sie weitere Fahrzeuge und Knochenreste in den Kofferräumen vorfinden. Daniel erfährt durch Mrs. Candles und Nachforschungen in der örtlichen Bibliothek, dass offensichtlich der mächtige Stadtrat etwas mit der Flutung von Long Lincoln zu tun gehabt haben könnte, wobei wissentlich die meist schwarzen noch in ihren Häusern lebenden Bewohner ertränkt wurden. Doch der Stadtrat findet Mittel und Wege, Daniels Bemühungen zur Wahrheitsfindung auch mit Gewalt zu torpedieren… 
„Der Stadtrat, ein Club ritueller Mörder, hatte seine Existenz durch Vorstellungskraft und Gier transformiert. Es waren verschrobene Verfechter der freien Marktwirtschaft und des amerikanischen Traums. Die schlimmste Manifestation dieses Traums. Sie hatten sich selbst zu denjenigen ernannt, die die Suppe zubereiteten. Wir Restlichen wurden darin gekocht, während man uns einredete, dass uns lediglich warm sei, dass es einen Gott im Himmel gebe und die Welt in Ordnung sei, obwohl wir in Wahrheit nur existierten, damit wir mit der Suppenkelle in die Schüsseln unserer Meister gestoßen und von ihnen verspeist werden konnten.“ 
Als Texaner ist sich Joe R. Lansdale ähnlich wie seine Kollegen James Lee Burke, Larry Brown oder Tom Franklin sehr bewusst, dass der Rassismus mit dem Ende der Sklaverei längst nicht ausgerottet ist. Dass sich der Autor selbst wenig um die Trennung von Schwarz und Weiß schert, hat er bereits eindrucksvoll mit den humorvollen „Hap & Leonard“-Romanen bewiesen, in denen das titelgebende Duo aus einem heterosexuellen weißen Kriegsdienstverweigerer und einem schwulen schwarzen Vietnamveteran besteht. 
Eine ähnliche Konstellation findet sich bei „Moon Lake“. Der weiße Ich-Erzähler Daniel Russell freundet sich mit der gleichaltrigen Schwarzen Ronnie an, die ihn einst aus dem im Moon Lake versunkenen Buick seines Vaters gerettet hat und mit der er die mysteriösen Ereignisse rund um Long Lincoln und dem Moon Lake aufzuklären versucht. Lansdale driftet dabei gelegentlich in das ihm vertraute Horror-Genre ab, doch vor allem entlarvt er die Vorkommnisse in der Kleinstadt als Resultat der Gier der Stadtväter nach Macht und Reichtum, wobei sie sich schändlicher Rituale, Korruption und Betrug bedienen, um den Status Quo aufrechtzuerhalten. Lansdale fesselt seine Leserschaft mit einem flüssigen Schreibstil, einfühlsamen Charakterisierungen und bildhaften wie humorvollen Vergleichen, die man bereits in seinen früheren Werken zu schätzen gelernt hat. 
Auch wenn „Moon Lake“ nicht an so eindringliche Meisterwerke wie „Kahlschlag“, „Die Wälder am Fluss“ und „Dunkle Gewässer“ anknüpfen kann, ist Lansdale doch ein fesselnder Thriller gelungen, der einzig durch die Überzeichnung einiger Figuren wie Jack Sr., Jack Jr. und vor allem Flashlight Boy für leichte Misstöne sorgt.  

Stephen King – „Cujo“

Donnerstag, 5. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.) 
Schon früh in seiner schriftstellerischen Karriere hat Stephen King mit Castle Rock eine fiktive Kleinstadt geschaffen, in der viele seiner Geschichten angesiedelt sind, nach der Novelle „Die Leiche“ und dem Roman „Dead Zone – Das Attentat“ auch der 1981 veröffentlichte Roman „Cujo“, der in einer Zeit entstanden ist, als der Autor noch stark alkohol- und kokainsüchtig gewesen war und an die er sich eigenen Angaben zufolge kaum noch erinnern kann. Unter diesen Umständen ist mit ihm mit „Cujo“ ein unterhaltsamer und überwiegend sehr realistischer Horror-Thriller gelungen, der mit einem überschaubaren Ensemble und einer ebenso übersichtlichen Handlung auskommt. 
Wenn man in Castle Rock, Maine, von Ungeheuern spricht, ist damit der Polizist Frank Dodd gemeint, der in den 1970er Jahren sechs Frauen getötet und sich selbst gerichtet hatte, bevor ihn ein Mann namens John Smith identifizieren konnte. 1980 kommt das Grauen in Gestalt eines Bernhardiners in die Kleinstadt zurück. Der Werbefachmann Victor Trenton hat der New Yorker Werbeindustrie den Rücken gekehrt und sich mit seinem Kumpel Roger Breakstone selbstständig gemacht. Doch die Geschäfte von Ad Worx laufen schlecht, der größte Kunde, der Frühstücksflocken-Hersteller Sharp, droht abzuspringen, nachdem ein Farbstoff in den Himbeerflocken für unerwünschte, wenn auch ungefährliche Nebenwirkungen gesorgt hatte. 
Um den Sharp-Etat zu retten, fliegt Vic mit Roger für zehn Tage nach Boston und New York, allerdings kommt die Geschäftsreise mehr als ungelegen, da es um die Ehe von Vic und Donna nicht zum Besten steht. Tatsächlich hat Donna eine Affäre mit dem Dichter und Tennisspieler Steve Kamp beendet, der darüber so erbost ist, dass er Vic über die Affäre informiert. 
Donna fährt mit ihrem vierjährigen Son Tad den Ford Pinto derweil in die Werkstatt von Joe Camber am Rande der Stadt, wo sie das Nadelventil reparieren lassen will. Der Wagen hat es gerade noch bis in die Auffahrt geschafft, danach gibt der Motor kaum noch einen Ton von sich. Joe Camber trifft sie allerdings nicht an, und auch sonst niemanden. Seine Frau Charity ist mit dem gemeinsamen Sohn Brett zu ihrer Schwester Holly gefahren, Joe und sein Freund Gary wurden bereits von Cujo getötet. Der ansonsten liebenswürdige, aber ungeimpfte Bernhardiner wurde bei einer Kaninchenjagd von tollwütigen Fledermäusen gebissen und hat es nun auf die im Wagen eingesperrte FRAU und den JUNGEN abgesehen. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände sitzt Donna mit ihrem Sohn nun in der brüllenden Junihitze in einem defekten Wagen fest, und niemand scheint zu wissen, in welcher Notlage sie sich befinden… 
„Dass Vic für zehn Tage weggefahren war … damit hatte es angefangen. Dass Vic schon heute Morgen anrief, war Zufall Nummer zwei. Wenn er sie nicht erreicht hätte, wäre er gewiss besorgt gewesen und hätte es immer wieder versucht. Er hätte sich gefragt, wo sie sein könnten. Die Tatsache, dass alle drei Cambers nicht zu Hause waren und, wie es schien, über Nacht wegbleiben würden, war Zufall Nummer drei. Mutter, Sohn und Vater. Sie waren alle weg. Aber sie hatten den Hund zurückgelassen. Oh ha. Sie hatten… Plötzlich kam ihr ein grauenhafter Gedanke (…) Wenn sie nun alle tot in der Scheune lagen?“
Zwar beginnt „Cujo“ mit einem Albtraum, der den vierjährigen Tad nachts aufstehen lässt, weil er im Schrank ein Ungeheuer entdeckt zu haben glaubte, und auch wenn dieses Bild immer wieder im Laufe der Handlung neu aufgerollt wird, bleibt dies doch der einzige Verweis auf vage übernatürlich generiertes Grauen. 
Der eigentliche Horror spielt sich nämlich auf dem verlassenen Grundstück der Cambers ab, in dem verzweifelten Überlebenskampf von Donna Trenton und ihrem vierjährigen Sohn Tad, die keine Möglichkeit finden, aus dem liegengebliebenen Ford Pinto zu fliehen, ohne von dem tollwütigen Cujo angefallen zu werden. Um die recht profane Geschichte mit Leben zu füllen, nimmt sich King viel Zeit, die Familienprobleme der Trentons und der Cambers zu sezieren, wobei er ganz seine Stärke ausspielt, das einfache Leben von ganz gewöhnlichen Menschen zu beschreiben und so ein hohes Identifikationspotenzial bei seiner Leserschaft bereitzustellen. 
Was bei den Cambers vor allem wirtschaftliche Nöte sind, die durch einen Lotteriegewinn gerade etwas abgemildert werden und Charity die Reise zu ihrer Schwester ermöglichen, kommt bei den Trentons in Form einer Ehekrise und Affäre zum Ausdruck. King wechselt immer wieder geschickt die Erzählperspektive und damit auch den Ort des Geschehens, versucht auch gelegentlich, die Wahrnehmung des tollwütigen Hundes zu schildern, wenn er von den kleinsten Geräuschen und Gerüchen malträtiert wird und die im Wagen sitzende FRAU und den JUNGEN für sein Leid verantwortlich macht. So gelingt es King, mit einer recht simplen Geschichte, von Beginn an, einen dramaturgisch geschickt konstruierten Spannungsbogen aufzubauen, der sich in einem Finale entlädt, das durchaus überzeugender hätte gestaltet werden können. 
„Cujo“ ist zwar kein Meisterwerk aus der Feder des „King of Horror“, aber doch ein gemeiner, kleiner Reißer, der 1983 von Lewis Teague auch verfilmt worden ist. 

 

Stephen King – „Feuerkind“

Montag, 2. Januar 2023

(Bastei Lübbe, 479 S., Tb.) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Debütroman „Carrie“ hat sich Stephen King zu einem der meistgelesenen Autoren weltweit entwickelt und gilt bis heute als „King of Horror“, dessen Werke vielfach verfilmt worden sind, vor allem seine Frühwerke – von „Carrie“ und „Brennen muss Salem“ über „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Dead Zone – Das Attentat“ bis zu seinem 1980 veröffentlichten Roman „Firestarter“, der 1984 zunächst von Mark L. Lester mit Drew Barrymore in der Hauptrolle verfilmt wurde und 2022 eine Neuverfilmung erfuhr. 
Ähnlich wie schon in „Carrie“ und „Shining“ thematisiert King in „Feuerteufel“ die übersinnlichen Fähigkeiten eines Kindes. 
Weil er knapp bei Kasse war und die 200 angebotenen Dollar gut gebrauchen konnte, hat Andy McGee während seiner Studienzeit an einem von Dr. Wanless im Auftrag der Geheimdienstorganisation „Die Firma“ durchgeführten medizinischen Experiment teilgenommen, bei dem ihm und anderen Probanden ein Mittel namens Lot Sechs zugeführt worden ist, eine geheime Mischung aus einem Hypnotikum und einem milden Halluzinogenikum. 
Als Folge des Experiments brachten sich allerdings einige Teilnehmer um, seine Freundin Vicky Tomlinson entwickelte leichte Telekinese- und Telepathie-Fähigkeiten, während Andy selbst in die Lage kam, andere Menschen durch seine Gedanken zu beeinflussen. Weitaus stärker kamen die übernatürlichen Fähigkeiten allerdings bei ihrer Tochter Charlie zum Ausdruck, denn sie kann allein mit ihrem Willen Feuer entfachen, was „Die Firma“ näher erforschen möchte. Als sich die McGees allerdings dem Programm entziehen wollen, töten die Agenten Charlies Mutter und zwingen Andy und das Mädchen zur Flucht. Sie lassen sich mit einem Taxi zunächst von New York zum Flughafen nach Albany fahren und landen schließlich in Hastings Glen auf der abgelegen in den Wäldern liegenden Farm von Irv Manders und seiner Frau. 
Als die Agenten sie dort aufspüren, kommt es zu einer Katastrophe, bei der Charlie nicht nur die Hühner in Flammen aufgehen lässt, sondern auch einige Agenten der Firma sowie die Farm selbst. Andy und Charlie fliehen schließlich zur Hütte seines verstorbenen Vaters, wo sie allerdings nur für einen Winter Unterschlupf finden, bis sie von dem einäugigen indianischen Agenten John Rainbird gefasst ins Hauptquartier nach Longmont, Virginia, gebracht werden. 
Unter der Leitung von Captain Hollister werden Andy und Charlie getrennt untergebracht und auf ihre Fähigkeiten getestet. Bei Andy, an dem die Firma weniger interessiert ist, wird nur noch eine schwächer werdende Fähigkeit zur Gedankenkontrolle anderer Menschen festgestellt, so dass sich die Ärzte und Wissenschaftler sich bei ihm darauf beschränken, ihn mit Thorazin ruhigzustellen. Da sich Charly nach den Ereignissen auf der Farm dazu entschlossen hat, unter keinen Umständen mehr Feuer zu entfachen, entwickelt John Rainbird einen eigenen Plan, das Vertrauen des Mädchens zu gewinnen und sie dazu zu bringen, gegen Einforderung von Gefälligkeiten kontrollierte Feuer zu entfachen. Doch damit beginnt Charlie auch, ihre Optionen neu zu überdenken… 
„Die Tests hatten ihren Komplex hinsichtlich des Feuers so weit abgebaut, dass er nur noch einem an vielen Stellen geborstenen Erdwall glich. Die Tests hatten ihr die Praxis vermittelt, die nötig war, um aus einem groben Schmiedehammer ein Instrument zu machen, das sie mit tödlicher Präzision handhaben konnte wie ein Messerwerfer seine Messer. Und die Tests waren für sie ein perfekter Unterricht gewesen. Sie hatten ihr ohne den Hauch eines Zweifels gezeigt, wer hier das Sagen hatte. Sie.“ 
Stephen King hat schon in seinen früheren Romanen ein erstaunliches Talent entwickelt, Psi-Kräfte bei kindlichen und jugendlichen Protagonisten auf glaubwürdige Weise entwickeln zu lassen. In „Dead Zone – Das Attentat“ stürzte der sechsjährige Johnny Smith beim Schlittschuhlaufen und entwickelte daraufhin hellseherische Fähigkeiten, in „Carrie“ litt das titelgebende Mädchen unter dem religiösen Wahn ihrer alleinerziehenden Mutter und konnte mit Gedankenkraft Dinge bewegen. 
In „Feuerkind“ sind es die außer Kontrolle geratenen Experimente mit Drogen, die unterschiedlich stark ausgeprägte Psi-Kräfte hervorriefen und von den Eltern auf Charlie McGee übertragen wurden. King beginnt seinen etwas ausschweifenden Roman mit der Flucht von Andy McGee und seiner Tochter, nachdem Andys Frau ermordet worden ist. In Rückblicken wird die Zeit rekapituliert, in der Andy und Vicky an den Experimenten teilgenommen und ineinander verliebt haben. 
Immer wieder wechselt King auch die Erzählperspektive, springt von der Flucht der McGees zu ihren Verfolgern hin und her, bis auch der clevere John Rainbird zum Ende hin eine zunehmend wichtigere Rolle im Plot einnimmt. 
Was „Feuerkind“ an Plotentwicklung und Spannung vermissen lässt, macht King durch seine einfühlsame Figurenzeichnung wieder wett, auch wenn dabei kaum Grautöne auszumachen sind und die Handlung äußerst vorhersehbar verläuft.