Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 3) „Das hohe Fenster“

Montag, 31. Oktober 2022

(Diogenes, 320 S., HC) 
Mit dem Privatdetektiv Philip Marlowe hat Raymond Chandler (1888-1959) eine Kultfigur der Kriminalliteratur und den Prototyp des melancholischen, eigenbrödlerischen Ermittlers geschaffen, der vor allem in der Verkörperung durch Humphrey Bogart in Howard Hawks‘ Verfilmung von „The Big Sleep“ (1946) nachhaltig in Erinnerung blieb. Zu Hollywood hatte der Schriftsteller seit jeher eine innige Beziehung. So schrieb Chandler die Drehbücher zu Billy Wilders „Frau ohne Gewissen“ (1944), George Marshalls „Die blaue Dahlie“ (1946) und Alfred Hitchcocks „Der Fremde im Zug“ (1951), während die meisten seiner acht Marlowe-Romane auch verfilmt wurden. Das 1942 veröffentlichte Werk „The High Window“ war übrigens der erste Marlowe-Roman, der verfilmt wurde. Nun erscheint „Das hohe Fenster“ bei Diogenes als Teil der Neuübersetzungen der Philip-Marlowe-Reihe. 
Philip Marlowe wird nach Pasadena gebeten, wo mit Mrs. Elizabeth Bright Murdock die mürrische und zänkische Witwe von Jasper Murdock im Stadtteil Oak Knoll lebt. Sie beauftragt Marlowe damit, ihr eine wertvolle Goldmünze wiederzubeschaffen, die als sogenannte Brasher-Dublone Teil einer limitieren Probeprägung aus dem 18. Jahrhundert ist und mit einem Wert von zehntausend Dollar beziffert wird. Der alte Herr hat in seinem Testament verfügt, dass seine Münzsammlung auch nicht zu Lebzeiten seiner Frau – auch nicht in Teilen - veräußert werden dürfe. Marlowes Auftraggeberin hätte den Diebstahl auch nicht bemerkt, wenn nicht ein gewisser Mr. Elisha Morningstar aus Los Angeles angerufen hätte, um sich nach dem Verkauf der Münze zu erkundigen. 
Erst bei der Überprüfung der Sammlung sei ihr das Fehlen des kostbaren Stücks aufgefallen. Mit der ebenfalls verschwundenen Schwiegertochter, der ehemaligen Revue-Tänzerin Linda Conquest, hat Mrs. Murdock auch gleich die passende Verdächtige an der Hand. Diskretion ist natürlich Pflicht. Vor allem Mrs. Murdocks Sohn Leslie solle nichts von der Sache erfahren, wahrscheinlich wisse er ohnehin nicht, dass die Münze verschwunden ist. Da nur die Hausbewohner und Angestellten an die verschlossene Kassette mit den Münzen herangekommen sein könnten, nimmt Marlowe auch Mrs. Murdocks pflichtbewusste Privatsekretärin Merle Davis und Leslie Murdock ins Visier. 
Auf dem Weg nach Los Angeles zum Münzhändler Morningstar bemerkt Marlowe, dass er von einem sandfarbenen Coupé verfolgt wird, dessen Fahrer sich wenig später als ungeschickter Privatdetektiv George Anson Phillips entpuppt. Als sich Marlowe mit ihm in dessen Wohnung treffen will, findet er Anson allerdings tot vor. Doch bei diesem Todesfall bleibt es nicht. Marlowe gerät bei seinen Ermittlungen immer tiefer in ein Dickicht von unglücklichen Verbindungen, Gewissensbissen und Ungereimtheiten… 
„Die beinernen Schachfiguren, rot und weiß, standen marschbereit in Reih und Glied und wirkten so zackig, kompetent und kompliziert wie immer am Anfang einer Partie. Es war zehn Uhr abends, ich saß in meiner Wohnung, hatte eine Pfeife im Mund, einen Drink am Ellbogen und nichts im Kopf als zwei Mordopfer und das Rätsel, wie Mrs. Elizabeth Bright Murdock ihre Brasher-Dublone zurückbekommen haben konnte, wenn ich die in der Tasche hatte.“ (S. 131) 
Einmal mehr Philip Marlowe mit einem höchst komplizierten Fall betraut, der den aufgeweckten Privatdetektiv von einer kratzbürstigen und geizigen wie wohlhabenden Witwe über eine völlig verhuschte Privatsekretärin bis in die verruchte Welt der Nachtclubs, ihrer Betreiber und Angestellten führt, die von einem besseren Leben träumen und das große Los gezogen zu haben glauben, wenn sie in eine reiche Familie einheiraten können. 
Auf gewohnt lakonische wie vertrackte Art führt Chandler seinen ausgebufften Protagonisten durch die verschiedenen Milieus, lässt ihn stets einen selbstbewussten, kecken Ton anschlagen, wenn ihm die Cops, selbstgefällige Lackaffen und schmierige Unterweltgrößen zu dumm kommen, und entwirrt am Ende ein höchst kompliziertes Geflecht an Ereignissen und Abhängigkeiten, die auf einen Vorfall von acht Jahren zurückzuführen sind. Vor allem die pointierten Dialoge, die in Ulrich Blumenbachs neuer Übersetzung ebenso zeitgemäß wie modern wirken, machen „Das hohe Fenster“ zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, ebenso die versierten Beobachtungen, die Marlowe von seinem Umfeld anstellt. Dagegen wirkt der Fall selbst, das wird spätestens in Marlowes langem Monolog am Ende deutlich, etwas arg konstruiert. Davon abgesehen bieten gerade die Momente, in denen Marlowe es mit seiner Auftraggeberin und deren Privatsekretärin zu tun bekommt, höchst vergnügliche Episoden, die dokumentieren, dass Marlowe jede Art von Menschen zu nehmen versteht und sich von niemandem einschüchtern lässt.

 

Robert Bloch – „Lori“

Sonntag, 30. Oktober 2022

(Diogenes, 346 S., Tb.) 
In seiner langjährigen Karriere als Schriftsteller und Drehbuchautor hat sich Robert Bloch (1917-1994) geschickt zwischen Horror, Krimi und Science Fiction bewegt, doch sein Name ist und bleibt vor allem mit der Vorlage für Alfred Hitchcocks Meisterwerk „Psycho“ (1960) verbunden. Mit „Lori“ (1989), einem seiner letzten Romane, akzentuiert er den klassischen Krimi-Plot mit Horror-Elementen, wie sie gerade durch die nachfolgende Generation von Horror-Schriftstellern wie Stephen King, Peter Straub, Ramsey Campbell, Dean Koontz, Whitley Strieber und James Herbert populär geworden ist. 
Mit der Urkunde über ihren erfolgreichen Studienabschluss und dem Verlobungsring ihres Freundes Russ Carter im Gepäck macht sich Lori Holmes mit Russ auf den Weg zum Haus ihrer Eltern, die nicht zur Abschlussfeier kommen konnten, da Loris Mutter durch ihre schwere Krankheit an den Rollstuhl gefesselt ist. Doch als Lori ihr altes Zuhause erreicht, findet sie es bis auf die Grundmauern abgebrannt vor. Dr. Justin, der Hausarzt ihrer im Feuer getöteten Eltern, verschreibt Lori nicht nur Beruhigungsmittel, sondern verweist sie auf einen Psychiater namens Dr. Leverett. 
Während Russ seinem journalistischen Instinkt folgt und nach den Ursachen des Brandes forscht, erhält Lori einen Anruf von dem Medium Nadia Hope, die in einem Traum von dem Brand erfahren und dazu eine männliche Stimme gehört habe, die Nadia davon überzeugte, dass mehr hinter dem Unglück stehe, als es den Anschein habe. Die gemeinsame Untersuchung des Tatorts führt nichts zutage, doch als Nadia noch einmal allein zu den Trümmern zurückkehrt, entdeckt sie in einem Versteck eine verschlossene Kiste, die sie Lori vor die Tür stellt. Wenig später stirbt Nadia bei dem Absturz mit ihrem Auto einen Abhang hinunter. 
In der Kiste finden Lori und Russ ein Bryant-College-Abschlussjahrbuch aus dem Jahr 1968, in dem Lori mit dem Foto von Priscilla Fairmount entdeckt, die ihr verblüffend ähnlich sieht. Während Russ für einen Auftrag seiner Zeitung nach Mexiko muss, begibt sich Lori bei Dr. Leverett in Therapie und versucht durch Ben Rupert, den Anwalt ihrer Eltern, den Nachlass zu regeln. Doch als auch Rupert tot aufgefunden wird, beginnt sich die Polizei immer mehr für Lori zu interessieren, die nachts von fürchterlichen Träumen heimgesucht wird… 
„Knochige Finger kratzten über ihre Schultern, dann gruben sie sich tief ein und drehten sie herum, bis sie dem, was kein Gesicht mehr war, ins Antlitz sah. Diese kahle und fleischlose Schreckgestalt trug eine bewegliche Maske aus winzigen Wesen – Wesen, die die leeren Augenhöhlen umschwärmten, über die Nasenscheidewand huschten und über die lippenlose zackige Zahnreihe. Aber auch Schädel können grinsen, und dieser grinste jetzt.“ (S. 110) 
Robert Bloch, der neben ganz unterschiedlichen Romanen wie „Das Regime der Psychos“, „Cthulhus Rückkehr“, „Du verdammtes Hollywood“, „Der Ripper“ und „Dr. Jekylls Erbe“ auch die Drehbücher zu Filmen wie „Das Kabinett des Dr. Caligari“, „Totentanz der Vampire“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“ und „Die Toten sterben nicht“ verfasste, begnügt sich bei „Lori“ nicht allein mit der kriminalistischen Aufklärung eines Feuers, bei dem die junge Protagonistin ihr Elternhaus und ihre Eltern verlor, sondern bringt früh ein sensitives Medium ins Spiel, das allerdings auch kurze Zeit danach unter merkwürdigen Umständen zu Tode kommt. 
Bloch verwendet viel Mühe darauf, sowohl die medialen Fähigkeiten von Nadia Hope zu erläutern als auch Loris Therapie bei Dr. Leverett mit den üblichen psychoanalytischen Termini zu unterfüttern, was dem Roman eine gewisse wissenschaftliche Erdung verleihen soll. Doch hier ist viel Schall und Rauch im Spiel, denn im weiteren Verlauf der komplexen Handlung kommen immer neue Figuren und Zusammenhänge ins Spiel, die sich auf ganz natürliche Weise und Motive zurückführen lassen. Allerdings baut der Autor bis zum Schluss immer wieder gruselige Traumsequenzen ein, um den Horror-Aspekt des Romans zu füttern, was „Lori“ allerdings nicht zu einer besseren Geschichte macht. Der Krimi-Plot ist allerdings grundsolide und hätte auch ohne den Grusel-Touch bestens funktioniert. So leidet das Spätwerk aus Blochs Schaffen an unnötig aufgeblasenen Nebeneffekten, die aber zumindest den Horrorfans unter Blochs Anhängerschaft zusagen dürften. 

 

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 10) „Mord im Herbst“

Donnerstag, 27. Oktober 2022

(Zsolnay, 144 S., HC) 
Die Kurt-Wallander-Reihe des schwedischen Bestseller-Autors Henning Mankell zählt fraglos zu den großen Erfolgsgeschichten der skandinavischen Kriminalliteratur, die mittlerweile auch aus dem deutschen Buchmarkt nicht mehr wegzudenken ist. Doch nach zehn Romanen ging Wallander 2010 mit „Der Feind im Schatten“ zumindest in literarischer Hinsicht in Rente. Bis zu seinem Tod im Jahr 2015 verspürte Mankell nicht mehr den Wunsch, seinen mittlerweile international berühmten Kommissar wiederzubeleben. Dafür schob er 2013 mit „Mord im Herbst“ noch eine letzte Wallander-Geschichte nach, die ihren Ursprung in einer niederländischen Aktion hatte, wo 2004 im Monat des spannenden Buchs zu jedem gekauften Kriminalroman ein Gratis-Buch ausgegeben wurde. 
Mankell erklärte sich bereit, die Geschichte dafür zu liefern. Erst nahezu zehn Jahre später gab der Schriftsteller die Veröffentlichung auch für den schwedischen Markt frei, nachdem ihm die Verkörperung seiner Figur durch Kenneth Branagh in der Verfilmung der Geschichte durch BBC so gut gefallen hatte. 
Ende Oktober 2002 erhält Kurt Wallander an seinem freien Tag einen Anruf von seinem Kollegen Martinsson, der ihm ein Haus auf dem Land nicht weit von Löderup zur Besichtigung anbietet. Seit sein Vater gestorben ist, denkt Wallander immer wieder daran, aus der Mariagatan im Zentrum von Ystad auszuziehen und sein Leben zu verändern, indem er aufs Land zieht und sich einen Hund anschafft. Doch als sich Wallander auf dem Grundstück umsieht, stolpert er fast über eine skelettierte Hand, die leicht aus dem Boden ragt. Bei der Untersuchung des Tatort stoßen die Polizisten nicht nur auf die dazugehörige Leiche einer Frau, die zum Zeitpunkt ihres Todes gut fünfzig Jahre alt war, sondern auch auf die eines Mannes. Die Frau wurde offenbar gehängt, der Mann erschlagen. Allerdings liegen die beiden Körper seit vielen Jahren dort, was die Aufklärung des Verbrechens schwierig macht, zumal keine Personen in dem Alter als vermisst gemeldet wurden. 
Also versuchen es Wallander und seine Kollegen, darunter auch seine Tochter Linda, mit den Grundbucheinträgen und möglichen Zeitzeugen, die allerdings schwer aufzutreiben sind… 
„Wallander hatte schon vor vielen Jahren gelernt, dass Geduld mit sich selbst eine der vielen Tugenden war, über die ein Polizist verfügen sollte. Es gab immer Tage, an denen nichts geschah, an denen eine Ermittlung festgefahren war und sich weder vorwärts noch rückwärts bewegte. Dann brauchte man Geduld, um den Moment abzuwarten, in dem das Problem zu lösen war.“ (S. 97) 
Auch wenn „Mord im Herbst“ als zehnte Wallander-Erzählung gilt, lässt sie sich doch kaum mit den zehn Romanen vergleichen, mit denen Mankell in kurzer Zeit die internationale Krimi-Welt begeistert hat. Das liegt vor allem in der Kürze von gerade mal 120 Seiten, in denen nur kurz die Opfer und die an ihnen verübten Verbrechen skizziert werden und dann trotz lange fehlender Anhaltspunkte der Fall recht schnörkellos aufgeklärt wird. Da bleibt kein Raum für ausschweifende Charakterisierungen, philosophische und sozialkritische Betrachtungen und die alltäglichen Hürden minutiöser Polizeiarbeit. Einzig Wallanders Wunsch nach einem Haus auf dem Land und die nicht immer leichte Beziehung zu seiner Tochter, mit der er zusammenlebt, bringen eine persönliche Note in die Geschichte, ansonsten reduziert Mankell die Geschichte wirklich auf das Nötigste. 
Das mag als literarische Übung interessant erscheinen, lässt allerdings jegliche Spannung vermissen. Weit informativer ist das Nachwort des Autors, der die Gelegenheit wahrnimmt, um zu rekapitulieren, wie er die Figur Kurt Wallander erfand, über welche Eigenschaften er verfügen sollte und wie er zu einer sehr menschlichen Identifikationsfigur wurde, die sich vor allem immer wieder über die offensichtliche Zerrüttung der Sitten und Moral in Schweden beklagte. 
Für Wallander-Fans ist „Mord im Herbst“ schon wegen des Nachworts ein Muss, auch wenn das Vergnügen sehr kurz bemessen ist. 

 

Jim Nisbet – „Der Krake auf meinem Kopf“

Mittwoch, 26. Oktober 2022

(Pulp Master, 320 S., Tb.) 
Obwohl der 1947 geborene und in San Francisco lebende Jim Nisbet Autor von immerhin dreizehn Romanen und mehreren Lyrik-Bänden ist, fristet er hierzulande noch ein Schattendasein, wäre wahrscheinlich noch immer ein unbeschriebenes Blatt, wenn sich Frank Novatzki mit seinem feinen Verlag Pulp Master nicht seiner angenommen hätte. Nach „Dunkler Gefährte“ und „Tödliche Injektion“ veröffentlichte der Berliner Verlag 2014 mit „Der Krake auf meinem Kopf“ einen dritten Roman des Noir-Autors. 
Obwohl ihm nach den aufreibenden Jahren während der Punk-Bewegung in San Francisco nur seine Gitarre und ein Tattoo mit einem riesigen Kraken auf dem Kopf geblieben sind, hält Curly Watkins an seinem Traum fest, als Musiker seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch mehr als drei Abende die Woche für 45 Dollar und freien Kaffee „Caffeine Machine“ ist von diesem Traum nicht hängen geblieben. Als er seinem alten Kumpel, den begnadeten Jazz-Drummer Ivy Pruitt, vorschlägt, eine Band zu gründen, muss er leider feststellen, dass die Heroin-Sucht Ivy voll im Griff hat. Dann wird er auch noch bei einer Drogen-Razzia eingesackt. 
Da Curly im Gegensatz zu seinem Kumpel über kein Strafregister verfügt, wird er wieder freigelassen, kümmert sich aber mit Lavinia, die einige Jahre mit Curly liiert war, bevor auch ihre Beziehung mit Ivy nach zwei Jahren in die Brüche ging, um die Beschaffung der Kaution. Für einen ca. einstündigen Job winken Curly acht- bis neunhundert Dollar. Alles, was er dafür tun muss, ist, mit einem Taxi zur Anza 4514 zu fahren, sich als Bruder eines Typen namens Stefan Stepnowski vorzustellen und nach dessen neuer Adresse zu fragen, um dann die 7500 Dollar einzutreiben, die Stepnowski Sal „The King“ Kramers Laden „World of Sound“ schuldet. 
Zwar bekommt Curly die neue Adresse, doch als er mit Lavinia dort eintrifft, werden sie in einen Schusswechsel verwickelt und stoßen auf Stepnowskis Leiche, die sie um einiges an Bargeld erleichtern. Als Lieutenant Garcia die Ermittlungen aufnimmt, sind Curly und Lavinia zwar aus dem Schneider, weil Stepnowski definitiv vor ihrem Auftauchen am Tatort erschossen wurde, dafür geraten sie in die Fänge des Serienkillers Torvald, der seinen beiden Opfern lustvoll die größten Qualen bereitet… 
„Die Kameras würden alles aufzeichnen. Später würde er nach dem Moment des Kontaktes den Moment der Reaktion als Zwischenbild einfügen, aufgenommen von der Kamera, die direkt das Auge filmte: das Warten, das Zurückschrecken weit vor der Zeit; die Erkenntnis; das Hervortreten im Angesicht der Gewissheit; die Flut des Schmerzes; die mit dem Verebben der Lebenskraft einsetzende Trübung; am Ende das Erlöschen, wie in Zeitlupe, dann das Durchbrennen der Sicherung, Kurzschluss und … Blackout.“ (S. 257) 
Oberflächlich betrachtet erzählt „Der Krake auf meinem Kopf“ die Geschichte dreier Junkies/Möchtegern-Musiker, die unvermittelt in die Gewalt eines sadistischen Serienkillers geraten, doch Nisbet macht schon durch seine ausgefeilte Sprache von Beginn an deutlich, dass Curly, Ivy und Lavinia weit mehr als nur gescheiterte Existenzen am Rande der Gesellschaft sind, die sich durch Drogendeals, unrentable Auftritte und kleinere Gaunereien über Wasser halten. Schon nach wenigen Seiten lässt Nisbet seinen Ich-Erzähler Curly aus Paul Valerys Gedicht „Der Friedhof am Meer“ einige Zeilen zitieren, später fallen auch die Namen von Kerouac und Bao Ninh
Doch so tiefgründig das unstete Trio auch ist, hängen sie doch in der Kloake des heruntergekommenen Musik- und Drogenszene fest, bringen sich in bester Noir-Tradition in größte Schwierigkeiten und scheinen in dieser Wüstenei auch noch auf bestialische Weise gewaltsam aus dem Leben zu scheiden. Mit seinem stilistischen Geschick zieht Nisbet sein Publikum unmittelbar in den Bann dieser fraglos gebildeten, vor allem auch witzigen Figuren. 
Sobald Torvald aber die Szenerie betritt, ändert sich der Ton. Dann kontrolliert nämlich der Killer sowohl die Erzählung als auch das Geschehen, und auch hier nimmt der Autor kein Blatt vor den Mund, kriecht in die derangierte Psyche des Soziopathen und beschreibt detailliert die von ihm verübten Gräueltaten. So ungewöhnlich schon der Titel „Der Krake auf meinem Kopf“ daherkommt, so kompromisslos, sozialkritisch und virtuos inszeniert Nisbet ein fast schon grotesk anmutendes Road Movie, das man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt. 

 

Jim Thompson – „Kein ganzer Mann“

Donnerstag, 20. Oktober 2022

(Diogenes, 282 S., Tb.) 
Jim Thompson gilt heute neben Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Cornell Woolrich zu den bekanntesten Vertretern des Noir-Genres, wurde zu seinen Lebzeiten aber eher geringschätzenderweise der Pulp-Literatur zugeordnet. Bevor er sich mit seinen beiden Drehbüchern zu den Kubrick-Filmen „Die Rechnung ging nicht auf“ (1956) und „Wege zum Ruhm“ (1957) für kurze Zeit im Glanz Hollywood sonnen konnte und lange bevor seine Romane mit den 1970er Jahren beginnend verfilmt werden sollten („Getaway“, „After Dark, My Sweet“, „Grifters“ u.a.), veröffentlichte er 1954 auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft den Roman „The Nothing Man“, der 1989 zunächst als „Der Garnix-Mann“ bei Ullstein, 1996 dann in der Neuübersetzung von Thomas Stegers als „Kein ganzer Mann“ als deutsche Übersetzung erschienen ist. 
Clinton Brown ist einer der von Herausgeber Austin Lovelace meistgeschätzten Redakteure beim Pacific City Courier. Da Brown im Gegensatz zu seinen Kollegen Dave Randall und Tom Judge über kein nennenswertes Privatleben verfügt, sitzt er meist in der Redaktion und tippt dort an seinem unfertigen Manuskript zur Gedichtsammlung „Gedichte zum Erbrechen“. 
Als Mr. Lovelace unangekündigten Besuch von Deborah Chasen bekommt, wird Brown damit beauftragt, sie etwas in der Stadt herumzuführen, um sie abends wieder in den Zug zu setzen. Brown gefällt der Dame so gut, dass sie zu gern eine Affäre mit ihm beginnen würde, doch weiß sie nicht, dass er im Krieg beim Betreten eines Minenfelds ausgerechnet sein bestes Stück einbüßen musste. Doch nicht nur Mrs. Chasen bringt Brown in Bedrängnis, auch die Ankunft seiner Frau Ellen drüben auf der Insel beunruhigt ihn. Er hatte sich nach seinem Unglück von ihr trennen wollen, worauf sie für drei Monate aus Pacific City verschwand, um jetzt wieder unangekündigt aufzutauchen. 
Einzig Polizeichef Lem Stukey scheint von ihrer Ankunft zu wissen. Als Brown betrunken mit dem Boot zur Insel fährt und sich mit ihr streitet, schlägt er ihr eine Flasche über den Kopf und steckt ihr Bett in Brand. Als Ellens Leiche mit einem Zettel in der Hand aufgefunden wird, auf dem der Vers eines Gedichts geschrieben steht, ist Brown für Stukey natürlich der Hauptverdächtige, doch der Reporter kann die Theorie des Cops schnell entkräften. Schließlich wird Tom Judge für den Mord an Ellen Brown verhaftet, dann wird auch Deborah Chasen tot aufgefunden. Und wieder scheint der Reporter seine Hände im Spiel gehabt zu haben… 
„Es ist schwierig, eine Geschichte an einem bestimmten Punkt anzuhalten und eine genaue Analyse seiner Gefühle vorzunehmen, zu erklären, warum sie so und nicht anders sind. Ich bin eher ein Anhänger des Entwicklungsansatzes, im Gegensatz zum Erklärungsansatz. Aus dem Stegreif heraus, ohne Zusammenhang, ist er nicht sonderlich hilfreich, aber langfristig funktioniert er ausnahmslos. Betrachtet man die Handlungen eines Menschen über einen längeren Zeitraum, treten die Motive deutlicher zutage.“ (S. 140)
 
Jim Thompson stellt seinen Ich-Erzähler Clinton Brown als Mann dar, der wie der Titel bereits andeutet, „kein ganzer Mann“ ist, durch den Krieg seiner Männlichkeit beraubt. Obwohl die Frauen in seinem Leben, und davon gibt es im Verlauf des Romans doch einige, stets beteuern, dass sie ihn auch ohne das „Eine“ lieben würden, hat sein Selbstbewusstsein natürlich schweren Schaden erlitten.  
Thompson beschreibt eindringlich, wie sich der Redakteur und Möchtegern-Dichter stattdessen in die Arbeit stürzt und sich einen Spaß daraus macht, seine Kollegen gegeneinander auszuspielen und vor allem vor dem Hintergrund der sogenannten „Spottlustmorde“ auf diabolische Weise in den Fokus der Ermittlungen des korrupten und unsicheren Polizeichefs Lem Stukey schubst. 
Unterhaltsam ist aber nicht nur das gemeine Spiel, das Brown mit seinen Mitmenschen spielt, sondern auch die allgemeine Atmosphäre der Verruchtheit und Verderbtheit in Pacific City. Fast scheint es, als hätten die Frauen ihr Schicksal durch ihr aufdringliches Verhalten herausgefordert, doch am Ende kann der dem Alkohol mehr als nur zugeneigte Protagonist nicht mal mit Sicherheit sagen, ob er die Frauen tatsächlich ermordet hat oder „nur“ die vorbereitenden Maßnahmen traf und ein anderer für ihren Tod verantwortlich gewesen ist. 
Thompson kreiert mit „Kein ganzer Mann“ eine typische Noir-Stimmung, mit einem Ich-Erzähler, der im Rückblick die Ereignisse zu rekapitulieren versucht und seine eigene Rolle dabei nicht genau zu definieren vermag, sehr wohl aber die niederen Triebe seiner Mitmenschen. Zwar präsentiert Thompson, der selbst schwer dem Alkohol zugetan war, schon früh einen Nervenzusammenbruch erlitt und später an den Folgen eines Schlaganfalls in verarmten Verhältnissen starb, auf der einen Seite einen klassischen Whodunit-Plot, doch erweist sich „Kein ganzer Mann“ vor allem als psychologische Studie eines nicht nur körperlich kastrierten Mannes und seiner schäbigen Umwelt. 

 

Dan Simmons – „Helix“

Dienstag, 18. Oktober 2022

(Heyne, 400 S., Tb.) 
Auch wenn sich Dan Simmons mit teils epischen Horror- und Science-Fictions-Romanen wie „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“ und den jeweils zweibändigen Sagen um „Hyperion“ und „Endymion“ einen Namen gemacht hat, fand er – ebenso wie sein weitaus prominenterer Kollege Stephen King – immer wieder mal die Zeit, Kurzgeschichten zu schreiben. Nach „Styx – Dreizehn dunkle Geschichten“ und „Lovedeath. Liebe und Tod“ präsentierte er mit „Worlds Enough & Time“ im Jahre 2002 eine dritte Sammlung, diesmal mit längeren Erzählungen, die überwiegend der Science Fiction zuzuordnen sind, 2004 bei Festa in der wortwörtlichen Übersetzung als „Welten und Zeit genug“ veröffentlicht wurden und vier Jahre später als „Helix“ bei Heyne als Neuauflage erschienen ist. 
Allerdings erreichen die fünf Erzählungen selten die Qualität von Simmons‘ Romanen. 
„Auf der Suche nach Kelly Dahl“ ist erstmals in der von Steve Rasnic Tem herausgegebenen Hardcover-Anthologie „High Fantastic“ mit Beiträgen von Autoren phantastischer Literatur aus Colorado abgedruckt worden und wirkt wie eine klassische „Twilight Zone“-Episode. Als Roland Jakes eines Morgens im Camp aufwacht, muss er feststellen, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Der Highway nach Boulder war ebenso verschwunden wie das National Center for Atmospheric Research und die Hochhäuser von Denver. Dafür erstreckte sich nach Osten, Süden und Norden ein Binnenmeer so weit das Auge reichte. Diese Erfahrungen hängen mit dem Wiedersehen einer früheren Schülerin namens Kelly Dahl zusammen. Eigentlich wollte der Vietnam-Veteran und ehemaliger Lehrer irgendwo am Peak to Peak Highway oder im Staatsforst im Left Hand Canyon in einem der verlassenen Minenschäfte seinem Leben so ein Ende setzen, dass es wie ein Unfall aussah. Doch ausgerechnet Kelly Dahl, die er nur für kurze Zeit unterrichtete, an die er sich allerdings besonders gut erinnert, rettet ihn und fordert ihren alten Lehrer zu einem tödlichen Spiel heraus… 
Mit „Die verlorenen Kinder der Helix“ kehrt Simmons in die Welt von „Hyperion“ zurück, nachdem der Plan, ein Drehbuch für eine „Star Trek: Voyager“-Episode zu schreiben, nicht verwirklicht worden ist. Als sich das Spinschiff Helix mit über 680.000 Menschen im Kälteschlaf einem Doppelsternsystem nähert, entscheiden die fünf KIs unter Führung von Dem Lia, neun der Menschen an Bord aufzuwecken, um sich mit ihnen über einen eingegangenen Hilferuf von Ousters zu beraten. Während die Menschen eigentlich den menschlichen und postmenschlichen Aenea-Raum für immer verlassen wollten, um mit ihrer Amoiete-Spectrum-Helix-Kultur einen eigenen, von aeneanischer Einmischung unbeeinflussten Weg zu gehen, versuchten die Ousters einen anderen evolutionären Weg zu gehen und sich dem Weltraum anzupassen. Mit einer Sonde untersucht eine kleine Delegation der Spectrum-Helix und der Ousters die Möglichkeit, mit dem Hawkingantrieb zum Roten Riesen zu springen und zurückzukehren, bevor der Zerstörer mit seinem Werk beginnen kann. 
„Mit Kanakaredes auf dem K2“ ist sicherlich die beste Geschichte in dieser Sammlung und wirkt wie eine Sci-Fi-Variante von Simmons‘ historischem Epos „Der Berg“, nur dass hier drei Bergsteiger von einem wanzenähnlichen Alien begleitet werden. 
„Ich warf einen Blick zu Kanakaredes. Wer konnte schon den Gesichtsausdruck einer Wanze deuten? Dieser riesige Mund mit seinen Auswüchsen und Höckern, der zwei Drittel rings um den Kopf bis fast zu dem höckerigen Kamm verlief und vorn einen schnabelartigen Vorsprung hatte, schien immer zu lächeln. War das Lächeln jetzt etwa ein wenig breiter geworden? Schwer zu sagen, und ich war nicht in der Stimmung, ihn zu fragen.“ (S. 288) 
„Das Ende der Schwerkraft“ thematisiert schließlich die Reise des amerikanischen Pulitzer-Preisträgers Norman Roth nach Moskau, um für das New York Times Magazine, das einen neuen Blick auf das Raumfahrtprogramm der Russen gewinnen möchte. Doch der Trip erweist sich für den herzkranken Skeptiker zu einer gefährlichen Mission. 
Im Gegensatz zu den epischen Science-Fiction-Romanen, in denen Dan Simmons genügend Raum zur Verfügung hat, neue Welten vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen, reichen die Beschränkungen selbst längerer Kurzgeschichten nicht aus, um sich in den fremden Welten, die hier einerseits im „Hyperion“-Reich angesiedelt sind, andererseits auf das nachfolgende „Ilium“ verweisen, sofort heimisch zu fühlen. Das gelingt dem preisgekrönten Autor in den Erzählungen, die auf der uns bekannten Erde angesiedelt sind, weitaus besser, wo die Science-Ficition-Elemente einfach den Horizont der Möglichkeiten, zu denen sich menschliches Leben und Denken entwickeln könnte, erweitern. 
Dass Heyne die Neuauflage allerdings als „das große Zukunftsepos“, als „Geschichte von Ereignissen, die die Welt für immer verändern werden“, anpreist, spottet jeder Beschreibung, denn von einem zusammenhängenden Epos kann hier wirklich nicht die Rede sein. Interessanter als die einzelnen Geschichten selbst sind stellenweise die ausführlichen Einführungen des Autors zu ihrer Entstehung und Entwicklung.  

Robert Bloch – „Feuerengel“

Donnerstag, 13. Oktober 2022

(Diogenes, 201 S., Tb.) 
Nachdem Robert Blochs frühen Werke aus den 1930er Jahren noch sehr stark von Autoren wie H. P. Lovecraft, August Derleth und Clark Ashton Smith geprägt waren, begann er vor allem Anfang der 1950er Jahre damit, psychologische Krimis zu schreiben. Durch die Vorlage für Alfred Hitchcocks „Psycho“ (1960) wurde Robert Bloch auch international bekannt. Zu den Thrillern, die kurz nach „Psycho“ entstanden sind, zählt auch der 1961 veröffentlichte Roman „Firebug“, der 1969 zunächst als „Mit Feuer spielt man nicht“ im Scherz-Verlag erschienen ist und 1994 in einer Neuausgabe unter dem Titel „Feuerengel“ bei Diogenes wiederveröffentlicht wurde. 
Philip Dempster kommt mit seinem Roman über Sekten gerade nicht weiter, als sein Kumpel Ed Cronin vom „Globe“ ihm das Angebot unterbreitet, für die Sonntagsbeilage eine mehrteilige Serie über die Sekten in der Stadt zu schreiben. Da er die zwölfhundert Dollar gut gebrauchen kann, nimmt Dempster den Auftrag an und bekommt am nächsten Morgen ein Notizbuch mit einer Namenliste – Die Weiße Bruderschaft, Kirche des Goldenen Atoms, Tempel des Neuen Königreichs, Zentrum der Weisheit, Haus der Wahrheit, Tempel der Lodernden Flamme… 
Dempster will seine Nachforschungen mit dem Besuch einer Versammlung der Weißen Bruderschaft von Amos Peabody beginnen, doch stattdessen versackt er in der Kneipe und lernt dabei Diana Rideaux kennen. Allerdings ist Dempster so schnell betrunken, dass er sich von seiner neuen Bekanntschaft nach Hause fahren lassen muss. Als er aus seinem benommenen Zustand aufwacht, steht er neben einem Feuermelder und sieht hinter sich das Bethaus der Weißen Bruderschaft in Flammen ausgehen. Zum Glück verleiht ihm Diana Rideaux ein Alibi, aber auch der nächste Besuch einer Sekte endet in einer Feuerbrunst. Nun ist es die Kirche des Goldenen Atoms mitsamt ihrem charismatischen Führer, Professor Ricardi, der in seinem Bett verbrennt. Daraufhin sucht ihn Ricardis Freundin Agatha Loodens auf, die Dempster auf die Zusammenhänge zwischen Peabody, Ricardi und den Rechtsberater Weatherbee bringt. Die Besuche bei seinem Psychiater, die Gespräche mit dem Kommissar und anderen Beteiligten, die Suche nach einem Mann, der ihn zu verfolgen scheint – all das lässt den Schriftsteller langsam an seinem Verstand zweifeln… 
„Man treibe mehrere Menschen zusammen, mache das Licht aus, entzünde ein Feuer, lasse jemanden mit tiefer Stimme Klimbim reden, und schon hat man die Leute fest in der Hand. Wie aufgeklärt sie auch sein mögen, das Rezept ist narrensicher. Schön, aber warum ist das so? Weil Dunkelheit und Feuer am Ende wirklich Magie verbreiten? Ist der atavistische Zug in uns noch so stark?“ (S. 159) 
Robert Bloch hat mit „Feuerengel“ einen straff inszenierten, klassisch aufgebauten Whodunit-Krimi geschrieben, der vor allem durch den Ich-Erzähler Philip Dempster getragen wird. Der Schriftsteller entpuppt sich allerdings von Beginn an als nicht besonders zuverlässig, macht er doch aus seiner Trinkerei keinen Hehl, auch nicht aus seiner Angst vor Feuer. Dass er es außerdem mit gleich zwei Femmes fatale zu tun bekommt, verschleiert die Ereignisse zunächst eher, als dass sie Licht in das allzu oft vom Feuer erleuchtete Dunkel bringen.  
Bloch seziert dabei nicht nur genüsslich die unlauteren Praktiken der Sekten, sondern bietet auch Einblicke in die Psyche eines Pyromanen. Spannung und Humor gehen dabei oft Hand in Hand und sorgen für einen kurzweiligen, leicht zu lesenden Thrill, der schon vor „Psycho“ bei Bloch zum Markenzeichen geworden ist. 

 

Michael Mann (mit Meg Gardiner) – „Heat 2“

Montag, 10. Oktober 2022

(HarperCollins, 688 S., Tb.) 
Mit Filmen wie „Manhunter – Roter Drache“, „Der letzte Mohikaner“, „Ali“, „Insider“ und „Collateral“ avancierte Michael Mann zu einem der Top-Regisseure in Hollywood, der mit Stars wie Willl Smith, Daniel Day-Lewis, Tom Cruise, Russell Crowe, Al Pacino und Robert De Niro zusammenarbeiten durfte. Vor allem das 1995 entstandene Heist Movie „Heat“, das die erste Zusammenarbeit der beiden Hollywood-Schwergewichte Pacino und De Niro markierte, ist längst in die Film-Geschichte eingegangen. Mehr als 25 Jahre später präsentiert Mann allerdings kein filmisches Sequel, sondern einen Roman, der unter Mitwirkung von Thriller-Autorin Meg Gardiner („Gottesdienst“, „Schmerzlos“, „Todesmut“) entstanden ist und einen weiten Bogen von den Anfängen der Bande um Neil McCauley bis ins Jahr 2000 spannt, also die Ereignisse vor und nach der in „Heat“ erzählten Geschichte schildert. 
Nach dem Banküberfall auf die Far East National Bank in Los Angeles am 7. September 1995 haben Vincent Hanna und seine Detectives vom Raub- und Morddezernat des LAPD nicht nur mit Neil McCauley den Kopf der Bande getötet, sondern auch die meisten seiner Mitstreiter. Einzig Chris Shiherlis konnte fliehen und mit Unterstützung des befreundeten Hehlers Nate von seinem Unterschlupf in Koreatown nach Paraguay fliehen, wo er sich als Chris Bergman eine neue Identität im Sicherheitsgewerbe aufbauen konnte. Obwohl er verspricht, zu seiner Frau Charlene und ihrem gemeinsamen Sohn Dominick zurückzukehren, weiß er, dass Hanna keine Ruhe geben wird, bis er auch ihn dingfest gemacht hat. 
Chris hatte Charlene sieben Jahre zuvor in Las Vegas kennengelernt, wo er seiner Leidenschaft fürs Spielen nachging und sie als Edelprostituierte arbeitete. Doch seine Spielsucht sorgte immer wieder für Ärger in der nachfolgenden Ehe. In Chicago organisierte Neil derweil einen großen Coup, wobei er sich die nötigen Fahrzeuge und Materialien von dem Autowerkstattbetreiber Aaron Grimes besorgen ließ, dabei aber die Aufmerksamkeit des brutalen Gangsters Otis Wardell erregte. Als McCauleys Bande die Schließfächer einer Privatbank knackte, erbeuteten sie nicht nur eine Menge Bargeld, sondern auch brisante Informationen, die der Gang einen gewaltigen Coup jenseits der mexikanischen Grenze bescherte, der Neil zwar mit Elisa zusammenbrachte, aber in einem Fiasko endete, bei dem Elisa in Neils Armen verblutete. 
Im Jahr 2000 führen Geschäfte Chris wieder nach Los Angeles zurück, wo er mit Nate Kontakt aufnimmt und sich seine Wege wieder mit denen von Vincent Hanna kreuzen… 
„Er weiß, dass er von außen betrachtet, zu den zurückgezogen lebenden Heimatlosen gehört, die sich hier auf den Straßen herumtreiben und vor was auch immer sie auf der Flucht sein mögen verstecken. Aber jetzt, wo er hier steht, spürt er nichts vom Nachlassen des Adrenalins. Er ist ganz da, zentriert und kristallklar. Ein professioneller, krimineller Clark Kent, der den Berg noch nicht gefunden hat, den er nicht erklimmen könnte, oder die Schwierigkeiten, mit denen er nicht fertigwerden würde. Er weiß, was er weiß, und er weiß auch, dass er alles lernen kann, was er nicht weiß.“ (S. 292) 
Michael Mann ist nicht der erste Autoren-Filme, der nicht nur die Drehbücher zu den meisten seiner Filme schreibt, sondern auch sein Talent für das Schreiben von Romanen entdeckt. Da steht er in der Tradition von Elia Kazan und Roger Vadim. Mit der Fortsetzung seines Erfolgsfilms „Heat“ in Romanform hat sich Mann ein echtes Mammutprojekt vorgenommen, das das Finale des Films in einem kurzen Dialog zusammenfasst, um dann mit Chris‘ Genesung und Flucht nach Südamerika fortgesetzt wird, wo er sich nicht nur in eine Affäre mit Ana stürzt, sondern auch in der Hierarchie eines taiwanesischen Kartells aufsteigt. 
Mann und seine Co-Autorin wechseln nicht ständig zwischen den Jahren 1988, 1996 und 2000 hin und her, sondern bleiben immer wieder länger bei ihren wichtigsten Figuren, bei Vincent Hanna auf der Seite des Gesetzes, der vor allem damit beschäftigt ist, den durchgeknallten Einbrecher, Vergewaltiger und Mörder Otis Wardell zu schnappen, und bei dem Gangster Chris Shiherlis, der als Einziger das Massaker von 1995 überlebt hat und sich in Südamerika eine neue Existenz aufgebaut hat. 
Vor allem die Vorbereitung und Durchführung der Coups werden ausführlich beschrieben, fangen aber nicht die Atmosphäre ein, die Mann in „Heat“ durch die herausragenden Darsteller, die blau unterkühlten Bilder und den hervorragenden Soundtrack kreiert hat. 
Die Ereignisse in „Heat 2“ werden nämlich recht prosaisch geschildert, die knappen Sätze erinnern eher an Lee Child und James Patterson als an großartige Romanciers. In dem Epos, das zwölf Jahre und den gesamten amerikanischen Kontinent von Nord bis Süd abdeckt, wird vor allem der in „Heat“ eher stiefmütterlich behandelte Chris zur eigentlichen Hauptfigur, doch wirkt sein Werdegang nicht immer überzeugend dargestellt, die Rückkehr nach Los Angeles am wenigsten. 
Was „Heat 2“ an Action und knackigen Dialogen bietet, lässt es auf der anderen Seite an psychologischer Tiefe und Glaubwürdigkeit vermissen. Als Kombination von Prequel und Sequel ist „Heat 2“ trotz einiger Längen ein lesenswerter Thriller, doch möchte man sich wünschen, dass sich Michael Mann wieder auf das Filmen konzentriert. Das kann er definitiv besser. 

Jim Nisbet – „Tödliche Injektion“

Mittwoch, 5. Oktober 2022

(Pulp Master, 234 S., Tb.) 
Der am 28. September 2022 im Alter von 75 Jahren verstorbene Jim Nisbet hat seit den 1970er Jahren Romane, Lyrik, Theaterstücke, Artikel, Essays und Shortstorys in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien sowie ein Sachbuch über Bau und Design retro-futuristischer Möbel geschrieben ist hierzulande nur mit den wenigen bislang bei Pulp Master veröffentlichten Noir-Krimis bekannt geworden, dabei gehören seine Krimis zu den kompromisslosesten Meisterwerken, die das Genre zu bieten hat, wie sein 1987 veröffentlichtes Zweitwerk „Lethal Injection“ eindrucksvoll beweist. 
Der Schwarze Bobby Mencken verlebt in der Todeszelle seine letzten Stunden auf Erden. Nachdem er seine Henkersmahlzeit zu sich genommen hat, verschafft ihm Dr. Franklin Royce, der Gefängnisarzt von Huntsville, Texas, mit einer Dosis Morphium verbotenerweise etwas Gelassenheit, doch bevor er die tödliche Giftspritze verabreicht bekommt, schafft er es noch, den sadistischen Wärter Pit Bull Peters zu töten, der bereits fünf Gefangene auf dem Gewissen hatte, aber für keine dieser Taten zur Rechenschaft gezogen worden war. Dagegen beteuert Mencken mit seinen letzten Worten auf Erden, dass er nicht die Frau in dem Laden mit fünf Schüssen ins Gesicht getötet habe, wofür er zum Tode verurteilt worden ist. „Colleen, ich … hab es nicht getan …“, flüstert er noch und küsst den Arzt auf die Lippen. In einer Bar, wo er sich ein paar Whiskeys gönnt, erfährt Royce durch das Fernsehen noch ein paar Hintergründe. Demnach sei Mencken bei der Flucht vom Tatort festgenommen, seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe sichergestellt worden. Zeugen oder echte Beweise gab es allerdings nicht. 
Royce ist neugierig. Da seine hysterische Frau ohnehin nichts mehr mit ihm zu haben will, macht sich der Arzt auf den Weg nach Dallas, um in den Elendsvierteln dort mehr über Mencken und den Mord herauszufinden. 
„Die Fahrt hat sich hingezogen, über acht Stunden lang. In dieser Zeit hat er sich an den Gedanken von Menckens Unschuld angefreundet, dass er im Begriff stand, einen Vorstoß zu wagen, um herauszufinden, weshalb Mencken den äußersten Weg für etwas gegangen war, was er vielleicht nicht getan hatte. Was er machen würde, wenn oder falls er eine Antwort fände, darüber hatte Royce noch nicht nachgedacht.“ (S. 110) 
Dabei macht er die Bekanntschaft von Menckens Freundin Colleen Valdez, die ihm gleich den Kopf verdreht, und ihrem Mitbewohner Eddie Lamark, die beide ebenfalls am Tatort gewesen waren. Während er mit den beiden abhängt, kommt er der wahren Geschichte auf die Spur… 
„Tödliche Injektion“ weist gerade mal einen Umfang von gut 230 Seiten auf, entwickelt in der Kürze aber eine enorme Spannung, wobei die Hinrichtung von Mencken bereits 60 Seiten einnimmt, die erst einmal ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Todesstrafe darstellt, bevor die Erzählperspektive von dem Todeskandidaten zu dem Teilzeit-Gefängnisarzt wechselt. Dabei verströmt die Geschichte zunächst den typischen Noir-Touch. 
Der zum Tode verurteilte Mencken kann seine Unschuld nicht mehr beweisen, aber vielleicht derjenige, der ihn mit der Giftspritze ins Jenseits befördert hat. Dabei ist Royce auch ein gebrochener Mann, gefangen in einer scheußlichen Ehe und beruflich längst nicht mehr auf der Höhe. Als er sich auf die Suche nach Menckens Freundin Colleen macht und sie schließlich findet, taucht Royce gänzlich in die schäbige Welt der Drogen, der Beschaffungskriminalität und von heißem Sex ein, dass es ihm die Sinne völlig vernebelt. 
Meisterhaft beschreibt Nisbet nicht nur die bedrohlich-prickelnde Atmosphäre und die unerwartete ménage à trois mit Colleen und Eddie, sondern kommt allmählich hinter den wahren Ablauf der Ereignisse, die am Ende zu Menckens Verurteilung geführt haben. Im Finale wartet Nisbet mit einer furiosen Sequenz auf, die die seltsame Odyssee zu einem konsequenten Ende führt. Denn am Ende hat Royce zwar das Verbrechen aufgeklärt, aber seine eigene Selbstzerstörung kann er nicht mehr aufhalten. Mit seiner schnörkellosen Sprache und einem feinen Gespür für die Figuren und die Geschichte entführt Nisbet seine Leser in eine zynische Welt, in der es kein Glück und keine Gerechtigkeit zu geben scheint. Das ist Noir im allerbesten Sinne. 

 

Ian McEwan – „Lektionen“

Montag, 3. Oktober 2022

(Diogenes, 720 S., HC) 
Seit seiner 1975 veröffentlichten Geschichtensammlung „First Love, Last Rites“, die 1982 in der Übersetzung von Harry Rowohlt im deutschen Sprachraum als „Erste Liebe, letzte Riten“ erschienen ist, hat sich der Brite Ian McEwan als einer der bekanntesten europäischen Schriftsteller etabliert, dessen Werke regelmäßig auch verfilmt werden. 2017 gelangten mit „Kindeswohl“, „Am Strand“ und „Ein Kind zur Zeit“ sogar gleich drei McEwan-Adaptionen in die Kinos. Auch in seinem neuen Werk, der auf über 700 Seiten episch angelegten Familiengeschichte „Lektionen“, berührt McEwan wieder Themen, die sich auf die eine oder andere Weise in jedermanns Leben wiederfinden, vor allem die Frage, was den individuellen Menschen ausmacht. 
Für Roland Baines bricht eine Welt zusammen, als er im Frühjahr 1986 mit Mitte dreißig von seiner Frau Alissa verlassen wird und im Zuge ihres spurlosen Verschwindens sogar von der Polizei mit dem Verdacht konfrontiert wird, ein Verbrechen begangen zu haben. Die Postkarten, die Alissa ihm und ihrem gemeinsamen Sohn Lawrence regelmäßig mit dem gleichen Wortlaut aus Dover, Paris, Straßburg und München geschickt hat, werden mit Handschriftenproben verglichen. Monate nach ihrem Verschwinden, das sie nur mit einer kurzen Notiz kommentiert hat („Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst.“), rekapituliert Baines, wie es dazu kommen konnte, und erzählt seine Geschichte. 
In Libyen als Sohn eines Armeeoffiziers aufgewachsen, kommt im Spätsommer 1959 mit seinen Eltern nach England, wird Zeuge eines Motorradunfalls mit Todesopfern und wird er im Alter von elf Jahren in ein Internat gesteckt. Ihm ist noch nicht klar, dass er die nächsten sieben Jahre dort verbringen und anschließend erwachsen sein wird. Was ihn allerdings am meisten prägt, sind die Klavierstunden bei der Mitte zwanzigjährigen Miriam Cornell, die den dann vierzehnjährigen Jungen verführt und sogar zu seinem sechzehnten Geburtstag in Schottland zu heiraten beabsichtigt. Roland kann sich gerade noch rechtzeitig aus dieser Abhängigkeit und Umklammerung befreien, treibt dann aber recht ziellos durchs Leben. Seine anfänglich so vielversprechende Karriere am Klavier verfolgt er nicht weiter. Stattdessen hält er sich als Tennislehrer, Teilzeit-Journalist und Bar-Pianist über Wasser, bis er beim Deutschunterricht am Goethe-Institut Alissa Eberhardt kennen- und lieben lernt. Doch die angehende Schriftstellerin fühlt sich in der Ehe eingeengt und hat erst dann den ersehnten Erfolg, als sie nach Deutschland zurückkehrt, wo sie sogar als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Roland heiratet schließlich seine alte Freundin Daphne, nachdem er zuvor fast wahllos von einer Affäre zur nächsten gesprungen war. 
Als Daphne viel zu früh an Krebs stirbt, macht er sich daran, sowohl Alissa aufzusuchen als auch seine frühere Klavierlehrerin, die sich für den begangenen Missbrauch nun der Strafverfolgung ausgesetzt sieht… 
„Alissas Verschwinden hatte eine Schneise in die Vergangenheit geöffnet. Fast, als wären Bäume gefällt worden für einen besseren Blick. In seltenen Momenten wie diesem sah er, als scharf umrissenen Lichtpunkt, den Ursprung all dessen, was ihm zusetzte, und all denen, die ihm nahekamen. Die Klavierlehrerin, die ihn in jener ersten Nacht heimgesucht hatte, spukte ihm oft im Kopf herum.“ (S. 310) 
Ian McEwans „Lektionen“ ist weit mehr als die Geschichte eines Lebens. In seinem umfangreichsten Roman holt der versierte Schriftsteller weit aus, lässt die Lebensgeschichte seiner Eltern, seiner beiden Halbgeschwister Henry und Susan und anderer mit gesellschafts- und geopolitischen Ereignissen wie die Widerstandsbewegung Weiße Rose, die Suez- und Kuba-Krise, die nukleare Bedrohung nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl, der Falkland-Krieg, Margaret Thatchers Regierungszeit, der Aufschwung der Labour-Party, Gorbatschow und der Fall der Berliner Mauer bis hin zum Klimawandel, Brexit und Umgang mit der Corona-Pandemie. 
Die Einbettung in den historischen Kontext hätte McEwan, der einige biografische Verweise wie das Alter, die Kindheit in Libyen und die Halbgeschwister in seinen Roman hat einfließen lassen, allerdings etwas kürzen können, denn die tatsächlich entscheidenden Momente in Roland Baines‘ Leben spielen sich auf rein persönlicher Ebene ab. 
Wenn der Autor die Beziehungen und Konflikte mit der Klavierlehrerin und Alissa beschreibt, hat „Lektionen“ seine stärksten Momente, denn hier fährt alles auf, was zwischenmenschliche Beziehungen ausmacht, mit allen Höhen und Tiefen, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und Konflikten. Dabei rückt die Rücksichtslosigkeit von Künstlern, die im Dienste ihrer Kunst alles andere vernachlässigen, ebenso in den Vordergrund wie die Frage nach Lust und Schuld in dem Missbrauchsfall, mit dem Roland seine Klavierlehrerin nach Jahrzehnten konfrontiert. 
Es sind keine „Lektionen“ mit ausgestrecktem Zeigefinger, McEwan bietet keine Antworten auf die komplexen moralischen Fragen, die sich Roland Baines am Wendepunkt seines Lebens zu stellen beginnt und denen er bis ins hohe Alter folgt, sondern präsentiert schon eine altersmilde Gelassenheit gegenüber den geschichtlichen Ereignissen, die man nicht beeinflussen kann, gegenüber den Menschen, die man geliebt und die einen verletzt haben. 
Am Ende ist „Lektionen“ eine reflektierte Lektion über die Unwägbarkeiten des Lebens schlechthin.