Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 4) „Die Lady im See“

Samstag, 30. Oktober 2021

(Diogenes, 326 S., HC) 
Raymond Chandler (1888-1959) zählt neben Dashiell Hammett und James M. Cain zu den großen amerikanischen Hardboiled-Krimiautoren. Seine Figur des melancholischen Privatdetektivs Philip Marlowe hat nicht zuletzt durch Humphrey Bogarts Verkörperung in Howard Hawks' „Tote schlafen fest“ die Vorstellung des Publikums von einem Privatdetektiv geprägt. Leider hat Chandler bis zu seinem Tod nur sieben Marlowe-Romane (neben etlichen Kurzgeschichten) geschrieben, die nun nach und nach in einer Neuedition vom Diogenes Verlag erscheinen. „Die Lady im See“ stellt dabei den vierten Band in der Chronologie dar. 
Als Philip Marlowe das Treloar Building an der Olive Street betritt, wo die Gillerlain Company ihren Sitz hat, ist er auf dem Weg zu Derace Kingsley, dem Geschäftsführer des Kosmetik-Unternehmens. Er beauftragt Marlowe damit, seine Ehefrau Crystal zu suchen, die vor einem Monat einen Wochenendtrip zum gemeinsamen Wochenendhaus in der Nähe vom Puma Point unternommen hat, aber seitdem nicht mehr gesehen wurde. Das letzte Lebenszeichen seiner Frau erhielt Kingsley in Form eines Telegramms, in der Crystal ankündigte, über die mexikanische Grenze zu gehen, um sich scheiden zu lassen. Offenbar wollte sie ihren Liebhaber, den Gigolo Chris Lavery, heiraten, doch der habe Kingsley vor kurzem gegenüber behauptet, Crystal seit zwei Monaten nicht mehr gesehen zu haben. Marlowe macht sich also auf den Weg zum Privatsee Little Fawn Lake, wo er mit Bill Chess den Verwalter der Häuser von Kingsley und seines Freundes trifft. 
Von ihm erfährt Marlowe, dass Chess‘ Frau Muriel fast zu gleichen Zeit wie Crystal verschwand. Dann entdeckt Marlowe zufällig eine Leiche im See, die Chess nur anhand ihrer Kleider als Muriel identifizieren kann. Als auch noch ihr Wagen und ihre Kleider in einem Schuppen im Wald nahe des Sees gefunden werden, deutet alles darauf hin, dass die Frau im See ermordet wurde. Marlowe sucht daraufhin Lavery auf und stellt fest, dass sich gegenüber das Haus von Dr. Albert S. Almore befindet, bei dem Muriel Chess unter dem Namen Mildred Haviland als Arzthelferin arbeitete. Nach dieser Mildred suchte bereits ein Polizist namens De Soto, wie Marlowe von einer Lokalreporterin erfährt. Marlowe durchsucht das Haus von Bill Chess, nachdem dieser wegen Mordverdachts festgenommen wurde, und entdeckt eine Kette mit der Gravur „Von Al für Mildred, 28. Juni 1938. In Liebe.“ 
Als Marlowe dann auch Lavery erschossen in seiner Wohnung auffindet, scheint der Fall um das Verschwinden von Crystal Kingsley und Muriel Chess immer komplizierter zu werden … 
„Kingsleys Frau war bestimmt schon zur Fahndung ausgeschrieben oder würde es bald sein. Für die war die Sache in trockenen Tüchern. Eine widerliche Angelegenheit unter ziemlich widerlichen Menschen, zu viel körperliche Liebe, zu viel Alkohol und zu viel Nähe, die in wildem Hass münden, in Mordlust und Tod. Mir war das alles ein wenig zu einfach.“ (S. 184) 
Für seinen 1943 unter dem Titel „The Lady in the Lake“ erschienenen vierten Roman hat sich Chandler seiner beiden bereits 1938 und 1939 veröffentlichten Kurzgeschichten „Bar City Blues“ und „The Lady in the Lake“ bedient sowie beim Verweben der beiden Storys zu einem Roman auch die Geschichte „No Crime in the Mountains“ (1941) berücksichtigt, wie der Übersetzer der Chandler-Neuedition, Rainer Moritz, in seinem Nachwort erwähnt. Chandler beschreibt Bay City, wo sich der Großteil der Handlung abspielt, als wahren Sündenpfuhl, wo Dr. Almore die Prominenten mit Dorgen versorgt, schöne Frauen reihenweise den Männern die Köpfe verdrehen und sie als Wracks zurücklassen, und korrupte Cops wie Degarmo und die gewalttätigen Streifencops Cooney und Dobbs nahezu ungehindert ihre eigenen Dinger drehen. Auch wenn Philip Marlowe in erster Linie dem Police Captain Webber bei der Aufklärung der Morde hilft und dabei Kingsleys Auftrag nicht aus den Augen verlieren will, entpuppt sich „Die Lady im See“ weniger als klassischer Whodunit-Krimi, sondern als vertracktes Spiel um Identitäten, in das übrigens nicht nur die Femmes fatale verwickelt sind. 
Zwar nehmen die Verwicklungen zwischen den Vermissten- und Mordfällen zum Ende hin fast unübersichtliche Züge an, doch Chandler versteht es, mit seinem lakonischen Humor und seiner pointierten Sprache den Leser bei Laune zu halten, um Seite an Seite mit dem zutiefst moralischen Philip Marlowe zuzusehen, wie die Ordnung in der zerrütteten Welt wieder hergestellt wird.  

Kent Haruf – „Ein Sohn der Stadt“

Montag, 25. Oktober 2021

(Diogenes, 284 S., HC) 
Der am 24. Februar 1943 in Pueblo, Colorado, geborene Schriftsteller Kent Haruf schrieb leider nur sechs Romane, bevor er 2014 verstarb, und alle sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt, ebenfalls in Colorado gelegen. Nachdem sich sein letzter Holt-Roman „Unsere Seelen bei Nacht“ nicht zuletzt durch die erfolgreiche Verfilmung mit Robert Redford und Jane Fonda in den Hauptrollen ein internationaler Bestseller wurde, erscheinen nach und nach auch die vorangegangenen Bände, mit „Ein Sohn der Stadt“ nun der zweite Roman in der Holt-Chronologie. 
Acht Jahre lang war der ehemalige Highschool-Footballstar Jack Burdette verschwunden – mit 150.000 Dollar, die er als Geschäftsführer der Farmerkooperative unterschlagen hat. Am späten Samstagnachmittag Anfang November kehrt der ehemalige Frauenschwarm in einem roten Cadillac überraschend nach Holt zurück, wobei er sich in jeder Hinsicht zum Nachteil verändert hat, gelbgesichtig, fettleibig, schmuddelig und mit schütterem Haar schindet er trotz seiner einschüchternden körperlichen Erscheinung keinen Eindruck mehr. Sheriff Bud Sealy nimmt Burdette sofort fest. Dabei ist dessen Vergehen längst verjährt. 
Pat Arbuckle, Herausgeber des „Holt Mercury“, erinnert sich, wie Jack Burdette bereits in der Schule alle für sich einnahm und vor allem von der hübschen Wanda Jo Evans angeschmachtet wurde, die ihm die Hausaufgaben machte und ihn mit Spickzetteln für die Seminararbeiten. Als Gegenleistung durfte sie ihn bei den Straßenrennen am Freitag- und Samstagabend begleiten. Nach dem Tod seines Vaters, der im betrunkenen Zustand von einem Güterzug erfasst wurde, brach er mit seiner streng religiösen Mutter und bezog ein Zimmer im Hotel Letitia, wo er regelmäßig Pokerrunden veranstaltete. 
Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich damit, nach der Schule und an den Wochenenden im Getreidesilo der Farmer-Kooperative zu arbeiten, wo er sich so gut machte, dass ihm später der Job als Manager angeboten wurde, doch zunächst leistete er seinen Wehrdienst ab, bevor er nach Holt zurückkehrte, wo Wanda Jo weiterhin vergeblich darauf wartete, dass Jack sie zur Frau nahm. Stattdessen kehrte er in seiner Funktion als Manager nach einer Tagung von Kooperative-Managern in Tulsa nicht nur um Tage verspätet zurück, sondern präsentierte dabei mit Jessie auch noch seine Ehefrau, die er bei dem Kongress kennengelernt hatte. Das war nicht nur für Wanda Jo ein schwerer Schlag, sondern zeigte auch, aus welchem Holz Jack wirklich geschnitzt war. Schließlich ließ er Jessie mit den zwei Kindern sitzen und verschwand nach Kalifornien … 
„Offenbar wollte sie in Holt bleiben, um dies durchzustehen, aus nur ihr selbst bekannten Gründen. Als wäre sie entschlossen, auch auf solche Ereignisse in ihrer eigenen ruhigen und selbständigen Art zu reagieren, als hinge ihr Selbstbild allein davon ab. Als würde sie etwas beweisen wollen. Daher war es letztendlich tragisch. Es ging um mehr als nur Geld. Als es vorbei war, schmerzte es dermaßen, darüber nachzudenken, dass es nur sehr wenige Leute in Holt gab, die bereit waren, sich überhaupt daran zu erinnern.“ (S. 184f.) 
Während der 1., 1984 veröffentlichte Holt-Roman „The Tie That Binds“ noch auf seine deutsche Übersetzung wartet, erzählt Kent Haruf mit „Ein Sohn der Stadt“ aus der Perspektive des örtlichen Zeitungsverlegers Pat Arbuckle die Geschichte eines Idols, das nicht nur erst die Mädchen und später die Frauen in der Stadt verrückt machte, sondern seinen Charme mit krimineller Energie verband, bis er sich um 150.000 Dollar bereicherte und ohne ein Wort sowohl die Stadt als auch seine Familie verließ. 
Was Jack Burdettes Verschwinden und seine unerwartete Rückkehr nach acht Jahren bei den Bewohnern der Stadt auslöst, beschreibt Haruf in gewohnt einfacher, aber eindringlicher Sprache, die vor allem die Emotionen der Stadtbewohner einfühlsam beschreibt. Dabei geht es weniger darum, wie die Kooperative nach dem ungeheuerlichen Betrug weiter ihre Arbeit verrichtete, sondern um das Schicksal der Zurückgebliebenen, wobei Wanda Joe und Burdettes Frau Jessie besonders im Fokus der Erzählung stehen. 
Wirklich dramatisch entwickelt sich die Geschichte nach Burdettes Rückkehr. Hier macht der Autor deutlich, wie stark Burdette die Geschicke in Holt, die Schicksale der Menschen, die er betrogen und verlassen hat, noch immer zu lenken versteht.  
„Ein Sohn der Stadt“ dokumentiert auf beeindruckende Weise, mit welch großer Empathie Kent Haruf seine Figuren und ihre Entwicklung gestaltet, so dass man sich als Leser direkt im Geschehen, in den Herzen und Köpfen der Menschen glaubt. 

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 7) „Schach unter dem Vulkan“

Sonntag, 24. Oktober 2021

(btb, 430 S., HC) 
Seit der schwedische Erfolgsschriftsteller Håkan Nesser 2003 mit „Sein letzter Fall“ seinen zehnten und vorerst letzten Roman um Kommissar Van Veeteren veröffentlichte, etablierte er mit Inspektor Barbarotti eine neue Figur, die fortan in Serie ermittelte. Mit „Schach unter dem Vulkan“ erscheint nun der bereits siebte Roman um den längst zum Kommissar beförderten Barbarotti, der mit seiner Kollegin und Frau Eva Backman im fiktiven Kymlinge das mysteriöse Verschwinden dreier Schriftsteller aufklären muss. 
Der erfolgreiche Schriftsteller Franz J. Lunde leidet seit zwei Jahren unter einer Schreibblockade. Seiner Lektorin Rachel Werner hat er zwar versichert, bis Weihnachten ein Manuskript über sechzig, siebzig Seiten vorzulegen, die Hälfte des Vorschusses ist auch schon ausbezahlt worden, doch die zündende Idee ist ihm bislang noch nicht gekommen. Als Lunde bei einer Lesung in Ravmossen aus dem Publikum mit der Frage einer Frau aus dem Publikum konfrontiert wird, ob er das perfekte Verbrechen, das er in seinem letzten Buch beschrieb, selbst erlebt habe, bricht der Moderator zwar die Fragerunde ab, doch im Hotelzimmer macht sich anschließend Angst bei dem Autor breit, der gerade an einem sehr autobiografisch gefärbten Manuskript mit dem Titel „Letzte Tage und Tod eines Schriftstellers“ arbeitet. 
Bei der anschließenden Lesung am 21. November in Kymlinge wiederholt sich der Vorfall, danach verschwindet Lunde spurlos von der Bildfläche. Als Lundes in der Schweiz lebende Tochter Viktoria tagelang keinen Kontakt zu ihrem Vater herstellen konnte, gibt sie eine Vermisstenmeldung auf. Während Barbarottis Kollegin und Frau Eva in Sydney verweilt, um ihrem fast dreißigjährigen Sohn Kalle aus der Klemme zu helfen. Er sitzt wegen des Verdachts auf Drogenbesitz und Misshandlung seiner Frau in Untersuchungshaft. In einem Gespräch mit Lundes Schwester und der Polizeianwärterin Sisulu erfährt Barbarotti, dass Lundes Frau vor einigen Jahren nach einer Wanderung an der Grenze zwischen den USA und Kanada verschwand und Lunde selbst vor ein, zwei Jahren auch völlig untergetaucht sei. 
Als aber mit der Lyrikerin Maria Green und dem gefürchteten Literaturkritiker Jack Walde zwei weitere Autoren von der Bildfläche verschwinden, ohne dass es einen Anhaltspunkt gibt, was es mit diesen Fällen auf sich hat, beginnen Barbarotti und seine dann aus Australien zurückgekehrte Frau mit der kaum Resultate bringenden Spurensuche. 
„Wie stellt man sicher, dass man mit diesem Frachter keinen Schiffbruch erleidet? Wenn nirgendwo Land in Sicht ist, wie gelingt es einem dann, wenigstens den richtigen Kurs zu finden? Er merkte, dass ihn Lindhagens länger zurückliegende Bemerkung ärgerte, drei Fälle ergäben ein besseres Muster als zwei. War das nur etwas gewesen, das man in die Runde warf, weil es schlau klang, oder war da etwas dran? Auf welche Weise konnte Jack Waldes Schicksal, wie immer es auch aussehen mochte, zur Klärung der Frage beitragen, was mit Franz J. Lunde und Maria Green passiert war?“ (S. 326) 
Mit „Schach unter dem Vulkan“ bewegt sich Nesser in einem Metiers, das er aus eigener Erfahrung nur zu gut kennt, doch bekommt der Leser nur wenig Neues aus dem Literaturbetrieb vermittelt, außer einer Idee davon, wie verschroben und zurückgezogen Schriftsteller sein können. Davon abgesehen plätschert der neue Barbarotti-Roman ebenso ziellos dahin wie die Ermittlungen von Nessers Protagonisten, der selbst etwas blass bleibt. Die kurze Krise, die die räumliche Trennung von Barbarotti und Backman heraufbeschwört, ist schon so schnell überwunden, wie Eva Backman wieder aus Australien zurückkehrt und sich mit ihrem Mann in die Ermittlungen reinhängt. 
Auch hier gewinnen die Figuren wenig Profil, am meisten noch Lunde und der Kritiker Walde, der unter Pseudonym sehr erfolgreich Romane verfasst, die er als Kritiker gnadenlos verreißen würde, doch Spannung kommt nie auf, da es nie auch nur einen Hinweis auf das Schicksal der drei vermissten Autoren gibt und erst zum Ende der Fall eher zufällig gelöst wird. 
Bis dahin lässt Nesser auch recht oberflächliche Kommentare zu Donald Trump und den Auswirkungen der gerade um sich greifenden Corona-Pandemie in die Geschichte einfließen, überzeugt mit humorvollen Einfällen und sprachlichen Feinheiten, doch insgesamt zählt „Schach unter dem Vulkan“ definitiv zu den schwächeren Werken des schwedischen Bestseller-Autors.  

Jonathan Franzen – „Crossroads“

Dienstag, 19. Oktober 2021

(Rowohlt, 826 S., HC) 
Mit schwergewichtigen Romanen wie „Die Korrekturen“, „Schweres Beben“, „Freiheit“ und „Unschuld“ hat sich der US-amerikanische Schriftsteller und Essayist Jonathan Franzen als einer der wichtigsten Stimmen der Gegenwartsliteratur etabliert. Nun legt er mit seinem neuen Roman „Crossroads“ erneut einen imponierend ausschweifenden Familienroman vor – und das ist nur der Anfang seiner „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“ genannten Trilogie. 
Am 23. Dezember 1971 steckt die Familie des protestantischen Pastors Russ Hildebrandt ganz in den Vorbereitungen des Weihnachtsfestes, doch eigentlich sind Russ, seine Frau Marion und ihre Kinder Perry, Clem und Becky mit ihren jeweils eigenen und zwischenmenschlichen Problemen beschäftigt. Das Familienoberhaupt hat es beispielsweise noch immer nicht verwunden, dass ihm der der beliebte Rick Ambrose als Leiter des Jugendprogramms „Crossroads“ den Rang bei den jüngeren Mitgliedern der Gemeinde in New Prospect abgelaufen hat. 
Während Russ in seiner – übrigens von seiner Frau verfassten – Predigten eher von Vietnam und den Navajos redet, bringt sein jüngerer und empathischerer Kollege die Jugendlichen dazu, auf eine durchaus schmerzlich ehrliche, aber auch spirituell bereichernde Weise miteinander umzugehen. Perry, der schon als Jugendlicher Drogen an der Schule vertickte, versackt zunehmend selbst im Drogenrausch und führt das fragile Familiengefüge bis an die Belastungsgrenze. Mittlerweile hat sich Becky nämlich mit dem Musiker Tanner Evans eingelassen, mit dem sie unbedingt nach Europa will, wofür ihre jüngst verstorbene Tante ihr eine großzügige Summe in ihrem Testament hinterlassen hat. Clem wiederum will die moralische Ungerechtigkeit wieder wettmachen, dass er wegen seines begonnenen Studiums nicht nach Vietnam musste, während vor allem weniger privilegierte Schwarze eingezogen wurden. Als Russ einer Siebzehnjährigen anvertraut, dass es in seiner Ehe nicht gut laufe, kommt es fast zum Eklat, wird dieses unangemessen wirkende Geständnis doch fast als sexuelle Belästigung betrachtet. Die Demütigung, die Russ durch diese Ausgrenzung erfährt, schlägt sich auch in seiner Ehe nieder. Während er seiner zunehmend dickeren Frau kaum noch Beachtung schenkt, flüchtet er sich in die Phantasie, mit der zehn Jahre jüngeren Witwe Frances Cottrell anzubandeln, die Russ nur zu gern von ihren rassistischen Vorurteilen befreien möchte, ihr seine liebsten Blues-Platten ausleiht und sie zur Arbeitsfreizeit ins Najavo-Reservat mitnimmt. 
Als Marion von der sich anbahnenden oder schon vollzogenen Affäre erfährt, sehnt sie sich nach ihrer Jugendliebe Bradley zurück, den sie durch ein gedankenloses Manöver vertrieben hatte, macht Diät und sucht ihn nach über dreißig Jahren wieder auf. 
„Sie war nie über Bradley hinweggekommen. Der Mann, in den sie ihr Leben investiert hatte, war zweite Wahl gewesen – so unsicher, wie Bradley selbstbewusst war, so unbeholfen beim Schreiben und zögerlich beim Sex, wie sich Bradley in beidem als großartig erwiesen hatte. Vielleicht hatte sie damals in Arizona einen Mann gebraucht, den sie führen und übertrumpfen konnte, aber die Ehe war längst zu einem bloßen Arrangement verkommen: Als Gegenleistung für ihre Dienste warf Russ sie den Wölfen nicht zum Fraß vor.“ (S. 401) 
Jonathan Franzen legt mit „Crossroads“ nicht nur einen umfangreichen Familienroman über drei Generationen vor. Vielmehr macht er durch die seelischen Nöte einer christlich geprägten Familien Anfang der 1970er in einem fiktiven Vorwort von Chicago die moralischen Konflikte transparent, die jedes einzelne Familienmitglied daran hindern, glücklich zu werden. Stets scheint das, was ein gottgefälliges Leben vermeintlich ausmacht, im Gegensatz zu dem zu stehen, was sich die Protagonisten für sich selbst wünschen. 
So steht für Russ Hildebrandt bei seiner Gemeindefreizeit im Navajo-Reservat auf einmal weniger die Mission im Mittelpunkt, die Teilnehmer einen anderen Blick auf die Ureinwohner zu gewinnen, als die Möglichkeit, möglichst viel Zeit mit der attraktiven Witwe Frances zu verbringen. Und Becky muss als Alleinerbin des Vermögens ihrer Tante entscheiden, ob sie das Geld christlich unter den anderen Familienmitgliedern aufteilen oder wie von ihrer Tante gewünscht einen Trip nach Europa finanzieren soll, wobei immer noch genügend Geld für die ersten Jahre ihrer College-Ausbildung übrigbleiben würde. 
Franzen überlässt es seinen Lesern, sich ein eigenes Bild von diesen Überlegungen und letztlich getroffenen Entscheidungen zu machen. Er selbst agiert als parteiloser, detailliebender Chronist, der tief in das innerste Wesen seiner Figuren eintaucht und so ein wunderbar lebendiges Epos über Liebe und Lügen, Selbstverwirklichung, Sündhaftigkeit und Pflichtbewusstsein, Geheimnisse, Erwartungen und Enttäuschungen erschafft, das man nicht mehr aus den Händen legen mag und dessen Fortsetzung sehnlichst erwartet wird.  

Mick Herron – (Jackson Lamb: 4) „Spook Street“

Sonntag, 3. Oktober 2021

(Diogenes, 448 S., Pb.) 
Während Daniel Craig wohl definitiv zum letzten Mal in der Rolle des weltweit berühmtesten britischen Spions in „Keine Zeit zu sterben“ die Welt im Kino zu retten versucht, geht es seit Jahren schon im sogenannten Slough House weitaus ruhiger zu. Unter der Leitung des furzenden, wenig umgänglichen, aber enorm gerissenen Jackson Lamb verrichtet seine beim MI5 in Ungnade gefallenen „Slow Horses“ öden Papierkram, geraten aber immer wieder zwischen die Fronten, wenn der offizielle Geheimdienst in Schwierigkeiten steckt. 
So kann der MI5 nicht verhindern, dass in der Westacres-Mall bei einem Bombenanschlag über vierzig Menschen ums Leben kommen – kein guter Einstig für den neuen MI5-Leiter Claude Whelan. Dann gibt es auch noch einen Mord im Haus von David „O.B.“ Cartwright aufzuklären. 
Mit Sorge hat der MI5 verfolgt, wie der einstige Stellvertreter des MI5-Bosses Charles Partner und Großvater von Slow Horses River Cartwright, allmählich senil wird und versehentlich Geheimnisse ausplaudern könnte. Zunächst gehen der MI5 und Jackson Lambs Leute davon aus, dass der Tote in Cartwrights Badezimmer sein Enkel sei, doch bei dem zerfetzten Gesicht der Leiche muss die Autopsie Gewissheit geben. 
In der Zwischenzeit ist River Cartwright mit einer Zugfahrkarte, die er in der Tasche des Toten gefunden hat, nach Frankreich gereist, wo er auf das frisch abgebrannte Haus stößt, in dem zuvor eine merkwürdige Kommune untergebracht war. Bei dem Projekt Kuckuck hatte nicht nur Rivers Vater seine Hände im Spiel, sondern auch ein abtrünniger CIA-Agent. Bevor River die Puzzleteile zusammensetzen kann, wird er in London gekidnappt. Emmy Flyte, die von der Metropolitan Police zum MI5 gekommen ist, wo sie von der wegen Amtsmissbrauch geschassten Dame Ingrid Tearney die Leitung der internen Dienstaufsicht des MI5, den Dogs, übernommen hat, hofft auf die Unterstützung von Lambs lahmen Gäulen, die sich in ihrem Slough House nicht mehr sicher fühlen können. Schließlich löst der O.B. selbst das Rätsel. 
„Er wäre besser dran, sein Leben im Regen oder im Regent’s Park aufs Spiel zu setzen, als hier zu sitzen und Lamb zuzuhören, wie er den Dämon exorzierte, der ihn gepackt hatte. Und vielleicht hatte sie das auch getan, sagte sie sich jedenfalls später, wenn Cartwright nicht wieder angefangen hätte zu reden.“ (S. 335) 
Mit seinem bereits vierten „Slough House“-Roman präsentiert der englische Schriftsteller Mick Herron einmal mehr wunderbare Spionage-Unterhaltung, die mit einem großen Knall beginnt und dann immer tiefer in die Labyrinthe des MI5 und des weniger rühmlichen Ablegers von Jackson Lambs Slough Hous führt. Auf elegante Weise führt der Autor seine Leserschaft wie die blubbernden Heizungsrohre durch die einzelnen Büros von Slough House, stellt in wenigen Sätzen die einzelnen Mitarbeiter vor, zu denen sich bald auch Lambs alkoholsüchtige Sekretärin Catherine Standish gesellt, die bereits ihre Kündigung eingereicht hat, aber durch die Cartwrights wieder ins Spiel kommt. 
Herron findet einmal mehr eine ausgewogene Mischung aus bewährter Spionage-Action, vertrackten Fährten und Verbindungen, die vor allem tief in River Cartwrights Biografie eingreifen. Leider wird sich der Leser einmal mehr von einige vertrauten Figuren verabschieden müssen, aber Herron macht aus der Not eine Tugend und führt dafür neue interessante Charaktere ein, von denen sich zeigen wird, ob sie das harte Agenten-Dasein überstehen. Herron deutet bereits an, dass Diana Taverner sich nicht damit begnügen wird, die zweite Geige hinter ihrem neuen Boss Whelan zu spielen. 
Die wunderbar vielschichtigen, humorvollen Charakterisierungen von Jackson Lambs Crew-Mitgliedern, die pointierten Dialoge, die spannende Handlung und die atmosphärisch stimmige Beschreibung der Schauplätze in London machen „Spook Street“ zu einem echten Lesegenuss nicht nur für Fans des Spionage-Genres.