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Alex Capus – „Das kleine Haus am Sonnenhang“

Montag, 29. Januar 2024

(Hanser, 160 S., HC) 
Der in Frankreich geborene, in der Schweiz lebende und mit beiden Staatsangehörigkeiten versehene Alex Capus hat sich seit seinem literarischen Debüt mit dem Sammelband „Diese verfluchte Schwerkraft“ (1994) immer wieder mit dem Wechselspiel von Geschichte, Biografie und Erfindung, Dokumentation und Erzählung auseinandergesetzt. So überrascht es nicht, dass sein neues Werk, die gerade mal 160 Seiten umfassende Erzählung „Das kleine Haus am Sonnenhang“, sich als Teil der eigenen Biografie präsentiert, darüber hinaus aber auch elementaren Fragen des künstlerischen Schaffens nachgeht. 
Alex war kein Student mehr, aber noch kein Schriftsteller, als er in den neunziger Jahren sehr günstig ein kleines Haus an einem terrassierten Sonnenhang im Piemont kauft und dann mit seiner damaligen Freundin den ganzen Sommer dort verbringt. In dem nahe gelegenen Dorf gibt es keine Kneipe mehr, keinen Bäcker, keinen Postboten, auch im Pfarrhaus wohnt niemand mehr. 
Also macht sich Alex alle paar Tage auf den Weg zum Postamt, um eventuell eingetroffene Briefe und Zeitungen abzuholen, begegnet oft denselben Menschen auf einer granitenen Sitzbank, an der Bushaltestelle oder der Autowerkstatt. Nachdem er seine Anstellung als politischer Journalist bei der Schweizerischen Depeschenagentur gekündigt hatte, will sich Alex ganz auf das Schreiben seines ersten Romans fokussieren. Während seine Freundin zum Herbst wieder ihr Studium der Rechtswissenschaften fortsetzt, lebt Alex allein in dem kleinen Haus und ernährt sich vorwiegend von Spaghetti al aglio, olio e peperoncino, telefoniert jeden zweiten oder dritten Abend mit seiner Freundin. 
Wenn er mal unter Leute kommen möchte, schnappt sich der junge Mann das rostige Fahrrad, lässt das Dorf hinter sich und fährt weiter bis zur nächsten Stadt, wo an der obligatorischen Piazza Garibaldi einen adretten Tankwart Dienst verrichtete, und lässt sich in seiner Stammkneipe Da Pierluigi nieder, wo er ebenfalls immer dieselben Menschen antrifft. 
„Ich bin der Meinung, dass man als Mensch nicht mehrere Bars braucht. Ich brauche nur eine, und da gehe ich dann hin. Es ist eine Mentalitätsfrage, nehme ich an. Nichts, worauf ich besonders stolz wäre. Ich will mich in meiner Bar zu Hause fühlen, deshalb muss dort immer alles gleich bleiben. Ich wünsche keine Veränderungen und keine Überraschungen.“ 
Doch meist ist sich Alex selbst genug, ganz mit dem Schreiben des Romans beschäftigt. Um den Winter besser durchzustehen, gönnt er sich einen Kachelofen mit Schamottsteinen, doch der Winter hat auch seine Tücken. So bekommt Alex mit einem Siebenschläfer unter dem Dach einen unliebsamen Gast, und dann ist auch der Kachelofen eines Tages weg… 
Alex Capus‘ kleine Erzählung ist vor allem eine Erinnerung an unbeschwerte Zeiten in einer ländlichen Gegend im Piemont, wo sich in den neunziger Jahren zwar schon das 21. Jahrhundert in Anfängen bemerkbar macht, aber Briefe noch mit der Hand geschrieben, Bücher in die Schreibmaschine getippt werden. Soziale Kontakte finden noch ganz direkt statt, und wenn man Tag für Tag in einer kleinen Dorfgemeinschaft lebt, kennt man seine Pappenheimer. 
„Das kleine Haus am Sonnenhang“ ist jenseits des biografischen Charakters vor allem eine Liebeserklärung an das italienische dolce vita, das Capus so einfühlsam und humorvoll beschreibt, als sei man mittendrin in der völlig verrauchten Bar – oder möchte es wenigstens sein. Es ist ein besonderes Lebensgefühl, das den Ich-Erzähler in dieser Zeit durchdringt, und daran lässt er seine Leserschaft mit großer imaginärer Kraft teilhaben. 
Es macht einfach Spaß, den Autor darüber sinnieren zu lassen, warum man nicht ständig neue Pizzen ausprobieren und neue Strände aufsuchen muss, wenn die einmal getroffene Wahl sich doch bewährt hat. Genauso interessant sind aber auch Capus‘ Ausführungen zu den Voraussetzungen, um als Autor gute Bücher schreiben zu können. 
So stellt „Das kleine Haus am Sonnenhang“ gleichermaßen eine Liebeserklärung an ein Leben in Gelassenheit und an die Schätze literarischer Kostbarkeiten dar.  

Amor Towles – „Lincoln Highway“

Samstag, 19. November 2022

(Hanser, 576 S., HC) 
Der 1964 in Boston, Massachusetts, geborene Amor Towles veröffentlichte erst 2011 mit „Eine Frage der Höflichkeit“ sein Romandebüt, bevor er mit seinem Zweitwerk „Ein Gentleman in Moskau“ (2016) nicht nur zwei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times stand, sondern auch Finalist des Kirkus Prize in Fiction & Literature war und 2018 für den International Dublin Literary Award nominiert wurde. Nun legt er mit „Lincoln Highway“ eine Road Novel vor, in dem vier ganz unterschiedliche Jungen und junge Männern im Juni 1954 einen abenteuerlichen Trip auf der ersten Autobahn Amerikas unternehmen. 
Als der 18-jährige Emmett Watson aus der Besserungsanstalt in Salina entlassen wird, kehrt er nach in seine Heimatstadt Morgen in Nebraska zurück, wo nicht nur sein kleiner Bruder Billy auf ihn wartet, sondern auch der Bankier seines zwischenzeitlich verstorbenen Vaters. Mr. Obermeyer eröffnet Emmett, dass sein ohnehin verschuldeter Vater mit den Hypothekenzahlungen im Rückstand war und dass deshalb nun das Haus an die Bank übergehen würde. Da auch die Familie von Emmetts Opfer, Jimmy Snyder, der sich nach einem Gerangel mit Emmett auf tödliche Weise den Kopf aufgeschlagen hatte, viele Freunde und Verwandte in der Gegend haben, bleibt Emmett nichts anderes übrig, als mit Billy im dem 48er blauen Studebaker, den sich Emmett selbst verdient hat, auf den Weg zu machen. Billy hat bereits eine genaue Vorstellung davon, wohin die Reise gehen soll, fand er doch eine Dose mit acht Postkarten, die ihre Mutter schrieb, nachdem sie ihren Mann und die beiden Kinder vor acht Jahren verlassen hatte. Billy hat recherchiert, dass ihre Mom auf dem 1912 gebauten Lincoln Highway unterwegs war, von Ogallala und Cheyenne über Rock Springs, Salt Lake City und Sacramento bis nach San Francisco. 
Doch bevor sich Emmett und Billy mit einem Rucksack und dreitausend angesparten Dollar auf den Weg nach Kalifornien machen, stehen Emmetts Mithäftlinge Duchess und Woolly vor der Tür. Sie hatten sich im Kofferraum des Direktors versteckt, als dieser Emmett nach Morgen bringen wollte. Sie überreden die beiden Brüder, zunächst in die Adirondacks zu fahren, wo ein Erbe über 150.000 Dollar auf sie wartet, die sie mit Emmett und Billy teilen wollen. Da dies das Startkapital für ein neues Zuhause in Kalifornien sein könnte, lässt sich Emmett auf den Deal ein. 
Doch die Reise läuft anders als erwartet und entspricht in etwas den Abenteuern, von denen Billy in seinem Buch „Professor Abacus Abernathes Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden“ mit nicht nachlassender Begeisterung gelesen hat. 
„Sieht man sich den Highway auf der Landkarte an, könnte man denken, dass dieser Mr. Fisher, von dem Billy geredet hatte, sein Lineal genommen und eine Linie quer durch den Kontinent gezogen hatte, ohne Rücksicht auf Berge und Flüsse. Er musste sich vorgestellt haben, dass das Highway eine angemessene Fahrrinne für die Beförderung von Waren und Ideen von einem Meeresufer zum anderen darstellen und darin das Schicksal seine endgültige Erfüllung finden würde. Doch wer immer hier unterwegs war, schien zufrieden mit dem Gefühl der eigenen Zwecklosigkeit.“ 
Amor Towles ist mit seinem dritten Roman „Lincoln Highway“ ein zutiefst berührender Abenteuer-Roman über vier vaterlose Jungen gelungen, die Mitte der 1950er Jahre eine Fahrt ins Ungewisse unternehmen. Für Emmett und vor allem für seinen kleinen Bruder Billy heißt das Ziel, zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli in San Francisco zu sein, weil sie wissen, dass ihre Mutter früher das Feuerwerk so geliebt hat. Es scheint die einzige Chance zu sein, ihre Mutter, von der sie seit acht Jahren nichts gehört haben, wiederzusehen. 
Towles wechselt immer wieder die Erzählperspektive, um die vier Jungen zu charakterisieren und ihre jeweiligen Pläne und Gedanken darzustellen. Dabei wird schnell deutlich, dass sich die unterschiedlichen Pläne nicht unbedingt konfliktfrei unter einen Hut bringen lassen. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, dass man als Leser*in Verständnis für alle vier Jungen aufbringt und mit ihren nicht immer ungefährlichen Begegnungen mit falschen Pastoren, arbeitslosen Schauspielern, einem riesigen Schwarzen namens Ulysses, der ebenfalls auf der Suche nach seiner Familie ist, Clowns und Frauen wie Sarah und Sally, denen die Jungen besonders am Herzen liegen, bis zum Schluss mitfiebert. Dabei ist „Lincoln Highway“ voller Poesie und versteckter Weisheiten, witzig und melancholisch, aber vor allem von einer wohltuenden Gelassenheit und empathischem Tiefgang. Die Geschichte ist so fesselnd geschrieben, dass man sich am Ende wünscht, dass Towles bald eine Fortsetzung nachlegt.