Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 9) „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“

Sonntag, 5. Oktober 2025

(btb, S. 352, HC)
Auch wenn Håkan Nesser fraglos zu den führenden Vertretern skandinavischer Kriminalliteratur zählt, hat er doch längst sein Alleinstellungsmerkmal durch die gelungene Einbettung der Kriminalgeschichte in den gesellschaftlichen, vor allem aber den persönlichen Kontext der Figuren etabliert. Das trifft insbesondere auch auf den mittlerweile neunten Band um den mittlerweile auch schon in die Jahre gekommenen Kommissar Gunnar Barbarotti zu, wobei bereist der Titel - „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“ – andeutet, dass der Nessers neuer Roman weit mehr als ein klassischer Krimi ist.
Es ist Frühsommer in der fiktiven Kleinstadt Kymlinge. Der wegen seiner unangemessenen Strenge weithin unbeliebte Sport- und Mathematiklehrer Allan Fremling beschließt, seiner Wertschätzung für gesunde Ernährung zum Trotz sich eine Pizza mit Cola liefern zu lassen. Doch als es an der Tür klingelt, wartet nicht der Pizzabote auf den ehemaligen Mehrkämpfer, sondern eine Pistole, die ihn mit zwei Schüssen in die Brust und einer in den Kopf tötet. Da der Mord in seiner Nachbarschaft in Kvarnbo stattgefunden hat, wird der melancholische Inspektor Lars Borgsen mit der Ermittlung beauftragt, doch fühlt sich der 52-Jährige nach den Spätwirkungen einer COVID-Erkrankung nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen wie körperlichen Kräfte. Die Befragungen von Fremlings Kolleg:innen an der Schule bringen zwar zutage, dass das Opfer wenig geschätzt worden ist, doch ein Motiv für die Tat will sich nicht offenbaren. Schließlich wird direkt unter Fremlings Balkon ein weiterer Mord verübt, diesmal an dem Personal Trainer Birger Svensson, der sowohl eine Affäre mit der Sozialarbeiterin Emma Burman als auch mit ihrer siebzehnjährigen Tochter Ester unterhielt. Nun übernehmen Gunnar Barbarotti und seine (Lebens-)Partnerin Eva Backman die Ermittlungen, doch auch sie kommen in den vermeintlich unzusammenhängenden Morden keinen Schritt weiter. Dann verschwindet auch noch ein fünfzehnjähriger Junge…

„Ihm kam Van Veeteren in den Sinn, der über diese Komplikation gesprochen hatte, über unser Bestreben, Muster auch dort zu finden, wo es keine Muster gab. Unsere Angst vor dem Chaos, oder vor … wie hieß das? Horror vacui? Vor der Leere. Aber Van Veeteren war nicht gläubig gewesen, das war ein Unterschied. Er hatte keinen festen Punkt im Jenseits gehabt, was möglicherweise ein Handicap war. Barbarotti konnte ihm insofern zustimmen, dass die Jagd nach Mustern und Zusammenhängen häufig vergeblich blieb, aber gab es einen anderen vernünftigen Weg, als Mordermittler zu arbeiten?“ (S. 288f.)

Zwei Morde in einem weniger attraktiven Viertel halten Barbarotti, Backman, Borgsen und weitere Kolleg:innen zwar ordentlich auf Trab, doch die Suche nach Motiven für die Morde bleibt fruchtlos. Dass die Aufklärung der Morde nur eine Facette des neuen Barbarotti-Romans darstellt, wird spätestens ab Seite 63 deutlich, wenn der Täter Gelegenheit bekommt, seine Sichtweise auf die Ereignisse zu schildern. Håkan Nesser geht es nicht darum, einen relativ unspektakulär wirkenden Fall aufzuklären und die Ermittler bei der Suche nach Indizien, Beweisen, erhellenden Aussagen und Motiven zu begleiten, auch wenn diese weiterhin einen wesentlichen Bestandteil seiner Geschichten darstellt. Interessanter sind aber die Verweise auf das gesellschaftliche Umfeld. So verwendet der Autor viel Zeit darauf, die gesundheitlichen Probleme von Barbarottis Kollegen Borgsen zu beschreiben, der nach einer COVID-Erkrankung einfach nur noch erschöpft ist und kaum konzentriert seine Aufgaben wahrnehmen kann. Dennoch trägt er am Ende auf eigene Faust wesentlich dazu bei, die Ermittlungen in die richtige Richtung zu lenken. Nesser lässt es sich aber auch nicht nehmen, immer wieder auf den Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine und Autokraten wie Putin, Erdogan, Trump und Bolsonaro hinzuweisen, die die Welt ins Chaos stürzen würden. Das wirkt in der fast schon mantrischen, aber nicht weiter ausgeführten Wiederholung etwas arg aufgesetzt. Am eindringlichsten ist Nesser noch die in den Kriminalfall eingebettete Coming-of-Age-Geschichte des von Emma Burmans Sohn gelungen. Hier erweist sich der Autor als der einfühlsame Erzähler, als der er weithin geschätzt wird.
Leseprobe Håkan Nesser - „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“

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