(btb, S. 352, HC)
Auch wenn Håkan Nesser fraglos zu den führenden
Vertretern skandinavischer Kriminalliteratur zählt, hat er doch längst sein
Alleinstellungsmerkmal durch die gelungene Einbettung der Kriminalgeschichte in
den gesellschaftlichen, vor allem aber den persönlichen Kontext der Figuren
etabliert. Das trifft insbesondere auch auf den mittlerweile neunten Band um
den mittlerweile auch schon in die Jahre gekommenen Kommissar Gunnar Barbarotti
zu, wobei bereist der Titel - „Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“ –
andeutet, dass der Nessers neuer Roman weit mehr als ein klassischer
Krimi ist.
Es ist Frühsommer in der fiktiven Kleinstadt Kymlinge. Der
wegen seiner unangemessenen Strenge weithin unbeliebte Sport- und Mathematiklehrer
Allan Fremling beschließt, seiner Wertschätzung für gesunde Ernährung zum Trotz
sich eine Pizza mit Cola liefern zu lassen. Doch als es an der Tür klingelt,
wartet nicht der Pizzabote auf den ehemaligen Mehrkämpfer, sondern eine
Pistole, die ihn mit zwei Schüssen in die Brust und einer in den Kopf tötet. Da
der Mord in seiner Nachbarschaft in Kvarnbo stattgefunden hat, wird der
melancholische Inspektor Lars Borgsen mit der Ermittlung beauftragt, doch fühlt
sich der 52-Jährige nach den Spätwirkungen einer COVID-Erkrankung nicht mehr im
Vollbesitz seiner geistigen wie körperlichen Kräfte. Die Befragungen von
Fremlings Kolleg:innen an der Schule bringen zwar zutage, dass das Opfer wenig
geschätzt worden ist, doch ein Motiv für die Tat will sich nicht offenbaren.
Schließlich wird direkt unter Fremlings Balkon ein weiterer Mord verübt,
diesmal an dem Personal Trainer Birger Svensson, der sowohl eine Affäre mit der
Sozialarbeiterin Emma Burman als auch mit ihrer siebzehnjährigen Tochter Ester
unterhielt. Nun übernehmen Gunnar Barbarotti und seine (Lebens-)Partnerin Eva
Backman die Ermittlungen, doch auch sie kommen in den vermeintlich unzusammenhängenden
Morden keinen Schritt weiter. Dann verschwindet auch noch ein fünfzehnjähriger
Junge…
„Ihm kam Van Veeteren in den Sinn, der über diese Komplikation gesprochen hatte, über unser Bestreben, Muster auch dort zu finden, wo es keine Muster gab. Unsere Angst vor dem Chaos, oder vor … wie hieß das? Horror vacui? Vor der Leere. Aber Van Veeteren war nicht gläubig gewesen, das war ein Unterschied. Er hatte keinen festen Punkt im Jenseits gehabt, was möglicherweise ein Handicap war. Barbarotti konnte ihm insofern zustimmen, dass die Jagd nach Mustern und Zusammenhängen häufig vergeblich blieb, aber gab es einen anderen vernünftigen Weg, als Mordermittler zu arbeiten?“ (S. 288f.)
Zwei Morde in einem weniger attraktiven Viertel halten Barbarotti,
Backman, Borgsen und weitere Kolleg:innen zwar ordentlich auf Trab, doch die
Suche nach Motiven für die Morde bleibt fruchtlos. Dass die Aufklärung der
Morde nur eine Facette des neuen Barbarotti-Romans darstellt, wird spätestens
ab Seite 63 deutlich, wenn der Täter Gelegenheit bekommt, seine Sichtweise auf
die Ereignisse zu schildern. Håkan Nesser geht es nicht darum, einen relativ
unspektakulär wirkenden Fall aufzuklären und die Ermittler bei der Suche nach Indizien,
Beweisen, erhellenden Aussagen und Motiven zu begleiten, auch wenn diese
weiterhin einen wesentlichen Bestandteil seiner Geschichten darstellt. Interessanter
sind aber die Verweise auf das gesellschaftliche Umfeld. So verwendet der Autor
viel Zeit darauf, die gesundheitlichen Probleme von Barbarottis Kollegen
Borgsen zu beschreiben, der nach einer COVID-Erkrankung einfach nur noch
erschöpft ist und kaum konzentriert seine Aufgaben wahrnehmen kann. Dennoch trägt
er am Ende auf eigene Faust wesentlich dazu bei, die Ermittlungen in die
richtige Richtung zu lenken. Nesser lässt es sich aber auch nicht
nehmen, immer wieder auf den Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine und Autokraten
wie Putin, Erdogan, Trump und Bolsonaro hinzuweisen, die die Welt
ins Chaos stürzen würden. Das wirkt in der fast schon mantrischen, aber nicht
weiter ausgeführten Wiederholung etwas arg aufgesetzt. Am eindringlichsten ist
Nesser noch die in den Kriminalfall eingebettete Coming-of-Age-Geschichte des von
Emma Burmans Sohn gelungen. Hier erweist sich der Autor als der einfühlsame
Erzähler, als der er weithin geschätzt wird.Leseprobe Håkan Nesser -
„Eines jungen Mannes Reise in die Nacht“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen