(Luchterhand, 320 S., HC)
Hanns-Josef Ortheil zählt zu den produktivsten und profiliertesten
Autoren in Deutschland. In seiner Werksbiografie finden sich Erzählungen, historische
und zeitgenössische Romane, Essays, Drehbücher für Fernsehfilme und Sachliteratur
vor allem zum Kreativen Schreiben, das er an der Universität Hildesheim lehrt. Nachdem
er im Oktober 2021 mit „Ombra – Roman einer Wiedergeburt“ seine
Erlebnisse rund um seine 2019 diagnostizierte Herzinsuffizienz samt komplikationsreicher
Herz-OP und Reha aufbereitet hatte, führt es ihn mit seinem neuen Roman „Schwebebahnen“
in seine Kindheit in Wuppertal zurück, wo er zwischen 1957 und Anfang der
1960er Jahre gelebt hatte.
Der sechsjährige Josef ist der Sohn eines Streckenvermessers
bei der Eisenbahn und erlebt Ende der 1950er Jahre den Familienumzug von Köln
nach Wuppertal, in ein Haus und eine Nachbarschaft voller Eisenbahner. Da er in
Köln in der Schule schnell als Außenseiter abgestempelt war und sie abbrechen
musste, soll der Umzug dem Jungen die Chance auf einen Neuanfang bieten. Tatsächlich
lässt es sich gut an. Der ebenso talentierte wie introvertierte Klavierspieler
muss sein Üben von vier Stunden täglich zwar wegen der Nachbarn stark
reduzieren, dafür entwickelt Josef vielfältige Talente, vom Langlauf bis zum
Singen gregorianischer Choräle. Er bekommt mit Herrn Vondemberg einen Klavierlehrer,
der ihn zum Improvisieren und Komponieren anleitet, wird von der Schulleiterin Frau
Fischer zu anregenden Gesprächen über seine „Besonderheiten“ gebeten, vor allem
freundet er sich aber mit Mücke an, der in die zweite Klasse gehenden Tochter
des Gemüsehändlers von gegenüber. Sie hilft ihm dabei, sich anderen Menschen zu
öffnen und sich selbst besser zu verstehen, ebenso wie der engagierte Pater de
Kok und sein Lehrer Herr Dr. Sondermann mit seinen Exkursionen und Gedichten.
„Er möchte ein normaler Junge sein und bleiben und nichts, aber auch gar nichts Besonderes. Bleibt man normal, gehört man dazu und wird nicht beschimpft. Sticht man heraus, kann man Lorbeeren und Kränze erhalten, wird aber im schlimmsten Fall verprügelt oder von Banden mit Pfeilen beschossen oder mit Steinen beworfen.“ (S. 209)
Es fällt nicht schwer, in „Schwebebahnen“ Ortheils
eigene Kindheit in fiktionaler Form wiederzuentdecken, ist der Autor doch
tatsächlich Sohn einer Bibliothekarin, die ihm anfangs auch das Klavierspielen
beigebracht hat, und des Geodäten und späteren Bundesbahndirektors Josef
Ortheil. Der Roman ist zwar in der dritten Person geschrieben, allerdings
in einer fast kindgerechten Sprache, die die Perspektive des jungen
Protagonisten deutlicher herausstehen lässt. Wir erleben mit dem sechsjährigen
Jungen, wie er in seiner neuen Umgebung in Wuppertal prägende Bekanntschaften
macht, die den sonst stillen Jungen zum Langläufer, Komponisten, Sänger und
Dichter werden lassen, doch Ortheil erzählt nicht nur von den vielfältigen
Erfahrungen und vor allem Lernprozessen einer ungewöhnlichen Kindheit, sondern er
fängt auch die Atmosphäre der Angst einer individualisierten Gesellschaft vor einem
neuen Krieg ein, die die Menschen ebenso voneinander entfremdet, aber auch einander
näherbringt, wie in Josefs Bekanntschaften mit seiner ledigen Schulleiterin,
dem versierten Klavierlehrer und mit der fast gleichaltrigen Mücke deutlich
wird. Die berühmte Wuppertaler Schwebebahn dient dabei als Metapher sowohl für
die Ängste vor dem Neuen als auch für die Möglichkeiten, die das Ausleben der Fantasie
eines begabten Jungen bietet.
Mit seiner einfühlsamen, wunderbar beschreibenden Sprache
zieht Ortheil sein Publikum sofort in den Bann und lässt es nicht mehr
los, denn Josefs Geschichte verzaubert, macht Mut und stimmt nachdenklich.
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