Hanns-Josef Ortheil – „Schwebebahnen“

Freitag, 10. Oktober 2025

(Luchterhand, 320 S., HC)
Hanns-Josef Ortheil zählt zu den produktivsten und profiliertesten Autoren in Deutschland. In seiner Werksbiografie finden sich Erzählungen, historische und zeitgenössische Romane, Essays, Drehbücher für Fernsehfilme und Sachliteratur vor allem zum Kreativen Schreiben, das er an der Universität Hildesheim lehrt. Nachdem er im Oktober 2021 mit „Ombra – Roman einer Wiedergeburt“ seine Erlebnisse rund um seine 2019 diagnostizierte Herzinsuffizienz samt komplikationsreicher Herz-OP und Reha aufbereitet hatte, führt es ihn mit seinem neuen Roman „Schwebebahnen“ in seine Kindheit in Wuppertal zurück, wo er zwischen 1957 und Anfang der 1960er Jahre gelebt hatte.
Der sechsjährige Josef ist der Sohn eines Streckenvermessers bei der Eisenbahn und erlebt Ende der 1950er Jahre den Familienumzug von Köln nach Wuppertal, in ein Haus und eine Nachbarschaft voller Eisenbahner. Da er in Köln in der Schule schnell als Außenseiter abgestempelt war und sie abbrechen musste, soll der Umzug dem Jungen die Chance auf einen Neuanfang bieten. Tatsächlich lässt es sich gut an. Der ebenso talentierte wie introvertierte Klavierspieler muss sein Üben von vier Stunden täglich zwar wegen der Nachbarn stark reduzieren, dafür entwickelt Josef vielfältige Talente, vom Langlauf bis zum Singen gregorianischer Choräle. Er bekommt mit Herrn Vondemberg einen Klavierlehrer, der ihn zum Improvisieren und Komponieren anleitet, wird von der Schulleiterin Frau Fischer zu anregenden Gesprächen über seine „Besonderheiten“ gebeten, vor allem freundet er sich aber mit Mücke an, der in die zweite Klasse gehenden Tochter des Gemüsehändlers von gegenüber. Sie hilft ihm dabei, sich anderen Menschen zu öffnen und sich selbst besser zu verstehen, ebenso wie der engagierte Pater de Kok und sein Lehrer Herr Dr. Sondermann mit seinen Exkursionen und Gedichten.

„Er möchte ein normaler Junge sein und bleiben und nichts, aber auch gar nichts Besonderes. Bleibt man normal, gehört man dazu und wird nicht beschimpft. Sticht man heraus, kann man Lorbeeren und Kränze erhalten, wird aber im schlimmsten Fall verprügelt oder von Banden mit Pfeilen beschossen oder mit Steinen beworfen.“ (S. 209)

Es fällt nicht schwer, in „Schwebebahnen“ Ortheils eigene Kindheit in fiktionaler Form wiederzuentdecken, ist der Autor doch tatsächlich Sohn einer Bibliothekarin, die ihm anfangs auch das Klavierspielen beigebracht hat, und des Geodäten und späteren Bundesbahndirektors Josef Ortheil. Der Roman ist zwar in der dritten Person geschrieben, allerdings in einer fast kindgerechten Sprache, die die Perspektive des jungen Protagonisten deutlicher herausstehen lässt. Wir erleben mit dem sechsjährigen Jungen, wie er in seiner neuen Umgebung in Wuppertal prägende Bekanntschaften macht, die den sonst stillen Jungen zum Langläufer, Komponisten, Sänger und Dichter werden lassen, doch Ortheil erzählt nicht nur von den vielfältigen Erfahrungen und vor allem Lernprozessen einer ungewöhnlichen Kindheit, sondern er fängt auch die Atmosphäre der Angst einer individualisierten Gesellschaft vor einem neuen Krieg ein, die die Menschen ebenso voneinander entfremdet, aber auch einander näherbringt, wie in Josefs Bekanntschaften mit seiner ledigen Schulleiterin, dem versierten Klavierlehrer und mit der fast gleichaltrigen Mücke deutlich wird. Die berühmte Wuppertaler Schwebebahn dient dabei als Metapher sowohl für die Ängste vor dem Neuen als auch für die Möglichkeiten, die das Ausleben der Fantasie eines begabten Jungen bietet.
Mit seiner einfühlsamen, wunderbar beschreibenden Sprache zieht Ortheil sein Publikum sofort in den Bann und lässt es nicht mehr los, denn Josefs Geschichte verzaubert, macht Mut und stimmt nachdenklich.

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