Don Winslow – (Neal Carey: 5) – „Palm Desert“

Dienstag, 27. Februar 2024

(Suhrkamp, 195 S., Tb.) 
Eigentlich fühlte sich Neal Carey nach seinem letzten verpatzten Einsatz von der „Friends of the Family“, für die ihn sein zwergwüchsiger, einarmiger Ziehvater Joe Graham als Privatermittler für äußerst prominente Kunden ausgebildet und durch die er sein Studium finanziert hatte, aus dem Dienst entlassen. So kann er sich voll auf seinen Studienabschluss an der Columbia Universität konzentrieren und sich den Hochzeitsvorbereitungen widmen, die vor allem seine Freundin Karen umtreiben. 
Ihr gemeinsames Sexleben steht nun auch unter dem Vorzeichen von Karens deutlich artikulierten Kinderwunsch. Neal mag sich mit dem Thema noch nicht so recht anfreunden, was offensichtlich der Tatsache geschuldet ist, dass seine Mutter eine Prostituierte gewesen ist und er seinen Vater nie kennengelernt hat. Als Joe Neal darum bittet, den betagten Komiker Nathan „Natty Silver“ Silverstein aus einer Hotelsuite im sechs Stunden entfernten Las Vegas abzuholen und ihn nach Hause nach Palm Springs zu bringen, sagt Neal auch deshalb zu, um so für eine kurze Zeit den Diskussionen mit seiner ralligen Freundin um den Nachwuchs zu entgehen. 
Natürlich entpuppt sich der der Auftrag dann doch – Überraschung, Überraschung! – als sehr kompliziert. Denn schon an der Hotelbar verliert Neal seine Zielperson, als dieser mit Hope White eine alte Freundin wiedertrifft, mit der der alte geile Bock auf sein Zimmer verschwindet. So verpassen Neal und Natty erst den geplanten Flug um vier Uhr, bevor Neal am nächsten Tag frustriert feststellen muss, dass Natty nicht in den Flieger steigen will und sie den Weg nach Palm Springs mit einem Mietwagen zurücklegen müssen. Doch unterwegs werden Neal und Natty von Nattys ehemaligen Nachbarn Heinz und Sami entführt, was Neal vor Augen führt, dass hinter Nattys absichtlich verzögerter Heimkehr mehr stecken muss als angenommen… 
„Zunächst konzentrierte ich mich auf die Fakten. Heinz war unterwegs hierher, und er hatte eine Pistole. Wahrscheinlich glaubte er, wir seien bereits tot, und er würde nur Sami abholen. Also mussten wir uns verstecken, Sami als Köder vorschicken und dann schneller ziehen als Heinz. Oh Gott, hab ich wirklich gerade gesagt ,schneller ziehen‘? Ihn jedenfalls unschädlich machen, bevor er mitbekam, dass wir gar nicht tot waren. Eigentlich ganz einfach, oder? Was konnte da schon schiefgehen?“ (S. 163) 
Nach vielversprechendem Beginn mit den ersten beiden Romanen der Neal-Carey-Reihe, „London Undercover“ und „China Girl“, die Anfang der 1990er Jahre gleichzeitig den Beginn von Don Winslows Schriftsteller-Karriere markierten, ließ die fünf Bände umfassende Reihe nicht nur an Umfang merklich nach, sondern auch in qualitativer Hinsicht. 
Nach den 300 eher wirr überkonstruierten und krampfhaft auf humorvoll getrimmten Seiten von „A Long Walk Up the Water Slide“ bilden die 200 Seiten von „Palm Desert“ den Abschluss der Reihe um den freiberuflichen Privatermittler, der seinen vermeintlich kinderleichten Aufträgen nie gewachsen ist. 
Don Winslow, der sich in der Folgezeit mit harten Thrillern wie „Zeit des Zorns“, „Tage der Toten“ und „Das Kartell“ als einer der besten Genre-Vertreter etablierte, hat für den Abschluss seiner Neal-Carey-Reihe nicht mal eine vernünftige Story parat. Sie wirkt wie ein müder Abklatsch von Martin Brests „Midnight Run“ mit Robert De Niro und Charles Grodin in den Hauptrollen, nur dass „Palm Desert“ eben überhaupt nicht witzig ist. 
Von ein paar netten Jokes abgesehen gibt nämlich der notgeile Altkomiker Natty Silver immer wieder flache Witze zum Besten, bis durch einen eingeschobenen Briefwechsel zwischen einem Anwalt und einer Versicherungsgesellschaft überhaupt herauskommt, warum Heinz und Sami den früheren Varieté-Künstler in ihre Gewalt bringen wollen. Bis dahin ist das Interesse an der ideenlosen Geschichte aber schon verflogen, und am Ende ist man froh, dass die aus der Ich-Perspektive von Karen und Neal erzählte Story nach 200 Seiten endlich vorbei ist.  

Don Winslow – (Neal Carey: 4) „A Long Walk Up The Water Slide“

Sonntag, 25. Februar 2024

(Suhrkamp, 302 S., Tb.) 
Bevor Don Winslow mit harten Drogenmafia-Thrillern wie „Tage der Toten“, „Das Kartell“ und „Savages – Zeit des Zorns“ zu einem der besten Genre-Autoren weltweit avancierte, präsentierte er Anfang der 1990er Jahre seine ersten Fingerübungen mit einer fünfteiligen, humoristisch gefärbten Thriller-Reihe um Neal Carey, einen Studenten an der Columbia, der davon träumt, eines Tages am College Englisch zu unterrichten, und sich ein Zubrot damit verdient, für seinen Ziehvater und Vorgesetzten Joe Graham hin und wieder Aufträge als Privatdetektiv für die „Friends of the Family“ zu übernehmen. Nach „London Undercover“, „China Girl“ und „Way Down on the High Lonely“ veröffentlichte Suhrkamp 2016 den vierten Band unter dem Originaltitel „A Long Walk Up The Water Slide“
Seit Neals letztem Auftrag für die von Ed Levine geführte „Friends of the Family“, bei dem er einen Mann erschoss, hat sich der 28-Jährige in das Schlafzimmer seiner Freundin Karen Hawley zurückgezogen und vergeblich auf die unangenehmen Fragen von FBI, Highway Patrol und der Polizei gewartet. Er arbeitet an seiner Doktorarbeit zum Thema „Tobias Smollett: Literarischer Außenseiter“ und zieht ernsthaft in Erwägung, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, mit dem ihn der zwergwüchsige, einarmige Joe Graham sporadisch konfrontiert. Als Joe diesmal anruft und Neal einen Auftrag anbietet, bei dem er überraschenderweise niemanden suchen muss, sagt er auch wegen der Aussicht auf eine Terrasse mit Whirlpool zu, die sich Neal und Karen mit dem Honorar in ihrem Zuhause in Austin, Nevada, bauen lassen könnten. 
Doch natürlich entpuppt sich die Aufgabe, einer jungen Frau namens Polly Paget vernünftiges Englisch beizubringen, damit sie ihre Anschuldigung, von dem prominenten Fernsehmoderator und Unternehmer Jack Landis vergewaltigt worden zu sein, glaubwürdig vortragen kann, ohne als prollige Schlampe rüberzukommen, denn sowohl ihr Aussehen als auch ihre Sprache vermitteln mehr als überdeutlich diesen Eindruck. Zwar beteuert Graham, dass die Mafia nicht mit im Spiel sei, aber der Auftrag entpuppt sich doch als ziemlich heikel, denn Jack hat als Gründer, Präsident und Hauptanteilseigner von Family Cable Network, wo er mit seiner Frau Candice die beliebte Sendung „Familienzeit mit Jack und Candy“ moderiert, einiges zu verlieren, investiert er doch gerade in ein Ferienparadies, dessen Apartments sich nicht so schnell verkaufen lassen wie gewünscht. 
Bis zu ihrer Aussage soll Neal Polly nicht nur vernünftiges Englisch beibringen, sondern sie auch gut verstecken, denn natürlich setzen Jack Landis und seine Geschäftspartner alles daran, dass seine Sekretärin und Geliebte Polly nie ihre Aussage zu Protokoll geben kann. Dazu wird nicht nur der Privatermittler Walter Withers engagiert, sondern auch ein Auftragskiller. Als sich die Dinge weitaus turbulenter entwickeln als geplant, macht sich vor allem Joe Graham große Vorwürfe. 
„Die ganze Operation Polly Paget war überstürzt und ohne ausreichende Informationsgrundlage durchgeführt worden. Die Friends of the Family hätten den Fall nicht übernehmen dürfen, ohne vorher die gegnerische Seite restlos zu durchleuchten. Und dass Eddie und Kitteredge ein sicheres Versteck verraten hatten, war erst recht nicht nachvollziehbar. Dabei war es nicht mal unser Versteck gewesen, sondern das von Neal. Endlich hatte der Junge ein Zuhause gefunden, und wir lassen zu, dass es ihm um die Ohren fliegt. Wir sind schludrig geworden, dachte Graham. Der Erfolg hat uns glauben lassen, wir seien besser, als wir sind.“ (S. 225) 
Mit dem vierten Band seiner 1991 gestarteten Neal-Carey-Reihe entwickelt Don Winslow die Lebensgeschichte des jungen Doktoranden, der nebenbei als Privatermittler für die Firma arbeitet, in der auch sein Ziehvater tätig ist, konsequent weiterentwickelt. Die Beziehung zu seiner Freundin Karen steht auf einer soliden Basis, das überraschende Auftrags-Angebot kommt wie gerufen, um den Lebensstil des jungen Paars etwas aufzupeppen. Doch die Beziehung zwischen Neal und Karen gerät schnell in den Hintergrund, als die billig aufgemotzte, herrlich prollig daherkommende Polly in ihr Leben tritt und damit einen höchst komplexen Rattenschwanz hinter sich herzieht, der ordentlich Action und ein paar Tote mit sich bringt. 
Das ist temporeich und witzig - vor allem in den knackigen Dialogen – geschrieben, doch schießt Winslow in der zweiten Hälfte des gerade mal 300-seitigen Romans weit übers Ziel hinaus, als die mittlerweile unüberschaubare Schar an Akteuren an schnell wechselnden Schauplätzen die Orientierung zu verlieren drohen und damit den Lesegenuss arg schmälern. Denn für feinsinnige Charakterisierungen bleibt hier kein Raum. Winslow ist hier so auf Action und pointierten Humor getrimmt, dass die Story darunter leidet. Mit einem ähnlichen Konzept ist die „Slow Horses“-Reihe des Briten Nick Herron weit origineller ausgefallen.  

Donal Ryan – „Seltsame Blüten“

Mittwoch, 21. Februar 2024

(Diogenes, 272 S., HC) 
Dafür, dass sich Hartnäckigkeit durchaus auszahlen kann, ist der Ire Donal Ryan ein vorzügliches Beispiel. Von dem Umstand, dass seine ersten Romane 47-mal abgelehnt wurden, ließ er sich nicht beirren. Nachdem Lilliput Press ab 2012 Ryans ersten beiden Werke veröffentlicht hatte, wurde auch der Diogenes Verlag auf das Talent aufmerksam und legt nach „Die Sache mit dem Dezember“, „Die Gesichter der Wahrheit“, „Die Lieben der Melody Shee“ und „Die Stille des Meeres“ nun mit „Seltsame Blüten“ bereits den fünften Roman eines Autors vor, der für seine früheren Werke gleich mehrmals mit dem Irish Book Award ausgezeichnet worden ist. 
Irland im Jahr 1973. Mit ihren jeweils um die 60 Jahren leben Kit und Paddy Gladney gottesfürchtig, einfach, aber zufrieden in einem kleinen Cottage in Knockagowny, County Tipperary. Paddy fährt morgens mit der Post durch den Ort und arbeitet nachmittags als Knecht auf der Jackmans, während Kit sich neben dem eigenen Haushalt um die Buchführung einiger Kaufleute in der Gegend kümmert. 
Dass ihre einzige Tochter Moll als Zwanzigjährige vor fünf Jahren ohne etwas zu sagen eines Morgens den Bus nach Dublin genommen hat, lastet schwer auf der Seele des Ehepaars, zumal ihre eigenen Versuche, ihre Tochter in Dublin ausfindig zu machen, kläglich scheiterten. Doch fünf Jahre später taucht Moll ebenso plötzlich wieder vor ihrer Tür auf. Überglücklich lassen Kit und Paddy die Heimgekehrte erst einmal in Ruhe, bis sie selbst eine Erklärung zu ihrem Verschwinden und ihrer Rückkehr abzugeben bereit ist. 
Doch bevor Moll auch nur ein Wort dazu abgibt, taucht ein Mann in der Gegend auf, der sich nach Moll erkundigt, und wenig später steht auch er vor der Tür der Gladneys. Doch das sind nicht die beunruhigendsten Neuigkeiten, mit denen Kit und Paddy konfrontiert werden… 
„Kit löst die Finger aus der Gebetshaltung, ballt die Hände zu Fäusten, faltet sie erneut und fährt mit dem Takt ihres Rosenkranzes fort, sie versucht, die Gedanken auszublenden, die ihre Gebete überlagern, doch es gelingt ihr nicht. Es ist einer dieser Abende, an denen sich ungebetene Erinnerungen in dein Vordergrund drängen und ihre Gedanken in Beschlag nehmen.“ (S. 241) 
Mit seinem neuen Roman setzt sich Ryan einmal mehr mit dem Leben und den Schicksalen einfacher Menschen im stark katholisch geprägten Irland auseinander und beschreibt in fast schon verschwenderisch ausgereizter Sprachkunst, wie sich die fünfjährige Abstinenz einer geliebten Tochter und ihre unerwartete Rückkehr auf das Leben eines ganzen Dorfes auswirkt. Dabei geht Ryan nicht chronologisch vor. Tatsächlich unternimmt er in der Erzählung mehr als gewagte Sprünge ebenso in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, um die Geheimnisse rund um Molls Verhalten und weit darüber hinaus zu lüften. 
Vor allem der erste Teil ist dem Autor gut gelungen, wenn er die Lebensumstände und die Menschen in Knockagowny beschreibt. Als Moll, inzwischen 25-jährig, plötzlich zu ihren Eltern zurückkehrt, ändert sich natürlich einiges, doch wirken die nun beschriebenen Ereignisse sehr robust zusammengewürfelt. Ein funktionierender Erzählfluss will sich da nicht einstellen. Stattdessen wird man als Leser immer wieder mit neuen, lange zurückliegenden oder weit voraus geeilten Ereignissen konfrontiert, die erst im Laufe der nächsten Kapitel aufgeschlüsselt werden. 
„Seltsame Blüten“ stellt insofern einen programmatischen Titel dar, als Donal Ryan die Dramaturgie seiner Erzählung(en) kräftig durchrüttelt und sein Publikum dazu zwingt, sich immer neu auf die Ereignisse nach zunächst unbestimmt wirkenden Zeitsprüngen einzustellen. Das kann man machen, führt hier aber neben dem abgehackten Erzählfluss vor allem dazu, dass man bei all den verpassten Ereignissen, die im Nachhinein nur skizzenhaft rekapituliert werden, die emotionale Bindung zu den Figuren verliert. So überzeugt Ryans neuer Roman zwar einmal mehr durch seine sprachliche Virtuosität, doch fesselt der Plot längst nicht so wie in seinen vorangegangenen Werken.  

Emanuel Bergmann – „Tahara“

(Diogenes, 288 S., HC) 
In der Filmszene kennt sich der 1972 in Saarbrücken geborene Emanuel Bergmann aus, verbrachte er nach dem Abitur doch einige Jahre in Los Angeles, um Film und Journalismus studieren, um dann für verschiedene Filmstudios, Produktionsfirmen und Medien sowohl in den USA als auch in Deutschland zu arbeiten. Was liegt da näher, als einen Roman in der Filmwelt anzusiedeln?  
Bergmann entführt seine Leserschaft mit seinem neuen Roman „Tahara“ zum Filmfestival nach Cannes, wo das Leben seines Protagonisten kräftig aus den Fugen gerät. 
Der berühmte Filmkritiker Marcel Klein hat seine besten Zeiten hinter sich. Früher hat man ihn sogar mit George Clooney verglichen. Mittlerweile muss er seine Stirnglatze mit einem Strohhut verdecken. Er ist mit der Abzahlung eines Kredits im Rückstand und trifft völlig übermüdet in Cannes ein, von wo er einmal mehr über das Filmfestival berichten soll. 
In die Pressekonferenz mit John Travolta, der seinen neuen Actionfilm vorstellt, geht er völlig unvorbereitet, doch dafür begegnet er der attraktiven französischen Lehrerin Héloïse, die am Lycée Französisch und Deutsch unterrichtet und wie Marcel das Kino liebt. Bei einem Espresso kommen sich die beiden völlig unterschiedlichen Filmliebhaber näher, doch ihre Begegnungen in den folgenden Tagen sind ebenso von Leidenschaft wie Streit, vor allem aber von Geheimnissen geprägt, die erst nach und nach gelüftet werden und ihre stürmische Liaison in etwas verwandeln, was beide ebenso fasziniert wie verängstigt. 
Als Marcel für eine Titelstory den Hollywoodstar Eva Vargas interviewen soll, die in der Steven-Spielberg-Produktion „A Light in the Dark“ die Hauptrolle verkörpert, kommt es zum Eklat, als Marcel der Schauspielerin erst in den Ausschnitt guckt und sie dann auf die Affäre ihres Verlobten anspricht. Da Marcel aus dem Interview nicht viel herausholen kann, findet er eine eigene Lösung für das Problem, das ihm allerdings nach Abgabe seiner Story um die Ohren fliegt… 
„Nun war er aufgeflogen, und so schrecklich das war, es barg auch eine kleine Gnade. Er konnte neu anfangen, reinen Tisch machen. Er hatte in diesen Tagen mit Héloïse etwas gekostet, von dem er vermutete, dass es manch anderen Menschen für immer vorenthalten blieb. Er begehrte sie auf eine Art, die ihn vollkommen verzehrte, und hätte man ihn gefragt, was er brauche, so hätte er geantwortet: nichts außer ihr, weder Schlaf noch Wasser, ich will nur bei ihr sein, in ihr sein, mit ihr sein.“ (S. 200) 
Mit dem Titel „Tahara“ nimmt Emanuel Bergmann („Der Trick“) Bezug auf die jüdische Tradition, die Toten vor der Beerdigung von Kopf bis Fuß sorgfältig zu waschen, damit der Verstorbene ohne Schmutz und Scham, vielleicht auch ohne Sünde vor seinen Schöpfer treten kann. Bergmanns ein wenig autobiografisch eingefärbter Marcel Klein durchläuft in dem Roman eine ähnliche Entwicklung, wird er doch durch die Entlarvung eines jahrelang gepflegten feinen Lügengespinstes dazu gezwungen, kräftig aufzuräumen in seinem Leben. 
Als Katalysator dient ihm dabei die Affäre mit der streng katholisch erzogenen Französin Héloïse, die aus ihrer Ehe mit dem Apotheker Grégoire auszubrechen versucht, sich ihm aber durch ihr Ehegelübde bis zum Tod mit ihm verbunden fühlt. Über die schwierige Liaison zwischen Marcel und Héloïse hinaus bietet „Tahara“ aber auch faszinierende Einblicke hinter die Kulissen eines Medienspektakels wie dem Filmfestival in Cannes, wo wirklich alles nur darauf ausgerichtet ist, dass eine gute Presse zu den Filmen erscheint, um die Leute in die Kinos zu locken. 
Diese Mechanismen entlarvt der Filmbranchen-Insider Bergmann auf unterhaltsame Weise. Die Kombination aus temperamentvoller Liebesgeschichte und einem etwas desillusionierenden Blick in die Film- und Medienwelt wirkt selbst wie der Plot zu einem Hollywood-Film, erinnert stellenweise aber auch an die amourösen Abenteuer aus der Feder von Philippe Djian. Der temporeiche Plot und das interessante Thema machen „Tahara“ zu einem filmreifen Lesevergnügen.  

Paul Auster – „Bloodbath Nation“

Freitag, 16. Februar 2024

(Rowohlt, 192 S., HC) 
Die Statistiken sind deprimierend: Amerikaner haben nicht nur eine 25 Mal höhere Chance, angeschossen zu werden als Bürger in anderen hochentwickelten Ländern, sondern 82 Prozent aller Todesfälle durch Schusswaffen werden von Amerikanern verübt. 40 000 Amerikaner sterben jährlich durch Schussverletzungen, mit 393 Millionen Schusswaffen im Besitz amerikanischer Staatsbürger besitzt jeder Mann, jede Frau und jedes Kind mehr als eine Waffe. Das sind die Schattenseiten des als unantastbar geltenden Zweiten Verfassungszusatzes vom 15. Dezember 1791, der die Einschränkung des Rechts auf den Besitz und das Tragen von Waffen untersagt und seit jeher Anlass zu nicht enden wollenden juristischen wie politischen Diskussionen über das genaue Ausmaß dieses Verbots gibt. 
In diese Diskussion schaltet sich nun auch der renommierte US-amerikanische Autor Paul Auster ein, der neben seinen prominenten Romanen wie „Die New-York-Trilogie“, „Mond über Manhattan“, „Im Land der letzten Dinge“ und zuletzt „Baumgartner“ auch immer wieder kluge Essays zu unterschiedlichsten Themen verfasst hat (wie zuletzt in dem Band „Mit Fremden sprechen“ zusammengefasst). 
Austers neuer Essay „Bloodbath Nation“ hat seinen Ursprung in der Vita Austers, ist doch sein Großvater 1919 von seiner Großmutter erschossen worden, was jahrelang ein gut gehütetes Geheimnis in der Familie blieb. Auster selbst erwies sich bei Schießübungen im Kindesalter als überaus talentiert, hat aber nie eine Waffe besessen und ist seinem offensichtlichen Talent für den Umgang mit Schusswaffen auch nie mehr nachgegangen. Dabei ist Auster wie so viele seiner Zeitgenossen mit den Western in den 1950er Jahren aufgewachsen, in der Männer mit schwarzen Hüten die Bösen waren und durch die guten Männer mit weißen Hüten – natürlich mit Waffen – zur Räson gebracht werden mussten. 
Auster skizziert, wie schon die Ausrottung der Ureinwohner und die Sklaverei als unaufgearbeitete Sünden in der Geschichte der USA dazu führten, dass das Verständnis von Demokratie dazu führte, dass sich Einzelne eher um sich selbst kümmern, als dass sich die Menschen in einer Gemeinschaft füreinander verantwortlich fühlen. Auster zählt in seinem Essay vor allem etliche Beispiele auf, in denen oft junge und psychisch schwer geschädigte Männer nicht nur davon fantasieren, möglichst viele Menschen (ob Fremde, Freunde oder Familienangehörige) zu töten, sondern dies nach sorgfältiger Planung auch tun. 
Zwar betont der 77-jährige, an Krebs schwer erkrankte Autor, dass Amokläufe nur für einen geringen Prozentsatz der Opferzahlen verantwortlich sind, die auf Schusswaffengebrauch zurückzuführen sind, sie stehen aber nicht ohne Grund im Zentrum des Buchs, werden diese mass shootings doch als eine Art Performancekunst angesehen, die besonders viel Raum in der Medienberichterstattung erhält. Dieser Fokus wird auch durch die schwarzweißen, sehr trist und trostlosen erscheinenden Fotografien von Spencer Ostrander betont, da sie die Tatorte der Verbrechen erst danach zeigen, ohne eine Menschenseele, was die Tragik der oft nach wie vor verwaisten, mittlerweile bereits abgerissenen Supermärkte, Bars oder Synagogen noch verstärkt. 
„Mit generellen Verboten und drakonischen Maßnahmen kann man den zum Kampf Entschlossenen keinen Frieden aufdrängen. Frieden wird es erst geben, wenn beide Seiten ihn wollen, und um es dahin zu bringen, müssten wir uns zunächst einmal aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir sind und wer wir als Volk in Zukunft sein wollen, und dazu müssten wir uns aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir in der Vergangenheit gewesen sind. Sind wir bereit, uns diesem lange hinausgeschobenen nationalen Augenblick der Wahrheit und der Versöhnung zu stellen?“ 
So interessant und erkenntnisreich sich Austers „Bloodbath Nation“ auch liest, macht das schmale Büchlein doch wenig Mut, dass sich in Zukunft etwas Grundlegendes an dem Verhältnis der Amerikaner zu ihren Waffen ändert. Dazu ist der Einfluss der NRA (National Rifle Association) auch zu stark. Und die gar nicht so unwahrscheinliche Möglichkeit, dass der Mann mit der schrecklichen Frisur doch noch einmal zum Präsidenten gewählt werden könnte, lässt wenig Hoffnung keimen, dass sich die Amerikaner noch eines Besseren besinnen werden. 
Auster selbst bietet auch keine Lösung für das Problem des Umgangs mit den Waffen an, so dass man auch in Zukunft nur auf weitere Berichte über irgendwelche Massaker an Schulen, in Clubs oder bei öffentlichen Versammlungen warten kann, ohne dass sich etwas an den Gesetzen zum Tragen und Benutzen von Waffen ändern wird.  

Kent Haruf – „Abendrot“

Montag, 12. Februar 2024

(Diogenes, 416 S., HC) 
Mit seinem 1984 veröffentlichten Debütroman „The Tie That Binds“ (der 2023 bei Diogenes in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das Band, das uns hält“ erschienen ist) entführte der US-amerikanische Schriftsteller Kent Haruf sein Publikum erstmals in den Mikrokosmos der fiktiven Kleinstadt Holt in den Great Plains von Colorado, in der auch die fünf nachfolgenden Romane des 2014 verstorbenen Autors angesiedelt sind. In „Abendrot“, dem vierten Band der Holt-Saga, begegnen wir meist Figuren, die uns bereits aus früheren Bänden bekannt sind, wie die McPheron-Brüder. 
Harold und Raymond McPheron haben nach dem frühen Tod ihrer Eltern ihr Leben lang gemeinsam auf der von ihnen bewirtschafteten Ranch gelebt und waren sich stets selbst genug. Nachdem sie vor zwei Jahren die damals schwangere Victoria Roubideaux bei sich aufgenommen haben, bereiten sie sich nun darauf vor, dass die alleinerziehende junge Frau mit ihrer Tochter Katie wieder ausziehen, ins über hundert Kilometer entfernte Fort Collins, wo Victoria das College besuchen will. 
Als Harold bei einem Zwischenfall mit den Rindern so schwer verletzt wird, dass er stirbt, muss Raymond auf einmal lernen, nicht nur auf sich allein gestellt zu sein, sondern auch erstmals wieder bewusst Kontakt zu anderen Menschen in der Stadt zu suchen. 
Derweil versuchen die von Sozialhilfe abhängigen Betty und Luther, Wallace irgendwie gemeinsam mit ihren Kindern Richie und Joy Rae durchs Leben zu kommen, wobei ihnen die engagierte Sozialarbeiterin Rose Tyler zur Hand geht. Doch als die Familie Bettys zu Gewaltausbrüchen neigenden Onkel Hoyt Raines nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bei sich aufnimmt, gerät das ohnehin fragile Familiengefüge völlig aus dem Gleichgewicht. Betty kann es kaum ertragen, keinen Kontakt mehr zu ihrer Erstgeborenen haben zu dürfen, nun kann sie nicht verhindern, dass Hoyt auch ihre Kinder misshandelt. Und dann ist da der elfjährige DJ, der sich liebevoll um seinen 75-jährigen Großvater Walter kümmert, seit seine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Wenn sein Grandpa mit dem Rentenscheck von der Eisenbahngesellschaft in die Eckkneipe geht, erledigt DJ seine Hausaufgaben am Tresen. Mit der gleichaltrigen Nachbarstochter Dena Wells erlebt DJ schließlich die zarten Knospen der ersten Liebe. 
Bei seinen Ausflügen in die Stadt lernt Raymond tatsächlich auch Frauen kennen, doch der Umgang mit ihnen ist ihm überhaupt nicht vertraut. Zudem vermisst er seinen Bruder schmerzlich… 
„… plötzlich wurde ihm bewusst, dass sich das Zimmer, in dem er lag, direkt unter dem leeren Zimmer seines Bruders befand, und so starrte er an die Decke und fragte sich, wie es seinem Bruder im fernen Jenseits wohl ergehen mochte. Dort müsste es irgendwie Rinder geben und wohl auch eine Arbeit für seinen Bruder in der hellen wolkenlosen Luft inmitten von diesen Rindern. Ohne das wäre sein Bruder nie zufrieden. Er betete darum, dass es Rinder gab, seinem Bruder zuliebe.“ (S. 162) 
Mit „Abendrot“ gibt Kent Haruf einmal mehr einen einfühlsamen Einblick in das Leben der Einwohner des Präriekaffs Holt. Er schaut aus sicherer Distanz hinter Türen und Fenster der Häuser und Kneipen, Krankenhauses und des Sozialamts, bringt uns das Leben der McPheron-Brüder, der bedürftigen Wallace-Familie, dem Großvater-Enkel Gespann von Walter und DJ und beschreibt, was sie in ihrem Leben so beschäftigt. 
Der Autor ist dabei absolut neutral, verurteilt weder die Gewalttätigkeit von Hoyt Raines noch die Art, wie Betty und Luther Wallace tatenlos zusehen, wie Hoyt ihre Kinder vertrimmt. „Abendrot“ präsentiert sich vielschichtiges Panoptikum unterschiedlichster Menschen mit jeweils eigenen Ängsten und Sehnsüchten. Da ist für Liebe und Freundschaft genauso viel Platz für Trauer, Wut und Schmerz. Es sind Momentaufnahmen eines guten Jahres, die neugierig darauf machen, wie die Menschen in Holt ihr Schicksal in Zukunft meistern.  

Ray Bradbury – „Das Kind von morgen“

Mittwoch, 7. Februar 2024

(Diogenes, 368 S., Tb.) 
Mit teils auch großartig verfilmten, zu Klassikern avancierten Werken wie „Fahrenheit 451“, „Der illustrierte Mann“, „Die Mars-Chroniken“ und „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“ hat sich Ray Bradbury (1920-2012) weit über die Grenzen der Science-Fiction hinaus einen Namen als brillanter, sprachgewaltiger Erzähler gemacht. Auch in der 1969 im Original als „I Sing the Body Electric!“ veröffentlichten und hierzulande zunächst als „Gesänge des Computers“ und „Die vergessene Marsstadt“, zuletzt als „Das Kind von morgen“ erschienene Sammlung von 17 zwischen 1948 und 1969 entstandenen Kurzgeschichten erweist sich Bradbury als Meister fantasievoller Gedankenspiele, die sich letztlich auf die tiefsten Emotionen eines Menschen zurückführen lassen. 
Mit der ersten Geschichte „Das Kilimandscharo-Projekt“ lädt der Ich-Erzähler einen Jäger ein, seine Zeitmaschine zu nutzen und damit nach Afrika ins Jahr 1954 zu reisen. „Die schreckliche Feuersbrunst drüben im Landhaus“ erzählt von vierzehn Männern, die sich mitten in den gesellschaftlichen Unruhen auf den Weg zum Anwesen von Lord Kilgotten machen, um sein Haus niederzubrennen. Allerdings gehen sie dabei viel zu höflich vor, um ihr Vorhaben auch umzusetzen. Sie verhalten sich leise, um nicht die Dame des Hauses zu wecken, ziehen die Schuhe aus, um die wertvollen Teppiche nicht zu verschmutzen, und lassen sich sogar dazu überreden, das Haus erst abzufackeln, wenn der Lord mit seiner Gemahlin zur Premiere eines Stückes nach Dublin abgereist ist. Als auch noch einige wertvolle Kunstwerke zur Sprache kommen, die der Brand zerstören würde, gerät das Vorhaben der Freiheitskämpfer endgültig ins Wanken. Zu den eindrucksvollsten Geschichten zählt die Titelgeschichte der von Diogenes herausgegebenen Ausgabe mit dem Titel „Das Kind von morgen“. Hier müssen sich Peter Horn und seine Frau mit der Tatsache anfreunden, dass ihr von Dr. Walcott entbundenes Kind die Form einer blauen Pyramide hat. Durch eine Distruktur der Dimensionen ist das Kind in eine andere Dimension hineingeboren worden, aber ansonsten ganz normal – nur dass es seine Eltern als weiße Würfel wahrnimmt. Als der Versuch der Wissenschaftler scheitert, das Kind aus seiner Dimension herauszuholen, müssen sich die Eltern entscheiden, ob sie stattdessen in die Dimension ihres Kindes überwechseln. 
„Die Frauen“ handelt von dem Urlaub eines Ehepaars am Strand, das durch im Meer erwachte Wesen auf eine harte Probe gestellt wird. Während es den Mann am letzten Tag des Urlaubs noch einmal ins Wasser zieht, lässt sich seine Frau allerhand Dinge einfallen, ihn davon abzuhalten, weil sie Sorge trägt, dass er ihrer überdrüssig geworden sein könnte und sich zu sehr den vermeintlich weiblichen geheimnisvollen Wesen im Wasser hingezogen fühlt. 
Die wahrscheinlich bekannteste Geschichte des Bandes ist die durch ein Gedicht von Walt Whitman inspirierte Titelgeschichte der amerikanischen Originalausgabe. „Ich singe den Leib, den elektrischen“ handelt von dem Einzug der Großmama von Timothy, Agatha und Tom, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Der Vater der drei Kinder bestellt eine Oma bei der Fantoccini GmbH, die damit wirbt, die erste humanoide mikro-elektrische wiederaufladbare Elektrische Großmutter perfektioniert zu haben. Während die beiden Jungs die neue Großmutter schnell ins Herzu schließen, ist Agatha noch zu sehr vom Verlust ihrer Mutter gepeinigt, um die neue Oma akzeptieren zu können. Doch mit ihrer weisen Art findet die Elektrische Oma schließlich auch einen Zugang zu Agatha. 
„,Und obwohl der Streit noch hunderttausend Jahre weitergehen mag: Was ist Liebe? werden wir vielleicht herausfinden, dass Liebe die Fähigkeit von jemandem ist, uns uns selbst zurückzugeben. Vielleicht ist es Liebe, wenn jemand begreift und sich daran erinnert, uns wieder an uns selbst auszuhändigen, eine Kleinigkeit besser, als wir zu hoffen oder träumen gewagt hätten.‘“ (S. 228f.) 
In „Die verschwundene Marsstadt“ macht sich ein Trupp von ausgesuchten Gästen auf Einladung von I.V. Aaronson auf den Weg zu einer 4-Tage-Reise zum Mars, um das Geheimnis einer verschwundenen Stadt zu lüften… 
Ray Bradbury entführt uns mit seinen Geschichten einmal mehr in vermeintlich fremde Welten, doch egal, in welche Zeiten und an welche Orte er uns entführt, geht es doch immer um zutiefst menschliche Sehnsüchte und Emotionen. Durch seine bildhafte Sprache entzündet der begnadete Autor den Funken der Fantasie bei seinem Publikum, konfrontiert ihn mit betörenden Märchen, die die Melancholie der Trauer und des Erinnerns ebenso lebendig werden lässt wie das Gefühl größter Zärtlichkeit, inniger Liebe und ganz natürlichen Wünschen. 
„Bradburys Stärke liegt darin, dass er über die Dinge schreibt, die uns wirklich wichtig sind – nicht die Dinge, für die wir uns angeblich interessieren: Wissenschaft, Ehe, Sport, Politik, Verbrechen“, wird Damon Knight auf der Rückseite des Buches zitiert. „Er schreibt über die fundamentalen Ängste und Sehnsüchte: die Wut, geboren zu sein; der Wunsch, geliebt zu werden; das Verlangen, sich mitzuteilen; der Hass auf Eltern und Geschwister; die Angst vor Dingen, die nicht wir selber sind…“ 
Besser kann man Bradburys Werk kaum zusammenfassen. 

 

Jonathan Lee – „Joy“

Samstag, 3. Februar 2024

(Diogenes, 384 S., HC) 
Mit seinem letzten, 2021 veröffentlichten Roman „The Great Mistake“ huldigte der in England geborene Schriftsteller Jonathan Lee seiner Wahlheimat New York und beschäftigte sich mit dem streitbaren Stadtplaner Andrew Haswell Green, dem die Stadt u.a. den Central Park und die öffentliche Bibliothek, den Zoo in der Bronx sowie das American Museum of Natural History und das Metropolitan Museum of Art verdankt und der am 13. Januar 1903 im Alter von 83 Jahren vor seiner Haustür erschossen wurde. Im Zuge der kriminalistischen Aufklärung des heimtückischen Mordes kommen einige Protagonisten zu Wort, die die Puzzleteile von Andrew Greens Leben und Wirken zusammenzusetzen helfen. 
Nachdem Diogenes Jonathan Lees vierten Roman 2022 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der große Fehler“ veröffentlicht hatte, legt der renommierte Verlag nun mit Lees 2012 veröffentlichten Debüt „Joy“ nach. Bereits hier dient der gewaltsame Tod eines Menschen als Grundlage für eine facettenreiche Geschichte in einem Metier, in dem sich der Autor, der früher in einer Anwaltskanzlei sowohl in Tokio als auch in London gearbeitet hat, bestens auskennt.
Joy Stephens könnte sich glücklich schätzen. Mit Mitte dreißig steht sie kurz davor, zur ersten Partnerin in der Londoner Anwaltskanzlei Hanger, Slyde & Stein ernannt zu werden. Sie ist mit dem Akademiker Dennis verheiratet, der gerade ein Sabbatical einlegt, in Wahrheit aber wegen der Anschuldigungen sexuellen Missbrauchs auf unbestimmte Zeit von seiner Lehrtätigkeit suspendiert ist, bis der Vorfall aufgeklärt worden ist und die Zeit nutzt, an seinem hoffentlich überaus verkäuflichen Buch über Shakespeare zu arbeiten und es bei einem populärer verlegen zu lassen als wie bisher im Universitätsverlag. 
Und sie unterhält eine Affäre mit Peter, einem ihrer Kollegen und zufälligerweise auch Mann ihrer besten Freundin Christine. Doch ausgerechnet bei ihrer Dankesrede stürzt sie sich vor aller Augen zehn Meter in die Tiefe. Der Schock der Zeugen sitzt tief. Und so bekommen alle, die Joy näher gekannt haben, die Gelegenheit, sich bei einem Psychotherapeuten auszusprechen, Dennis und Peter ebenso wie der hauseigene Fitnesstrainer Samir und die Persönliche Assistentin Barbara. Und dazwischen kommt Joy im Rückblick zu Wort, wenn sie den schicksalhaften Freitag von frühmorgens um 1:10 Uhr bis zum folgenreichen Sprung in die Tiefe Revue passieren lässt. 
„Mitten in diesem ganzen Lügengespinst blieb Dennis verlässlich. Sie liebte den einfühlsamen, sanftmütigen Dennis. Sie trug diesen Hunger nach Risiko in sich, aber gleichzeitig die Sehnsucht nach jemandem, der ihr Sicherheit gab und nett war. Er brachte ihr alles Mögliche, als sie depressiv war: Blumen, Cracker, Dinge außerhalb ihrer selbst. Seine Sätze waren voller Außenwelt.“ (S. 182) 
Mit seinem Debütroman hat sich Jonathan Lee auf vertrautes Terrain begeben und seine Kenntnisse des Alltags in einer modernen Anwaltskanzlei in seine Geschichte über das Leben einer Frau einfließen lassen, die offenbar mehr Geheimnisse mit sich herumtrug als ihre Mitmenschen vermutet haben. Der Autor erweist sich dabei als versierter Sprachkünstler. Wenn er die verschiedenen Protagonisten in kapitellangen Monologen zu Wort kommen lässt, verleiht er ihnen eine jeweils eigene Sprache. So spricht Samir ohne Interpunktionen, der nie aus dem Universitätsleben herausgekommene Dennis verliert sich dagegen in intellektuellen Ausschweifungen, die – bei aller sprachlicher Virtuosität gerade zu Anfang sehr ermüdend wirken. 
Was die Geschichte so lesenswert macht, sind die verschiedenen Perspektiven, die nicht nur aufzeigen, wie ihr Ehemann, ihr Geliebter, ihr Fitnesstrainer und ihre Sekretärin Joy wahrgenommen haben, sondern auch dahingehend aufschlussreich wirken, wie sich nach und nach interessante Details aus Joys Leben aneinanderreihen und den jeweiligen Ich-Erzählern Charakter verleihen. 
Dabei rückt vor allem ein Vorfall in den Vordergrund, bei dem Joy zusammen mit ihrem Neffen ein Tennis-Match besucht hat und ihn in der Warteschlange vor der Toilette verloren hat. Aber Jonathan Lee kramt auch die üblichen Klischees hervor, den Anwalt, der sich von einer seiner Trainees einen blasen lässt, oder die Vorurteile einer alternden Sekretärin gegenüber einem faulen Italiener, den die italienische Dependance abgestellt hat. 
Durch die Form der ununterbrochenen Monologe gewinnen die unterschiedlichen Personen schnell an Profil, doch so richtig warm wird man mit den Figuren nicht. Bei all den unerfüllten Sehnsüchten und Begierden, Lügen und Affären hinterlässt „Joy“ vor allem ein Gefühl der Niedergeschlagenheit, das nicht durch alles Geld der Welt vertrieben werden kann. 
Jonathan Lee ist mit „Joy“ ein zumindest interessantes, sprachlich virtuos inszeniertes Melodram gelungen, das Lust auf weitere Werke des Autors macht. Mit „Who Is Mr Satoshi?“ und „High Dive“ warten zumindest noch zwei weitere Romane auf eine deutsche Übersetzung.